Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung - Michael Linden - E-Book

Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung E-Book

Michael Linden

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Beschreibung

Den Zustand der Verbitterung als Reaktion auf Ungerechtigkeit, Herabwürdigung und Vertrauensbruch kennt jeder Mensch. Ist die Verbitterung stark ausgeprägt und hält lange an, kann dies zu erheblichem Leid für die Betroffenen und ihre Umwelt führen. Betroffene sind wegen des störungsimmanenten Fatalismus, der Aggressivität und Zurückweisung von Hilfe schwer zu behandeln. Häufig kommen sie aufgrund unterschiedlichster Fehldiagnosen in Behandlung und sind langfristig arbeitsunfähig. Die Neubearbeitung des Bandes beschreibt die Posttraumatische Verbitterungsstörung und stellt Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Verbitterungszuständen vor, insbesondere unter Bezugnahme des Konzeptes der Verletzung kognitiver Grundannahmen. Praxisorientiert wird die Behandlung der Verbitterungsstörung mit Methoden der Weisheitstherapie dargestellt, eine Form der kognitiven Verhaltenstherapie, die die grundlagenwissenschaftlichen Ergebnisse der Weisheitspsychologie für die Psychotherapie nutzbar macht. Patientinnen und Patienten erlernen dabei Strategien, die innere Kränkung zu verarbeiten, um so die Voraussetzung für eine innerliche "Aussöhnung" mit den verbitterungsauslösenden Ereignissen zu schaffen. Es geht darum, aktiv mit der Vergangenheit abzuschließen, um eine Neuorientierung in die Zukunft zu ermöglichen. Ein Weg, dies zu erreichen, ist eine Um- bzw. Neubewertung des kritischen Ereignisses und seiner Folgen. Die Weisheitstherapie stellt dafür verschiedene Methoden zur Verfügung, die anhand zahlreicher Beispiele beschrieben werden. Abschließend geht der Band noch auf sozialmedizinische und forensische Aspekte ein, z.B. auf Fragen der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit sowie der Schuldfähigkeit.

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Michael Linden

Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung

2., überarbeitete und ergänzte Auflage

Fortschritte der Psychotherapie

Band 65

Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung

Prof. Dr. Michael Linden

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier

Die Reihe wurde begründet von:

Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl

Prof. Dr. med., Dipl.-Psych. Michael Linden, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin mit den Zusatzbezeichnungen Sozialmedizin und Rehabilitationswesen sowie Psychologischer Psychotherapeut. 1967 – 1975 Studium der Humanmedizin und Psychologie in Mainz und Berlin. 1976 – 1998 zunächst Wissenschaftlicher Assistent und zuletzt leitender Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Freien Universität Berlin. 1998 – 2015 Leiter der Abteilung Verhaltenstherapie und Psychosomatik und leitender Arzt am Rehazentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund in Teltow bei Berlin. Seit 1981 Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Seit 1991 ärztlicher Weiterbildungsleiter am Institut für Verhaltenstherapie Berlin.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

2., überarbeitete und ergänzte Auflage 2023

© 2017 und 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3200-7; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3200-8)

ISBN 978-3-8017-3200-4

https://doi.org/10.1026/03200-000

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Inhaltsverzeichnis

1  Das Störungsbild der Posttraumatischen Verbitterungsstörung (PTED)

1.1  Klinisches Bild

1.2  Definition und diagnostische Kriterien der PTED

1.3  Differenzialdiagnostik der PTED

1.3.1  Differenzierung von Intrusionen, Grübeln und verwandten Symptomen

1.3.2  Abgrenzung der PTED von anderen psychischen Störungen

1.3.3  Abgrenzung der PTED von anderen Verbitterungsreaktionen

1.4  Verbitterung und Aggression

1.5  Epidemiologie von Verbitterung und PTED

2  Störungstheorien und -modelle

2.1  Verbitterungsreaktionen bei Kränkung und Ungerechtigkeit

2.2  Emotionstheoretische Überlegungen

2.3  Funktionalität von Verbitterung

2.4  Verletzung zentraler Grundannahmen

2.5  „Belief in a just world“-Psychologie

2.6  Ungerechtigkeit und Verbitterung im gesellschaftlichen Kontext

3  Resilienz und Schutzfaktoren bei Kränkung

3.1  Weisheit

3.2  Vergebung

3.3  Intelligenz und Problemlösefähigkeiten

3.4  Emotionale Intelligenz

3.5  Kontrollattributionen, Sinnfindung und Kohärenzerleben

3.6  Moral

4  Diagnostik der Verbitterungsstörung

4.1  Selbstrating- und Screening-Verfahren

4.2  Standardisiertes diagnostisches Interview für PTED

5  Die Behandlung der PTED

5.1  Grundlegende Therapieprobleme

5.2  Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung

5.3  Exploration des kritischen Lebensereignisses

5.4  Exploration von Intrusionen, Emotionen, Rachefantasien und Alltagsveränderungen

5.5  Schaffung eines Behandlungsauftrags und Herstellung einer Änderungsmotivation

5.6  Weisheitstherapie

5.6.1  Grundstruktur der Weisheitstherapie

5.6.2  Die „Methode der unlösbaren Probleme“

5.6.3  Identifikation mit dem fiktiven Opfer

5.6.4  Emotionswahrnehmung und -akzeptanz

5.6.5  Perspektivwechsel

5.6.6  Empathie und Mitgefühl

5.6.7  Kontextualismus

5.6.8  Wertrelativismus

5.6.9  Selbstrelativierung

5.6.10  Selbstdistanz

5.6.11  Emotionale Serenität und Humor

5.6.12  Anspruchsrelativierung

5.6.13  Nachhaltigkeit

5.6.14  Ungewissheitstoleranz

5.6.15  Fakten- und Problemlösewissen

5.6.16  Strategiewissen und prototypische Problemlöser

5.6.17  Weisheitssentenzen

5.7  Exposition

5.8  Salutotherapie, Aktivitätsaufbau und Aufbau neuer Perspektiven

5.9  Psychotherapeutischer Umgang mit Selbst- und Fremdgefährdung

5.10  Gruppentherapie

6  Empirische Evidenz und Wirksamkeit

7  Sozialmedizinische und juristische Aspekte

7.1  Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit

7.2  Forensischer Umgang mit Gewaltfantasien

7.3  Schuldfähigkeit

8  Weiterführende Literatur

9  Literatur

10  Kompetenzziele und Lernkontrollfragen

11  Anhang

PTED-Skala

Standardisiertes diagnostisches Interview für PTED

Karten

Dimensionen der Weisheit

Prototypische Problemlöser

Hinweise zu den Karten

|1|1  Das Störungsbild der Posttraumatischen Verbitterungsstörung (PTED)

1.1  Klinisches Bild

Verbitterung ist eine allgemein bekannte menschliche Emotion. Alle Menschen können sich spontan etwas unter einer „verbitterten Person“ vorstellen und/oder waren selbst schon verbittert. Dies gilt ebenso, wie für Angstgefühle, die man auch nicht weiter erklären muss. Und ebenso wie Angst kann auch Verbitterung – je nach Intensität, Dauer und Folgen – pathologisch werden und sich zu einer psychischen Störung entwickeln.

Die Diagnose einer „Posttraumatischen Verbitterungsstörung“ (Linden, 2003) beschreibt Patienten, die unter einer schwer beeinträchtigenden, spezifischen, langanhaltenden und schwer behandelbaren emotionalen Störung leiden, die in der Folge eines singulären und einschneidenden, wenn auch lebensüblichen Ereignisses aufgetreten ist. Auslösende Ereignisse dieser Art können beispielsweise Konflikte am Arbeitsplatz („Mobbing“), Arbeitsplatzverlust, der Tod eines Angehörigen, Scheidung, eine schwere Krankheit oder Vereinsquerelen sein. Die Verbitterungsstörung („post-traumatic embitterment disorder“ – PTED) kann nach der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD-10; WHO, 1992) mit dem Code F43.8 verschlüsselt werden im Sinne einer „spezifischen Reaktion auf eine schwere Belastung“ bzw. der Sonderform einer pathologischen Belastungsreaktion bzw. nach ICD-11 als 6B4Y.

Bei der Entstehung, Auslösung und Aufrechterhaltung vieler psychischer Störungen spielen Stressoren wie kritische Lebensereignisse, traumatische Erfahrungen oder chronische Belastungen eine wichtige Rolle. In der Regel sind es aber keine Auslöser, sondern nur „Gelegenheitsursachen“ oder auch nur krankheitsbedingt als Belastung erlebte Lebensumstände. Auch ist es in der Regel nicht möglich, aufgrund eines bestimmten Ereignisses vorherzusagen, wie die psychische Reaktion aussehen wird. Ebenso wenig kann man aus der psychischen Reaktion auf die Ursache rückschließen. Das ist wie in der Chirurgie, wo ein Knochenbruch viele Ursachen haben, ein Sturz zu sehr unterschiedlichen Frakturen führen und eine Gelenkinstabilität zu unterschiedlichsten Belastungen führen kann.

Von dieser Regel gibt es aber Ausnahmen. Bei den belastungsreaktiven Störungen wird angenommen, dass belastende Ereignisse oder Stressoren die |2|entscheidenden ätiologischen Faktoren sind, ohne die es zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht zu einer psychischen Störung gekommen wäre. Die Gruppe der Anpassungsstörungen wird häufig als Restkategorie oder „Lückenfüller“ betrachtet (Bengel & Hubert, 2010). Ein Grund hierfür ist das Fehlen eines präzisen Diagnose-Algorithmus und auch die Besonderheit, dass Belastungsreaktionen sich spätestens nach einem halben Jahr zurückgebildet haben sollten und bei fortbestehender Symptomatik von einer sonstigen Störung auszugehen ist. Wenn die Kriterien für andere Störungen erfüllt sind, dann gilt auch beim Vorliegen eindeutiger Belastungsereignisse, dass die Phänomenologie diagnostisch größeres Gewicht hat als der Auslöser.

Wie die wissenschaftliche Bearbeitung der Posttraumatischen Belastungsstörung („post-traumatic stress disorder“ – PTSD) inzwischen aber gezeigt hat, gibt es psychische Störungen, die nach Kontextbedingungen (lebensbedrohliches, außergewöhnliches, Panik auslösendes Ereignis), Zeitverlauf (Störungsbeginn in eindeutigem Zusammenhang mit dem Ereignis) und Psychopathologie (Intrusionen, Vermeidung spezifischer Orte) diagnostisch nur dann adäquat eingeordnet werden können, wenn Psychopathologie und Auslöser gemeinsam berücksichtigt werden (Stein et al., 2011). Eine weitere Störung dieser Art, analog zur PTSD, ist die PTED.

Bei beiden Erkrankungen sind psychopathologische Kernsymptome Intrusionen, Hyperarousal, Herabgestimmtheit und Vermeidung. Der Leitaffekt der PTED ist aber nicht Angst, sondern Verbitterung und Aggression gegen sich selbst und die Umwelt. Der Auslöser ist kein „unbedingt“ Panik auslösender Stimulus, sondern ein „bedingter“ Stimulus, der vor dem Hintergrund individueller zentraler Grundannahmen des Betroffenen zu einem Erleben von Ungerechtigkeit, Herabwürdigung, Kränkung und Verbitterung führt. Auch hier kommt es zu heftigen emotionalen Reaktionen, wenn der Patient mit dem kritischen Erlebnis oder damit assoziierten Situationen oder Personen konfrontiert wird. Entscheidend ist, wie bei der PTSD, dass der Patient sich – ausgelöst durch äußere Stimuli oder spontan – immer wieder an das kritische Ereignis erinnern muss, mit der Folge einer dauernden Reaktivierung der negativen Begleitemotionen.

Fallbeispiel: Posttraumatische Verbitterungsstörung

Eine 42-jährige Patientin kommt auf Anraten ihrer ambulanten Nervenärztin unter der Einweisungsdiagnose einer depressiven Entwicklung zur stationären Aufnahme. Die attraktive und modisch gekleidete Frau hat tiefe Augenringe und einen leiderfüllten Gesichtsausdruck. Zunächst beschreibt sie eine Symptomatik, die an eine depressive Episode mit deutlichem somatischem Syndrom erinnert. Die Stimmung ist niedergeschlagen und verzweifelt, der Antrieb reduziert, sie klagt über Schlafstörungen.

|3|Anders als bei einer depressiven Störung finden sich aber auch heftige Emotionsausbrüche mit Verbitterung, Groll, Beschämung und Wut und dies insbesondere bei Erwähnung ihrer Ehe. Bei Ablenkung durch andere Themen oder Mitpatienten kann sie phasenweise einen ausgeglichenen, ja sogar fröhlichen Affekt mit guter Schwingungsfähigkeit zeigen.

Die Patientin berichtet über eine unauffällige kindliche Entwicklung sowie eine erfolgreiche Schulausbildung und ein Wunschstudium ohne Anhalt für psychische Beeinträchtigungen. Kindheit und Jugend werden als harmonisch und behütet beschrieben. Das Familienleben und die Beschäftigung mit den Kindern habe stets im Mittelpunkt der Altfamilie gestanden. Die Patientin ist bereits seit der Schulzeit mit ihrem Ehemann liiert und habe ihn früh geheiratet. Für beide Partner sei es die erste und einzige intime Beziehung gewesen. Für die Patientin habe die Familie sowie eine harmonische und innige Partnerschaft stets im Mittelpunkt gestanden und andere Interessen habe sie den Familienaktivitäten stets untergeordnet. Obwohl sie bis auf kurze Unterbrechungen seit Studienende in Teilzeit berufstätig war, habe sie auch ihre berufliche Entwicklung zugunsten der Familie eher hintangestellt („Wenn ich Karriere mache und mich für anderes engagiere, bleibt ja keine Zeit mehr“). Die Ehe sei in den ersten 15 Jahren eng und harmonisch verlaufen.

Vor zwei Jahren habe der Ehemann eine neue, karriereträchtigere Stelle angenommen, für die er sich zeitlich sehr engagiert habe. Die Patientin habe ihn noch erheblich mehr unterstützt und entlastet, um ihm den weiteren beruflichen Aufstieg zu erleichtern. Nach einigen Wochen habe er zunehmend eigene Hobbys und Unternehmungen mit den neuen Kollegen wahrnehmen wollen und kurz darauf habe sie dann zufällig einen sehr gefühlsbetonten Brief ihres Ehemannes an eine Arbeitskollegin gefunden, aus dem hervorging, dass er eine sexuelle Beziehung mit dieser (deutlich jüngeren) Arbeitskollegin begonnen habe und zu ihr ein enges Vertrauensverhältnis empfinde.

Für die Patientin sei in diesem Moment „die Welt zusammengebrochen“. Sie sei bitter enttäuscht, verletzt und empört, wie ihr Ehemann einen solchen Verrat an ihrer Ehe üben und ihr so eine Demütigung antun könne („nach allem, was ich für unsere Familie getan habe“). Was sie aber als besonders ungerecht und verletzend erlebt und was ihr „die Luft genommen“ habe, war, dass ihr Ehemann gegenüber der Kollegin zum Ausdruck brachte, dass er sich von ihr „verstanden fühle“. Dabei habe sie als seine Ehefrau seit Jahren immer wichtig genommen, was ihm wichtig war, ihn bei allem unterstützt, alles für ihn getan und eigene Bedürfnisse immer wieder hinter den seinen zurückgestellt. Sie erlebe diese Aussage, dass die andere „ihn verstehe“, als ungerecht, als Kränkung, Herabwürdigung und Demütigung. Was sie besonders verletze, sei der Vertrauens|4|bruch und die Ungerechtigkeit des Vorwurfes, was sie „völlig aus der Bahn geworfen“ habe. Ihr ganzer Lebensentwurf und alles, was ihr wichtig war, sei zerstört. Seit dem Auffinden des Briefes vor ca. zwei Jahren sei ihr Ehemann aus dem gemeinsamen Haushalt in eine eigene Wohnung gezogen, wo jetzt auch seine Arbeitskollegin und neue Partnerin lebe. Eine Scheidung wolle er noch hinauszögern, um „den Kindern und der Familie nicht so wehzutun“.

Die Patientin grübelt seit dem Ereignis viele Stunden am Tag mit heftigen Affekten von Groll, Bitterkeit und Verzweiflung, weint häufig, kann sich nur schwer konzentrieren, leidet unter Appetitlosigkeit und erheblicher Gewichtsabnahme sowie ausgeprägten Stimmungseinbrüchen, insbesondere wenn sie an ihre Ehe oder den Ehemann erinnert wird. Sie könne ihm nichts verzeihen, provoziere bewusst Konflikteskalationen und fühle sich danach noch verbitterter und gedemütigter („Wenn ich ihn nur ansehe, kommt alles an Erinnerungen mit Bitterkeit hoch und ich verliere völlig die Fassung …“). Sie mache sich einerseits selbst heftige Vorwürfe („War ich ihm nicht gut genug?“) und habe andererseits heftige quälende Rachegedanken gegenüber dem Ehemann und seiner Arbeitskollegin, also seiner neuen Partnerin. Sie habe daran gedacht, selbst Ehebruch zu begehen, obwohl dies völlig ihren Prinzipien zuwiderlaufe, ihren Ehemann vor allen Arbeitskollegen mit Enthüllungen zu blamieren oder einen „knallharten Scheidungskrieg“ zu beginnen, der ihn lebenslang strafe. Wenn sie in der Öffentlichkeit Frauen sehe, die der Arbeitskollegin ähneln, gerate sie in heftige emotionale Ausnahmezustände mit Gedanken an den Ehemann und seine Geliebte und gerate daraufhin so in Wut, dass sie daran denke, die unbekannte Frau körperlich zu attackieren. Sie habe auch schon ihren Ehemann verbal und körperlich angegriffen (z. B. geohrfeigt). Sie habe sich seither auch gänzlich aus sozialen Kontakten herausgezogen, da sie sich vor den Freunden schäme, dass ihr eigener Ehemann ihr diese Schmach angetan habe, wo sie sonst das Bild einer heilen Familie vermittelt habe. Sie verlasse das Haus kaum noch, da sie keine Paare sehen könne. Wenn sie ohne Ablenkung ist oder abends im Bett das Licht ausmacht, dann kommen Fantasien hoch, wie sie das Auto der neuen Partnerin beschädigt oder sogar in der Wohnung des Mannes Feuer legt. Sie habe auch immer wieder Gedanken, ob es nicht besser sei, aus dem Leben zu scheiden und mit allem Schluss zu machen. Dann hätte das alles ein Ende und ihr Mann könnte sehen, was er angerichtet hat.

|5|1.2  Definition und diagnostische Kriterien der PTED

Die Posttraumatische Verbitterungsstörung ist eine pathologische Reaktion auf einschneidende Lebensereignisse (Linden et al., 2008). Auslöser ist ein außergewöhnliches, wenn auch lebensübliches negatives Lebensereignis wie z. B. eine Scheidung oder Kündigung, das mit einer persönlichen Kränkung, Herabwürdigung und Verletzung zentraler Werte bzw. sogenannter „kognitiver Grundannahmen“ einhergeht (vgl. Kapitel 2.4). In der Folge entwickeln die Betroffenen einen ausgeprägten und langanhaltenden Verbitterungsaffekt.

Die Störung ist nicht „traumatisch“ wegen des vorangegangenen Auslöseereignisses, sondern aufgrund der zeitlichen Entwicklung. Noch Minuten vor dem Ereignis waren die Menschen gesund. Minuten später sind sie krank und schwer beeinträchtigt. So etwas kann nicht nur passieren, wenn man in einen Autounfall verwickelt wird, und danach unter einer PTSD leidet, sondern auch als Folge einer Verletzung zentraler Grundannahmen durch scheinbar lebensübliche Ereignisse.

Es besteht eine Parallelität der PTED zur PTSD insofern, als Intrusionen und auch die Vermeidung von Situationen oder Objekten, die mit dem Ereignis in Zusammenhang stehen, charakteristische Symptome sind. Es finden sich emotionale Entgleisungen bei Erinnerung an das kritische Ereignis, Suizidalität, dauerhafte Herabgestimmtheit, Antriebsverlust und häufig auch Aggressionsfantasien. Die Patienten sind im Gegensatz zur Depression bei Ablenkung oder auch, wenn Rachefantasien angestoßen werden, zu einem holothymen, d. h. vollen und sogar positiven Affekt in der Lage. Als Leitsymptom findet sich bei den Patienten klinisch ein ausgeprägter und langanhaltender Verbitterungsaffekt in Verbindung mit multiplen weiteren psychopathologischen Symptomen, die ein charakteristisches Krankheitsbild ergeben.

Diagnostische Kriterien der PTED

A.

Kernkriterien

1.

Es ist ein schwerwiegendes negatives Lebensereignis zu identifizieren, in dessen unmittelbarer Folge sich die psychische Störung entwickelt hat.

2.

Der Patient erlebt das kritische Lebensereignis als „ungerecht“ oder herabwürdigend und kränkend.

3.

Der Patient leidet unter immer wiederkehrenden, sich intrusiv aufdrängenden Erinnerungen an das Ereignis.

4.

Der Patient reagiert mit Verbitterung und emotionaler Erregung, wenn er an das Ereignis erinnert wird.

B.

|6|Zusatzsymptome

 1.

Der Patient leidet unter einer dauerhaften Herabgestimmtheit. Die emotionale Grundstimmung ist dysphorisch-aggressiv-depressiv getönt und erinnert oft an eine Depression mit somatischem Syndrom.

 2.

Die emotionale Schwingungsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt. Der Patient zeigt normalen Affekt, wenn er abgelenkt wird, oder kann beim Gedanken an Rache sogar lächeln.

 3.

Der Antrieb ist reduziert und wirkt blockiert. Der Patient erlebt sich weniger als antriebsgehemmt, sondern eher im Sinne einer Antriebsverharrung als antriebsunwillig.

 4.

Der Patient erlebt sich als Opfer.

 5.

Der Patient erlebt sich als hilflos und sieht sich nicht in der Lage, das Ereignis oder seine Ursache zu bewältigen.

 6.

Der Patient macht sich selbst Vorwürfe, das Ereignis nicht verhindert zu haben oder nicht damit umgehen zu können.

 7.

Der Patient meint, dass es ihm „egal“ sei, wie es ihm gehe, und dass er nicht wisse, ob er die Wunde heilen lassen wolle.

 8.

Der Patient leidet unter einer Reihe unspezifischer somatischer Beschwerden, z. B. Schlafstörungen, Appetitverlust oder Schmerzen.

 9.

Der Patient berichtet über eine phobische Symptomatik, die eng mit dem Ort oder Urheber des kritischen Ereignisses verbunden ist.

10.

Der Patient leidet unter Lebensüberdruss oder Suizidgedanken.

11.

Der Patient hat wiederkehrende Gedanken an Rache, Aggressionsfantasien oder an erweiterten Suizid.

C.

Es bestand keine manifeste psychische Störung im Jahr vor dem kritischen Lebensereignis, die die aktuelle Problematik erklären kann. Der gegenwärtige Zustand ist kein Rezidiv einer vorbestehenden psychischen Erkrankung.

D.

Die Störung verursacht klinisch bedeutsame Belastungen oder Beeinträchtigungen im subjektiven Befinden wie auch im sozialen und Berufsbereich sowie anderen wichtigen Lebensbereichen.

E.

Die Dauer der Beeinträchtigungen ist länger als sechs Monate.

Die Krankheitswertigkeit der PTED ist nicht vom auslösenden Ereignis, sondern ausschließlich aus der pathologischen Reaktion abzuleiten, d. h. der Art und Schwere der Psychopathologie bzw. der daraus resultierenden Funktions-, Fähigkeits- und Partizipationsstörungen. Ebenso wie das Erlebnis eines Autounfalls nicht hinreichend für die Diagnose einer PTSD ist, so gehören auch Tod, Scheidung, Kündigung usw. zum menschlichen Leben und können für sich allein keine PTED-Diagnose begründen, auch dann nicht, wenn sie zu negativen Beeinträchtigungen der Befindlichkeit führen im Sinne „gesunden Leidens“ (Linden, 2013a). Menschen verfügen über eine psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz), die es ihnen ermöglicht, belastende Ereignisse zu verarbeiten.

|7|Erst wenn es zu bleibenden psychopathologischen Normabweichungen kommt, ist von Krankheit zu sprechen. Nach der ICD-10 kann diese Sonderform einer abnormen Erlebnisreaktion unter F43.8 verschlüsselt werden im Sinne einer spezifischen Reaktion auf eine schwere Belastung, bzw. nach der ICD-11 unter 6B4Y als „sonstige näher bezeichnete Störung, die spezifisch mit Stress assoziiert ist“. Passagere und leichte Verbitterungsreaktionen können nach ICD-10 unter F43.23 als Anpassungsstörung mit anderen Gefühlen, d. h. als „Anpassungsstörung mit Verbitterung“ verschlüsselt werden. Nach ICD-11 können sie als „akute Stressreaktion“ (Code: QE84) verschlüsselt werden, wenn sie innerhalb von Stunden oder Tagen wieder abklingen, oder als „Anpassungsstörung mit Verbitterung“ (Code: 6B43), wenn Betroffene sich über einige Zeit hinweg ständig mit einem Vorkommnis befassen, es zu einer inadäquaten Bewältigung der Belastung und einer deutlichen Lebensbeeinträchtigung kommt, ohne dass die Kriterien einer PTED erfüllt sind.

Merke: Verschlüsselung der PTED nach ICD-10 und ICD-11

Die PTED wird nach der ICD-10 unter F43.8 als eine „spezifische Reaktion auf eine schwere Belastung“, d. h. hier eine spezifische Verbitterungsreaktion verschlüsselt. Ausgeprägte Verbitterungsreaktionen, die nicht die Kriterien einer PTED erfüllen, sind nach ICD-10 unter F43.23 als Anpassungsstörung mit anderen Gefühlen, d. h. als „Anpassungsstörung mit Verbitterung“ zu verschlüsseln.

Die PTED wird nach der ICD-11 unter 6B4Y im Sinne einer „sonstigen näher bezeichneten Störung, die spezifisch mit Stress assoziiert ist“ verschlüsselt. Allgemeine Verbitterungsreaktionen können in der ICD-11 entweder als „akute Stressreaktion“ unter QE84 verschlüsselt werden, wenn sie innerhalb von Stunden oder Tagen wieder abklingen, oder als „Anpassungsstörung mit Verbitterung“ unter 6B43, wenn es über einige Zeit zu einer ständigen Befassung mit einem Vorkommnis kommt, eine inadäquate Belastungsbewältigung und eine deutliche Lebensbeeinträchtigung vorliegen und die Kriterien einer PTED nicht erfüllt sind.

1.3  Differenzialdiagnostik der PTED

1.3.1  Differenzierung von Intrusionen, Grübeln und verwandten Symptomen

Es gehört zum psychologischen Basiswissen, dass Erinnerungen mit Emotionen assoziiert sind, oft in gleicher Art und Stärke wie während der tatsächlichen Ereignisse. Wenn Patienten mit einer PTED sich nicht mehr an das Vorgefallene erinnern würden oder einfach vergessen und zur Tages|8|ordnung übergehen könnten, dann gäbe es keine Probleme. Vergessen kann psychisch sehr heilsam sein, wie schon Kaiser Friedrich III (1415 – 1493), genannt der Weise, in dem Satz zusammengefasst hat: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“, und was Johann Strauss (1825 – 1899) dann nochmals in der Operette „Die Fledermaus“ als Lebensweisheit bekannt gemacht hat.

Insofern sind die Diagnosen einer PTSD oder PTED nicht danach zu stellen, ob ein Mensch etwas Schlimmes erlebt hat, sondern danach, ob das Erlebte weiterhin im Gedächtnis virulent ist, diese Erinnerungen sich unwillentlich aufdrängen und von belastenden Emotionen begleitet werden. Das psychopathologische Kernproblem ist, dass die Betroffenen nicht vergessen können, sich sogar vor den Erinnerungen fürchten und diese deswegen versuchen zu unterdrücken, was sie dann nur häufiger und intensiver macht. Dieses psychopathologische Phänomen wird als „Intrusionen“ bezeichnet (Linden, 2013d).