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Fähigkeitsorientierte Beurteilung In diesem Buch wird dargestellt, was unter Fähigkeiten zu verstehen ist, wie sie zu erfassen und zu quantifizieren sind, welche Bedeutung ihnen bei psychischen Erkrankungen zukommt und welche therapeutischen und sozialmedizinischen Folgen daraus erwachsen. Krankheit geht nicht nur mit Beschwerden und Symptomen einher, sondern auch mit Fähigkeitseinschränkungen. Diese dienen nicht nur als Diagnosekriterien, sie bestimmen vor allem über das Ausmaß der Krankheitsfolgen und damit die Schwere und sozialmedizinische Wertigkeit von Krankheiten. Auf Fähigkeitsbeeinträchtigungen basieren Urteile über Arbeitsfähigkeit, Erwerbsminderung, Leistungen zur Teilhabe oder Pflegebedürftigkeit. Die detaillierte Beschreibung von Fähigkeiten hat unmittelbare Bedeutung für die Patientenversorgung. Es gibt speziell fähigkeitsorientierte Behandlungsansätze wie Selbstsicherheitstraining oder ein Training beruflicher Fähigkeiten im Rahmen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Die zweite Auflage wurde ergänzend zum passenden Testverfahren "Mini-ICF-APP" aktualisiert und erweitert. Das "Mini-ICF-APP" (Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen) ist ein Fremdratinginstrument, welches eine Erfassung und Quantifizierung von psychopathologiesensitiven Fähigkeitsbeeinträchtigungen ermöglicht. Das Buch enthält darüber hinaus eine Reihe weiterer Skalen und Instrumente, die in der Fähigkeitsdiagnostik ergänzend eingesetzt werden können.
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Seitenzahl: 428
Michael Linden, Stefanie Baron, Beate Muschalla, Margarete Ostholt-Corsten
Fähigkeitsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen
Diagnostik, Therapie und sozialmedizinische Beurteilung in Anlehnung an das Mini-ICF-APP
2., überarbeitete und erweiterte Auflage
Fähigkeitsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen
Michael Linden, Stefanie Baron, Beate Muschalla, Margarete Ostholt-Corsten
Programmbereich Psychiatrie und Psychotherapie
Prof. Dr. med.- Dipl.-Psych. Michael Linden
Charité Universitätsmedizin Berlin
Medizinische Klinik m. S. Psychosomatik
Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der CBF, Hs. IIIA
Hindenburgdamm 30
12200 Berlin
Deutschland
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Lektorat Medizin/Psychiatrie
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www.hogrefe.ch
Lektorat: Susanne Ristea
Bearbeitung: Susanne Hahn, Meckenheim
Herstellung: René Tschirren
Umschlagabbildung: Sergey Ishkov/EyeEm, Getty Images
Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen
Satz: punktgenau GmbH, Bühl
Format: EPUB
2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2022
© 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
© 2022 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96036-4)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76036-0)
ISBN 978-3-456-86036-7
http://doi.org/10.1024/86036-000
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Einleitung
1 Psychische Fähigkeiten des Menschen
1.1 Eigenschaften und Fähigkeiten
1.2 Fähigkeitsniveau und Teilleistungen
1.3 Psychische Fähigkeiten und Persönlichkeitspsychologie
2 Das Verhältnis von Krankheit, Leistungsfähigkeit und sozialer Teilhabe
2.1 Die Definition von „Krankheit“
2.2 Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell und die mehraxiale Klassifikation
3 ICF
3.1 Grundstruktur der ICF
3.2 Körperfunktionen und -strukturen
3.3 Aktivitäten und Partizipation
3.4 Kontextfaktoren
3.5 Beziehung zwischen Funktionen, Fähigkeiten, Kontext und Partizipation
3.6 Kontextadjustierung von Fähigkeiten
3.7 Die Beziehung zwischen ICD und ICF
4 Messinstrumente für Fähigkeits-, Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen
4.1 Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL- und IADL-Skalen)
4.2 Diagnostik von psychomotorischen Fähigkeiten und Mobilität
4.3 Diagnostik der Proaktivität und Kreativität
4.4 Intelligenz- und Eignungsdiagnostik
4.5 Diagnostik von Stressbewältigungsfähigkeiten
4.6 Soziale Kompetenz und interaktionelle Fähigkeiten
4.7 Groningen Social Disability Schedule
4.8 Global Assessment Scale und Global Assessment of Functioning Scale
4.9 Skala zur Erfassung des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus (SOFAS) und Personal and Social Performance Scale (PSP)
4.10 WHODAS 2.0
4.11 ICF Core Sets
4.12 ICF-AT-50-Psych
4.13 Index zur Messung von Einschränkungen der Teilhabe
5 Das Mini-ICF-APP-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen
5.1 Zielsetzungen und Konstruktionsprinzipien
5.2 Die Übersetzung der ICF-Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ (d1–d9) in das Mini-ICF-APP
5.3 Definition und Operationalisierung der Mini-ICF-APP-Dimensionen
5.4 Quantifizierung der Schwere einer Fähigkeitsbeeinträchtigung
5.5 Das Mini-ICF-APP-Interview
5.6 Auswertungs- und Interpretationshinweise
5.7 Raterqualifikation und Gütekriterien
6 Fähigkeitsprofile in unterschiedlichen Populationen
7 Selbstbeurteilung von Fähigkeiten mit dem Mini-ICF-APP-Selbstbeurteilung (Mini-ICF-APP-S)
8 Fähigkeitsbezogene Arbeitsanforderungsbeschreibung mit dem Mini-ICF-APP-Work (Mini-ICF-APP-W)
9 Beschreibung der Fähigkeit zum selbständigen Leben mit dem Mini-ICF-APP-Haushaltsführung (Mini-ICF-APP-H)
10 Sozialmedizinische Anwendungsbereiche von Fähigkeitsbegutachtung
10.1 Sozialmedizinische Begutachtung
10.2 Arbeitsanforderungsbeschreibung und psychische Gefährdungsbeurteilung
10.3 Differenzielle Leistungsminderung und leidensgerechte Arbeitsplätze
10.4 Arbeitsunfähigkeit
10.5 Erwerbsminderung und Berufsunfähigkeit
10.6 Eingliederungshilfe
10.7 Pflegebedürftigkeit und Betreuungsrecht
10.8 Allgemeine Prinzipien und spezielle Probleme der Begutachtung bei psychischen Erkrankungen
11 Psychotherapie von Fähigkeitsbeeinträchtigungen
11.1 Training der Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen
11.2 Training von Planungs- und Strukturierungsfähigkeit
11.3 Training von Flexibilität und Umstellungsfähigkeit
11.4 Training der Kompetenz- und Wissensanwendung
11.5 Training von Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit
11.6 Training von Proaktivität und Spontanaktivitäten
11.7 Training von Widerstands- und Durchhaltefähigkeit
11.8 Training von Kommunikations-, Selbstbehauptungs- und Gruppenfähigkeit
11.9 Training der Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen
11.10 Training zur Selbstpflege und Selbstversorgung
11.11 Training von Mobilität und Verkehrsfähigkeit
11.12 Therapie bei unveränderlichen Fähigkeitsbeeinträchtigungen
12 Kontextbezogene Therapie bei Partizipationsproblemen
12.1 Arbeitsplatzgestaltung und betriebliches Gesundheitsmanagement
12.2 Unterstützung von Schwerbehinderten
12.3 Berufliche Belastungserprobung
12.4 Stufenweise Wiedereingliederung
12.5 Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)
12.6 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA)
12.7 Return-to-Work-Programme
12.8 Steuerung und Durchführung sozialmedizinischer Therapiemaßnahmen
Literatur
Abkürzungen
Sachwortverzeichnis
Die Krankheitswertigkeit von normabweichenden Gesundheitszuständen definiert sich über zweierlei: zum einen über die Art und Intensität der Symptomatik, zum anderen auch über daraus resultierende Teilhabebeeinträchtigungen, d. h. Behinderungen im Lebensvollzug. So sind Sommersprossen im Gesicht keine Krankheit, ein entstellendes und die soziale Interaktion behinderndes Ekzem aber sehr wohl. Teilhabeeinschränkungen sind von besonderer Bedeutung bei psychischen Störungen. Sie dienen dort auch als diagnostische Kriterien in der Abgrenzung von krank und gesund, wie das beispielsweise für die Depression oder Demenz gilt.
Mit Einführung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health / Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2005) ist die Beschreibung und Klassifikation von Krankheitsfolgen international neu gegliedert worden. Unterschieden werden Funktionen, Aktivitäten und Fähigkeiten, Kontext (im Sinne von personbezogenen Faktoren oder Umwelt) und schließlich Teilhabe als Resultante aus Fähigkeit und Kontext.
In der ICF gibt es ein eigenes Kapitel „Mentale Funktionen“. Diese können Symptomen gleichgesetzt werden. Unter Funktionsstörungen werden beispielsweise Orientierungsstörung, Wahn, Gedankeneingebung, Vorbeireden, Somatisierung oder Zwang aufgeführt. Welche Fähigkeitsbeeinträchtigungen aus solchen Krankheitssymptomen erwachsen, ist aus der ICF nicht abzuleiten – dies bedarf einer gesonderten Analyse und Bestimmung. Ein Instrument, das diese Lücke füllt, ist das Mini-ICF-APP (Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen) (Linden et al., 2009). Es gibt Fähigkeitsdimensionen vor, die regelhaft bei psychischen Erkrankungen beeinträchtigt sind, und beschreibt Algorithmen, wie der Beeinträchtigungsgrad mit Blick auf Kontextfaktoren zu quantifizieren ist.
|10|Die detaillierte Beschreibung von Fähigkeiten hat unmittelbare Bedeutung für die Patientenversorgung. Erstens sind Fähigkeiten, wie bereits angesprochen, wichtig in der Diagnostik psychischer Störungen. Zweitens stellen sie wichtige Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen dar, vom Selbstsicherheitstraining in der Psychotherapie bis zum Training beruflicher Fähigkeiten im Rahmen von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA). Drittens entscheidet sich vorrangig über das positive und negative Leistungsbild(also erhaltene und beeinträchtigte Fähigkeiten), welche sozialmedizinischen Konsequenzen zu ziehen sind. Diese reichen von der Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit oder Erwerbsminderung bis hin zu Unterstützungsleistungen wie betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) oder beschütztes Wohnen.
In diesem Buch wird dargestellt, was unter Fähigkeiten zu verstehen ist, wie sie zu erfassen und zu quantifizieren sind, welche Bedeutung ihnen bei psychischen Erkrankungen zukommt und welche therapeutischen und sozialmedizinischen Folgen daraus erwachsen.
Die belebte wie die unbelebte Natur können durch Eigenschaften beschrieben werden, z. B. durch ihre chemische Zusammensetzung, Größe, Schwere, Härte, Farbe, Schönheit oder Lebensdauer. Im Gegensatz zur unbelebten Natur hat die belebte Natur die Zusatzeigenschaft, Fähigkeiten zu haben. Die Fähigkeit von Bakterien ist, Zucker spalten zu können, die von Bäumen, Kohlendioxid in Sauerstoff umzuwandeln, die von Spinnen, ein Netz bauen zu können, die von Hunden, sich in einem Rudel bewegen zu können, die von Menschen, philosophische Abhandlungen verfassen zu können. Die belebte Natur hat also die Eigenschaft, Aktivitäten auszuüben, d. h. Fähigkeiten. Auf dieses Begriffspaar „Aktivität und Fähigkeit“ wird im Weiteren noch häufiger Bezug zu nehmen sein.
Der allgemeine, subjektive Krankheitsbegriff umfasst die subjektiv erlebte Beeinträchtigung des Lebensgefühls eines Menschen durch den gesundheitlichen Zustand. Der spezielle, objektive oder medizinische Krankheitsbegriff bezieht sich auf Diagnosen, die anhand möglichst objektiver Kriterien nach medizinisch-wissenschaftlichen Algorithmen gestellt werden. Krankheit ist immer auch charakterisiert durch unwillkürlich gestörte Lebensfunktionen eines Menschen, die eine Zeitdimension aufweisen und in der Regel eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zur Folge haben (Häfner, 1983). Beim medizinischen Krankheitsbegriff geht es um die Ursache, Symptomatik (Organsysteme), Therapierbarkeit und den Verlauf einer Erkrankung. Im juristischen und speziell forensischen Sinne geht es unabhängig von der Ursache und der Therapierbarkeit vorwiegend um die Ausprägung und die sozialen Folgen einer Störung (Nedopil, 2003). Bei der sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbestimmung steht die Leistungs- oder Arbeitsunfähigkeit im Vordergrund (Brüggemann et al., 2007).
Die Klassifizierung von Krankheiten orientiert sich an der ICD (Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, WHO, 1991). Die Diagnose ist in der Psychiatrie wie auch in der übrigen Medizin eine „gutachterliche“ Schlussfolgerung, die abgeleitet wird aus dem psychopathologischen Befund, den Zusatzuntersuchungen und anamnestischen Hinweisen zu Verlauf und gegebenenfalls verursachenden Faktoren (Linden, 2003). Teilweise fließen auch Krankheitsfolgen oder Leistungsbeeinträchtigungen als Schwellenkriterien in Definitionen von Krankheiten ein, wie beispielsweise bei Demenzen oder Depressionen. Psychiatrische Diagnosen und Schlussfolgerungen dürfen sich |44|nicht an der Alltagspsychologie orientieren, sondern müssen auf empirisch geprüftem Fachwissen basieren, um die Gefahr zu vermeiden, dass Symptome psychischer Erkrankungen als „normal“ fehlgedeutet werden oder dass „normale“ Lebensereignisse fälschlicherweise pathologisiert werden (Linden, 2013b). Für die psychischen Erkrankungen wird alternativ auch das DSM verwendet (Diagnostisches Klassifikationssystem der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, APA, 1994).
Die ICD oder das DSM sind – wie im Namen mit dem Begriff „statistisch“ bereits zu erkennen – keine medizinischen Lehrbücher, sondern Klassifikationssysteme der Krankheiten. Sie ermöglichen, Krankheitszuständen eine Nummer zuzuordnen, die dann wiederum für gesundheitsstatistische Zwecke benutzt wird. So werden von Krankenversicherungen anhand solcher Nummern Plausibilitätsprüfungen bezüglich abgerechneter Behandlungsleistungen durchgeführt oder es wird die Gesundheitsstatistik in Krankenhäusern oder auch Ländern auf dieser Basis erstellt.
Im Bereich der psychischen Störungen (im DSM wie in der ICD im Kapitel F) wird diese Klassifikation erweitert um „diagnostische Algorithmen“. Es werden Voraussetzungen genannt, die erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Nummer auf einen konkreten Fall Anwendung finden darf. Es handelt sich um Schwellenkriterien, obwohl sie teilweise auch als diagnostische Leitlinien Einzug in die klinische Diagnostik gefunden haben. Dennoch sind klinische Diagnosen und Diagnosekategorien nach der ICD nicht identisch. Die ICD-Diagnosealgorithmen nennen in der Regel als A-Kriterien obligate Symptome. Als B-Kriterien werden dann fakultative Symptome aufgeführt, von denen eine Mindestzahl vorliegen muss und die als Schwerekriterium dienen. Es werden des Weiteren als C- und D-Kriterien Verlaufscharakteristika und Ausschlusskriterien genannt. Im Ergebnis werden Klagen, Leidenszustände und medizinisch-diagnostische Auffälligkeiten übersetzt in Symptome, die wiederum zu Syndromen zusammengefasst werden, woraus dann wiederum auf Krankheiten geschlossen wird, die mit Diagnosebegriffen benannt werden.
Um im Weiteren die Beziehung zwischen Beschwerden, Diagnosen und Beeinträchtigungen richtig verstehen zu können, ist ein kurzer wissenschaftstheoretischer Exkurs nötig. „Diagnosen“ sind ihrer Natur nach keine realen Entitäten, sondern hypothetische Konstrukte bzw. Schlussfolgerungen. Die Diagnose Appendizitis (Blinddarmentzündung) kann nicht unmittelbar beobachtet werden. Beobachtbare Symptome sind Schmerzangaben, Laborwerte, die Körpertemperatur oder auch Farbveränderungen an einem Teil des Darmes. Die Diagnose Appendizitis ist die Schlussfolgerung aus der Zusammenschau all dieser |45|Beobachtungen und beinhaltet zugleich auch prognostische Aussagen derart, dass die Entfernung eines bestimmten Darmteils die Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten erhöht. Derartige Schlussfolgerungen basieren immer auf probabilistischen Annahmen und sind daher durchaus auch fehleranfällig, wie an der Diagnose Appendizitis und den daraus abgeleiteten therapeutischen Konsequenzen vielfach empirisch gezeigt wurde (Lichtner & Pflanz, 1971). Diagnosen und Klassifikationen sind unter wissenschaftlicher Betrachtung zudem auch nicht nach ihrem „Wahrheitsgehalt“ zu beurteilen, sondern nach den Kriterien der Utilität, Prognosezuverlässigkeit und Einfachheit (Sprung & Sprung, 2001). Von daher findet in der Medizin auch ein ständiger Wechsel diagnostischer Konzepte statt – in Abhängigkeit von neuen diagnostischen Differenzierungsmöglichkeiten oder therapeutischen Optionen. So gibt es inzwischen von der ICD bereits die 11. Revision.
Die Feststellung einer Diagnose hat eine Reihe von wichtigen Konsequenzen. Diagnosen erlauben in der Regel eine gewisse Vorhersage über den weiteren Krankheitsprozess und geben damit auch Ansätze für die Therapie. Von besonderer Bedeutung ist die sozialmedizinische Konsequenz einer Diagnose. Sie ist die gutachterliche Feststellung eines Experten. Patienten können keine Diagnose stellen, sondern nur ihr Leiden klagen. Durch eine Diagnose wird aus einem Leidenszustand ein Krankheitszustand. Ein Mensch, der sich schwach fühlt und deswegen Stärkungsmittel nimmt, betreibt Doping. Wird der Schwächezustand als Krankheit diagnostiziert, führt dies zu einer Behandlungserlaubnis mit der Folge, dass dasselbe Stärkungsmittel nun kein Doping mehr ist, sondern eine Therapie darstellt. Ist ein Mensch nicht in der Lage, seine Arbeitsanforderungen zu erfüllen, dann ist dies ein Grund für eine Schulung oder gegebenenfalls die Kündigung. Wird die Nichterfüllung einer Arbeitsanforderung als Ausdruck einer Krankheit verstanden, dann erfolgt über ein Arbeitsunfähigkeitsattest eine Freistellung von der Arbeit ohne Sanktionen.
Die Grenzen einer Diagnose liegen darin, dass sie zum einen keinen Rückschluss auf den aktuellen Leidens- oder Beeinträchtigungszustand zulassen. Zum anderen ermöglichen sie auch keine Steuerung der Behandlung im Einzelfall. Aus der Diagnose Hypertonie alleine kann nicht abgeleitet werden, wie hoch der Blutdruck ist und was im konkreten Moment zu tun ist. Dazu bedarf es einer genauen Messung der aktuellen Blutdruckhöhe und besser noch der Blutdruckschwankungen über den Tag und die Nacht hinweg, die Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Gewicht, Trainingszustand, Verlauf und einer Reihe weiterer medizinischer Parameter. Die Behandlung von Erkrankungen orientiert sich in der Regel also nicht an der Diagnose, sondern an sogenannten „Zielsyndromen“ (|46|Freyhan, 1965). Dies gilt erst recht, wenn neben den unmittelbaren Krankheitssymptomen und Funktionsstörungen der Patient als ganze Person in seiner bio-psycho-sozialen Ganzheitlichkeit in den Blick kommt.
Diagnosen sagen auch nichts über den Krankheitsverlauf und ob eine akute oder chronische Erkrankung vorliegt. Erstere sind episodisch, letztere erstrecken sich über einen Zeitraum von länger als sechs Monaten bis hin zu lebenslanger Krankheit und sind nach der Definition des Sozialgesetzbuches IX (§ 2 Abs. 1 und § 42 (1) SGB IX) als Behinderung anzusehen. Das erfordert des Weiteren eine Unterscheidung zwischen chronischen Erkrankungen mit und ohne Beeinträchtigungen der Teilhabe. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Beeinträchtigungen der Teilhabe unmittelbar wie auch verzögert auftreten können. Eine Rhinitis (laufende Nase), die länger als ein halbes Jahr anhält, führt dazu, dass der Betroffene nicht mehr als Chirurg, Kellner oder Kundenberater arbeiten kann. Ein Hypertonus führt erst mittelfristig über die Folgekomplikationen zu Leistungsausfällen, Berufsunfähigkeit oder sogar Pflegebedürftigkeit. Eine chronische allergische Rhinitis ist daher ebenso wie eine Hypertonie als „Behinderung“ anzusehen.
Das Behinderungskonzept hat weitreichende Bedeutung für die Diagnostik, die Therapie und die sozialmedizinischen Konsequenzen bei der Betreuung der Betroffenen. Es erzwingt eine ganzheitliche Betrachtung unter Berücksichtigung von (a) Krankheitssymptomen und -prozessen, d. h. Funktionsstörungen, (b) damit einhergehenden Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und (c) daraus resultierenden sozialen Beeinträchtigungen.
Um diese Begrenzung der Diagnosekategorien zu überwinden, wurde bereits Anfang des letzten Jahrhunderts das „bio-psycho-soziale Modell“ (Meyer, 1917) entwickelt, das neben der aktuellen Psychopathologie auch den somatischen Status und psychische und soziale Rahmenbedingungen als Beschreibungsdimensionen eines Krankheitszustandes einschließt. Im Bereich der Psychiatrie war am ehesten evident, dass ein Krankheitsfall mit der ausschließlichen Nennung einer Diagnose nicht hinreichend erfasst wird, sondern dass der Gesundheitsstatus und die sozialen Rahmenbedingungen mitberücksichtigt werden müssen. Dies war die konzeptuelle Grundlage für die Entwicklung der Sozialpsychiatrie seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts (Wancata et al., 2007). Dieses Konzept hat dann auch im Kontext der Klassifikation psychischer Erkrankungen seinen Niederschlag gefunden, näm|47|lich in der mehraxialen Diagnostik. Im DSM-IV (APA, 1994) werden fünf Achsen unterschieden, die in jedem Krankheitsfall parallel zu beschreiben sind. Die Achse I umfasst die bereits angesprochenen Diagnosen im engeren Sinne, die auf den aktuellen Beschwerden und Befunden aufbauen. Ergänzend dazu sind auf der Achse II die Persönlichkeitseigenschaften eines Patienten zu beschreiben, traditionellerweise werden darunter auch Persönlichkeitsstörungen eingeordnet. Mit Achse III ist der somatische Status eines Patienten wiederzugeben, d. h. im Wesentlichen die somatische Komorbidität. Achse IV beschreibt psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme des Patienten und Achse V das soziale Adaptationsniveau.
Dss mehraxiale System stellt bereits eine deutliche Erweiterung und Differenzierung gegenüber den primären Krankheitsdiagnosen dar. Dieses Konzept gilt nicht nur für die Psychiatrie, sondern grundsätzlich für die gesamte Medizin. Ob bei einem Patienten erfolgreich eine Nierentransplantation durchgeführt werden kann, hängt außer von der aktuellen Nierenfunktion auch davon ab, ob der Patient als Persönlichkeit in der Lage ist, diese eingreifende Behandlung adäquat mitzutragen, wie sein sonstiger psychischer und körperlicher Gesundheitsstatus ist und welche Lebensbedingungen und sozialen Ressourcen gegeben sind. Die letztgenannten Faktoren sind in manchen Fällen für die Therapiewahl von größerer Bedeutung als die Primärerkrankung.
Viele sozialpsychiatrische Kliniken und insbesondere Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie nehmen in ihren Entlassungsbriefen explizit Bezug auf die fünf Achsen und geben damit pro Fall quasi fünf Diagnosen. Auch Vorgaben für Arztbriefe und Entlassungsberichte (z. B. von der Deutschen Rentenversicherung) verlangen Angaben zum somatomedizinischen Status und den sozialen Lebensbedingungen. Das bio-psycho-soziale mehraxiale Konzept ist in der Medizin allgemein und in der Psychiatrie und Psychosomatik insbesondere Grundlage des täglichen Handelns. Wissenschaftlich und konzeptionell ist das mehraxiale Diagnosekonzept über die Vorgabe eines theoretischen Rahmens allerdings nur selten hinausgekommen und eine wissenschaftliche Ausarbeitung dessen, was die Achsen II bis V umfassen, ist nie erfolgt. Entsprechend umfasst das Handbuch des DSM-IV zu den klassischen Diagnosen, die der Achse I zugeordnet werden, 642 Seiten, während den Achsen II bis V nur 63 Seiten gewidmet sind. Im DSM-5 wird gar kein Bezug mehr darauf genommen.
Um dieses Defizit auszugleichen hat die WHO in Ergänzung zur ICD die ICIDH (International Classification of Impairments, Disability and Handicaps; WHO, 1980) und als Nachfolger die ICF (WHO, 2001, 2005) herausgegeben. Sie gibt einen wesentlich differenzierteren Ansatz zur Beschreibung der funktionalen Aspekte von Gesundheit und Krankheit. Die ICF wird in Kap. 3 näher erläutert.
Die Diagnostik nach dem mehraxialen Krankheitsmodell wie auch die Therapieplanung oder sozialmedizinische Beurteilung erfordern Instrumente zur differenzierten Erfassung und Quantifizierung von Funktionen bzw. Krankheitssymptomen einerseits und Fähigkeiten andererseits. Es mag noch relativ einfach sein zu unterscheiden, ob eine Entzündung oder Fraktur eines Arms (Funktions- bzw. Strukturstörung) und eine damit einhergehende Unfähigkeit zum Heben (Aktivitäts- bzw. Fähigkeitsbeeinträchtigung) vorliegt oder ob es sich um eine für die Arbeit als Kellner (Kontext) resultierende Behinderung (Beeinträchtigung der Partizipation) handelt. Bei anderen Dimensionen kann dies jedoch erhebliche konzeptionelle und methodische Probleme aufwerfen. Dies gilt insbesondere bei psychischen Störungen, beispielsweise wenn zu beschreiben ist, worin die Fähigkeitsbeeinträchtigungen bestehen, die durch eine Funktionsstörung der Konzentration im Rahmen einer depressiven Störung bedingt sind.
Es gibt viele Instrumente zur Erfassung von Funktionsstörungen bei psychischen Erkrankungen, d. h. zur Quantifizierung der Psychopathologie. Beispiele sind Selbst- oder Fremdratingskalen
zu Depressivität (z. B. ADS, Hautzinger & Bailer, 1993; BDI-II, Hautzinger et al., 2009),
zu Angst (PAS, Bandelow, 1997; STAI, Laux et al., 1981) oder
zu demenzieller Symptomatik (SIDAM, Zaudig et al., 1996; MMST, Folstein et al., 1975; dt. Fassung: Kessler et al., 1990).
Auch zur Erfassung von Fähigkeitseinschränkungen gibt es eine Reihe von Messinstrumenten. Im Folgenden sollen ausgewählte Beispiele mit Bezug zu psychischen Erkrankungen dargestellt werden. Sie sind im Aufbau sehr unterschiedlich und erfassen je nach Anwendungsgebiet einzelne Fähigkeiten oder ein ganzes |66|Spektrum von Fähigkeiten, weshalb es große Überschneidungen gibt. Sie beziehen sich teilweise nur auf Fähigkeiten oder bilden Funktionen und Fähigkeiten gleichzeitig ab. Sie ermöglichen mehr oder weniger eine Kontextadjustierung und damit Schwerebeurteilung.
In klinischen Kontexten sind Skalen zur Beurteilung basaler Alltagsfähigkeiten in täglichem Gebrauch. Erfasst werden der Fähigkeitsstatus und damit das Ausmaß an benötigter Hilfe bei basalen selbstbezogenen Aktivitäten wie Waschen, Anziehen, Toilettenbenutzung, aus dem Bett aufstehen, Stuhl- und Harnkontrolle und Nahrungsaufnahme, d. h. alltägliche Aktivitäten der persönlichen Pflege. Weit verbreitet sind der Barthel-Index (BI) von Mahoney und Barthel (1965) und andere ADL-Skalen (Katz et al., 1963). Sie erlauben eine sehr konkrete Quantifizierung der Fähigkeitsbeeinträchtigung. So können beispielsweise für die Aktivität „Essen“ 10 Punkte vergeben werden: der Proband kann selbständig mit Geschirr und Besteck essen (10 Punkte), er benötigt Hilfe beim Schneiden (5 Punkte), er ist total hilfsbedürftig (0 Punkte). Im Barthel-Index fehlen Items zur Kognition und zu basalen kommunikativen und sozialen Kompetenzen, die ebenfalls für die Hilfsbedürftigkeit oder selbständige Lebensführung von Bedeutung sind. Von daher wurde von Prosiegel et al. (1996) der Erweiterte Barthel Index (EBI) publiziert mit ergänzenden Items wie soziale Interaktion, Verstehen, Problemlösen und Orientierung.
Die ADL-Skalen dienen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Sie erfassen ausschließlich Fähigkeitseinschränkungen, die unabhängig von der vorliegenden Störung sind, sei es eine Demenz oder eine Multiple Sklerose. Die Anwendung einer ADL-Skala erfordert daher auch kein spezielles medizinisches Krankheitswissen und geschieht im Auftrag der Pflegeversicherung vorwiegend durch Pflegekräfte und nicht durch Ärzte. Eine Umweltadjustierung findet nicht statt, da kulturfreie und universelle Fähigkeiten erfasst werden, die jedem Menschen in gleicher Form zur Verfügung stehen sollten.
Eine Erweiterung der ADL-Skalen fand durch Spector et al. (1987) in Form der „Instrumental Activities of Daily Living” statt. Erfasst werden komplexe instrumentelle Aktivitäten und Fähigkeiten des täglichen Lebens wie die Fähigkeit zur Benutzung des Telefons, zum Einkaufen, zum Kochen, zur Haushaltsführung, zur Wäscheversorgung, zur Nutzung von Verkehrsmitteln, zur Medikamenteneinnahme |67|oder zu Geldgeschäften (Lawton & Brody, 1968). Für die selbständige Ausführung jeder dieser Aktivitäten wird jeweils ein Punkt vergeben (z. B. selbständig einkaufen; führt selbständig kleine Hausarbeiten aus oder wäscht kleine Sachen). Wenn die Aktivitäten nicht mehr oder nur mit intensiver Unterstützung Dritter ausgeübt werden können, gibt es 0 Punkte (z. B. kann das Telefon gar nicht mehr benutzen, benötigt beim Einkaufen Begleitung oder kann nicht mehr mit Geld umgehen).
Auch die IADL-Skalen erfassen unabhängig von Funktionsstörungen grundlegende Komponenten des sozialen Funktionierens, d. h. eine Mischung aus Beeinträchtigungen von Fähigkeiten und Teilhabe. Wenn jemand nicht einkaufen kann, ist dies zunächst einmal eine Beeinträchtigung der Teilhabe und es wäre zu klären, welche Fähigkeitseinschränkung dem zugrunde liegt.
Bezüglich der Umweltadjustierung geben die Messvorschriften der IADL-Skalen vor, dass die Beurteilung unabhängig von der Umwelt ausgeführt werden sollte. Dies ist allerdings nur innerhalb eines bestimmten Kulturkreises möglich, da z. B. die Abwicklung von Geldgeschäften voraussetzt, dass jemand in derartigen Aktivitäten geschult ist. Dies kann für Deutschland weitgehend für jedermann vorausgesetzt werden, nicht jedoch für andere Länder.
Bereits bei der Erfassung der Aktivitäten des täglichen Lebens mittels der ADL-Skalen ist Mobilität ein wichtiges Item als Voraussetzung für die Fähigkeit der Selbstversorgung. Darüber hinaus sind motorische Fähigkeiten und Mobilität auch generell aufgrund ihres Zusammenhangs mit dem körperlichen und psychischen Gesundheitszustand von großer Bedeutung (Knoll, 1997; Woll, 1996). Auch im Rahmen der medizinischen Rehabilitation kommt der Erfassung motorischer Fähigkeiten bzw. der Mobilität entscheidende Bedeutung zu.
Es gibt eine Reihe von Fragebögen speziell zur Erfassung der körperlichen Leistungsfähigkeit:
Funktionsfragebogen Hannover (FFbH) (Haase et al., 2001; Kohlmann & Raspe, 1994; Lautenschläger et al., 1997)
Fragebogen zur Erfassung des motorischen Funktionsniveaus (FFB-Mot)(Bös et al., 2002)
adaptiver, an der ICF orientierter Fragebogen zu Mobilität und Selbstversorgung (MOSES-Fragebogen) (Farin et al., 2007).
|68|Der FFB-Mot versucht mit 28 Selbstbeurteilungsfragen motorische Fähigkeiten wie Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit und Koordination zu erfassen. Es existieren Ergänzungen für minimale körperliche Leistungsfähigkeit (ADL-Skala) und die sportliche Leistungsfähigkeit (Sport-Skala). Es wurde gezeigt, dass der FFB-Mot hoch mit Leistungsmessungen zur Fitness korreliert.
Der MOSES-Fragebogen (Farin et al., 2007) ist ein rehabilitationsspezifisches ICF-orientiertes Assessmentinstrument zu Erfassung von Mobilität und Selbstversorgung, das sich des Prinzips des „adaptiven Testens“ bedient (Kubinger, 2003a). Dies ermöglicht, dass Personen miteinander verglichen werden können, auch wenn sie unterschiedliche Aufgaben oder Fragebogen-Items bearbeitet haben (Tesio, 2003). Der MOSES-Fragebogen ist in einer Selbst- und Fremdrating-Version erhältlich. Die 58 Items lassen sich 12 Skalen zuordnen und wurden unter direktem Bezug auf die Inhalte der drei- und vierstelligen ICF-Kategorien aus den Kapiteln Mobilität, Selbstversorgung und Häusliches Leben der Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ entwickelt. Der Fragebogen enthält im Wesentlichen ADL-analoge Items („Der Proband ist in der Lage, sich auf ein Bett zu legen und wieder aufzustehen“ oder „ein Hemd an- und auszuziehen“ oder „eine Scheibe Brot zu essen“ oder „alltägliche Lebensmittel einzukaufen“) und darüber hinausgehend noch einige Leistungsitems („Der Proband ist in der Lage, einen 10 kg schweren Gegenstand vom Boden auf einen Tisch zu stellen“ oder „eine kurze Strecke zu rennen“), Items zur Feinmotorik („Der Proband kann Knöpfe an seiner Kleidung zumachen“) und zur allgemeinen Verkehrsfähigkeit („Der Proband kann ein öffentliches Verkehrsmittel wie Bus oder Bahn benutzen“).
Methoden der motorischen Leistungsdiagnostik, die ursprünglich für den Leistungssport entwickelt wurden, finden inzwischen auch im Gesundheits-, Breiten-, Freizeit- und Fitnesssport ihre Anwendung. Sie sind sehr vielfältig und reichen von einfachen Beobachtungen über differenzierte sportmotorische Tests bis hin zu komplexen biomechanischen, biochemischen, neuromuskulären und leistungsphysiologischen Verfahren (Bös, 1996, Hottenrott & Hoos, 2013). Beispiele aus dem Schulsport sind z. B. der Cooper-Test (zwölfminütiger Lauf mit maximaler Anstrengung und möglichst konstanter Laufgeschwindigkeit; zurückgelegte Strecke wird gemessen und beurteilt (Cooper, 1968)). Im Hochleistungssport werden computergesteuerte Messungen benutzt (Krug & Minow, 2002) wie die Kinemetrie und die Dynametrie (Meinel & Schnabel, 2007). Bei den kinemetrischen Verfahren handelt es sich um Bildfolgeverfahren, mit denen zu bestimmten Zeitpunkten Bilder vom Bewegungsverlauf aufgezeichnet werden, die dann durch Zeit und zusätzliche Weginformationen (Ka|69|librierung) ergänzt werden (z. B. Aufzeichnung eines Kugelstoßes mit zwei Kameras für eine dreidimensionale Bewegungsanalyse). Ein Vertreter der dynamometrischen Verfahren ist die Kraftmessplatte, um Bodenreaktionskräfte und Drehmomente im Stand, beim Gehen oder anderen sportlichen Bewegungen zu bestimmen.
Zur Erfassung komplexer Bewegungsabläufe dienen Bewegungsbeobachtungen (Meinel & Schnabel, 2007). Im Training dienen sie dazu, den motorischen Lernprozess zu begleiten und Fehler zu erkennen, im Wettkampf zur Leistungsbeurteilung, z. B. beim Geräteturnen oder Eiskunstlaufen. Auch im Bereich der Sportmedizin oder des Rehabilitationssportes verwendet man diese Methode, um sich z. B. nach einer Knieverletzung anhand des Gangbildes einen ersten Eindruck zu verschaffen und entsprechende Funktionsdiagnostik anzuschließen.
Ein Verfahren zur Analyse psychisch bedingter motorischer Einschränkungen ist die Spiroergometrie (Hollmann & Strüder, 2009), bei der während körperlicher Belastung die erreichte Wattzahl, die Herzfrequenz und die Atemgase gemessen werden. Dies ergibt einen Aufschluss darüber, ob ein Proband sich ausbelastet oder sich schont und Belastung vermeidet.
Schließlich gibt es auch noch Instrumente zur Erfassung ausgewählter komplexer motorischer Beeinträchtigungen. Ein Beispiel ist der Bruininks-Oseretsky Test of Motor Proficiency (BOTMP-BOT-2), der als Subtest Laufgeschwindigkeit, Arm- und Beinkoordination, Kraft, Reaktionszeit, visuomotorische Kontrolle und Lateralisierung erfasst und ursprünglich zur Erfassung psychomotorischer Entwicklungsstörungen bei Kindern entwickelt wurde (Fine, 1979). Ein anderes allgemein bekanntes Beispiel ist das Deutsche Sportabzeichen. Es wird verliehen für eine Kombination sportlicher Leistungen und enthält Disziplinen aus der Leichtathletik, dem Turnen, dem Schwimmsport und dem Radfahren. Bei der Erfassung und Beurteilung derartiger motorischer Leistungen muss, wie bei allen Leistungstests, eine Adjustierung nach Geschlecht, Alter und Trainingsstand vorgenommen werden. Für den Bruininks-Oseretsky Test gibt es Normen für verschiedene Altersgruppen und beim Deutschen Sportabzeichen sind die geforderten Leistungen gestaffelt nach Altersstufen und Geschlecht.
Auch für komplexe motorische Fähigkeiten gibt es Skalen, beispielsweise zur Erfassung der Verkehrsfähigkeit oder agoraphober Einschränkungen die Agoraphobie-Skala (Öst, 1990) oder das Mobilitätsinventar für Agoraphobie (Chambless et al., 1985). Letzteres enthält 27 Items zur Selbstbeurteilung und gibt 26 Situationen vor, für die jeweils der Grad der Vermeidung mit und ohne Begleitung eingeschätzt wird.
Für die Diagnostik von Selbststeuerungsfähigkeit, Eigeninitiative, Proaktivität und Kreativität wurden Interviews wie auch Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrumente entwickelt. In einem strukturierten Interview (Frese & Fay, 2001