Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wenn nicht ich, wer sonst? Eine differenzierte Biografie der russischen Vorkämpferin für soziale Gerechtigkeit und Frauenemanzipation. Alexandra Kollontai (1872–1952): Ein Mädchen aus gutem Hause zieht es in den Untergrund von St. Petersburg, wo Ende des 19. Jahrhunderts die Revolution gärt. Als Sozialistin will sie die Gesellschaft verändern, die Frauen befreien. Im Exil erlebt sie mit, wie ihre politischen Freunde den Ersten Weltkrieg bejahen. Die russische Revolution holt sie nach Petrograd zurück. Hier wird Kollontai Mitglied im ersten Kabinett Lenin und erste Botschafterin der modernen Welt, stets im Widerstreit zwischen gesellschaftlichem Idealismus und politischer Realität. Bis heute gelten ihre Werke als feministische Pflichtlektüre.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 365
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»FAHREN SIE
SOFORT LOS!«
Editorische Notiz
Prolog Das alte Russland
Kapitel 1 Kekse für die Armen
Kapitel 2 Wo bitte geht’s zum Untergrund?
Kapitel 3 „Klingle zweimal!“
Kapitel 4 Ambassadorin der Partei
Kapitel 5 Ein kurzer Sommer der Legalität
Kapitel 6 Im Exil. Hauptquartier Berlin
Kapitel 7 Krieg. Unterwegs in der Alten und Neuen Welt
Kapitel 8 Revolution und Rückkehr
Kapitel 9 Oktoberumsturz. Volkskommissarin für staatliche Fürsorge
Kapitel 10 Moskau. Die Arbeiteropposition
Kapitel 11 In diplomatischen Diensten
Literatur
Postskriptum
Zeitangaben
Bildnachweis
Bei den kursiv gesetzten Passagen in dieser Romanbiografie handelt es sich um Originalzitate aus Briefen, Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Memoiren und anderen Texten. Um der besseren Lesbarkeit willen wurde auf Quellenangaben verzichtet. In der Literaturliste sind alle Bücher, aus denen die Zitate stammen, mit einem Sternchen versehen.
In den zitierten Originalpassagen (kursiv) findet sich aus historischen Entstehungskontexten diskriminierende Sprache, die in dieses Buch übernommen wurde, damit die Bedeutungskontexte bestehen bleiben. Diese diskriminierenden Begriffe sind als Zitat erkennbar und sind nicht die Sprache der Autorin/des Autors.
Wir danken dem Dietz Verlag, Berlin, für die freundliche Genehmigung der Abdruckrechte aus:
Alexandra Kollontai: Ich habe viele Leben gelebt.
Am 19. März im Jahre 1872 kam Alexandra Michailowna Domontowitsch in St. Petersburg zur Welt. Sie war ein Kind der Liebe. Ihr Vater, der Offizier Michail Alexejewitsch Domontowitsch, stammte aus der Ukraine, und ihre Mutter Alexandra Alexandrowna Massalina-Mrawinskaja kam aus einer finnischen Holzhändlerfamilie; ihrer beider Herkunftsländer gehörten damals zum Russischen Reich. Sie hatten sich in ihrer Jugend kennen und lieben gelernt. Aber aus der ersehnten Heirat wurde nichts. Alexandras Vater Alexander Massalin glaubte nicht daran, dass es dem jungen Verehrer seiner Tochter mit der Eheschließung ernst sei. Denn das Geschlecht der Domontowitsch war von sehr altem Adel, und so erschien es zweifelhaft, dass Michails Eltern eine Holzhändlertochter als Frau für ihren Sohn akzeptieren würden. Eilig suchte und bestimmte der besorgte Massalin einen anderen Mann für seine Tochter.
Die Verliebten mussten sich fügen. Alexandra Alexandrowna heiratete den Ingenieur Konstantin Iosipowitsch Mrawinski, sie bekam mit ihm zwei Töchter und einen Sohn. Aber sie konnte ihre Jugendliebe nicht vergessen, und als sie und Michail sich zehn Jahre nach der Trennung wiedersahen, zeigte sich, dass auch Michail seine Alexandra nicht vergessen hatte. Die beiden holten nach, was sie in jungen Jahren hatten versäumen müssen, und als Alexandra schwanger wurde, ließ sie sich von Mrawinski scheiden und heiratete bald nach der Geburt ihrer Tochter deren Vater Domontowitsch. Es galt, ihr altes junges Glück für dieses Mal und für immer festzuhalten. Der Vater erklärte das gemeinsame Kind nach der Hochzeit für seines und adoptierte es.
Für die kleine Alexandra waren, als sie das Licht der Welt erblickte, nicht nur ein verliebtes Elternpaar da, sondern auch noch zwei Halbschwestern und ein Halbbruder, ganz abgesehen von Ammen und Kinderfrauen und Bediensteten, die sie auf den Armen umhertrugen. Wie hübsch und wie erstaunlich sie war: rund und rosig, ein dichter dunkelblonder Lockenschopf, schöne blaue Augen, eine kaum zu bändigende Lebhaftigkeit, ein Kind, wie man es sich nur wünschen kann.
Russland wurde damals von Zar Alexander II. aus der alten Dynastie der Romanow regiert. Der herrschte von Gottes Gnaden über das größte Reich der Erde und viele verschiedene Völker, darunter auch die Ukrainer und die Finnen. Es war erst elf Jahre her, dass er die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben hatte. Und die Bauern – das war der weit überwiegende Teil der Bevölkerung. Zwischen achtzig und neunzig Prozent der Menschen lebten auf dem Lande, die meisten waren bitterarme Selbstversorger und seit Generationen daran gewöhnt, ihren Gutsherren saftige Abgaben zu leisten. Als sie im Jahre 1861 vernahmen, dass sie befreit werden sollten, hofften sie auf eine Verbesserung ihrer Lage. Die aber blieb aus, denn sie erhielten die ihnen zugeteilten Äcker nicht umsonst, sondern mussten den Preis über eine Art Grundsteuer, die von der Dorfgemeinschaft eingesammelt wurde, abstottern. Die Bauern waren zumeist des Lesens und Schreibens unkundig, sie wussten überhaupt nicht, wie ihnen geschah, verstanden die neuen Verordnungen nicht und zogen mit Heugabeln und Sensen vor die Ämter in ihren Dörfern, um dort die Obrigkeit zu ersuchen, sie mit der so genannten Freiheit zu verschonen. Es kam zu Hunderten von Aufständen. Die Zentralregierung, sprich der Zar, stand aber zu seiner Großen Reform. Er hatte seine Gründe.
Acht Jahre vor der Aufhebung der Leibeigenschaft war Russland, damals von Alexanders Vater Nikolaus I. regiert, gegen seinen Erzfeind Türkei in den Krieg gezogen. Diesmal hatten sich England und Frankreich hinter das Osmanische Reich gestellt, um etwaige russische Gebietsansprüche ein für alle Mal abzuwehren. Nikolaus’ Armeen waren an sämtlichen Fronten vernichtend geschlagen worden. Die Alliierten landeten auf der Krim und stürmten Sewastopol. Die Russen mussten sich ergeben. Ihre Bilanz sah düster aus: Das Militär war ein korrupter Haufen, Heer und Marine schienen ihrer technischen Rückständigkeit wegen keinesfalls fähig zur Revanche, ganz abgesehen von der Dysfunktionalität des Verkehrswesens und der Nachschuborganisation. Zar Nikolaus, im Angesicht der Katastrophe, legte sich ins Bett und starb – ob durch eigene Hand oder durch eine Infektion der Lunge, blieb ungeklärt. Sein Sohn Alexander II. wurde sein Nachfolger auf dem Zarenthron, und ihm erläuterten seine Berater, worum es letztlich ging:
Die Bevölkerung Russlands müsse in Bewegung kommen, die überzähligen Bauernsöhne sollten in die Städte strömen können, um in dort zu gründenden Fabriken Eisenbahnen, Kanonen und Kriegsschiffe herzustellen. Der erste Schritt dazu sei eine Lösung der Fesseln, welche die Bauern an das Land banden, also die Aufhebung der Leibeigenschaft. Die Gutsherren waren natürlich nicht dafür. Aber die Modernisierer überzeugten Alexander. Und die überrumpelten Bauern mussten mit den neuen Gegebenheiten irgendwie zurechtkommen. Das agrarische Russland sollte sich, so hoffte Alexander, in einen Staat verwandeln, der es technisch, wirtschaftlich, militärisch und infrastrukturell mit den europäischen Nationen aufnehmen könnte und beim nächsten Waffengang (womöglich wieder gegen die Türken) obsiegen würde.
Vorderhand aber waren Russlands Strukturen noch mittelalterlich. Ganz oben rangierte die international vernetzte, zur Verschwendung neigende Aristokratie mit dem Zaren und seiner absoluten Macht an der Spitze. Der Zar kontrollierte das Militär und wurde seinerseits von der – orthodoxen – Kirche hofiert. Die Mitte bildete der besonders konservativ eingestellte träge Landadel, ferner die unbedingt autoritätshörige Schicht aus Bürokraten und Dienstleistern. Und unten wurachte die erdrückende Mehrzahl der Bevölkerung, Heerscharen bettelarmer Bauern, die oft nicht mal ein Pferd besaßen und sich selbst vor ihren Pflug spannen mussten. Ein solches Land war außerstande, von heute auf morgen „modern“ und wirtschaftlich leistungsfähig zu werden. Der Wandel brauchte Zeit, sofern er überhaupt stattfinden konnte.
Als Alexandra Michailowna Domontowitsch auf die Welt kam, sah Russland in großen Landesteilen noch aus wie eh und je. Die Bauern waren immer noch Analphabeten und erwirtschafteten höchstens spärliche Überschüsse. Der Adel verschuldete sich weiter, und die relativ geringe Zahl der Gebildeten in den wenigen Großstädten orientierte sich nach Westeuropa. Allerdings hatte der Staat mittlerweile ein Eisenbahnwesen angeregt, und an den Rändern der Städte entstanden die ersten größeren Fabriken, vor allem für Textilien und Maschinenbau. Ferner kam die Förderung von Rohstoffen, vor allem Eisenerz, mithilfe neuartiger Methoden in Schwung. Aber die große Mehrheit der Menschen lebte bescheiden in ländlichen Gebieten, haderte mit dem im Grunde verehrten Zaren seiner bedrohlichen Reformen wegen und vertraute höchstens den Popen des nächstliegenden Kirchspiels. Die ihrerseits nichts auf den Zaren und die Autokratie kommen ließen.
Die berüchtigte russische Rückständigkeit lässt sich an vier großen Versäumnissen im Hinblick auf vier bedeutende historische Wendepunkte in Europa (und Übersee) festmachen. Die russisch-orthodoxe Kirche war nie von einer Reformation herausgefordert worden, die Geistlichkeit blieb doktrinär festgefahren und genauso autokratisch verfasst wie die weltliche Macht. Zweitens hatte das große Abenteuer der Aufklärung, das im Westen die Geister seit fast zwei Jahrhunderten in Aufregung versetzte, Russland höchstens gestreift. Außerdem konnten, drittens, die politischen Ideen des Liberalismus, die im Westen die Demokratie vorbereiteten, in Russland politisch nirgends zur Wirkung gelangen. Und das letzte, wohl folgenreichste Versäumnis, das bei der Niederlage im Krimkrieg schon seine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte, war die Unfähigkeit der Russen, rechtzeitig jene Umwälzung von Wirtschaft, Technik und Mobilität mitzuvollziehen, die Anfang des 19. Jahrhunderts von England aus den europäischen Kontinent erfasste und später industrielle Revolution genannt wurde.
Es gab zwar in den 1870er-Jahren in Russland schon eine Industrie, die beschränkte sich aber standortmäßig auf die wenigen größeren Städte und war fast ausschließlich vom Staat oder von ausländischen Investoren initiiert worden. Das lässt sich gut an der Geschichte des russischen Eisenbahnwesens illustrieren. Der Staat verfügte die Einrichtung dieses neuartigen Verkehrsmittels, schon weil künftig Kriegszüge ohne die Dampfrösser mit ihrer Geschwindigkeit und Reichweite nicht mehr denkbar waren. Der Planer, der die ersten russischen Eisenbahnstrecken entwarf, war ein österreichischer Ingenieur, und die erste Lokomotive, die auf russischem Boden entlangdampfte, war ein Import aus England. Eigenes Know-how für die industrielle Revolution besaßen die Russen nicht, denn es fehlte ihnen dafür eine starke Mittelklasse, ein ehrgeiziges und risikobereites Bürgertum, das unternehmerisch tätig werden wollte und dafür um politischen Einfluss hätte kämpfen müssen. Jener Platz im gesellschaftlichen Gefüge, wo sie hätte entstehen können, die Sphäre zwischen der abgehobenen Aristokratie und der unter primitivsten Bedingungen hausenden und schaffenden Landbevölkerung, hatte sich nicht mit innovativen Gründern, kühnen Erfindern, weltgewandten Kunsthandwerkern, selbstbewussten Bossen und wetteifernden Handelshäusern gefüllt, sie war eine immer weiter sich vertiefende Kluft geblieben.
Die Menschen litten unter dieser Bewegungslosigkeit des sozialen Körpers, den man kaum eine Gesellschaft nennen konnte – dafür gab es zu wenig Berührung, Mischung und Wandel. Die Unzufriedenheit in der schmalen Schicht der Gebildeten wuchs während des 19. Jahrhunderts stetig an. Die herrschende Klasse reagierte mit Überwachen und Strafen bis hin zu offener Gewalt. Im ganzen Land war die zaristische Geheimpolizei gefürchtet, die Gefängnisse und die Straflager, die meisten davon in Sibirien, desgleichen. Wer etwas ändern wollte, musste sein Leben aufs Spiel setzen. So erschien es den Kritikern der Verhältnisse, die es zwar kaum im Volk, manchmal im Adel, doch zahlreich unter Künstlern, Studenten und Intellektuellen gab, gerechtfertigt, wenn auch sie Gewalt ausübten.
Dabei hatten die Dekabristen, die ersten modernen russischen Revolutionäre, es mit der Rebellion noch auf zivile Weise versucht, obwohl sie Armeeoffiziere waren. Sie verweigerten im Jahre 1825 den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I., um so gegen die Autokratie zu protestieren; fünf von ihnen wurden aufgehängt, Hunderte verschwanden in Gefängnissen und in sibirischen Straflagern. Wer jetzt noch an Aufruhr im Zarenreich dachte – das Vorbild Frankreich mit seiner grande révolution war gerade erst 26 Jahre alt –, wusste: Uns bleibt nur der Untergrund. Und der Terror.
Die Gruppe der Narodnaja Wolja („Volkes Wille“), Volkstümler beziehungsweise Narodniki genannt, operierte genau so geheim wie die Polizei des Zaren und plante Attentate auf Repräsentanten des Systems. Sie hatte aber auch halblegale Ableger im Reich, die „ins Volk gehen“, den Bauern Elementarbildung verschaffen und so der unwissenden und unterdrückten Mehrheit im Land die Augen öffnen wollte: dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen könnte. Unter diesen mutigen Revolutionären, die einem Volksaufstand vorarbeiten wollten, gab es etliche Frauen. Doch die Bauern misstrauten ihren selbst ernannten Aufklärern, egal ob männlich oder weiblich; sie jagten sie vom Hof oder zeigten sie beim örtlichen Wachtmeister an. Es war sehr schwer, ja letztlich unmöglich für die Volkstümler, auf dem Lande irgendetwas in Richtung Freiheit zu verändern.
Neben den eher romantischen Idealisten der Volkstümler gab es bald noch andere dem Aufstand zugeneigte Gruppen im Land.
Das waren die späteren russischen Sozialdemokraten, die vor allem bei dem deutschen Ökonomen und Philosophen Karl Marx und seinen Adepten in die Schule gingen. Die Revolution, auf die sie hinarbeiteten, würde eine Erhebung auf internationaler Ebene sein, gerichtet nicht bloß gegen die Autokratie, sondern zugleich gegen die neue (im Westen) herrschende Klasse: das Bürgertum. Und das revolutionäre Subjekt würde weder die Bauernschaft noch ein Offizierskorps sein, sondern die Arbeiterklasse.
Diese marxistische Gruppierung erlangte im Laufe der nächsten Jahrzehnte starken Einfluss unter den Systemkritikern im alten Russland. Den entscheidenden Mangel ihres Konzeptes, nämlich die Tatsache, dass die Arbeiterklasse im noch nicht industrialisierten Russland eine Minderheit beziehungsweise gerade erst im Entstehen begriffen und daher als Subjekt einer Revolution mit Sicherheit überfordert war, wollten sie dadurch ausgleichen, dass sie sich selbst als Träger der Umwälzung anboten: die im Untergrund geschulte, hochdisziplinierte, zu allem entschlossene Partei des Proletariats, seine Avantgarde und sein Statthalter.
Als Alexandra Domontowitsch geboren wurde, gab es diese Partei noch nicht. Aber die Ideen, die ihre prospektiven Gründer in den folgenden Jahrzehnten umtreiben sollten, waren schon da. Sie hießen, auf eine kurze Formel gebracht: Weltrevolution und Diktatur des Proletariats.
Es gab im Russland der 1870er-Jahre nur wenige Menschen, die von solchen Theorien wussten oder sich dafür interessierten. Ihre politischen Gegenspieler, die versprengten Aktivisten der Narodnaja Wolja, die dasselbe Ziel, eine Revolution und den Sturz des Zarismus, verfolgten, aber andere Mittel einsetzten, waren in der Überzahl. Doch auch sie lebten wie die Marxisten entweder im Ausland oder in konspirativen Unterkünften in St. Petersburg oder Moskau, wechselten häufig die Adressen und ihr Aussehen und schrieben sich Nachrichten mit Geheimtinte. Sie alle lebten gefährlich. Aber es gab das große Ziel, das sämtliche Mühen, Härten und Umsturzpläne, auch Gewalt, in ihren Augen rechtfertigte: die Befreiung Russlands vom Absolutismus mit seiner Willkür, seiner Repression, seiner Schreckensherrschaft.
Nun war es geschehen. Am 1. März des Jahres 1881 hieß es in St. Petersburg: Der Zar ist ermordet worden! Die Stadt erlitt einen Schock. Überall auf den Straßen und am Flussufer liefen die Leute zusammen. Menschentrauben bildeten sich auf Höfen und an Ecken und riefen „Zu Hilfe!“. Frauen sanken weinend zusammen, Kosaken ritten mit der Hand am Säbel umher, und die Glocken läuteten. Was genau war geschehen, und wer konnte eine derart gottlose Untat auf sein Gewissen geladen haben?
Auch im Hause Domontowitsch stellte man diese Fragen. Der General selbst war nicht daheim, aber seine Gattin Alexandra, die beiden großen Töchter Jewgenia und Adèle und das Nesthäkchen Alexandra, Schura genannt. Ferner wohnten hier noch betagte Tanten, die Nanny Miss Gudgeon und das Dienstpersonal. Als sie von der Straße her laute Rufe und Pferdegetrappel hörten, unterbrachen sie ihre Arbeit und eilten in den Salon ans Fenster. Eine Tante stürzte hinzu: „Der Zar …!“ Sie konnte nicht weitersprechen. Ein Stuhl wurde ihr vom Dienstmädchen hingeschoben. Die kleine Schura klopfte ihr auf die Knie: „Tante, was ist mit dem Zaren?“ Da riss die Köchin die Tür auf:
„Er ist nicht tot“, schrie sie, „er ist nur verletzt!“
„Ich habe aber“, widersprach die Tante, „die Explosion gehört. Die Nihilisten, diese Hundsfotte, haben eine Bombe in seine Karosse geworfen.“ Sie sei gerade beim Metzger angestanden, „als plötzlich ein furchtbarer Knall ertönte, schlimmer als ein Donnerschlag.“
„Wer sind die Nihi-listen?“, fragte Schura laut.
Die Erwachsenen sahen einander an. Niemand gab eine Antwort. Da kam eine alte Dienerin herein, sie fuchtelte mit der Hand.
„Der Zar lebt“, sprach sie. „Gott hat ihn gerettet, er ist nur schwer verletzt. Aber die Halunken, die an dem Attentat beteiligt sind, hat man schon verhaftet und ins Gefängnis geschafft.“ Erleichtert, wenn auch kopfschüttelnd, ging man auseinander. Schura jedoch schlüpfte in die Küche, wo, wie sie voraussah, weiter über die Bombe und den Zaren gesprochen wurde.
Alle drängten sich um die Köchin, die behauptete, den Zaren hätten nicht Studenten zu ermorden versucht, sondern Gutsbesitzer, weil der Zar befohlen habe, die Leibeigenen freizulassen: „Ich bin selbst Leibeigene gewesen und kann mich noch erinnern, wie ergrimmt die Gutsbesitzer waren.“
Das Zimmermädchen sagte: „Was haben sie uns schon für eine Freiheit gegeben! Meiner Familie – wir sind Bauern – geht es jetzt schlechter als vorher. Steuern über Steuern, und der ganze Ertrag geht wieder an die Gutsbesitzer. Wenn das die Freiheit sein soll!“
Schura versuchte vergeblich, das Gespräch noch einmal auf die Nihilisten zu bringen. Der Vater wird es mir erklären, dachte sie. Aber wo war der Vater? Er kam heute später als sonst nach Hause, seine Miene war ernst. Der Zar, berichtete er, sei seinen Verletzungen erlegen, man habe ihn nicht retten können. Die Tanten, die alte Dienerin und die Köchin begannen laut zu wehklagen, sich zu bekreuzigen und die Täter zu verfluchen. Schura erfuhr vom Vater, dass es schon mehrere Anschläge auf Alexander II. gegeben habe.
„Sag mir doch, Papa“, bat Schura, „wer sind diese Nihilisten?!“
Der Vater überlegte. „Es sind junge Menschen, die glauben, dass es keine Autorität und keine Oberhäupter geben darf, die einem sagen, was richtig und was falsch ist, also auch keinen Zaren.“ Vater und Tochter sahen einander in die Augen. Schura versuchte zu verstehen, was der Vater gesagt hatte. Der Vater versuchte, sie mit seinem Blick davon zu überzeugen, dass die Nihilisten falsch lägen. Aber da er sich selbst nicht ganz sicher zu sein schien, irrte sein Blick bald an ihrem vorbei, bis beide die Augen niederschlugen.
* * *
Die Familie Domontowitsch war ausgesprochen anglophil. Und das hieß seinerzeit in Russland vor allem, dass sie liberalem Gedankengut gegenüber aufgeschlossen war und dass die jüngste Tochter eine englische Nanny bekam. Miss Gudgeon war fest davon überzeugt, dass die Engländer als Nation weit über den in jeder Hinsicht zurückgebliebenen Russen stünden. Ihren Schützling Schura nahm sie indes zärtlich an, brachte der Kleinen geduldig die englische Sprache und gute Manieren bei und hielt ihre Hand, wenn sie mit Bauchweh im Bett lag. Auch die Gouvernante von Schuras Schwester Jewgenia, Maria Iwanowna Strachowa, war eine sehr intelligente, politisch interessierte Frau, die sogar den Vater in Diskussionen über die Freiheit verwickeln konnte und Schuras Fragen nach dem Mond und den Sternen geduldig und korrekt beantwortete. Außerdem verfeinerte sie das Französisch der Mädchen, jene Sprache der Oberschicht, die auch in diesem Hause dem Russischen vorgezogen wurde, vor allem, wenn Dienstboten anwesend waren.
Das Familienoberhaupt Michail Domontowitsch hatte als General bei der zaristischen Kavallerie Karriere gemacht, sich aber dann aufs Lehramt verlegt, und nun unterrichtete er die Kadetten an der Akademie. Seiner Neigung zufolge war er ein Privatgelehrter, er las und studierte ununterbrochen, diskutierte gern mit befreundeten Offizieren (und mit Maria Strachowa) und schrieb sogar ein Buch über die Entwicklung Bulgariens – das allerdings in Hofkreisen auf Skepsis gestoßen war. Er habe die Bedeutung Russlands in der Geschichte Bulgariens nicht ausreichend gewürdigt. Michails bevorzugte Lektüre waren britische Historiker. Diese gedankliche Verwandtschaft mit dem Liberalismus bedeutete aber nicht, dass Domontowitsch und seine Familie Revolutionäre gewesen wären. O nein. Man sah die Missstände und befürwortete die Reformen Alexanders II., an einen Umsturz jedoch dachte niemand. Auch den Ansprüchen der Religion musste Genüge getan werden, wenngleich eher pflichtschuldig.
Schuras Mutter Alexandra Domontowitsch war ebenfalls gebildet. Ihr finnischer Vater Alexander Massalin hatte mit seinem Holzhandel viel Geld verdient und konnte sich Hauslehrer und Gouvernanten für seine Kinder leisten. Tochter Alexandra war eine stolze Person, sie schämte sich ihrer Abkunft kein bisschen und verlangte von ihren Kindern, den Dienstboten mit Respekt zu begegnen und die eigene Wäsche selbst zusammenzulegen. Ihre soziale Ader pulsierte kräftig, und sie hielt es nicht für unter ihrer Würde, als Erbin ihres Vaters auf dessen Anwesen im finnischen Kuusa Milchwirtschaft zu betreiben. Auf diese Weise trug sie die Schulden, die der Vater ebenfalls hinterlassen hatte, über die Jahre ab. Ihr Töchterchen Schura liebte die Sommeraufenthalte in Finnland, die Freiheit, wenn sie in den Wäldern herumstrolchen und sich von den Kindern der Nachbarschaft zu allerlei wilden Spielen verführen lassen durfte. Nebenbei lernte sie Finnisch.
Nun hatten ja Alexandra und Michail Domontowitsch erst spät die Ehe geschlossen. Die Braut war geschieden und schon Mutter des gemeinsamen Kindes; dieser Verstoß gegen die guten Sitten wurde jedoch erstaunlicherweise den Domontowitschs nicht übel genommen. Sie führten zwischen St. Petersburg und Kuusa das Leben einer geachteten Familie. Doch jetzt, da das Attentat auf den Zaren passiert war und ganz Petersburg nach verdächtigen Mittätern abgesucht wurde, fiel ein Schatten auf das scheinbar so glänzende Haus Domontowitsch.
* * *
Die Polizei tauchte auf und stellte Fragen. Der Hintergrund war dieser: Die Attentäter hatten sich in der Kanalisation nahe dem Palast des Zaren zu schaffen gemacht und dort Sprengstoff platziert – nur weil Alexander beziehungsweise sein Kutscher einen anderen Weg genommen hatte als üblich, war unterirdisch keine Explosion erfolgt. Ein paar Straßen weiter wartete dann der erfolgreiche Attentäter mit seiner Bombe unterm Mantel, er kam bei dem Anschlag selbst ums Leben. Der Ingenieur nun, der bei der Erneuerung der unterirdischen Röhren in der Nähe des Palastes die Leitung innagehabt hatte, war niemand anders als Alexandra Alexandrownas erster Ehemann Konstantin Mrawinski. Da ja der zweite Ehemann dieser Dame wegen seines Bulgarien-Buches auf die Liste der Persönlichkeiten gesetzt worden war, denen man seitens der Obrigkeit nicht zu hundert Prozent trauen mochte, zählte man auf der Polizeistation eins und eins zusammen und hielt es für nicht ausgeschlossen, dass die Familie Domontowitsch in das Attentat auf den Zaren verwickelt sein könnte. Polizeihauptmänner kamen und gingen, und bald hieß es, Konstantin Mrawinski sei in Haft.
Die Jüngste wurde nicht eingeweiht, aber wie üblich bekam sie alles mit. Schura hatte erst kürzlich verstanden, dass ihre Schwestern und ihr Bruder Alexander einen anderen Papa hatten als sie selbst. Das war sehr irritierend gewesen. Aber sie wusste nun, dass Onkel Konstantin für die Schwestern mehr war als ein Onkel. Für Schura gehörte Mrawinski ganz selbstverständlich zur Familie, zumal Halbbruder Alexander bei ihm lebte, und den mochte sie sehr. Und nun sollte der Onkel im Gefängnis sein? Sie passte ihre große Schwester Jewgenia, Jenny genannt, ab und bat sie: „Sag mir doch, was ist mit deinem Papa, mit Onkel Konstantin?“
Jenny, blass und verwirrt, schüttelte nur den Kopf. „Du bist viel zu klein, Schurinka, um mit solchen Dingen behelligt zu werden“, schalt sie. „Geh spielen.“
Schura stampfte mit dem Fuß auf. „Ich muss es wissen. Alles. Bitte.“
Jenny lenkte ein. Sie beugte sich zu Schura herunter, nahm ihren Kopf in ihre Hände und sagte: „Es ist bloß ein Missverständnis. Mein Papa hat gar nichts getan. Alle sind außer sich, weil der Zar ermordet wurde. Was meinst du, wer alles verdächtigt wird. Der Papa wird bald wieder frei sein.“
Mrawinski wurde vorsichtshalber schuldig gesprochen, obwohl ihm nichts nachzuweisen war. Aber ins Gefängnis musste er nicht, er kam nach Fürsprache Michail Domontowitschs auf Bewährung frei. Zuvor jedoch lief Schura tief betrübt durch ihr Petersburger Zuhause und grämte sich wegen des Onkels. Im Salon traf sie ihre Mutter, die aber nicht weiter auf die Tochter achtgab, weil sie in ein Gespräch mit Miss Gudgeon über die jungen Attentäter vertieft war.
„Sie werden alle am Galgen enden“, sagte die Mutter mit bebender Stimme, „und es geschieht ihnen recht.“
„Dennoch“, sagte Miss Gudgeon, „müssen wir für sie beten.“
„Unzweifelhaft!“, pflichtete die Mutter bei. „Aber wie konnte es diesen jungen Menschen so gänzlich gleichgültig sein, in was für eine Lage sie ihre Eltern bringen?“ Sie erwähnte die junge Sofia Perowskaja, die ein Mitglied der Gruppe Narodnaja Wolja war, jener Untergrundorganisation, die den Zarenmord geplant hatte. „Was Sofia Perowskaja auch immer tun mochte, sie hätte an ihre Mutter denken müssen.“ Kurz zuvor war Jenny reingekommen. Sie sah ihre Maman an, danach Miss Gudgeon, zum Schluss Schura und erklärte dann:
„Man kann nicht immer so handeln, wie die Familie es will. Jeder muss seinen Weg ins Leben selbst finden.“
Miss Gudgeon setzte ihre Brille ab und wieder auf, und die Mutter putzte sich die Nase. Schura lief zu ihrer Schwester und küsste sie. Was Jenny da gesagt hatte über den Weg ins Leben, erschien ihr sehr richtig.
Tags darauf bekam sie Besuch von ihrer Freundin Soja Leonidowna Schadurskaja. Die Mädchen kannten sich seit ein paar Jahren und mochten sich sehr, sie sollten ein Leben lang vertraute Freundinnen bleiben. In diesen Tagen der Furcht und des Schreckens erwies sich Soja wie so oft als besonnene Person, die ihre Freundin nur in den Arm zu nehmen und zu sagen brauchte: „Aber Schurotschka …“, und alles war schon nicht mehr so schlimm.
„Du weißt“, schnupfte Schura, „dass unser Onkel Mrawinski abgeführt worden ist …?“
Soja nickte: „Was könnten wir tun, um ihn zu befreien?“
Schura war durch die Aussicht, aktiv zu werden, augenblicklich erlöst.
„Lass uns überlegen“, sagte sie eifrig. „Vielleicht könnten wir …“ Sie schlug vor, einen Bittgang zur Witwe des Zaren zu unternehmen, um an deren Milde zu appellieren. Soja dachte eher daran, einen Sturm auf das Gefängnis zu organisieren, um den Onkel selbst aus seiner Zelle zu befreien.
„Gut und schön, Sojutschka“, sagte Schura, „aber dafür brauchen wir Verbündete.“ Das sah Soja ein. Beide überlegten, ob sie wohl ein paar entschlossene Revolutionäre kannten. Aber es fiel ihnen niemand ein. Da erklangen die Glocken. Die Mädchen liefen in Richtung Salon. Die Mutter kam ihnen entgegen.
„Halt, ihr zwei“, sagte sie. „Jetzt müsst auch ihr beten.“
Alle drängten in den Salon, wo Kerzen brannten, und knieten nieder. Schura wollte wissen, warum und für wen.
„Es ist so weit“, sagte die Mutter unter Tränen. „Sie hängen Sofia Perowskaja.“
Zum ersten Male sollte in Russland eine Frau durch den Strang sterben. Diese Entscheidung empfanden selbst Leute mit konservativen Ansichten als zu hart.
* * *
Alexander II. hatte einst die Krone von seinem im Krimkrieg schmählich besiegten Vater Nikolaus übernommen. Das Odium der Niederlage war an seiner Regentschaft haften geblieben, und so musste er tun, was er konnte, um seine Armeen für den unvermeidlichen nächsten Waffengang besser auszurüsten. Alle seine Reformen, von der Bauernbefreiung bis zur Aufwertung des Bildungswesens, dienten dem Ziel, Russland militärisch auf Vordermann zu bringen, wobei der Vordermann die Imperien des Westens mit ihrer überlegenen Waffentechnik waren. Als in den späten 1870er-Jahren die Balkanvölker sich erneut gegen die Vorherrschaft der Osmanen wehrten und zuerst in Bosnien-Herzegowina die Steuereintreiber mit Steinwürfen empfingen, woraufhin dann die Bulgaren sich dem Aufstand anschlossen, griff Alexander mit seinen Truppen in den Zwist ein. Im April 1877 erklärte er dem Osmanischen Reich den Krieg. Jetzt machten auch Serbien und Montenegro an seiner Seite mobil. Die Gefechte forderten einen hohen Blutzoll – aber war denn nicht der Zusammenhalt der slawischen Völker, garantiert durch das kämpfende Russland, jedes Opfer wert?
Auch General Domontowitsch wurde an die Front gerufen. Er bestieg sein Ross und ritt südwärts. Die sechsjährige Schura ließ den Rocksaum der Mutter gar nicht mehr los, sie wartete wie alle anderen, die Geschwister, die Tanten, die Bediensteten, auf die täglichen Telegramme. Russland stand nun im Krieg, einem Krieg, bei dem es um eine große Aufgabe ging – um die Befreiung der slawischen Brüder vom türkischen Joch. In den Zeitungen gab es lauter Karikaturen, die zeigten, wie die Türken an der Front die Flucht ergriffen, sobald russische Truppen auftauchten.
Am Ende unterlag die Türkei. Die Russen zogen siegreich heim, doch auf dem Friedenskongress von 1878 wurden Alexanders Ehrgeiz enge Grenzen gesetzt, was ihn zutiefst ergrimmte. Die Familie des Generals Domontowitsch hingegen war glücklich, als der Papa unverletzt nach St. Petersburg zurückkehrte. Bald darauf mussten alle miteinander nach Sofia aufbrechen, wo der in Staatsangelegenheiten bewanderte Domontowitsch den Bulgaren einen besonderen Dienst erweisen würde. Das Land sollte jetzt erstmals in der Geschichte als eigener Staat auf der Weltkarte erscheinen, und an den General war die Aufgabe ergangen, bei der Ausarbeitung der bulgarischen Verfassung behilflich zu sein. Das war eine große Ehre, aber auch eine schwere Last. Denn natürlich erwartete man von Domontowitsch in St. Petersburg, die Verdienste der Russen bei der Befreiung der Bulgaren vom „türkischen Joch“ gebührend herauszustreichen. Dass Alexander II. ins Feld gezogen war, um das slawische Brudervolk und die Orthodoxie zu retten – das war die Propaganda. Die Realpolitik dahinter wollte eine stabile Einflusssphäre auf dem Balkan sichern.
* * *
Schuras Vater sollte nun beim russischen Statthalter in Bulgarien, Fürst Dondukow-Korsakow, als Kanzleichef in Sofia arbeiten. Er war vorausgefahren und hatte dafür gesorgt, dass der Rest der Familie mit militärischem Geleitschutz heil bei ihm ankommen würde. Der Krieg war offiziell beendet, doch noch immer gab es Scharmützel mit versprengten Freischärlern. Daher musste die kleine, von Soldaten beschützte Karawane, bestehend aus Mutter Alexandra, ihren drei Töchtern und den Erzieherinnen, öfter mal eine Rast einlegen und geduldig warten, bis die Kampfhandlungen eingestellt wurden.
Verglichen mit St. Petersburg hatte das bulgarische Sofia in Schuras Augen einen eher dörflichen Charakter, die Straßen waren nicht gepflastert und daher staubig, die Häuser viel kleiner, aber dafür von üppigen Gärten umgeben. Zum Haus der Domontowitschs gehörte ein verwunschener Garten, in dem große alte Bäume Schatten spendeten und mächtige Rosenstöcke ihren Duft verströmten. Schura bewohnte gemeinsam mit Miss Gudgeon ein Zimmer, das die Aussicht aufs Witoschagebirge bot, und in der Ferne sah man die Minarette der Moscheen. Durch die Täler zogen Schafherden, die von Hirten in malerischen Trachten geweidet wurden. All das war neu für mich und gab mir Stoff zum Nachdenken und Entdecken. Ganz besonders behagte mir die kleine Gasse gleich neben dem Haus, wo es so zauberhafte Dinge wie kleine Eselchen zu sehen gab. Hier in Sofia begann sich mein Charakter zu formen.
Da war dieser dünne, blasse Junge namens Sascha. Er gehörte zur russischen Enklave, war jedoch kein Offiziers-, sondern ein Arztsohn und damit in den Augen der anderen Jungs nicht satisfaktionsfähig. Obwohl auf verlorenem Posten, prügelte er sich oft und steckte ordentlich ein. Miss Gudgeon und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch Schura nahmen ihn unter ihre Fittiche. Schura dachte sich Spiele aus, er folgte ihr. Doch wenn die andern Jungs dazukamen, endete alles fast zwangsläufig in einer Rauferei. Schura versuchte, mit Ablenkungen und Listen Frieden zu stiften, doch das gelang immer nur für kurze Zeit. Einmal, als die Kinder den am Boden liegenden Sascha übel traten, platzte Schura der Kragen und sie schlug dermaßen auf die Angreifer ein, dass ihr Kleid zerriss und die Kombattanten mit zerkratzten Gesichtern und blutenden Händen das Weite suchten. Auch Schura hatte sich wehgetan, blaue Flecken zeugten davon, aber sie war voller Stolz. Ich prügelte mich eigentlich nicht gern herum, aber diesmal konnte ich nicht an mich halten, gebrauchte meine Fäuste – und siegte. Die Jungen liefen heulend auseinander – eine Siebenjährige kann eben ganz gut beißen, wenn es sein muss.
* * *
Die wichtigste Freundschaft, die Schura in ihrem bulgarischen Jahr schloss, war die zu dem russischen Mädchen Sofia (genannt Soja) Leonidowna Schadurskaja. Zum ersten Mal begegneten sich die beiden nahezu Gleichaltrigen auf dem Neujahrsfest der russischen Enklave. Sojas Vater gehörte ebenfalls zum Militär, er war als Jurist am Gericht tätig. Die Familien waren Nachbarn, sie hatten einen gemeinsamen Gartenzaun, das bot gute Gelegenheiten für die Kinder, sich spontan über den Zaun hinweg zu verständigen, über ihn hinwegzuklettern und im Garten Fangen zu spielen.
Mit Soja hatte Schura nun zum ersten Mal eine richtige Freundin. Zuvor hatte sie meistens mit Jungen gespielt, denn Mädchen, ob in St. Petersburg oder Sofia, wurden selten zum Spielen ins Freie gelassen. Aber mit den Jungs hatte sie ein Problem, die prügelten sich einfach zu gern. Mit Soja dagegen konnte ich mich unterhalten. Sie konnte schon lesen und las ohne fremde Hilfe in den Zeitungen all das, was mit Großbuchstaben geschrieben stand. Die beiden spielten nicht nur miteinander, sie dachten zusammen ernsthaft nach, wie sie es nannten. Schura hatte mit Fragen an die Erwachsenen nicht immer gute Erfahrungen gemacht. Manchmal verstanden die Erwachsenen sie nicht, manchmal verstand sie deren Antworten nicht, und manchmal erhielt sie auch einfach keine – das war besonders enttäuschend. Auch wollte Schura nicht lästig sein, und das Gefühl der Beschämung wollte sie ebenfalls vermeiden. Bei Soja hatte sie dieses Gefühl, für alles und jedes zu klein zu sein, überhaupt nicht, obwohl die Freundin sogar ein wenig jünger war als sie. Soja fragte ich nach allem, was ich nicht verstand. Mir schien, dass sie alles wüsste. Sie erzählte mir von den Negern in Amerika, die wie Sklaven gehalten würden, aber Präsident Lincoln habe den Sklavenhaltern den Krieg erklärt. Als wir einmal im Garten auf unserer selbst gebauten Schaukel saßen, entschloss ich mich, Soja zu fragen, was eine Verfassung sei. Soja antwortete, ohne lange überlegen zu müssen: „Die Verfassung ist so ein blaues Heft. Es liegt bei meinem Vater auf dem Tisch, und darin stehen alle Verordnungen, nach denen die Bulgaren leben sollen, damit sie frei werden und glücklich sind.“
Die bulgarische Verfassung trug die Handschrift des Beraters Domontowitsch, und sie war dem Zaren nicht genehm, es waren ihm zu viele Freiheiten darin. Nachdem Schuras Vater sein Werk in Sofia getan hatte, reiste er mit Frau und Kindern nach St. Petersburg zurück. Auch Soja und ihre Familie kehrten heim. Es erwies sich, dass die beiden Freundinnen nah beieinander wohnten.
* * *
Dem im März 1881 ermordeten Zaren Alexander II. war dessen Sohn Alexander III. auf den Thron gefolgt. Dieser Herrscher nahm als Erstes eine Reform zurück, die sein Vater kurz vor seinem Ende angestoßen hatte und der zufolge alle auf kommunaler Ebene gewählten Stadt- und Dorfräte, die Semstwos, mehr Einfluss erhalten sollten – erste Schritte in Richtung auf eine konstitutionelle Begrenzung der Zentralmacht. Diesen Weg der Reformen, den Alexander II., wie zögerlich auch immer, eingeschlagen hatte, wollte Alexander III. keinesfalls weitergehen. Stattdessen schickte er seine Polizei in die Städte, aber auch aufs Land bis in die letzten Winkel des Reiches, damit sie die Widerstandsnester ausräucherten, aus denen der revolutionäre Untergrund sein stets sich erneuerndes Personal rekrutierte.
Es gab Verschwörungen und Aufruhr gegen die Polizeigewalt, es gab Verhaftungen, Verbannungen, Hinrichtungen. Der neue Zar machte klar, dass er den Mord an seinem Vater rächen wollte. Besonders hart traf es die ethnische Minderheit der Juden. Es ging der Rumor, Juden seien die eigentlichen Drahtzieher im Volk, soweit es aufrührerisch gesinnt war. Ganz Russland erzitterte von Pogromen.
Was so viele Kritiker des revolutionären Terrors vorhergesagt hatten, war eingetreten: Der neue Zar erwies sich als noch machtgieriger, furchterregender und reaktionärer als der alte. Im Hause Domontowitsch sprach man über das Thema Verfassung in gedämpftem Ton. Das verstand auch Maria Strachowa, die jetzt Schura unterrichtete: in Französisch, Deutsch, Literatur und Geschichte. Bei politischen Themen ließ sie Vorsicht walten. Die Mutter wollte verhindern, dass ihre Jüngste von den weithin umlaufenden Ideen des Umsturzes und des Nihilismus angesteckt würde. Die Tanten stimmten ihr zu: „Wir müssen alles tun, um Schurinka vor solchen grässlichen Dingen zu bewahren.“
Für Schura hatte der Petersburger Neubeginn nach dem bulgarischen Jahr eine herbe Enttäuschung gebracht: Sie durfte nun doch nicht zur Schule gehen. Dabei war sie in Sofia stets auf später vertröstet worden, wenn sie neidvoll zusehen musste, wie sich die Kinder aus der Nachbarschaft zur Schule aufmachten. Und dann, wieder zu Hause in St. Petersburg, hieß es kurz und knapp: „Du lernst alles, was du brauchst, bei Madame Strachowa.“ Lesen hatte Schura mittlerweile von Soja gelernt, und sie entwickelte sich zu einer manischen Leseratte. Die Mutter sah das gar nicht gern, nahm ihr die Bücher weg und sagte dazu: „Du verdirbst dir die Augen!“ Die Tochter aber schaffte stets Ersatz, wenn die Mutter mal wieder allzu streng auftrat.
Miss Gudgeon, die zu ihr gehalten hätte, war mittlerweile verstorben, doch Maria Strachowa besaß ebenfalls ein Herz für die lesehungrige Schülerin, so auch die Schwestern. Die waren acht und sieben Jahre älter als Schura und mit ihr im Bunde. Sie standen ihr bei, wenn die Mutter schimpfte, weil sie nicht aufgeräumt hatte. Überhaupt war die Mutter zwar immer besorgt, aber unnachsichtig. Zärtlichkeit war von ihr nicht zu erwarten. Dafür nahmen die Schwestern Schurinka in den Arm, und auch der Papa, von der Kleinen verehrt, lächelte, wenn sie ihn küsste.
Die ältere Schwester Adèle wollte es der Mutter gleichtun und wünschte sich einen guten treuen Mann und viele Kinder. Jenny hingegen, die eine besondere Gabe besaß und sang wie ein Engel, hatte durchgesetzt, dass sie Musik studieren durfte, um später an der Oper aufzutreten. Da sie nun entschlossen war, einmal ans Marientheater zu gehen, arbeitete sie ernsthaft an ihrer Stimme und befasste sich mit Musiktheorie. Sie half auch Schura am Klavier und unterstützte sie, als die nicht so musikalische kleine Schwester ankündigte, sie wolle nicht mehr üben. Schura schien weder für die Musik noch fürs Zeichnen oder Tanzen eine besondere Begabung zu besitzen, das machte der Mutter zu schaffen. Die Tochter aber wusste ganz genau, was sie einmal werden wollte: eine Schriftstellerin. Sie würde Bücher schreiben und berühmt werden wie Puschkin und Turgenjew, Dobroljubow und Tschernyschewski.
* * *
Die erwachsene Alexandra Michailowna Kollontai bezeichnet in ihren Memoiren ihre Kindheit als glücklich: Ich lebte sorgenfrei in einer begüterten Familie, die weder Armut noch Hunger kannte. Unser Haus im Norden St. Petersburgs war Teil der Kavallerieschule. Große helle Zimmer, lange Korridore. Auch einen Garten gab es, eine Manege und viele Pferde. Ich sah gern zu, wie die Junker beim Reiten die Hindernisse nahmen. Manchmal durfte ich den Pferden Zucker geben.
Der kleinen Schura aber entging nicht, wie es um die Dienstboten und deren Familien bestellt war. Die lebten in den Seitenflügeln und Hinterhöfen der großen Stadthäuser, ihre Wohnungen waren eng und dunkel, die Öfen qualmten, kaputte Scheiben wurden nicht ersetzt, die Fenster mit Pappe zugenagelt. Im Winter gingen die Dienstmädchen ohne Mantel, im Sommer lief das Gesinde barfuß, denn Schuhwerk war teuer, und für fünf Silberrubel im Monat konnte man sich so was nicht leisten. An eine Kammer für einen allein war nicht zu denken. Selbst Betten gab es nicht für alle, höchstens die Köchin und das älteste Stubenmädchen hatten ein eigenes Bett. Die übrigen schliefen, wo sich gerade Gelegenheit bot – auf dünnen Strohsäcken in den Korridoren, auf Bänken in der Küche, auf Truhen in den Abstellkammern.
Die achtjährige Schura, die immer alles wissen wollte, fragte ihre Mutter, wie es denn sein könne, dass sie ausgeschimpft werde, wenn sie ihren Grießbrei nicht aufaß, weil es ja schließlich Kinder gebe, die hungerten? Den Rest ihres Grießbreis könne man doch den hungrigen Kindern geben. Aber dieser Vorschlag gefiel ihr, sowie sie ihn ausgesprochen hatte, selbst nicht mehr. Den Rest an die hungernden Kinder? Nein, es müsse genug Grießbrei für alle Kinder auf der Welt geben. Diese Lösung leuchtete ihr vollends ein, während die Mutter ein ernstes Gesicht machte und den Kopf schüttelte. Es wurde Schura klar, dass Armut und Hunger Grausamkeiten waren, die sich nicht so leicht aus der Welt schaffen ließen. Und insofern, das begriff sie früh, war auch sie keineswegs sorgenfrei. Denn die Kinder, die in Lumpen gingen und beim Bäcker klauten, die waren ihr einfach nicht egal. Sie dachte oft an sie. Sie versteckte Kekse, um sie irgendwann an die Armen zu verteilen. Als sie dann meinte, nun sei es so weit, war der Vorrat hinter der Kommode verschimmelt. „Weine doch nicht, Schurinka“, sagte Schwester Adèle. „Es wird einen anderen Weg geben.“
* * *
Die Mutter hatte ihren Sohn aus erster Ehe, Alexander, nach der Inhaftierung und Verurteilung Mrawinskis zu sich in die Familie geholt. Um ihn machte sie sich keine Sorgen, er war wohlgeraten und studierte Jura. Aber was sollte aus ihren drei Töchtern werden? Alle Mädchen waren hübsch, das war immerhin ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Aber keine von ihnen würde eine Mitgift erhalten, das war leider ebenso wahr. Die Domontowitschs waren als Angehörige des Adels und des Militärs begünstigt, doch sie lebten auf großem Fuß – nicht luxuriös, aber freigebig. Mit einem Wort: Was an Einkünften in die Familienkasse kam, wurde auch gleich wieder ausgegeben. All die Reisen, die geselligen Abende, der Wein, der Fisch, das Feuerholz, die Löhne für das Personal, die Gehälter für die Lehrkräfte – die Kosten waren hoch, da blieb nichts übrig.
Alexandra Alexandrowna war eine sparsame Hausfrau und als Dame gänzlich uneitel. Sie mochte all den Schnickschnack nicht, der Frauen so viel bedeutete, Kleider mit Rüschen, Knöpfstiefelchen nach Pariser Mode, Parfüms und Hüte … Sie bevorzugte Schlichtheit, besaß nur ein einziges Festkleid, in dem sie nie ganz aussah wie sie selbst. Gleichwohl wusste sie, dass der Heiratsmarkt auf Chic aus war, und so sah sie es ganz gern, dass Adèle sich herausputzte. Als dann noch ein weitläufiger Verwandter auftauchte, der ihrer Ältesten den Hof machte, war sie tief beglückt. Auch Adèle fühlte sich geschmeichelt. Es störte sie gar nicht, dass der Bewerber um ihre Hand vierzig Jahre älter war als sie. Er war ein kluger, gebildeter Mann mit liberalen Ansichten, der aktiv bei der Bauernbefreiung mitgewirkt hatte.“ Konnte Adèle etwas Besseres erwarten? Die Mutter redete ihr zu.
Was aber war mit den beiden anderen? Jenny wollte zur Bühne, was in ihren Kreisen als typische Verirrung junger Mädchen hingenommen, als ernsthafte Zukunftsperspektive jedoch entschieden abgelehnt wurde. Madame Domontowitsch indes war unkonventionell genug, hier Gegenposition zu beziehen. Sie war selbst musikalisch und nicht übel am Piano, sie traute sich ein Urteil zu. Jenny besaß eine Stimme und das Talent des schauspielerischen Ausdrucks. Und dann auch noch ihren Eigenwillen. Anfangs hatte Alexandra Alexandrowna als verantwortungsbewusste Mutter dem Mädchen von einer Bühnenlaufbahn abgeraten. Aber als sie erkannte, wie ernst es Jenny mit dem Gesang war, hatte sie sich mit ihrem Mann geeinigt: Wir finanzieren ihr eine Ausbildung. Infrage kam nur der beste Gesangslehrer von ganz St. Petersburg, Monsieur Prjanischnikow. Jenny wurde seine Lieblingsschülerin.
Und Schura? Sie war ja nun noch ein Kind. Aber ihre mangelnde Bereitschaft, Gehorsam zu üben, ließ die Mutter das Schlimmste befürchten. Es war bestürzend, wie wenig entwickelt der Sinn des Mädchens für Ordnung, Sauberkeit und Küche war. Alexandra ging zu ihrem Mann ins Arbeitszimmer und setzte sich auf die Lehne seines Sessels.
„Maria Iwanowna“, begann sie, „ist der Meinung, dass Schurinka mit einer besonderen Intelligenz gesegnet sei. Was meinst du, sollten wir nicht doch über eine höhere Schulbildung für sie nachdenken?“
Michail, der gerade bei den Verfassungsfragen in Bezug auf die kaukasischen Nationalitäten war, hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
„Hauptsache, sie kommt nicht so spät nach Hause.“
„Michael, hörst du mir überhaupt zu?“
„Entschuldige, ich bin ganz Ohr.“
„Schuras Wissensdurst werde immer fordernder, sagt Maria. Was hältst du von weiteren Unterrichtsstunden, etwa in Literatur oder Mathematik?“
Der General zog an seiner Pfeife. „Neuerdings gibt es für Mädchen die Möglichkeit, als Externe das Abitur an einem Jungengymnasium abzulegen. Darauf sollte sie vorbereitet werden. Im Übrigen wundere ich mich nicht über ihre Klugheit. Sie kommt sehr nach ihrer Mutter, weißt du.“
* * *
Im Jahre 1884, Schura war zwölf Jahre alt, fand die Hochzeit ihrer ältesten Schwester statt. Die zwanzigjährige Adèle hatte tatsächlich diesem weitläufig verwandten wohlsituierten Herrn die Hand zum Ehebund gereicht, der zwar liberal und offensichtlich in seine Braut verliebt war, aber eben schon sechzig Jahre alt und ein Glatzkopf. Schura war sehr traurig, denn Heirat, das hieß ja, dass Adèle das Haus verlassen würde. Ach, und das Glück, davon war Schura überzeugt, würde im Arm dieses alten Knaben wohl kaum auf sie warten. Doch was konnte sie schon ausrichten; es hieß mal wieder, sie sei zu jung, um irgendetwas zu verstehen. Und so feierte sie widerstrebend mit.
Jenny lernte von ihrem Gesangslehrer alles, was der ihr beibringen konnte. Ihre Stimme war wundervoll klar. Sie sang ohne die geringste Anstrengung, so wie die Vögel singen. Am Ende empfahl Prjanischnikow die Weiterbildung bei einem italienischen Kollegen in Mailand. „Italien ist das Land der Opera, dort singen alle auf den Straßen, und auf der Bühne erklingen die weltweit größten Soprane und Tenöre.“ Natürlich zögerte die Mutter, ihr Kind auf eine so weite Reise zu schicken, aber nach einer Rücksprache mit ihrem Mann willigte sie ein und kündigte an, sie werde Jenny begleiten. Schura protestierte gegen die Aussicht, allein zurückzubleiben, woraufhin die Mutter sagte: „Na schön, dann kommst du eben auch mit.“ So ging die zwölfjährige Schura auf ihre zweite große Auslandsreise. Und sie lernte Italienisch.
Die junge Sängerin Jewgenia Domontowitsch überzeugte in Mailand. Und als sie ein Engagement in einer kleinen norditalienischen Stadt erhielt, überließ Madame Domontowitsch ihre nunmehr zwanzigjährige Tochter der Oper und Italien und reiste mit Schura nach St. Petersburg zurück. Dort hatten inzwischen zwei der alten Tanten das Zeitliche gesegnet, und es wäre leer im Haus gewesen, wenn nicht der Vater seinem Faible für Bulgarien durch die Einladung mehrerer aufstrebender Jünglinge aus Sofia gefrönt hätte, die in Russland studieren wollten und in die Zimmer der Tanten und der erwachsenen Töchter eingezogen waren. „Wir brauchen Ingenieure, Werkzeugmacher und Techniker, um voranzukommen, und diese Jungs werden uns dabei helfen“, sagte der Vater. Sein Stiefsohn Alexander, genannt Sascha, war ja auch noch da.
Also geriet Schura in ein Nest von meist gut gelaunten Jünglingen, die sich gerne mal einen Spaß mit ihr erlaubt hätten. Aber Schura war ein sehr ernstes junges Mädchen, sie wollte lieber mit den Studenten über die Reformfeindlichkeit des Zaren streiten, als mit ihnen rumzualbern. Bruder Sascha meinte, die Rettung Russlands werde aus dem Westen kommen, von den kulturell hochstehenden zivilisierten Ländern, und wir müssten eifrig vom Ausland lernen. Sie hörte auch den bulgarischen Studenten zu, wenn sie