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Tatort: Christkindlmarkt.
Im Nürnberger Rotlichtviertel wird die Leiche einer 18jährigen gefunden. Jeannette Dürers dauerfernsehende Neffen machen die Kriminalkommissarin darauf aufmerksam, daß die Tote in der Aufzeichnung einer Fernsehshow zu sehen war: in der populären Doku-Soap "My-Angel", durch die das "Christkindl 2003" für den traditionellen Weihnachtsmarkt gefunden werden soll. Jeannette verfolgt diese neue Spur. Da das Casting-Unternehmen politisch sensibel wie wirtschaftlich bedeutsam ist und von prominenter Seite Unterstützung erfährt, findet sich die attraktive Kommissarin plötzlich dort, wo sie nie sein wollte: als vermeintlicher Teenager in der Schar der publicityhungrigen Bewerberinnen um die Rolle ihres Lebens. Natürlich gerät auch sie selbst bald in den Fokus des Mörders ...
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Seitenzahl: 273
Tessa Korber
Falsche Engel
Roman
Inhaltsübersicht
Vorspiel im Himmel
Kapitel 1 – Un saison en enfer
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog – Himmel, der nirgendwo endet
Informationen zum Buch
Über Tessa Korber
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Alle Personen und Vorkommnisse in diesem Buch sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Menschen sind rein zufällig.
Speziell die Auswahl des Nürnberger Christkinds hat nie in dieser Form stattgefunden.
– Noch nicht.
Die Dame von der Werbeagentur strich sich energisch mit den Handflächen über ihre Hüften, um das letzte bißchen imaginären Schweißes an den Schößen ihres rosafarbenen Kostüms abzuwischen. Sie holte noch einmal tief Luft. Vor allem Entschiedenheit jetzt, hatte ihr Chef stets erklärt, damit sie sehen, daß du weißt, was du tust. Was du ihnen mitbringst, ist die einzig richtige Lösung. Und vor allem die, die sie am Ende kaufen werden. Ein wenig Verheißung, damit es ihnen auch Spaß macht, diese unabänderliche Tatsache zu akzeptieren. Und Beflissenheit, denn falls sie dich und deinen Entwurf trotzdem total verreißen, muß irgend etwas sie davon überzeugen, daß du in der Lage wärst, alles auch ganz anders aufzuziehen.
Sie seufzte und fuhr sich ein letztes Mal durch die roten Haare. Es war ihr Job, die unterwürfige Domina zu geben. Sie ging knapp in die Knie, griff nach ihrem Laptop und dem Schultergurt der großen Ledertasche; dann öffnete sie die Tür. Sie blickte einmal in die Runde und nickte, zufrieden mit dem, was sie sah: jungfräuliche Auslegeware, sachliche Stahlrohrstühle mit blauen Polstern, kunststoffbeschichtete Tischsegmente in Kreisanordnung. Darauf standen nett arrangierte Tablettinseln voll kleiner Flaschen und Gläser, die leise klirrten, als sie ihre Geräte auf die Fläche hob. Mit einigen routinierten Griffen arrangierte sie das Getränkeangebot so um, daß auf dem ihr am nähesten stehenden Tablett zwei Colafläschchen waren. Das war die Dosis an Droge, die sie benötigte. Wie ertappt hielt sie inne und schaute auf, als aus der Raumecke am Fenster ein Räuspern drang. Der Mann, der dort unbemerkt von ihr gestanden hatte, kam ihr nun mit langen Schritten entgegen.
»Eberhardt Ammon. Städtischer Bote.« Er reichte ihr die Hand, die sie ohne sichtbares Zögern schüttelte, wie sie es gelernt hatte: kräftig, aber nicht zu kräftig, gerade von einer Frau. Und warm müssen die Finger sein. Sie trug zu diesem Zweck ein batteriebetriebenes Heizgerät in der rechten Jackentasche.
Der Zeitungsmann räusperte sich. »Ich sehe gern dem Feind beim Aufmarsch der Truppen zu.« Ein breites Grinsen begleitete seinen Scherz.
»Herr Chefredakteur.« Die Dame in Rosa hatte ihre Hausaufgaben gemacht. »So militärisch? Sind Sie denn ein Gegner der Markt-Modernisierung?«
»Oho«, polterte er fröhlich, »Sie werden mich dem Modernen gegenüber immer aufgeschlossen finden, Frau …«
»Bergmann.« Ihr Blick glitt von seinem rotfleischigen Choleriker-Gesicht hinab zu den Cordhosen und wieder hinauf zu dem topmodischen Pullover mit Rollkragen, in dem sein ohnehin kaum vorhandender Hals verschwand. Seine Haare standen in flusigem Aschgrau gen Himmel, wie Flüchtlinge.
»Bergmann«, wiederholte er, »solange es nicht das Altbewährte verdrängt, versteht sich.«
»Aha.« Die Dame senkte wie zustimmend den Kopf und verstecke ihr aufkeimendes Grinsen hinter dem Pony.
Sonores Stimmengewirr und Schritte auf dem Korridor mahnten sie, daß es Zeit war, den Laptop anzuwerfen und einen letzten Funktionscheck des Beamers vorzunehmen. Ihre Finger klickten in eiliger Routine über die Tasten, während sie zu Ammon sagte: »Es wird Sie freuen, daß gerade auch Ihnen und Ihrer Zeitung in unserem neuen Konzept eine herausragende Rolle zufällt. Wir müssen vernetzt kommunizieren, und ohne die Printmedien und ihr enormes Potential …«
»Frau Bergmann?«
Erstaunt sah sie auf. Die Frage hatte überaus streng geklungen.
»Sind Sie Nichtraucher?«
Die Dame in Rosa dachte nicht ohne Sehnsucht an das Päckchen Gitanes in ihrer Handtasche. Dann dachte sie an ihren Auftrag. »Leidenschaftlich«, sagte sie.
»Und nun präsentiere ich Ihnen die Ergebnisse unserer Marktforschung. Der Fragebogen liegt Ihnen vor. Sie beruht auf einer Befragung eines repräsentativen Bevölkerungsquerschnitts, dem wir noch eine Gruppe von heavy usern und eine Regionalgruppe zum Abgleich gegenübergestellt haben.«
Die Dame drückte, der Laptop klickte. Auf dem Projektionsbild an der Wand erschienen runde Mandellebkuchen, die sich rasch zu den Klängen eines bekannten Weihnachtsliedes drehten und dann mit einem leisen »Kling« zur Ruhe kamen; Kuchendiagramme wurden erkennbar. Die Dame in Rosa dankte im stillen ihrer Intuition dafür, daß sie den Grafiker davon abgehalten hatte, statt des »Kling« ein mehrstimmiges »Halleluja« einzufügen.
»Wie Sie sehen können, ist das Ergebnis in allen Untersuchungsgruppen dasselbe, was uns die Arbeit sehr erleichtert, denn es macht die Ergebnisse eindeutig: Der Nürnberger Christkindles-Markt«, sie erlaubte sich ein wenig Dramatik in der Stimme, gerade genug, um die Oberkörper ihrer Zuschauer sich synchron nach vorn neigen zu lassen, »ist von schwindender Attraktivität für die Zielgruppe der Vierzehn- bis Neunundzwanzigjährigen, der von uns sogenannten jugendlichen Eventorientierten.« Sie klickte erneut, und es erschienen Eigenschaftsprofil-Diagramme in Form gestapelter Zuckerstangen. Ihr Laserpointer beleuchtete die längste davon.
»Vollkommen befriedigend ist die Akzeptanz bei den älteren Traditionalisten und den Jungfamilien mit Kindern bis etwa zwölf. Aber schon bei den älteren Kindern bricht es ein. Dabei dürfen wir nicht übersehen, daß auch die sogenannte Youngster-Gruppe einkommensstark ist wie nie zuvor und darüber hinaus eine nicht zu unterschätzende Gatekeeper-Funktion auf die Kanalisation der Familienkaufkraft ausübt, ja diese oft bis über die Volljährigkeit hinaus behält.«
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie der Mann vom Marktamt der Stadt nickte, ein Mittvierziger mit neonblauem Kunststoff-Brillengestell, das ihn wie einen auf intellektuell getrimmten Fernsehmoderator wirken ließ. »Jugendmarketing«, warf er im Ton des Kenners ein, »Jugendmarketing«. Er hatte vor fünfzehn Jahren in einer Werbeagentur angefangen, ehe er zur Stadt gewechselt war, und betonte noch immer gern, er sei vom Fach.
Sie lächelte ihm zu und gönnte gleich darauf Ammon einen verständnisvollen Blick unter Kameraden. Hinter den Nebelschwaden der Zigaretten, die ihre Zuhörerschaft nervös zum Munde führte, saß der alte Chefredakteur und hielt sich trotzig an einer mitgebrachten Tupperschüssel mit gekeimtem Weizen in Joghurt fest. Er nickte ihr ebenfalls zu.
»Der Anteil am Bruttosozialprodukt, über den diese Gruppe direkt und indirekt verfügt, beträgt nach neuesten Untersuchungen …« Klingelnde Schokotaler rieselten herab und illustrierten die folgenden Zahlenkolonnen.
»Damit«, die Dame im Kostüm holte tief Luft und zum eigentlichen Schlag aus, »ergeben sich die Zielvorgaben unseres Projekts.« Erwartungsvolle Pause. Sahen auch alle her? »Jugendmarketing!« Sie schenkte dem Referenten vom Marktamt ein respektvolles Nicken, was seinen ohnehin schon roten Teint vom starken Blau seiner Brille noch stärker abstechen ließ. Geschmeichelt ruckte er an seiner Mickymaus-Krawatte. »Jugendmarketing. Wie Ihr Kollege, Herr Erlwein, es bereits formuliert hat. Und Jugendmarketing heißt heute vor allem integrierte Kommunikation.« Sie raschelte ein wenig mit ihren Papieren, jetzt war Action angesagt. Die Präsentationsmappen fanden sich und wurden herumgereicht. Niemand schenkte ihnen zu diesem Zeitpunkt einen Blick; alles hing gebannt an ihren Lippen und den bunten Bildern, die hinter ihrem Kopf über die Wand huschten.
»Runtergebrochen auf unsere Situation bedeutet das eine avancierte Form von Eventmarkting, die auf allen Medienkanälen kommuniziert wird.« Sie blickte in die Runde. »Wir müssen den Christkindles-Markt zu einem Ereignis machen, das den Bedürfnissen unserer Zielgruppe gemäß hohen Eventcharakter hat …«
Eine Engelsfanfare untermalte schmetternd diesen Punkt, der ins Bild wutschte und sich langsam scharf stellte, während der Engel seine Fanfare absetzte. »Laß ihn nicht grinsen«, hatte die Dame den Grafiker ermahnt, »er darf um Himmels willen nicht grinsen!« Der Engel blickte entschlossen.
»… interaktive Elemente aufweist …« Fanfare, Wutschen.
»… und in enger Verzahnung der Maßnahmen über Print, Hörfunk, Fernsehen und vor allem auch das Internet kommuniziert wird.« Mehrfaches Trompeten und Wutschen.
»Wir haben daraus einen gebündelten Maßnahmenkatalog gemacht, der teilweise das Marktangebot selbst betrifft, wie etwa die Optimierung beim Angebot von Internet-Buden für Online-Postkarten und Wunschzettel sowie PC-Games mit Weihnachtsthematik, oder einen Kußwettbewerb unterm Mistelzweig.« Sie hob die Hände, um aufkommendes Gemurmel zu ersticken. »Zu diesen Punkten möchte ich später detailliert kommen. Klare Vorgabe war dabei in jedem Fall, den hergebrachten Charakter des Marktes nicht anzutasten, um die Akzeptanz bei den traditionsorientierten Usern nicht zu gefährden.« Sie konnte die Woge der stummen Zustimmung körperlich fühlen und suchte unwillkürlich Halt an der Tischkante. Gut so.
»Uns geht es um eine Bündelung der traditionsaffinen und der eventaffinen Nutzerinteressen. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, die eigentliche Neuerung nicht am Markt selbst vorzunehmen, sondern in das Vorfeld zu verlegen.« Die Dame probte ein kurzes verführerisches Lächeln, dann ließ sie wieder die Marktforschungspeitsche knallen. »Unsere Studien im Anschluß an eine großangelegte Umfrage der marktführenden Jugendzeitschriften haben folgende Trends in unserer Zielgruppe erkennbar werden lassen, die sich beide für unsere Zwecke nutzen lassen: Erstens eine neue Esoterik-Welle, genannt die Engel-Mode. Zahlreiche Publikationen bis hin zu Hollywood-Filmen variieren diesen neuen Glauben an das Vorhandensein von Engeln.« Sie ließ Buch- und Videocover vorbeirauschen, umgeben von glitzerndem Engelsstaub. Routiniert spulte sie ihren Text ab. »Auch im Styling ist der ›Angel-Look‹ angesagt. Helle Grundierung, glossige Lippen, Eyeliner blaß, glitzernde Wimpern … Sie sehen es selbst.« Rasch unterbrach sie ihren fremdwortgespickten Vortrag, ehe er unter den Männern unruhiges Scharren und Sesselrücken auslösen konnte. Statt dessen ließ sie das Bild eines attraktiven jungen Models wirken, das nun im beschriebenen Make-up von der Wand herunterlachte, als wollte es sagen: Na los, holt mich doch für euren Christkindles-Markt. Mich müßt ihr kriegen. Und sie konnten sie kriegen, das war die Botschaft der Dame in Rosa.
Unwillkürliche Seufzer aus dem Auditorium untermalten ihren Vortrag, als sie fortfuhr. »Der zweite Trend dokumentiert sich in der großen Beliebtheit von Doku-Soaps, vor allem von Casting-Shows, das läßt sich sogar weltweit belegen. Tatsächlich«, sie beugte sich auf den Fingerknöcheln vor, als gäbe sie eine geheime, betroffen machende und höchst bedenkenswerte Sache Preis, »geben vierundfünfzig Prozent der Befragten in unserer Zielgruppe an, ihr oberstes Ziel sei es, einmal im Leben ein Star zu sein, dreiundsechzig Prozent gar würden gern an einem solchen Casting teilnehmen, und die Zuschauerquoten bei derartigen Veranstaltungen sehen Sie selbst.« Das Angel-Girl verabschiedete sich winkend zugunsten neuer Zahlen. Alle hätten sie gerne wiedergesehen. Die Dame von der Agentur wußte, nun waren sie reif.
»Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand:« – Kunstpause – »ein Casting.« Sie ließ die Sache einwirken. »Ein großangelegtes Casting, welches das bisherige Auswahlverfahren für das Christkind ersetzt. Unter maximaler Einbindung der Öffentlichkeit: Shows vor Ort, Dauerberichterstattung in der Presse, dazu Livecams im Internet, Clickrates mit Gewinnchancen, Chatangebote und Livechats mit Kandidatinnen, um maximalen Traffic auf den Pages zu generieren. Und schließlich das Fernsehen.« Triumphierend überblickte sie den Aufruhr, den sie ausgelöst hatte. Dann zückte sie ihren größten Trumpf. »Meine Herrschaften, ich präsentiere Ihnen die neue Doku-Soap ›My Angel‹!«
Und über Nürnberg brach das Fernsehzeitalter herein. Jingles trällerten, Jugendliche lachten von der Wand, Logos flimmerten vorüber, Moderatoren begeisterten die Massen. Es sah tatsächlich aus wie eine richtige Fernsehshow.
Als die Bilder blaß wurden, herrschte einige Momente Stille. Vorsichtiger Applaus setzte ein, den der Marktamt-Referent Erlwein energisch durch das akademische Ritual des Klopfens mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte übertönte. Zufrieden nickte er; er war vom Fach, er wußte, wie so was ging. Dann verstummte das Pochen und Klappen, die Jagd war eröffnet. Sie mußte nicht lange auf den ersten Angreifer warten. Der Vertreter der Einzelhandelsunion lehnte sich mit verschränkten Händen zurück.
»Des iß ja alles recht hübsch«, begann er, und das Lächeln der Frau in Rosa vertiefte sich um einige gefährliche Grade. Säure schoß ihr heiß in den Magen, und schwarze Wolken der Frustration schoben sich hinter ihre Stirn, aber das bemerkte nur sie. »Alles schön und bund. Beeindruckend, ja. Aber ich bin a Gschäftsmann. Ich muß an meine Bilanzen denkn und derf mich ned vo mana Begeisdrung für die Kunst hinreißn laßn.«
Warum nur sagten sie immer alle dasselbe, dachte sie frustriert. Sie griff nach einer Flasche Cola, öffnete sie umständlich, goß sich ein und nahm langsam einen Schluck. »Natürlich, Herr Spörlein«, entgegnete sie dann beflissen, »Sie sind Geschäftsmann. Das sind alle unsere Kunden, wir, nebenbei bemerkt, auch. Sie lächelte schwach über ihren eigenen Scherz, doch er kam an. »Und ich kann Ihnen versichern, wir sind uns der Verantwortung für das Budget in vollem Maße bewußt. Was genau sind denn Ihre Bedenken?«
Spörlein lehnte sich zurück, vergrätzt, daß er so zuvorkommend behandelt wurde und sich kein Anlaß zum Poltern bot. »Fernsehn ist deuer«, raunzte er.
»Nicht dieses Format«, widersprach ihm die Dame, »und vor allem nicht dieses Konzept, denn wie Sie sehen, nimmt Ihnen der Sender ja die Produktion und damit die Produktionskosten ab. Sie haben hier ein Produkt, meine Herrschaften«, und sie hob die Stimme und sprach in die Runde, »das so interessant ist für die TV-Kanäle, daß die für Sie eine Sendung daraus machen werden. An uns bleiben lediglich die Kosten für die Casting-Organisation hängen, die sich durch den Einsatz von Sponsoren noch weiter minimieren werden. Wenn ich Ihnen mal ein Beispiel geben darf …«
»Und Sie wollen«, warf der persönliche Assistent des Bürgermeisters ein, »uns allen Ernstes erzählen, daß sich ein TV-Sender für unsere Christkind-Auswahl interessiert?«
»Frankonia-TV vielleicht«, witzelte Rösch, der Pressesprecher des Stadttheaters, und erntete einen bösen Blick von den anwesenden Vertretern der regionalen Hörfunk- und Fernsehsender.
»O nein! Nein.« Die Dame in Rosa zückte ihren größten Trumpf. »Bei einer entsprechenden Laufzeit, Umfang und Einzugsgröße garantiere ich Ihnen eine Zusammenarbeit mit« – sie legte eine Kunstpause ein – »RTL 2! Hier sind die Media-Daten.«
Hatten sie richtig gehört? Das war ja echtes Fernsehen. Alle stürzten sich auf die Tabellen, als verstünden sie etwas davon. Nur Spörlein muffelte noch immer. Aber schließlich, wenn die Sache nichts kostete …
»Und was genau heißt das?« erkundigte sich der Leiter des städtischen Verkehrsvereins, »Laufzeit, Umfang, Einzugsgröße?«
»Nun …« Jetzt kam die Klippe. »Es kommt natürlich darauf an, die Veranstaltung für ein überregionales Publikum interessant zu gestalten. Als Laufzeit vorgesehen ist daher eine größere Spanne: Wir drehen ab August, damit eine Serie daraus wird. Umfang: bis zu 1000 Kandidatinnen, mindestens fünf Steps.« Sie überging das Stöhnen. »Einzugsgröße: mindestens bayernweit.« Das war es, die Bombe war geplatzt.
»Was soll das heißen, bayernweit?«
»Und wenn’s am Ende …?«
»… ka Nembercherin?«
»Das muß nicht unbedingt sein«, suchte die Dame zu beschwichtigen, »aber wenn Sie RTL wollen …«
»Aber keine Nürnbergerin, das geht doch nicht.« Man schüttelte den Kopf. Ammon umriß das Horrorszenario, das allen vorschwebte, als er sagte: »Stellt euch vor, da werden wir überschwemmt mit Spinnern aus München. Am End redet des Christkindla noch mit bayrischem Akzent.« Die Werbedame mußte lächeln. Exakt auf die Münchner Szene rechneten sie und ihre Kollegen. Ihre werbeorientierte Horrorvision war eher eine Überzahl von Bewerberinnen aus Breitengüßbach, Oberleinleiter oder Wohlmansgeseß.
»Glam Sie, mit irgendana Necherin da oben verkaufn mir was?«
Alle Köpfe wandten sich zu dem Sprecher um. »Herr Spörlein«, empörte sich die Presse-Riege unisono.
Doch er winkte ab. Das kannte er, alles linke Sensationsjägerei. »Jeds Johr schreim Sie in Ihrm Käsblatt, mehr Weihnachtsbeleuchdung mißd her, mehr dies und mehr des, un wir Gschäftsleud sollns zahln. Mir zahln ja an jedn Dreck. Aber des ned, na.«
Erlwein vom Marktamt wiegte den Kopf. »Die heavy user hätten wir damit jedenfall auf den Kopf getroffen.«
»Bayernweit, Herr Spörlein«, schmeichelte die Dame, »das sollte kulturell doch verträglich sein. Und die Entscheidung liegt ja wie jedes Jahr in der Hand der Jury.«
Das war es. Alle nickten zustimmend, erleichtert, das war die Lösung. Die Jury würde es richten, das waren schließlich sie.
»Allerdings muß auch die Jury den Erfordernissen des Mediums angepaßt werden: jung, prominent, attraktiv. RTL 2 hat da im Rahmen einer Vorabsprache ein paar Richtlinien gegeben.« Die Dame in Rosa tastete bereits nach einer schmalen Mappe mit »My Angel«-Logo.
»Wieso?« Acht Männer über sechzig schauten erst an sich hinunter und dann auf die Dame in Rosa. »Wer außer uns soll denn noch drin sitzen?«
1
»Micha? Laß doch mal die Schere.«
Jeannette Dürers Kollege hob den Blick von der Leiche, als sie ihn rief; fragend schaute er zu ihr hinüber.
Sie winkte mit dem Funkgerät. »Du kannst aufhören. Wir haben eben eine Vermißtenmeldung reingekriegt, die auf sie paßt.«
Micha Braune ließ die Schere sinken, mit der er eben begonnen hatte, Proben aus den Kleidungsstücken der Toten zu schneiden, um sie für eine spätere Identifizierung auf die Kleiderkarte zu heften. Behutsam faltete er den karierten Minirock wieder sorgfältig zusammen und legte ihn zurück zu den anderen Stücken im Sack.
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