Fahr nicht fort, stirb am Ort! - Til Petersen - E-Book

Fahr nicht fort, stirb am Ort! E-Book

Til Petersen

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Beschreibung

Der Sommer vor zwei Jahren. Die Geschäfte von Bestatter Hermann Thaddäus König laufen schlecht. Als er seinem väterlichen Freund Manfred in einem Akt der Freundschaft beim Übergang ins Jenseits und damit sich selbst aus der Bredouille hilft, bleibt das nicht ohne Folgen. Es führt Hermann Thaddäus (vorerst) heraus aus der Pleite, die Jugendliebe Emma in Hermanns Bett und manchen BewohnerIngelreins in Königs schwarzes Firmenauto. »Klasse! Ein Lesevergnügen. Ich bin jetzt Fan!« Klaus-Peter Wolf, Nr. 1 Bestsellerautor

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Inhaltsverzeichnis

1 Tag 0 – Ich

2 Tag 1 – Manfred

3 Tag 2 – Emma

4 Tag 2 – Susanne

5 Tag 10 – Siegfried

6 Tag 10 – Elvira

7 Tag 10 – Siegfried

8 Tag 10 – Dieter

9 Immer noch Tag 10 – Olga

10 Tag 16 – Ich und ein paar andere

11 Tag 17 – Susanne

12 Tag 19 – Emma

13 Tag 19 – Elvira

14 Tag 19 – Emma

15 Tag 19 – Emma und Ich

16 Tag 20 – Ich

17 Tag 22 – Emma

18 Tag 22 – Maria

19 Tag 22 – Olga

20 Tag 23 – Susanne

21 Tag 23 – Ich

22 Tag 23 – Hansjürgen

23 Tag 24 – Olga

24 Tag 24 – Erwin

25 Tag 24 – Artan

26 Tag 24 – Rüdiger

27 Tag 24 – Michaela

28 Tag 24 – Dieser Tag will einfach nicht enden

29 Tag 25 – Emma

30 Tag 25 – Ich und später auch Emma

31 Tag 25 – Artan

32 Tag 26 – Dennis

33 Tag 26 – Hansjürgen

34 Tag 26 – Emma

35 Tag 26 – Hansjürgen

36 Tag 27 – Michaela

37 Tag 27 – Emma

38 Tag 27 – Emma und ich

39 Tag 28 – Gabriele

40 Tag 31 – Emma, Dieter und ich

41 Tag 31 – Emma

42 Tag 31 auf dem Weg zu Tag 32

43 Tag 35 – Ein Unbekannter

44 Tag 35 – Susanne

45 Tag 35 – Herr Hartmann

46 Tag 35 – Ingeborg

47 Tag 36 – Kitty

48 Tag 36 – Ich

49 Tag 36 – Noch mal ich

50 Tag 36 – KR89VGTE0

51 Tag 37 – Hotte

52 Tag 37 – Ronny

53 Tag 37 – Emma

54 Tag 37 – Die anderen und ich

55 Tag 38 – Emma und ich

56 Tag 38 – Heinz Rudolf

57 Ungefähr 730 Tage später – Lothar

Nehmt Euch nicht so ernst!

Über den Autor

Bücher des Autors

Til Petersen

FAHR NICHT FORT, STIRB AM ORT!

Krimisatire

www.earlybirdbooks.de

Impressum

Die Handlung in diesem Werk und alle darin auftretenden Personen sind frei erfunden. Ebenso die fiktive Gemeinde Ingelrein. Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Bibliografische Informationen: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die über das Urhebergesetz hinausgeht, ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, die Speicherung in elektronischen Systemen und das Auslesen dieses Buches zum Anlernen sogenannter künstlicher Intelligenzen.

ISBN 978-3-98576-038-1

© Early Bird Books, Hauptstr. 156, 68799 Reilingen

Titelgestaltung: CommPoint – Kommunikation / Buch / Hörbuch - www.commpoint.de

Zeichnung für Titel: Josef Zahs, Z-Design Zahs

Lektorat: Birgit Böckli

Dieses Werk wurde gefördert durch ein Stipendium der Verwertungsgesellschaft Wort.

Allen Menschen gewidmet, die sich im Klaren darüber sind, dass keiner von uns hier lebend rauskommt.

»Sterben kann gar nicht so schwer sein - bisher hat es noch jeder geschafft.«

Norman Mailer

1 Tag 0 – Ich

Das Bestattungswesen gilt gemeinhin als krisenfest. Gestorben wird immer ist eine Binsenweisheit. Und tatsächlich hat die zuverlässige Frequenz, mit der das Ableben die Mitmenschen ereilt, unserem Institut über drei Generationen hinweg ein annehmbares Auskommen beschert. Abgesehen von verkraftbaren saisonalen Schwankungen. Während bevorzugt im Februar, gefolgt vom Januar verschieden wird, ist die Sommerflaute zwischen Juli und September ein bekanntes Phänomen. In der feuchtkalten, dunkel-depressiven Jahreszeit stirbt es sich einfach leichter als in kurzen, lauen Sommernächten.

Immense Fortschritte in der Medizin, Fitnessstudios und nicht zuletzt ein um sich greifender Veganismus haben jedoch in den zurückliegenden Jahren die Amplitude der menschlichen Lebenserwartung unnatürlich verändert.

Und das, während zeitgleich die Lebensdauer von Fernsehern, Waschmaschinen und Toastern künstlich, aber legal begrenzt wird.

Das ist nicht fair!

Nicht zu unterschätzen ist zudem der wachsende Konkurrenzdruck. Angefangen beim polnischen Discountbestatter über die Eis-, Wasserfontänen- oder Wikingerbestattung bis hin zu der dann doch sehr skurrilen Malerei mit der Asche der Verstorbenen. Letzteres, wie könnte es auch anders sein, ein Internetangebot aus den USA.

All das wäre ja noch erträglich und kaufmännisch halbwegs kalkulierbar, wäre da nicht der Sommer vor zwei Jahren gewesen. Die Welt schien stillzustehen in jenen Monaten. Aus der Sommerflaute wurde ein Sommerloch. Es wurde nur noch gelebt, aber nicht mehr gestorben.

Es war zum Verrücktwerden.

Ich spürte förmlich den Hohn und den Spott der unzähligen rüstigen Silbernacken, wie sie an den Wochenenden mit ihren wohlgemerkt neuen Trekkingbikes (welch ein Optimismus) zu stundenlangen Ausflügen aufbrachen. Oder beim Einkauf. Dieses braun gebrannte, faltige, aber hämische Grinsen an der Kasse, das mir eindeutig sagen wollte, heute bekommst du mich nicht und morgen nicht gleich, während zuckerfreier Joghurt, Biogemüse und reihenweise mehrfach ungesättigte Fettsäuren eingetütet wurden.

Niemand schien in diesen Sommerwochen der schwülen Hitze zu erliegen, ermüdet in einem Badesee zu ertrinken oder einfach nur aufgrund fortgeschrittenen Alters von seinem Ableben Gebrauch machen zu wollen. Zumindest bekam ich so gut wie nichts davon mit.

Nun, es könnte sein, dass auch die ein wenig außer Kontrolle geratene Beisetzung von Erwin Sackmann im April dieses Jahres den ein oder anderen Kratzer an unserem bis dato makellosen Firmenimage hinterlassen hatte. Das übergroße und fröhlich-bunte Blumenbukett mit der roten Schärpe und der Aufschrift Alles Gute zum Einzug, welches die Trauergemeinde nach der Aussegnung am offenen Grab empfangen hatte, war dabei sogar das kleinste Übel gewesen.

Die Zusammenarbeit mit dem Blumenstübchen Krause haben wir übrigens beendet, ebenso wie Frau Giesecke aus der Sandstraße. Der Kranz mit den weißen Lilien und der Schleife mit dem gedruckten Wunsch für die neue Wohnung, sie möge in Frieden ruhen, hatte nicht ganz ihren Geschmack getroffen.

Und all das ausgerechnet in diesem Jahr. Die teure, neue Kühlung – kaum benutzt – schlug monatlich mit horrenden Beträgen zu Buche und der Gesetzgeber hatte just im Januar befunden, ich müsse nun auch unserem Leichenwäscher den Mindestlohn bezahlen.

In diesem Zustand konnte ich das Familienunternehmen nicht in die Hände meiner Tochter legen. Ich war es ihr schuldig, alles zu geben und dieser finanziell prekären Situation etwas Positives abzugewinnen. Getreu dem Motto, wenn dir einer Zitronen schenkt … na ja, Sie wissen schon, sah ich diesen Engpass als Chance an, begriff ihn als Herausforderung für mich als Unternehmer, Arbeitgeber und Vater.

Marketing sollte es richten. Die Werbung ein wenig aufpeppen. Ich war es ehrlich gesagt auch schon leid, dieses pietätvolle Foto in dezenten Graustufen, auf dem meine durchaus bezaubernde Tochter Susanne und ich freundlich jeden Samstag in der Tageszeitung potenziellen Kunden entgegenlächelten.

Als hätten die noch was zu lachen.

Markiger sollte es werden, herausstechen aus der Masse. Um es gleich vorwegzuschicken, ich hatte mir das deutlich kommoder vorgestellt. Ein Glas Rotwein, zwei, drei Blatt Papier und eine ruhige, abendliche Stunde mit Ben Webster oder Art Pepper. Pustekuchen. Dieser Spätjuniabend eskalierte. Neben zwei vollends geleerten Flaschen Spätburgunder waren gegen ein Uhr nachts ein zu drei Vierteln sezierter Collegeblock und seine herausgerissenen, zusammengeknüllten Blätter stumme Zeugen dieser Eskalation.

Intellektuell und kreativ war der Abend weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Qualität der Ergüsse meiner geistigen Arbeit sank bemerkenswert in direkter Abhängigkeit zum steigenden Alkoholpegel:

In der Kiefer schläft er tiefer!

Wir brennen für Sie!

Zu guter Letzt!

Rest at best!

Praktisch denken, Särge schenken!

So weit meine Top fünf der Chronik eines geistigen Stillstandes. Wobei ich den Versuch, der Reklame ein wenig Lokalkolorit zu verleihen, zunächst in einer engeren Wahl hatte. Schlussendlich erschien mir jedoch

Fahr nicht fort, stirb am Ort!

eher unschicklich für eine zielgruppengerechte Ansprache.

Da sich aus zwingenden monetären Gründen der Einkauf externer Hilfe verbat, beschloss ich noch in derselben Nacht, meine Denkweise zu ändern und ganz klassisch auf eine Optimierung des Vertriebs zu setzen.

Aber halten Sie mich jetzt bitte nicht für naiv. Trotz des zunehmend spürbaren Weines war mir von vorneherein klar, dass es hier mit gutem Zureden alleine nicht getan sein würde. Und so begann ich ernsthaft über lebensverkürzende Maßnahmen nachzudenken.

Aber verzeihen Sie die Unhöflichkeit; während ich hier plappere, vergaß ich ganz, mich vorzustellen. König, mein Name. Hermann Thaddäus König. Bestattungsunternehmer und beinahe käuflicher Lebensbeender.

2 Tag 1 – Manfred

Mit einer unerwartet schnellen Handbewegung verscheuchte Manfred die grünlich schimmernde Fliege, die seit fast einer Stunde versuchte, dort Halt zu finden, wo einst buschige Augenbrauen gewachsen waren. Die gelben Flügel der Kanüle im kreidefarbenen Handrücken schienen für einen Moment mit abheben zu wollen.

»Vorsicht, Manfred! Nicht, dass du dir die Nadel rausreißt …«

»Und wenn schon.« Die Stimme war einsilbig und flach. »Rechts ist nur dafür da, dass ich nicht vertrockne. Hier«, er hob leicht den linken Arm, »hier läuft das gute Zeug durch!«

Ich hatte die zweite Kanüle mit den blauen Plastikflügeln bis dahin gar nicht wahrgenommen. Fast unsichtbar schlängelte sich von der linken Hand meines besten Freundes der transparente Kunststoffschlauch hinauf zu den Apparaten, aus denen in festgelegten Mengen pro Zeit die verschiedensten Ingredienzien in Manfred gepumpt wurden.

»Dieser Oberarzt, dieser Dr. Schnösel …«

»Schnelzel, er heißt Dr. Schnelzel«, korrigierte ich.

»Und? Wen kümmert’s? Für mich ist das ein Schnösel. Er hat jedenfalls gemeint, der Schnaps da würde jeden Tag so etwa dreitausend Euro kosten. Als ob mich das noch interessiert. Sollen sie es doch ausschalten, wenn’s zu teuer wird.«

Zum dritten Mal in den zurückliegenden zwei Jahren lag Manfred Rademacher hier im Schwetzinger Klinikum. Schon zweimal hatten die Ärzte ihm versprochen, sie hätten den Tumor in der Speiseröhre komplett entfernt. Diesmal waren sie vorsichtiger gewesen. Die dritte OP, die anschließende Chemo und die Bestrahlung hatten meinen Freund gebrochen, diesen einstigen Fels in der Brandung. Ein Meter neunzig geballte Kraft gepaart mit einem unbeugsamen Willen. Aus dem Nichts hatte Manfred in den Neunzehnhundertsechzigern in unserem gemeinsamen Heimatort Ingelrein die Schlosserei Rademacher gegründet. Fünfundzwanzig Leute hatte er mal beschäftigt. Ich war einer von ihnen gewesen.

Neunzehnhunderteinundsiebzig hatte mich mein Vater im Alter von sechzehn Jahren bei Manfred in die Lehre geschickt. Er war der Meinung gewesen, eine betriebsfremde Ausbildung habe Vorteile. Ich hatte ihn eines Besseren belehrt und meine Ausbildung nach einem Jahr abgebrochen. Manfred hatte es damals imponiert, dass ich, der kleine, schmächtige Hermann, die Chuzpe gehabt hatte, mich gegen Anton König, den herrischen Patriarchen, aufzulehnen.

Die Fliege versuchte ihr Glück bei mir, während Manfred meine Gedanken zu lesen schien.

»Ich wünschte, du wärst damals geblieben und hättest die Emma genommen. Dann gäb’s den Laden heute noch. Stattdessen muss ich zusehen, wie ich hier elend verrecke und diese Missgeburt von Schwiegersohn sich auch noch das private Rademacher-Vermögen unter den Nagel reißt!«

Soweit es seine Kräfte zuließen, erhob Manfred die Stimme immer dann, wenn es um Siegfried ging, den einstigen Hoffnungsträger im dunkelblauen Zweireiher, dem Tochter Emma schneller zu Füßen gelegen hatte als Auslegware in einem Teppichgeschäft. Dass Siegfried Jörgensen, bekannt auch als Siegfried der Schöne, unternehmerisch völlig unbelastet von jeglichem Talent war, hatte sich recht schnell gezeigt. Absurde Großunternehmerphantasien hatte die Hausbank nach nur einem Jahr Jörgensen-Herrschaft erstickt, und unter Tränen hatte Manfred mit ansehen müssen, wie aus der Insolvenz mangels Masse eine krachende Pleite wurde. Wie seine Belegschaft in die Arbeitslosigkeit glitt und Tochter Emma sich nicht mehr nur den Schlägen ihres Gatten, sondern auch der Übermacht des Alkohols beugte.

Seither setzte Siggi seine ausgeprägten Fähigkeiten überraschend erfolgreich im Investmentgeschäft ein. Seine größte Stärke bestand darin, schmierig zu sein und Versprechungen zu machen, die hinterher nicht gehalten wurden. Aber dazu später mehr.

Eine Träne rollte über Manfreds weiße, pergamentdünne Wangenhaut und folgte, wie von Geisterhand geführt, einer der unzähligen sich dort abzeichnenden blauen Adern.

»Und bei dir? Erfolgreich wie immer?« Mit brüchiger Stimme versuchte Manfred davon abzulenken, wie tief ihn diese Entwicklung verletzte.

»Du weißt doch, gestorben wird immer!« Ich lächelte ihn bittersüß an und drückte seine kalte Hand. Es wäre unangemessen, ja geradezu töricht gewesen, ihn jetzt, in dieser Situation, auch noch mit meinen Problemen zu belasten. Immerhin, es war schon der zwanzigste in diesem Juni und wir hatten bisher erst sechs Bestattungen gehabt. Neun waren das Minimum, um gerade so mit einer schwarzen Null hinzukommen.

»Ach Hermann, wenn’s nur endlich schon vorbei wär bei mir. Ich mag nicht mehr!« Manfreds feuchte Augen starrten an die Decke.

»Manfred!«, ich versuchte, gedämpft entrüstet zu wirken, »so was darfst du nicht sagen. Wenn der Herrgott das hört. Der schickt dich in die Hölle!«

»In die Hölle hat er mich schon vor zwanzig Jahren geschickt, dein Herrgott!« Manfred löste meine Hand langsam, aber bestimmt von der seinen und sah mich vorwurfsvoll an. »Erst holt er sich Trudel, DEIN Gott! Dann schenkt er mir diesen verlogenen Schläger Siegfried als Schwiegersohn, DEIN Gott, und schließlich diesen Krebs. Ich glaub, ich hab ein paar Sünden gut bei DEINEM Gott.«

Ich wagte nicht zu widersprechen. Zumal ich es auch nur so dahergesagt hatte. Also diese Sache mit Gott. Ich hatte da selbst so meine ganz eigenen Zweifel … und das als Kirchengemeinderat! Der zu frühe Verlust unserer Ehefrauen hatte Manfred und mich noch enger zusammengeschweißt. Auch wenn sich die Tragik in meinem Fall durchaus in Grenzen gehalten hatte. Ich lenkte vom Thema ab. »Die Musikerkollegen lassen grüßen – sie vermissen dich!«

»Quatsch!« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ihr könnt es nur nicht ertragen, dass niemand da ist, der Karlheinz‘ falsches Gebläse übertönt!« Ich wollte schon mitlachen, da verzog sich sein Lächeln zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Selbst die aufsässige Fliege fühlte sich mit einem Mal unwohl und wandte sich brüsk ab.

»Manfred? Was ist? Warte, ich hole den Arzt!«

»Lass gut sein, Hermann. Die Schmerzen kommen alle halbe Stunde.«

Ich stand auf und begann, etwas hilflos von einem Bein auf das andere zu wippen. »Dann brauchst du mehr Schmerzmittel. Vielleicht was Stärkeres!«

»Setz dich wieder hin!« Für einen kurzen Moment klang Manfreds Stimme wie gewohnt. Kräftig. Gefasst. Charismatisch. »Was Stärkeres gibts nicht. Und mehr geben sie mir nicht. Es könnte mich ja umbringen!« Aus zusammengekniffenen Augen warf Manfred einen spöttischen Blick auf die Tür seines Einzelzimmers. »Es geht zu Ende, Hermann. Aber es geht nicht schnell genug!«

Das stimmliche Aufbäumen hatte nur kurz angehalten. Ängstlich und irgendwie flehentlich blickten mich die leeren Augen an. Manfred weinte. »Hermann, ich kann nimmer. Ich will nimmer.«

Es dauerte ungefähr zehn Minuten. Auf den ersten Blick war kein Unterschied auszumachen. Der zuvor schon völlig entkräftete Körper lag immer noch regungslos da, als ich die Infusionspumpen mit dem Diazepam und dem Fentanyl wieder auf die Ursprungsdosierung zurückstellte. Ohne Gegenwehr war Manfred eingeschlafen. Er konnte und er wollte nicht mehr leben.

Ich erschrak ein wenig, als ich wieder zu mir kam und mit einem Mal die Herzfrequenztöne hörte. Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm ich den Pulsmesser wieder von meinem Zeigefinger und steckte ihn zurück an Manfreds Hand. Der fiepende Dauerton, der die Nulllinie auf dem Monitor akustisch untermalte, hatte fast etwas Beruhigendes.

Ich hatte mich gerade wieder gesetzt, als sich die Tür des Krankenzimmers öffnete. Mit einem milden Lächeln trat Schwester Gudrun an das Bett und strich mit dem Handrücken sanft über Manfreds Wange.

»Hat er es endlich geschafft, der Herr Rademacher.« Mit einer Mischung aus Mitgefühl und Zuversicht sah mich die kleine, pummelige Intensivschwester an. »Ist er friedlich eingeschlafen?« Eine Antwort wartete sie nicht ab. »Das hat er verdient, der Gute. Während sein bester Freund bei ihm ist.«

Ich nickte zustimmend und lächelte freundlich zurück.

Beim Hinausgehen erschlug ich noch die Fliege. Es schien mir nur logisch, jegliche Mitwisser auszuschalten. Und ein Mörder war ich ja bereits.

3 Tag 2 – Emma

Emma roch nach Weihnachten.

Seit ich sie am ersten Weihnachtstag neunzehnhundertsechzig zum ersten Mal gesehen hatte, war sie für mich Weihnachten. Damals war ich fünf gewesen und sie zwei. Doch ich hatte von Anfang an diesen Duft in der Nase gehabt. Diese Mischung aus Zimt und gebrannten Mandeln, einem Hauch Anis und einer Ahnung von Orange. Und auch wenn an jenem Morgen, fünfundfünfzig Jahre später, das Odeur einer frühen und viel zu starken Margarita dominierte, Emma blieb für mich der Inbegriff des Festes der Liebe. Daran änderten auch die fast fünfundzwanzig Grad nichts, die an diesem Sonntagmorgen einen weiteren heißen Sommertag ankündigten.

Es ist durchaus nicht unüblich in unserer Branche, auch an Sonntagen mit Hinterbliebenen die ersten Arrangements für eine würdevolle Beisetzung zu treffen. Normalerweise übernimmt meine Tochter Susanne diese Termine, während ich als Kirchengemeinderat meine sonntäglichen Pflichten erfülle. Und obgleich sie wusste, dass sich Emma Jörgensen schon am Vorabend angekündigt hatte, war sie einigermaßen erstaunt zu hören, dass ich diesen Termin selbst übernehmen würde. Aber zum einen ließ ich praktisch nie eine Gelegenheit aus, Emma nahe zu sein, zum anderen wäre es mir an diesem Sonntag ein wenig unangenehm gewesen, dem Herrgott in seinem Haus unter die Augen zu treten. Außerdem hatte ich es Emma nie vergessen, dass sie nach dem Tod meiner Frau immer für mich da gewesen war.

Ansonsten war ich erstaunlich entspannt. Ich hatte sogar eine ausgesprochen erholsame und erquickliche Nacht hinter mir. Ich hatte von Manfred geträumt und davon, wie er mir für meine Großtat dankte. Absurd, ich weiß. Aber es waren auch alle noch so nett zu mir gewesen nach seinem Dahinscheiden. Schwester Gudrun hatte mich zum Nachmittagskaffee mit Kuchen ins Schwesternzimmer der Intensivstation eingeladen und sogar dieser Dr. Schnelzel war auf ein Schwätzchen hereingekommen. Nebenbei bemerkt, so schnöselig ist der gar nicht. Nur jung und ein wenig unsicher.

Schwarz war schon immer Emmas Farbe gewesen. Schwarz betonte ihre fragile und durch die stets blässliche Haut geradezu morbide Erscheinung. Trotz ihrer auch schon fast sechzig Jahre hatte Emma sich ihren zierlichen, schlanken Körper bewahrt. Mit Disziplin und dank der mitunter handfesten Motivation ihres Gatten Siegfried. Alles über fünfundvierzig Kilo bei einer Körpergröße von etwa einem Meter sechzig bezeichnete er als adipös.

Ich erinnere mich noch gut an ein Grillfest der Kirchengemeinde vor gut zwanzig Jahren. Es war einer der wenigen unbeschwerten, ja fast euphorischen Momente in Emmas Leben. Sie schien glücklich gewesen zu sein, gelöst, und sie hatte tatsächlich mit einer zweiten Bratwurst geliebäugelt. Siggi, der Große, Siggi der Schöne hatte ihr diese Idee sogleich vergällt. Schweinisch grunzend war er an ihr vorbei schwadroniert, nicht ohne eine üppige Wampe anzudeuten.

Emma hatte gehorcht. Wie immer.

»Ich bin froh, dass gerade du bei ihm warst.« Emma zupfte mit ihrer winzigen Hand am Ärmel meines Jacketts und griff sich das weithin sichtbare weiße Katzenhaar. »Egal, wo du hingehst, Hades ist dabei.« Ein verstohlenes Lächeln huschte über ihre schmalen Lippen.

Im Gegensatz zu mir mochte Emma den ‚Dicken‘, wie sie ihn immer liebevoll nannte. Renate, meine verstorbene Frau, hatte irgendwann die Aufnahme des Haustieres beschlossen. Wohl in Anbetracht unserer zwar äußerst zweckmäßigen, aber eher leidenschaftslosen Ehe. Damals hatte sie ihn Purzel genannt. Für ein Tier, das bis heute so aussieht, als hätte man es nach der Geburt mit Wucht gegen die Wand geworfen, um diesen dauergrimmigen Gesichtsausdruck zu generieren, reichlich unpassend. Angesichts seiner beachtlichen Körperfülle und des Habitus, eines Despoten schien der Name zunehmend deplatziert. Nach Renates Tod vor zehn Jahren war ich offen gestanden kurz versucht gewesen, Purzel, den Perser, nach altägyptischem Vorbild seiner Herrin als Grabbeigabe mitzugeben, hatte mich aber eines Besseren besonnen. Ich wollte dem Kater stattdessen das schenken, woran ihm in den bis dahin acht Jahren offensichtlich so viel gelegen hatte: Die Freiheit! Heute noch dröhnt bisweilen Renates schrilles »Tür zu, sonst läuft der Kater weg« in meinen Ohren. In einem Anfall posthumen zivilen Ungehorsams hatte ich ganz aus Versehen am Tage nach Renates Beisetzung die Tür zu unserer kleinen, rückwärtig gelegenen Veranda offenstehen lassen. Purzels Interesse an den Freuden der weiten Welt war zu meiner Enttäuschung jedoch stark limitiert gewesen. Ich unternahm jedenfalls fortan keinen weiteren Versuch, mich des Katers zu entledigen. Vermutlich auch wegen der Vorhaltungen meiner Tochter Susanne:

»Du hast die Tür aufgelassen …«

»Weißt du eigentlich, was hätte passieren können?«

»Du hast Purzel ja nie geliebt …«

Purzel und ich hatten daraufhin ein Arrangement getroffen. Ich fütterte ihn und säuberte seine Katzentoilette, dafür beschränkte er seine Allüren auf das Verbreiten von Katzenhaaren und akzeptierte den Namen Hades. Das mit dem Namen war erstaunlicherweise kein Problem. Er hört auf Hades bis heute genauso wenig wie auf Purzel.

»Ach ja, der Kater.« Ich wandte mich auch gedanklich wieder Emma zu. »Auch ein Kämpfer. Wie Manfred.« Sanft drückte ich dabei Emmas eiskaltes Händchen. Erst jetzt fiel mir die übergroße Sonnenbrille auf, die ihr schmales Gesicht fast vollends verdeckte.

»Hat er sehr gelitten zum Schluss?« Hinter dem schwarzen Rand der Brille kullerte eine dicke Träne hervor und rollte über Emmas zarte Wange. Ich trocknete sie mit einem Taschentuch. Emma zuckte zurück und untermalte den empfundenen Schmerz mit einem hörbaren Einsaugen der Luft durch ihre Zähne.

»Nein. Er ist friedlich eingeschlafen«, versuchte ich, dieses zitternde Etwas mir gegenüber zu beruhigen. Verschämt verdeckte Emma den jetzt sichtbaren blauen Fleck und die leichten Abschürfungen unter ihrem rechten Wangenknochen mit der Hand. Sie wusste, dass ich mit dem Taschentuch die Spuren freigelegt hatte, mit denen sich Gatte Siegfried einmal mehr in ihrem Gesicht verewigt hatte.

»Tu das bitte nicht, Hermann …« Nur halbherzig wehrte Emma meine Hände ab, als ich ihr die Sonnenbrille vom Gesicht nahm. Ihre grünen Augen starrten mich ausdruckslos an, während ein schmaler Bach aus Tränen die gepuderte Camouflage in bräunlichen Streifen mit sich riss. Die Platzwunde an der Augenbraue und der lila schimmernde Ring um das Auge waren nur ansatzweise kaschiert. »Ich … war … selbst … schuld …«, stammelte Emma, während sie deutlich hörbar den Rotz in ihre Nase hochzog.

Während Emma einmal mehr unzählige Ausreden bemühte, um mir zu erklären, warum ich denn Verständnis dafür haben müsse, dass Siegfried ab und zu mal die Fassung verliere, stand meine Entscheidung längst fest. Der schöne Siggi würde bald Geschichte sein. Wenn ich es schaffte, meinen besten Freund vom Leben in den Tod zu befördern, würde es bei meinem besten Feind umso leichter sein.

Natürlich nicht sofort. Das wäre zu auffällig gewesen. Außerdem brauchte ich hier einen Plan. Siegfried war nicht nur über eins neunzig groß, er stand auch gut im Futter und war für seine einundsechzig Jahre im Gegensatz zu mir recht athletisch. Aber mir würde etwas einfallen.

Hundertprozentig sicher war ich mir hingegen, dass Siggi für mich tot mehr wert sein würde als lebendig. Obwohl er sich noch am Vorabend bei seiner Frau schlagkräftig für eine sparsame Beisetzung des Schwiegervaters stark gemacht hatte, hatte Emma erwartungsgemäß das komplette Premiumpaket mit Trauerrednerin, Granit-Grabstein und dem amerikanischen Truhensarg in schwarzer Klavierlackoptik gebucht. Auch bei den Blumenarrangements und den Todesanzeigen war nur das Beste gut genug.

Aus rein wirtschaftlicher Sicht hatte Manfred unserem kleinen Unternehmen in diesem Juni einen echten Freundschaftsdienst erwiesen.

4 Tag 2 – Susanne

Es war immer noch nicht völlig dunkel, als ich gegen zehn Uhr am Abend vom Frühschoppen nach Hause kam. Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber angesichts des Todes eines derart geachteten Mitbürgers unserer kleinen Landgemeinde wie Manfred Rademacher bewegte sich die kollektive Trauerarbeit in durchaus ortsüblichen Bahnen. Zunächst erfolgte am späten Vormittag, Emma hatte mich gerade verlassen, im Gemeindesaal das Trauerblasen der Ingelreiner Harmonia mit anschließender Ausgabe spiritueller Getränke. Jeder hatte im Übrigen Verständnis dafür gezeigt, dass ich angesichts der bedeutungsvollen Vorbereitungen von Manfreds Aussegnung dem Gottesdienst nicht hatte beiwohnen können. Außer Hansjürgen, aber der hatte eh immer an allem etwas auszusetzen. Noch auf dem Fußweg in Richtung Pollo, der Gastwirtschaft des Kleintierzuchtvereins, wohin ich mich zum Absingen bei der Liedertafel begab, setzte ich den hochnäsigen stellvertretenden Filialleiter der hiesigen Sparkasse auf meine virtuelle To-die-Liste.

Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber versuchen Sie es mal. Es ist unglaublich befreiend, Menschen, deren Anwesenheit man tendenziell als unangenehm oder gar hinderlich empfindet, auf ein solches geistiges Stück Papier zu setzen. Nur, um die Namen in Gedanken abzuhaken oder durchzustreichen. Je nachdem, was man präferiert.

Ein wenig war ich vor mir selbst erschrocken. Es war noch nicht mal ein Uhr an diesem Sonntag gewesen, und ich hatte schon zwei Namen auf meiner Liste gehabt.

Das bläuliche Licht des Fernsehers, das im Gaubenfenster unseres Hauses zur Hauptstraße hin flackerte, signalisierte mir, dass Susanne zu Hause war. Zu meiner großen Überraschung. Und Enttäuschung. Sie hätte jetzt eigentlich an dieser Beachbar am Weiher in Lambsheim in der Pfalz sein müssen, um mit Freunden zu feiern. Vor allem mit ihrem Freund. Daniel, David, Dirk, Dieter? Ich weiß es nicht mehr. Es waren so viele in letzter Zeit. Heute war ganz offensichtlich der ich-erzähle-dir-was-ich-beruflich-mache-Tag. Statistisch gesehen ist dieser Tag in siebzig Prozent der Fälle für das jähe Dahinscheiden praktisch aller Kurzzeitbeziehungen in unserer Branche verantwortlich. Zunächst stellen die Kandidaten jede Form von Körperlichkeit ein, dann finden sie obskure Ausreden, warum das Treffen jetzt umgehend abgebrochen werden müsse. Omas fast vergessener Geburtstag rangiert dabei knapp vor plötzlicher Übelkeit auf Platz eins.

Erfahrungsgemäß war es für beide Seiten peinlich, Susanne in solchen Situationen zu stören. Auch wenn sie wusste, dass ich immer nur ihr Wohlergehen im Sinn hatte, wollte meine Tochter in diesen Momenten alleine gelassen werden. Meist tinderte sie an diesen Abenden, so heißt das, glaube ich, wenn man Fotos von Gesichtern und anderen Körperteilen auf dem Smartphone nach rechts oder links wischt, je nach Ge- oder Missfallen. Das Gefallen äußerte sich nicht selten in späten geräuschvollen Aktivitäten, die aus dem Obergeschoss unseres hellhörigen Hauses bis in mein Schlafzimmer drangen.

Auch wenn es sich dabei um emotional eher flache Freuden für meine Tochter handelte, so gönnte ich ihr diese zeitweilige Abwechslung vom ständigen Zurückgewiesen-Werden von Herzen. Schnelle Befriedigung, keine Verpflichtungen und schon gar nicht die Notwendigkeit, sich zu erklären, warum man denn den Beruf der Bestatterin ergriffen habe. Kein Wie war dein Tag, Schatz? am Abend. Was soll man da auch erzählen?

Es war ruhig heute?

Der letzte Kunde war ein wenig steif?

Keine Reklamationen beim Schminken?

Details aus der Thanatopraxie (ja, so heißt das im Fachchinesisch, was wir machen) möchte ja niemand hören. Ich habe das mit Renate – Gott hab sie selig – oft genug erlebt, wenn sie von ihrer Arbeit bei der Bank nach Hause kam. Nur an Tagen einer Bestattung selbst war auch bei ihr das Interesse groß gewesen.

Wer denn dagewesen sei. Ach, die Müllers? Die waren doch total zerstritten mit dem Schmidt. Wie? Die Elshols hat dunkelblau getragen? Das muss die Hexe mit Absicht gemacht haben …

Na ja, viele Freunde hatte Renate im Ort nicht.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich schwankte und nur mit Mühe und nach mehreren Anläufen in der Lage war, die Haustüre zu öffnen. Wie gesagt, Manfred war bekannt, und ohne unsere Kehlen feucht zu halten, wäre es unmöglich gewesen, die Geschichten und Geschichtchen, Anekdoten und Anekdötchen im Gedenken an ihn wieder und wieder zu erzählen.

»Wow, Papa!« Zu meiner Überraschung kam mir Susanne mit einem breiten Grinsen aus der Küche entgegen. Sie sah verschwommen aus und es erschien mir irgendwie, als wäre ihr linkes Bein kürzer als das rechte. Und sie redete so dumpf. »Hast du den kompletten Umsatz von Jörgensen im Wirtshaus gelassen oder bleibt noch was übrig, um endlich die Krematoriumsrechnung zu bezahlen?«

Ja, so ist sie, meine Susanne. Kann einem mit wenigen Worten den Spaß verderben. Das hat sie von ihrer Mutter, Gott hab sie … na ja, Sie wissen schon. Aber die Sanne – so hat sie sich selbst als Kind immer genannt – kann auch anders. Zumindest wenn sie gute Laune hat. Und davon schien sie weit entfernt an diesem späten Abend.

»Sorry, Papa. War nicht so gemeint.« Spontan nahm sie mich in den Arm. »Das war unfair. Ich weiß doch, wie viel Manfred dir bedeutet hat.« Sie drückte mich, gab mir einen Kuss auf die Wange und ergänzte: »Jetzt wäre es aber gut, wenn du dich zurückziehst. Du schwankst wie eine Boje im Zentralatlantik und riechst wie ein Schnapsladen. Dennis müsste jeden Moment kommen!«

Dennis! Ich spürte, wie der langsamste jemals gemessene Geistesblitz von Synapse zu Synapse durch mein Hirn kroch. Ich hatte doch gewusst, dass es irgendwas mit D gewesen war. »Wieso? Hat er was vergessen?« Zu meiner lallenden Sprache sowie der geistigen und körperlichen Trägheit gesellte sich eine unsensible Ehrlichkeit. »Er weiß noch nich, wassu beruuflich …« Weiter kam ich nicht.

»Doch Papa, er weiß, was ich beruflich mache, und er möchte trotzdem die Nacht mit mir verbringen«, schnippisch schnitt mir Susanne das Wort ab und bugsierte mich dabei Richtung Treppe. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie nicht nur ihren kürzesten roten Rock und die höchsten in ihrem Besitz befindlichen Pumps trug, sie hatte auch ihre lange blonde Haarpracht wild und frivol gestylt und ein blumiges Eau de Parfum aufgetragen. Das feminine Odeur von Bergamotte und Rosen stieg mir angenehm in die Nase. Ein derartiger Aufwand war ungewöhnlich. Es schien ihr tatsächlich etwas an diesem Dennis zu liegen. Ich hoffte inständig, es möge auf Gegenseitigkeit beruhen. Mit fast dreiunddreißig hatte sie es wirklich verdient.

Ich brummelte skeptisch vor mich hin, während ich, angetrieben von meiner Tochter, die Stiegen Richtung Schlafzimmer hinaufschlurfte.

Es muss etwa zwei Jahre her gewesen sein, da gab es diesen Kevin oder Konrad oder … ach, irgendwas mit K. Jedenfalls waren die beiden ein Herz und eine Seele, und ein bisschen mochte ich diesen K. sogar. Er nahm unsere Arbeit ernst, interessierte sich für Details und machte einen intelligenten Eindruck. Tja, bis wir herausfanden, dass K. einfach nur ein nekrophiler kleiner Pisser war, der die Besuche bei Susanne im Bestattungsinstitut oft und gerne für einen Abstecher ins Kühlhaus nutzte. Ich hatte damals schon gedacht, so oft und lange muss doch keiner aufs Klo. Auf jeden Fall hatte Susanne die Beziehung recht schnell gelöst, nachdem K. ein Selfie zusammen mit der dahingeschiedenen Oma Petzke bei diesem Instadingens gepostet hatte.

Wie genau ich nach diesen Überlegungen in mein Schlafzimmer gekommen bin, weiß ich offen gestanden nicht mehr. Die nächsten verfügbaren Erinnerungen stammen vom Morgen des darauffolgenden Montags. Und auf diese würde ich gerne verzichten.

5 Tag 10 – Siegfried

Ein Mittelhandknochen von Siggis voluminöser rechter Faust hatte mich punktgenau zwischen Oberlippe und Nase getroffen. Kräftige Schläge auf das Philtrum haben in der Regel zumindest eine kurze Ohnmacht zur Folge. Offen gestanden war mir das in diesem Moment sogar recht. Während sich mein Kopf den Morgen über angefühlt hatte, als würde eine ganze Armada von Wespen versuchen, mit Presslufthämmern in zentrale Hirnareale vorzudringen, hatte sich dieser noch verkraftbare Schmerz unter Jörgensens Geschrei ins Unerträgliche potenziert. Der Schlag ins Gesicht hatte dieses Problem gelöst. Zumindest kurzzeitig.

Ob ich Sekunden, Minuten oder Stunden weggetreten war, weiß ich ehrlich gesagt nicht genau. Offensichtlich aber lange genug, um mir noch einmal jene Gedanken in Erinnerung zu rufen, die mich beim beginnenden Abbau des Restalkohols vom Aufstehen über das Zähneputzen bis zum einsamen Morgenkaffee begleitet hatten.

Schon am Morgen nach dem Tag von Manfreds Beisetzung war mir schlagartig bewusst geworden, dass ich ein Unrecht begangen hatte. Ein großes Unrecht sogar. Mir allen Ernstes Gedanken darüber zu machen, Menschen vom Leben zum Tod zu befördern, um einen wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen, erschien mir im Zuge meiner sprichwörtlichen Ernüchterung mit einem Mal als das, was es war. Böse!

Nicht die Sache mit Manfred. Da hatte ich einem guten Freund den letzten Wunsch erfüllt. So etwas tun Freunde doch. Nein, ich hatte mich mit den presslufthämmernden Wespen in meinem Kopf darauf geeinigt, fürderhin auf weitere Gedankenspiele zu verzichten, in denen es um ein aktives Ableben aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen gehen würde. Ich hatte beim Verlassen des Hauses im Geiste sogar feierlich jene verwerfliche To-die-Liste in Flammen aufgehen lassen. Auf Papier gedruckt wäre sie schon gut und gerne drei Seiten lang gewesen.

Sie sehen, eine geraume Zeit dürfte es schon gewesen sein, in der ich mich genötigt sah, meinem Unterbewussten dem Bewussten Vorrang zu geben. Das Nächste, was ich sah, war das sorgenvolle Gesicht meiner Tochter. Das Nächste, was ich hörte, waren ihre unflätigen Worte, die dem mit quietschenden Reifen davonrasenden Siegfried Jörgensen galten.

»Was fällt diesem blöden Arschloch eigentlich ein? Du zeigst ihn doch an, oder?« So zornig hatte ich Susanne lange nicht erlebt. »Bläht sich hier auf, dieser schleimige Lackaffe. Das kann er doch nicht machen, oder? Blutest du etwa?«

Die Fragen galten mir. Ich hatte im ersten Moment ernsthafte Mühe, die Ereignisse vor dem Schlag ins Gesicht aus dem Kurzzeitgedächtnis abzurufen. Mein Schädel dröhnte. Über die Oberlippe rann ein wenig Blut in meinen Mund. Die Wespen waren zu Hornissen mutiert, die Pressluft- zu Dampfhämmern. Was konnte Siggi nicht machen?

Es musste etwas von gewaltiger Tragweite sein. Immer wenn etwas aus Susannes Sicht Ungeheuerliches geschah, stellte sie diese kurzen Fragen, die mit diesem nervigen oder endeten.

Nur langsam und schemenhaft, wie durch die Seitenwände der Bruchglasbowle betrachtet, die seit der Hochzeit mit Renate als Staubfänger im Wohnzimmer diente, gesellte sich Bild an Bild.

Wutschnaubend war Siggi durch die filigran verzierte Glastür in unser Institut gepoltert. Er hatte mich angebrüllt, mich einen Strauchdieb, einen Gauner und sogar Hundsfott genannt. Und dann? Ach ja, dann hatte er die Rechnung für Manfreds Beisetzung vor meinen Augen in der Luft zerrissen.

Im Wissen um unsere prekäre finanzielle Lage hatte Emma mich geradezu genötigt, die Forderungen des Instituts zeitnah zu Papier zu bringen. Und so hatte ich ihr den unscheinbaren Umschlag beim Gang vom Friedhof zum nahegelegenen Pollo zugesteckt. Und ganz nach Murphys Gesetz hatte Siggi das natürlich mitbekommen. Erst ein missbilligender Blick, dann der Griff nach dem Kuvert, das er seiner Frau fast beiläufig aus der Hand riss. Ich hätte im Grunde also gewarnt sein müssen. Immerhin war ein fünfstelliges Sümmchen zusammengekommen. Im Nachhinein betrachtet noch viel zu wenig. Angesichts der verbalen Ergüsse, die der Schwiegersohndarsteller den Trauergästen am offenen Grab zugemutet hatte, wären zehn Prozent Aufschlag absolut gerechtfertigt gewesen. Eine Art Schmerzensgeld. Nicht, dass Siggi betrunken gewesen oder ausfällig geworden wäre. Noch nicht. Dazu kommen wir später. Nein, es war schlimmer gekommen. Salbungsvoll, geradezu schwärmerisch hatte Siegfried Jörgensen dem Dahingeschiedenen ein rednerisches Denkmal gesetzt, das vor allem die weiblichen Trauernden zu Tränen und schluchzender Verzückung rührte. Freilich war alles gelogen. Angefangen von der tiefen Freundschaft, die Manfred und ihn weit über die familiären Bande verbunden hätte, über die gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolge und zuletzt die Liebe zu Emma, der Tochter und Frau, die sie beide innig geeint habe.

Ich hätte im Strahl … na ja, Sie wissen schon. Ich bin mir auch sicher, gehört zu haben, wie Manfred wütend im Sarg rotierte. Am meisten hatte mich geärgert, dass Susannes stimmungs- und stilvolle Trauerrede in der Aussegnungshalle angesichts von Siggis verbalem Walkürenritt zu einer blassen Randnotiz geraten war.

Immerhin hatte Siggi der Schleimige zu fortgeschrittener Stunde alkoholbedingt sein wahres Gesicht gezeigt. Bemerkenswerterweise hatte der Rest der Gesellschaft willfährig mit Siggi immer wieder das Glas erhoben auf Manfred den Geizigen oder Emma, das blasse Rührmichnichtan. Eine promillebedingte Massenpsychose.

Es scheint etwas dran zu sein an der alten Regel, nach der Kinder und Betrunkene der Wahrheit bisweilen näherstehen als nüchterne Erwachsene.

»Papa? Papa!« Vor meinen Augen bewegte sich etwas im Takt zu Susannes Rufen. Saß ich schon wieder? Lag ich noch? Auf eine seltsam entspannte Art war mir das gerade völlig gleichgültig.

»Papa!« Wieder Susanne. Diesmal besorgter. »Soll ich Dr. Schober rufen?«

Das waren die magischen Worte. Schlagartig war ich wieder bei Sinnen. »Dann kannst du auch gleich den Jörgensen zurückholen«, entgegnete ich, während ich bemüht war, mich aufzurappeln, »der bringt mich wenigstens schnell um.«

Okay, dazu muss ich jetzt, glaube ich, eine Erklärung liefern. Dr. Dieter Schober ist unser Dorfarzt. Offiziell Humanmediziner. In meiner Eigenschaft als Bestatter würde ich ihn jetzt nicht direkt als Lieferanten bezeichnen, wer sich jedoch Chancen auf Heilung welchen Leidens auch immer erhofft, ist selbst beim Schamanen aus dem Nachbarort besser aufgehoben.

»Was machen wir jetzt mit dem Jörgensen?« Meine Tochter holte mich nun vollends zurück ins Leben. »Wir brauchen das Geld. Dringend sogar. Ich wollte dich nicht damit belasten, aber wenn nicht bald was aufs Konto kommt, wird es gesperrt.«

Ich stand auf, klopfte den Staub von meinem schwarzen Anzug und tupfte mir mit einem Taschentuch das Blut von der Oberlippe. Mit der Zunge stellte ich fest, dass meine Kauwerkzeuge noch vollzählig waren. »Wir schaffen auch das.« Behutsam nahm ich Susanne in den Arm. »Ich spreche mit Emma. Und mit der Bank.« Das Telefon unterbrach uns. Ein Anruf, der für Entspannung sorgen sollte. Wenigstens vorübergehend.

6 Tag 10 – Elvira

Die Nachmittagssonne tauchte die weiß getünchte Villa der von Pößnecks in ein Licht, wie ich es sonst nur aus Hollywoodstreifen kannte. Alles schien unnatürlich überzeichnet, angefangen bei dem roten Mercedes Cabrio in der Einfahrt bis hin zu den perfekt geschnittenen Buchsbaumkugeln rechts und links der Marmortreppe.

Punkt fünfzehn Uhr klingelte ich bei Elvira von Pößneck, verwitwete von Auerbach, verwitwete Rahmstetter, verwitwete Ballreich.

Ja, ich weiß, was Sie jetzt denken, aber die Verflossenen wurden leider ausnahmslos durch meinen Mitbewerber aus der Nachbargemeinde zu Grabe getragen. Lars von Bindeling, Schickimicki-Bestatter mit eigenem Funeral Home nach amerikanischem Vorbild und standesgemäß mit einem angeheirateten Adelstitel.

Ach, das meinten Sie gar nicht? Sie dachten eher an eine Schwarze Witwe? Tja, den herzschwachen Gatten mit Gurkenmaske und Lockenwicklern zu Tode zu erschrecken, gilt hierzulande nicht als Straftat. Und etwas Tödlicheres hatte man Elvira von Pößneck nie nachweisen können. Nicht, dass man es nicht versucht hätte. Vor allem die Kinder des zweiten verblichenen Ehemannes, des Fabrikanten Eduard Rahmstetter. Sie hatten sich nicht mit dem Umstand anfreunden können, dass ihr Vater, ein ehemaliger Leistungsschwimmer auf Olympianiveau, ausgerechnet im eigenen Whirlpool das Zeitliche gesegnet hatte. So ging das Toilettenpapierimperium PoPosition eben durch zwei.

Aber ich schweife schon wieder ab. Der Anruf von Frau von Pößneck in unserem Institut war jedenfalls überraschend gekommen. Mit vierundneunzig war bei dem alten von Pößneck zwar durchaus damit zu rechnen gewesen. Zumal er, wenn das Dorfradio noch funktionierte, seit drei Jahren in einer Art Wachkoma im eigenen Haus gefangen war. Aber wie bereits erwähnt, war Frau von Pößneck bislang Stammkundin bei von Bindeling gewesen.

Artig hatte ich, wie bei dieser Art Besuch üblich, mein ausdrucksstärkstes Betroffenheitsgesicht aufgesetzt und meine Hände über der schlanken Aktentasche im Schoß gefaltet, als sich das Portal der Villa öffnete.

»König. Hermann Thaddäus König. Wir waren verabredet!«

»Mein Gott, Sie kommen im schwarzen Anzug? Bei diesem Wetter? Ist jemand gestorben?« Da stand sie, Elvira von Pößneck. Wie eine Tüte Studentenfutter mit einem deutlich zu hohen Anteil an Rosinen. Hotpants, bauchfreies Bustier, hochtoupierte, rotbraune Haare, Hals und Hände dekoriert mit glitzerndem Tand von Scharkowsky und Blöökler. Alles eingehüllt in ein Durchsichtiges – ich weiß bis heute nicht, wie man so etwas nennt. Zweiundsiebzig Jahre überschminkte Lebensfreude lachten mich übertrieben an. Zumindest Teile dieser Erscheinung hatten dieses Alter erreicht. Das Lachen war eigentlich eher ein Krächzen, das direkt aus den zu dunkel gerösteten Halsfalten zu dringen schien.

Ich war akut überfordert, schwitzte wie ein Braten auf höchster Garstufe und kam mir insgesamt völlig deplatziert vor. »Verzeihen Sie, Frau von Pößneck, als Sie am Telefon sagten, es sei an der Zeit, die entsprechenden Schritte einzuleiten, da dachte ich …«

»Sie dachten, es sei soweit mit Karl?« Sie krächzte wieder. Lauter. Vor allem schriller. Das Geräusch beschwor in mir das Bild einer verschreckten Opossumherde herauf.

»Karl geht es gut, zumindest piept das Ding an seinem Bett noch.« Mit den überlangen, pink lackierten Fingernägeln deutete sie auf einen unbestimmten Ort irgendwo im Haus, während sie sich auf ihren Highheel-Pantoletten geräuschvoll umdrehte. Erst jetzt bemerkte ich das Champagnerglas in ihrer rechten Hand. »Ich brauche das für meinen Kreislauf. Sie auch ein Gläschen? Kommen Sie mit rein, hier ist es ja unerträglich heiß.«

Ohne sich weiter um mich zu scheren, stöckelte Elvira von Pößneck durch das mediterran geflieste Entree. Bedröppelt tappte ich hinterher. Ein gutes Geschäft sah ich noch nicht, aber die Kühle des angenehm klimatisierten Hauses lockte. Die Hitze hatte mir ganz offensichtlich stärker zugesetzt, als mir bewusst war. Anders ließ sich der Satz, der meinen Mund verließ, nicht erklären. »Wenn ich jetzt etwas trinke, steigt mir das sicher sofort zu Kopf. Und dann erliege ich vielleicht noch Ihren Reizen, Frau von …«

»Nennen Sie mich Elvira«, unterbrach sie mich verheißungsvoll zwinkernd. »Geschäftstüchtig, gutaussehend und charmant. Frau Jörgensen hat ja mächtig untertrieben, als ich sie nach Ihren Qualitäten gefragt habe.«

Keine Ahnung, ob Sie Science-Fiction-Filme mögen, aber der Blick, den die von Pößneck zwischen den Wangenimplantaten und der dank Botox spiegelglatten Stirn regelrecht abschoss, hatte etwas von einem Traktorstrahl, mit dem die Borg die Enterprise fixieren. Und ich war mir auch völlig sicher, ich würde jetzt auf der Stelle assimiliert werden.

»Wenigstens einen Eistee?« Unvermittelt fand ich mich auf einem edlen Teakholzgartenstuhl auf der Terrasse der von Pößnecks wieder. »Ich werde nachher noch ein wenig schwimmen, daher habe ich mich etwas bequemer angezogen«, überhäufte mich die Gastgeberin mit unverlangt eingereichten Informationen, während Eistee in ein Glas vor mir plätscherte. »Vielleicht kann ich Sie ja nach Abschluss des Geschäftes von diesem ausgezeichneten Champagner überzeugen.« Sie prostete mir zu.

»Welches Ge…«

»Frau Jörgensen sagte mir«, ich kam nicht wirklich zu Wort, »man könnte bei Ihnen eine Bestattung auch im Voraus bestellen – oder wie man das nennt?«

»Sie möchten für sich also einen Bestattungsvorsorgevertrag abschließen?« Da war sie wieder, die Borg. Nur diesmal sendete das Mutterschiff keinen Traktorstrahl aus, sondern eher eine Art Vernichtungslaser. So interpretierte ich jedenfalls den entrüsteten Blick, den mir die sonnengegerbte Erscheinung ad hoc zuwarf. Und dann kam sie, die Frage aller Fragen. Die Frage, die du als Mann niemals beantworten darfst.

»Was glauben Sie denn, wie alt ich bin? Sehe ich etwa so aus, als müsste ich schon an meine Bestattung denken?«

Demonstrativ und mit einem weinerlichen Gesichtsausdruck wandte sich Elvira von Pößneck von mir ab, starrte auf das glitzernde Wasser des Swimmingpools und leerte unter tiefem Seufzen den Sektkelch.

Ich musste schnell handeln. Vor meinem geistigen Auge erschien mir Susanne. Fordernd rieb sie den Daumen sowie Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand aneinander. Hole die Kuh vom Eis! Denke an das Geld! Ich handelte. Spontan, geistesgegenwärtig und, wie ich meine, klug.

»Wenn ich Sie ansehe, Elvira …« Ich nahm die ledrige Hand, die sie demonstrativ in meine Richtung gekehrt auf dem Tisch hatte liegen lassen. »Wenn ich Sie betrachte, sehe ich natürlich eine Frau in der Blüte ihres Lebens.« Ich machte eine kurze Pause. »Vor allem aber sehe ich eine kluge Frau.«

»Ach ja, Hermann!« Die toupierten Haare wippten wie eine Sprungfeder, als sich die Angesprochene wieder mir zuwandte. Angestrengt rang sie den aufgespritzten Lippen ein Lächeln ab. »Sie glauben, ich bin klug?« Verheißungsvoll legte sie ihre andere Hand auf die meine. »So etwas Nettes, hat noch nie jemand zu mir gesagt!«

Spontan hatte ich das Gefühl, duschen zu müssen.

»Aber natürlich sind Sie klug, Elvira.« Vorsichtig zog ich meine Hände vom Tisch und griff nach meiner Aktenmappe, die auf dem Stuhl neben mir lag. »Nur kluge Menschen sind umsichtig und bauen vor.« Ich hatte sie gewonnen. Gebannt hing sie an meinen Lippen. »Sie möchten, wenn ich das richtig verstanden habe, jetzt schon Vorsorge für Ihren Gatten treffen. Wenn ich indiskret fragen darf, gibt es Anlass zur Eile?«

»Schön wär’s.« Sie kicherte kindisch. »Wenn Karl so weitermacht, überlebt er uns noch alle. Nein, das ist nicht der Grund. Aber bevor wir weitermachen, hole ich noch etwas von dieser leckeren Brause.«

Keine zwei Minuten später kam Elvira von Pößneck zurück. Während sie ihre Shorts wohl in einem Moment der Unachtsamkeit verloren hatte, was den Blick auf die Andeutung eines Stringtangas freigab, der sich bizarr um ihren faltigen Schoß schlängelte, trug sie stolz eine weitere Flasche Dom Perigon und einen zweiten Sektkelch vor sich her. Während sie den Champagner geübt entkorkte, drang ein blumiger Duft zu mir. Die Gastgeberin hatte aufgelegt. Ein überraschend frisches Eau de Parfum. Ich resümierte: Champagner für über zweihundert Euro, das eh schon dürftige Beinkleid entsorgt und eingehüllt in eine Wolke, die jeder Blumenwiese Konkurrenz machen würde – das alles entwickelte sich zu einem Ball der einsamen Herzen und meine Gastgeberin hatte mich auf das komplette Tanzkärtchen eingetragen. Zeitgleich schoss mir der Gedanke an das noch zu führende Gespräch mit unserem Bankberater durch den Kopf.

Die Summe der Überlegungen ließ mich zur Flasche greifen.

»Darf ich um Ihr Glas bitten, Elvira?«

Ich versuchte, den vielsagenden Augenaufschlag zu ignorieren.

»Wir waren bei Ihren Beweggründen stehen geblieben, bezüglich der Vorkehrungen, die Sie für Ihren Mann treffen möchten.«

»Seine undankbaren Blagen, selbstverständlich!«

Ich stutzte.

»Karls Kinder haben bereits klargemacht, dass sie trotz des Berliner Testaments, das Karl und ich gemeinsam aufgesetzt haben, nach seinem Ableben umgehend die Hälfte des kompletten Erbes beanspruchen werden. Sie könnten ja warten, bis ich auch dran bin, und dann alles kassieren. Das Dumme ist, ich bin nicht nur jünger als die beiden, sondern auch … na ja, das sehen Sie ja selbst. Jedenfalls dachte ich mir nach dieser wirklich zauberhaften Beisetzung vom Rademacher, einen Teil des Geldes könnten wir doch jetzt schon sinnvoll anlegen. Was ich jetzt investiere, muss ich später nicht teilen.« Mit abgespreiztem Finger ließ sie ihr Sektglas gegen meines stoßen. Ich nahm einen Schluck.

»Und an was, liebe Elvira, hatten Sie gedacht, um Ihrem Gatten stilvoll die letzte Ehre zu erweisen?«

»Wissen Sie, Hermann …« Elvira von Pößneck ließ nun auch den über den Schultern hängenden Hauch von nichts vom Körper gleiten. »Ein stilvoller Gentleman wie Sie wird das sicher selbst entscheiden können.« Sie stand auf, beugte sich über mich und ich bekam es ein wenig mit der Angst zu tun. Ihre Hand glitt an mir vorbei. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass das Manöver nicht mir, sondern einer Mappe auf einem Tisch hinter mir galt. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Ihr Ton wurde mit einem Mal geschäftsmäßig. »Ich weiß von Emma Jörgensen, was die Beerdigung ihres Vaters gekostet hat.« Sie schlug die Mappe auf und zog tatsächlich ein Scheckbuch heraus. »Ein Spottpreis, wie ich meine. Wenn ich denke, was Ihr Kollege von Bindeling dagegen in Rechnung stellt. Jedenfalls, dieser Rahmen wäre durchaus auch für Karl angemessen.« Die Zähne hinter den aufgespritzten Lippen schienen mich anknabbern zu wollen. »Sagen wir, ich verdopple diese Summe.« Sie schrieb tatsächlich fast auf den Cent genau das Doppelte des Rechnungsbetrags auf den Verrechnungsscheck, wegen dem mich Siggi am Morgen verprügelt hatte. Wovon, das sei am Rande bemerkt, dank der thanatologischen Schminkkünste meiner Tochter nichts mehr zu sehen war.

»Und dann?«, fragte ich naiv.

»Dann, mein lieber Hermann, legen Sie den Teil für die Beisetzung beiseite und den Rest teilen wir uns.« Sie taxierte mich. »Was halten Sie von siebzig zu dreißig? Ach nein, das wäre schnöde, sagen wir … sechzig zu vierzig?«

Das war einer der wenigen Momente in meinem Leben, in denen ich gerne meinen Körper verlassen hätte, nur um mir mein eigenes blödes Gesicht anzusehen. Ich hatte ja mit einem unmoralischen Angebot gerechnet. Schon beim Betreten des Hauses. Unmoralisch und vor allem unappetitlich. Aber das, ja das war schon … verlockend.

Nur nichts anmerken lassen, war das Erste, was mir durch den Kopf ging. Entspannt lehnte ich mich auf dem weich gepolsterten Teakholzstuhl zurück und ließ lässig das Sektglas in der Hand kreisen. »Es ist äußerst unüblich«, ich starrte demonstrativ an Frau von Pößneck vorbei auf die glitzernden Wellen des Pools etwas unterhalb der Terrasse, »das Bestattungsunternehmen bereits im Vorfeld zu bezahlen. Normalerweise wird das Geld bis zum Bedarfsfall auf einem Treuhandkonto geparkt.«

»Mein lieber Hermann.« Elvira von Pößneck lehnte sich zu mir herüber und flötete mir ins Ohr. »Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen, aber ich weiß von Emma Jörgensen auch, dass Sie derzeit finanziell ein wenig klamm sind. Und ein besseres Angebot bekommen Sie heute nicht. Außerdem – ist es nicht auch unüblich, auf der Sonnenterrasse einer verheirateten Frau Champagner zu trinken und mit ihr die Bestattung des noch lebenden Gatten zu besprechen?«

Gut, da hatte sie natürlich vollkommen recht. Skurriler wäre die Situation nur noch gewesen, wenn vor der Terrasse der Duracellhase mit scheppernden Becken vorbeigehoppelt wäre. Auf der Flucht vor Chuck Norris. Um es kurz zu machen, ich nahm den Scheck und versprach artig, in vierzehn Tagen wiederzukommen. Meine neue Kundin versicherte mir, das handhabe sie so auch mit der Autowerkstatt, der Gärtnerei, dem Malerbetrieb … »Es ist ja noch so viel zu erledigen im Hinblick auf Karls Besitztümer«, raunte mir die mittlerweile leicht angeschickerte Elvira zu. Ihre Versuche, dabei lasziv mit den Wimpern zu klimpern, hatten dabei etwas von einer drohenden Gesichtslähmung.

Der Trauermarsch aus Beethovens dritter Sinfonie rettete mich aus diesem sich zuspitzenden Tête-à-Tête. Ich nahm das Handy aus meiner Aktenmappe.

»Hallo?« Am anderen Ende hörte ich Emma bitterlich weinen. »Was ist passiert? Was? Wie denn? Bist du sicher, dass Siegfried …« Ich unterbrach mich selbst. »Ich bin in zwanzig Minuten da. Rühr nichts an.«

7 Tag 10 – Siegfried

»Wie? Sekt auf der Terrasse?«, zickte Emma mich an. Obwohl sie dazu keinerlei Recht hatte und das im Übrigen auch wusste, ging es ihr gehörig gegen den Strich, dass ich Zeit mit Elvira von Pößneck verbracht hatte. Dass ich den Sekt zu Champagner korrigierte, machte die Situation nicht wirklich besser. Gut, statt der versprochenen zwanzig Minuten hatte es dann doch eine gute Stunde gedauert, bis ich endlich in der Waldstraße angekommen war. Elvira von Pößneck hatte mich einfach nicht früher gehen lassen. Und der Verbleib hatte sich gelohnt. Ich hatte sie immerhin davon überzeugen können, auch für den eigenen Todesfall vorzusorgen, was ihre Vorteile kurzfristig verdoppeln würde.

»Wusste gar nicht, dass du neuerdings auf gedörrte Barbiepuppen stehst«, echauffierte sich meine einstige Jugendliebe, als wäre ich nachts um drei volltrunken aus einem Stripclub nach Hause gewankt. »Und wie du riechst. Sicher, dass das Schampus war?«

Gedörrt … Das Bild mit dem Studentenfutter machte sich wieder in meinem Kopf breit. »Ich war geschäftlich bei Frau von Pößneck …

»... pah, geschäftlich«, fiel mir Emma schnippisch ins Wort. »Hat sie sich einen Sarg bestellt? Wegen mir. Verbrennen kann man so ein Silikonmonster ja nicht einfach. Oder?«

Ich hätte ihr jetzt einen Vortrag darüber halten können, dass bei der Verbrennung von Silikon lediglich Wasser und Kohlendioxid anfielen, versuchte jedoch den Blick auf das aktuell Wesentliche zu lenken.

Siggi. Sein Körper lag regungslos am Fuß der geschwungenen Marmortreppe. Das rechte Bein machte den Eindruck, als sei es einmal um dreihundertsechzig Grad gedreht worden. Das linke Schulterblatt schickte sich dagegen an, den Körper zu verlassen. Es stach grotesk aus dem blauen Hemd hervor, mit dem Siggi beim Sturz offenbar an dem schmiedeeisernen Treppengeländer hängen geblieben war. Die Manschette des rechten Ärmels war aufgerissen, der goldene Manschettenknopf hatte sich irgendwo im weitläufigen Entree verloren.

---ENDE DER LESEPROBE---