Familienbande bei Autismus - Inez Maus - E-Book

Familienbande bei Autismus E-Book

Inez Maus

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Beschreibung

Wie entstehen Familienbande in Familien mit autistischem Kind? Was festigt sie? Gibt es einen besonderen Zusammenhalt in solchen Familien oder gestalten sich die Beziehungen dort schwierig? Im Buch blicken Familien mit autistischem Mitglied gemeinsam zurück auf die Zeit der Kindheit: Wie funktionieren die Familien mit und trotz Autismus? Im Dialog miteinander analysieren die AutorInnen, die Mutter und Sohn sind, die Beziehungen in der Familie. Interviews mit Mitgliedern verschiedener Generationen anderer Familien zeigen die individuellen Wege auf, wie familiärer Zusammenhalt geschaffen und aufrechterhalten werden kann, und geben Hinweise für ein aktiv gestaltetes Miteinander. Dieses Buch richtet sich gleichermaßen an Angehörige und autistische Menschen. Für Fachkräfte komplementiert es symptombezogenes Fachwissen, indem es die Einsicht vermittelt, wie weitgreifend Autismus das soziale Umfeld der gesamten Familie beeinflusst und welche Möglichkeiten zur positiven Einflussnahme bestehen.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Einführung in das Thema: Autismus in der Familie

1.1 Autismus – eine kurze Einführung

1.2 Familie – eine kurze Einführung

1.3 Situation von Eltern eines autistischen Kindes

1.4 Beziehung von Eltern zu ihrem autistischen Kind

2 Gedankenaustausch über Autismus zwischen Mutter und Sohn

2.1 Rückblick: Vergangenheit – Kindheit und Jugendzeit mit Autismus

2.1.1 Kindheitserinnerungen

2.1.2 Diagnose

2.1.3 Therapien

2.1.4 Schulzeit

2.1.5 Hobbys und Freizeit

2.1.6 Geschwister

2.1.7 Rolle der Eltern

2.1.8 Berufstätigkeit der Eltern

2.2 Einblick: Gegenwart – Studium mit Autismus und Ablösung vom Elternhaus

2.2.1 Allgemeines Lebensgefühl

2.2.2 Umgang mit der Diagnose Autismus

2.2.3 Autismus – Neurodiversität oder Störung?

2.2.4 Bonus – Theory of Mind

2.2.5 Schwierigkeiten und Stärken

2.2.6 Erfahrungen an der Universität

2.2.7 Heutige Rolle der Geschwister

2.2.8 Autismus und Kreativität

2.2.9 Eine etwas andere Wohngemeinschaft

2.2.10 Tagesklinik

2.2.11 Bonus – Tugend und Freiheit

2.2.12 Lebenszufriedenheit und »Glücklichkeit«

2.3 Ausblick: Zukunft – Wünsche, Träume, Hoffnungen

2.4 Seitenblick: Gedanken weiterer Mitglieder zur Familie

2.4.1 Der jüngere Bruder (Gastbeitrag)

2.4.2 Der Vater – Funktionale Familie (Gastbeitrag)

2.5 Überblick: Strategien zum Realisieren von Familienbande

3 Interviews mit Vertretern anderer Familien mit autistischem Mitglied

3.1 Rahmenbedingungen der Interviews

3.1.1 Auswahl der Interviewpartner

3.1.2 Zeitlicher Rahmen und Art der Befragung

3.1.3 Auswahlkriterien der Fragestellungen

3.2 Ergebnisse und Auswertung der Interviews

3.2.1 Kurze Vorstellung der Teilnehmer

3.2.2 Kernaussagen der Teilnehmer

3.3 Schlussfolgerungen aus den Interviews

3.4 Resümee des Kapitels: Familienbande – Mythos oder Möglichkeit?

4 Schlussbemerkung und Ausblick

5 Anhang – Extrablick

5.1 »Die ewig wachsende Stadt Pantharons« – von Pablo dem Chronisten

5.2 Ben und Jan

Literatur

Die Autoren

Inez Maus ist Mutter eines autistischen Jungen und befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Autismus. Die promovierte Biochemikerin lebt in Berlin und arbeitet als selbstständige Autorin, Lektorin und Referentin zu autismusspezifischen Themen. Sie schreibt das Blog »Anguckallergie« (www.anguckallergie.info), auf dem sie Reflexionen und Begebenheiten, die ein Leben mit Autismus in der Familie mit sich bringt, festhält. Bei Kohlhammer sind bisher zum Themenkreis Autismus und Familie ihre Bücher »Geschwister von Kindern mit Autismus« und »Geschichten für Kinder über Autismus« erschienen.Kontaktadresse der Autorin: [email protected]

Jannis Benjamin Ihrig ist ein junger Autor, der Fantasy-Science-Fiction-Geschichten verfasst. Mit einem Master im Fach Philosophie arbeitet er im Moment daran, mit seinen Werken an Verlage heranzutreten.

Der Autor reflektiert sein Schreiben folgendermaßen: »In meinem Schreiben spiegelt sich meine Faszination für die endlose Vielfalt der Wirklichkeit und die unzähligen Verknüpfungen zwischen den Facetten von Natur und menschlicher Zivilisation wider. Meine Interessen sind weitgefächert, damit viele unterschiedliche Inspirationen in meine Geschichten einfließen können. Darüber hinaus spielt mein Autismus eine große Rolle beim Schreiben, denn aufgrund meiner gegebenen Schwäche bezüglich des Knüpfens und Hegens sozialer Kontakte neige ich dazu, mir große Mühe zu geben, die Perspektiven anderer nachzuvollziehen.«

Inez MausJannis Benjamin Ihrig

Familienbande bei Autismus

Wie Zusammenleben gelingen kann

Verlag W. Kohlhammer

Für meinen Großvater Konrad, für den Wattwurm MalteFür MM

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-040370-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-040371-0epub: ISBN 978-3-17-040372-7

Vorwort

Im Alter von elf Jahren fragte mich mein Sohn Benjamin Folgendes: »Mami, müsste ich nicht ein Buch über mich schreiben? ... Oder du?«Meine Antwort lautete: »Ich hatte noch keine Zeit dazu.«»Darf ich da auch mitschreiben?«, fragte mich Benjamin daraufhin.1

Seitdem sind mehrere Jahre vergangen, Benjamin ist nunmehr erwachsen und ich habe inzwischen fünf Bücher über das Thema Autismus geschrieben, in denen er immer eine mehr oder weniger große Rolle spielt – sei es als Protagonist unserer familiären Autobiografie oder als Lieferant aufschlussreicher Praxisbeispiele. Ich habe also mehrere Bücher über ihn, aber noch keines mit ihm geschrieben.

In mein vorletztes Buch, das Kompetenzmanual Autismus (KOMMA), flossen viele aktuelle Zitate meines autistischen Sohnes und Beispiele aus unserem Alltag ein. Selbstverständlich besprach ich dieses Material mit Benjamin während des Schreibens und nach Fertigstellung des Manuskriptes. Die intensiven Gespräche über die Inhalte des Buches halfen uns beiden, ein weiteres (oder anderes?) Stück unseres jeweiligen Selbst zu finden. Sie haben auch zu einer Materialfülle geführt, die eine neue Projektidee sprießen ließ.

Eine randständige Erwähnung dieser neuen Projektidee in einem Interview weckte das Interesse des Kohlhammer Verlages und bescherte uns eine entsprechende Anfrage. Damit bot sich uns die Chance auf eine spannende Herausforderung. Würde es funktionieren? Benjamin verfasst einerseits Geschichten, Spiele-Rezensionen und Fantasy-Romane, andererseits bedingt durch sein Studium philosophische Abhandlungen. Ergänzen sich unsere unterschiedlichen Schreibstile zu einem Ganzen? Das vorliegende Buch beantwortet die eben gestellten Fragen.

Gleich zu Beginn zeigte sich, dass die Zusammenarbeit auch meinen Horizont noch einmal erweitern wird. Über das von mir verfasste Exposé zum Buchprojekt äußerte Benjamin: »Es ist okay.« Ich stellte die meiner Logik folgende Frage: »Was soll geändert oder besser gemacht werden?«, denn mit einem »Okay« wollte ich mich nicht zufriedengeben. Daraufhin erklärte mir Benjamin folgendermaßen, warum es keinen Änderungsbedarf gibt: »Ich verbinde mit Lob Fröhlichkeit. Ich dachte, ein ›gut‹ ohne Fröhlichkeit wäre leer, selbst wenn es aufrichtig gemeint ist. Deshalb habe ich ein neutrales ›okay‹ genommen, weil ich das mit meinem jetzigen Gemütszustand besser ausdrücken konnte.«

In unserem Buch betrachten wir das Familienleben aus unterschiedlichen Perspektiven zu verschiedenen Zeitpunkten und finden heraus, ob es Unterschiede im Wahrnehmen eines Zusammengehörigkeitsgefühls gibt. Eine Eigenschaft von autistischen Menschen kommt diesem Projekt dabei besonders zugute: Sie nehmen nicht das sprichwörtliche Blatt vor den Mund2, sie sagen nichts durch die ebenfalls sprichwörtliche Blume3. Dies trifft gleichermaßen zu sowohl für die Ausführungen, die Benjamin im Laufe des Austausches zu diesem Projekt zu Papier brachte, als auch für die Antworten, die meine Interviewpartner mir gaben.

Das Projekt beleuchtet funktionierende Beziehungen in Familien mit einem autistischen Mitglied aus verschiedenen Perspektiven. Einerseits gibt der Austausch mit meinem autistischen Sohn tiefe Einblicke in die Entwicklung einer speziellen (unserer) Familie. Andererseits offenbaren einige genormte Interviews, die ich mit Mitgliedern unterschiedlicher Generationen aus anderen Familien mit Autismus zu diesem Thema führte, weitere Bewältigungsstrategien sowie Lebensmodelle.

Dieses Buch zeigt einerseits aufgrund der Verschiedenheit der Situationen der befragten Familien und meiner eigenen Familie individuelle Wege zum Schaffen und Aufrechterhalten eines familiären Zusammenhalts auf. Andererseits werden aus der Gemeinsamkeit der Familien – mit Autismus zu leben, umzugehen, sich zu arrangieren ... – Schlussfolgerungen gezogen und allgemeine Hinweise für ein stressarmes und harmonisches familiäres Zusammenleben gegeben.

Eltern (wieder) stark zu machen, ist ein wichtiges Ziel dieses Projektes. Es möchte Eltern befähigen, Entscheidungen, die sie für ihr autistisches Kind treffen müssen, zu tätigen – ohne das Gefühl einer Bevormundung, aber mit hilfreichen Informationen zur Entscheidungsfindung. Dazu ist es notwendig, das Beziehungsdreieck autistische Menschen – Eltern – Fachpersonen ins Gleichgewicht zu bringen. Indem auch Leserinnen und Leser außerhalb des familiären Umfeldes angesprochen werden, möchte das Buch dazu beitragen, Streitigkeiten um Formulierungsfragen oder Kompetenzvergabe zu minimieren oder zu beenden, und stattdessen dazu anregen, gemeinsam etwas zu bewegen.

Das Buch über besondere Familienbeziehungen trägt den Charakter eines Lesebuches, also eines Buches, welches man in die Hand nimmt, um sich zu bestimmten Fragestellungen inspirieren zu lassen und Entscheidungshilfen zu erhalten. Es vermittelt sowohl Hintergrundwissen als auch Erfahrungswissen.

Gelesen werden möchte das Buch von Eltern und Familienangehörigen, aber auch von Bekannten und weiteren Bezugspersonen autistischer Menschen. Durch die Ausführungen meines Sohnes dürfte es ebenso für autistische Menschen interessant sein. Für Fachkräfte komplementiert das Buch symptombezogenes Fachwissen, indem es die Einsicht vermittelt, wie weitgreifend Autismus das soziale Umfeld der gesamten Familie beeinflusst und welche Möglichkeiten zur positiven Einflussnahme bestehen.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die am Entstehen dieses Buches mitgewirkt haben. Mein Dank gilt insbesondere den Familien, die einem Interview zugestimmt und sich damit mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Ebenso bedanke ich mich bei meinem Koautor Benjamin für seine Ideen, seine Zuverlässigkeit und den inspirierenden Austausch sowie bei den restlichen Familienmitgliedern für ihre Gastbeiträge und für die vielen kleinen Wohlfühlmomente. Malte S. danke ich für seine Unterstützung bei organisatorischen Dingen.

Den Mitarbeitern des W. Kohlhammer Verlages gilt unser Dank dafür, dass sie dieses Projekt angeregt und ermöglicht haben. Insbesondere danken wir Frau Annika Grupp, Frau Kathrin Kastl sowie Frau Susanne Ehmann für die einerseits erneute und andererseits neue bereichernde Zusammenarbeit.

Berlin, im Oktober 2022Inez Mauswww.anguckallergie.info

Ich muss direkt sein: Der ursprüngliche Grund dafür, warum ich dieses Buch zusammen mit meiner Mutter schreibe, ist der, dass es ihre Idee war. Der Erfolg ihrer Bücher ist etwas, was ich ihr von ganzem Herzen gönne, und als sich die Gelegenheit bot, einen Beitrag zu ihrem weiteren Erfolg zu leisten, ergriff ich die Gelegenheit, ohne groß darüber nachzudenken, was mein persönlicher Grund für das Schreiben sein könnte.

Tatsächlich bin ich eher das Gegenteil von ihr, denn ich setze mich nicht gern mit meinem Autismus auseinander. Soweit ich mich zurückerinnern kann – was ungefähr bis zum Grundschulalter reicht – habe ich meist versucht, mich unter die »Normalen« einzufügen. Ich verwendete unter anderem Energie darauf, meine »Macken« – so gut, wie es ging – unter Kontrolle zu halten, damit ich nicht unangenehm auffiel. Ich wollte nie »Benjamin, der Autist« sein. Natürlich ist mein Autismus aber ein Teil von mir, den ich auch nicht beseitigen möchte, selbst wenn ich es könnte. Meine Stärken und Schwächen formen, wer ich bin, und der Autismus trägt einen Teil zu beiden bei. Nach vielen Jahren des Haderns mit mir selbst bin ich an einem Punkt angelangt, wo ich mich als »Jannis Benjamin, der Schriftsteller« verstehe, der unter anderem auch autistisch ist.

Manche von Ihnen, meinen werten Leserinnen und Lesern, werden vielleicht etwas besorgt sein über mein zwiegespaltenes Verhältnis zu Autismus. Vielleicht werden Sie meinen, dass ich stolz auf mich sein und meinen Autismus mehr schätzen sollte. Weder ich noch Sie liegen falsch. Oder richtig. Denn ich denke, dass jeder in seinem Leben einen persönlichen Weg finden muss. Das ist schwierig, weshalb ich beschlossen habe, von meinen Schwierigkeiten und Herausforderungen zu erzählen, um anderen ein Licht für die Suche nach dem eigenen Weg zu geben, ohne aber jenen Weg vorzugeben. Dieses Licht ist damit nicht nur für jene wie mich, die mit ihrem Autismus hadern und sich zumindest ein Stück von ihm emanzipieren wollen. Es ist auch für jene, die ihren Autismus zum wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit machen wollen. Oder auch für jene, die jemand mit Autismus in der Familie oder im Freundeskreis haben. Und zu guter Letzt für alle, selbst jene, die mit Autismus nichts zu tun haben – denn jeder kann ein Licht für seine Suche gebrauchen und so mancher mag ungewöhnliche Inspirationen in meinen Erzählungen finden.

Das Vorwort, das Sie gerade gelesen haben, schrieb ich am Anfang des Projektes. Nun kann ich es damit ergänzen, dass ich Feuer für das Projekt gefangen habe. Beim Beantworten der Fragen meiner Mutter wurden mir viele Dinge über mich und über Autismus klar, die mir zuvor vollkommen verborgen blieben. Vor Beginn des Projektes war ich wohl unbewusst davon geprägt worden, dass ich nicht glaubte, persönlich viel Interessantes zu sagen zu haben. Doch beim Hineinhorchen in mich sind viele wertvolle Gedanken hochgekommen, die nicht nur für Autisten und ihre Familien, sondern für alle von Nutzen sein könnten. Ich sehe dieses Projekt nun als etwas, in dem ich mich ausdrücken und anderen etwas geben kann. Ich schätze mich glücklich, dass ich blauäugig in das Ganze hineingegangen bin, anstatt mich zu versperren.

Ich danke von ganzem Herzen meiner Familie. Ohne sie wäre ich nicht so weit in meinem Leben gekommen.

Berlin, im Februar und September 2022Jannis Benjamin Ihrig

Zu guter Letzt sei erwähnt, dass wir dem Lesefluss zuliebe die verschiedenen Personen- oder Berufsgruppen im generischen Maskulinum benutzen. Vertreterinnen aller Professionen fühlen sich bitte hier ebenfalls angesprochen. Weibliche Familienmitglieder wie Mütter und Schwestern sind in diesem Fall privilegiert, da die deutsche Sprache für sie bereits eigene Bezeichnungen bereithält. Wer sich in dem überkommenen binären Geschlechtersystem nicht wiederfindet, möge sich bitte nicht vom Lesen des Buches abhalten lassen.

Endnoten

1Maus, 2014, S. 288

2Die Redewendung kein Blatt vor den Mund nehmen geht zurück auf eine alte Theatersitte. »Die Schauspieler machten sich unkenntlich, indem sie Blätter vor ihr Gesicht hielten. Sie konnten dann manches vorbringen, ohne später dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden« (Röhrich, 2001, S. 205).

3Die Redewendung etwas durch die Blume sagen bedeutet, etwas »verhüllend, andeutend oder umschreibend [zu] sagen«. Vermutlich leitet sich die Formulierung von der Blumensprache ab, bei der eine Botschaft nicht mit Worten, sondern mittels einer Blume, deren Bedeutung man natürlich kennen muss, übermittelt wird. So gelten bspw. Klatschrose oder Kornblume in bestimmten Regionen als Zeichen der Abweisung (Röhrich, 2001, S. 222).

1 Einführung in das Thema: Autismus in der Familie

Inez Maus

Benjamin, dir ist es gelungen, unser Weltbild gründlich umzustülpen. Du hast uns eine neue Sicht auf die Welt gelehrt, die wir nicht mehr missen wollen. Indem du uns gelegentlich an unsere Grenzen geführt hast, haben wir gespürt, wie viel Kraft in uns steckt und wie wir diese entfesseln können. In Analogie zum Bild der »Rabenmutter« hast du einmal gesagt, du wärst in unserer Familie der »Rabensohn«. Nur weil du deine Liebe, Zuneigung und Fürsorge anders äußerst, bist du keineswegs so ein schwarzes Vogelkind, um bei deinem Bild zu bleiben. Gerade deine Vermutung, dass du ein »Rabensohn« sein könntest, zeigt, wie viele Gedanken du dir um uns als Familie machst!4

Autismus als tief greifende oder neuronale Entwicklungsstörung (nach ICD-10 bzw. ICD-115) wird in der Literatur als große Herausforderung für Eltern, als familiäre Belastung und als Notwendigkeit, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, beschrieben. Einige Beispiele sollen dies im Folgenden verdeutlichen.

Aufgrund der Tatsache, dass ein autistisches Kind auf vorhandenes Erziehungswissen der Eltern anders als erwartet reagiert, ist davon auszugehen, »dass das Selbstwirksamkeitserleben der betroffenen Eltern sinkt oder nicht ausreichend entsteht« (Schlitt, Berndt & Freitag, 2015, S. 53 f.). Eltern eines autistischen Kindes sind demnach »in besonderem Maße auf fachliche Unterstützung beim Verständnis des Störungsbildes und beim Umgang mit problematischem Verhalten der Kinder in der alltäglichen Interaktion angewiesen« (Sarimski, 2021, S. 69). Fachliche Unterstützung kann aber ebenso zu vermehrtem Stress führen, bspw. dann, wenn die »Eltern berichten, dass sie immer unter Druck gestanden hätten, umzusetzen, was Pädagogen, Lehrer und Therapeuten gesagt hätten« (Arens-Wiebel, 2019, S. 21).

Schwierigkeiten im kommunikativen und sozialen Bereich – insbesondere beim Erkennen und Ausdrücken von Gefühlen – führen dazu, dass es zu einer »massiven Verletzung der elterlichen Beziehungsbedürfnisse« kommt (Eberhardt, 2020, S. 114). Elterliche Beziehungsbedürfnisse werden u. a. verletzt, weil man die »Beziehung, die das autistische Kind zu seiner Familie im Laufe der Zeit entwickelt, [...] am besten als einseitige Abhängigkeit bezeichnen« könnte (Rollett & Kastner-Koller, 2001, S. 51). In Bezug auf die Eltern kommt es dann zum Postulieren eines Verlustes an Lebensfreude, denn »für Familien mit einem autistischen Kind ist es wichtig, sich wieder am Leben freuen zu lernen« (ebd., S. 51).

Besonders die Zeit vor und nach dem Stellen der Autismus-Diagnose wird häufig als Lebenseinschnitt beschrieben: »Das Leben findet nach einer schwierigen, manchmal traurigen, konflikthaften und mitunter auch trostlos erscheinenden Phase seine Normalität wieder« (Schirmer & Alexander, 2015, S. 10). Diese neue Normalität beinhaltet aber auch, dass die »Lebenspläne der Eltern [...] der Realität des Zusammenlebens mit einem Heranwachsenden im Autismus-Spektrum angepasst werden« müssen (Schirmer, 2022, S. 54).

Spezielle Vorgehen wie bspw. Strukturierungshilfen sind nicht nur in außerhäuslichen Umgebungen wie Kindertagesstätte oder Schule notwendig, sondern auch in Familien hilfreich, »um Irritationen zu vermeiden, Abläufe zu vereinfachen und Orientierung zu bieten, um ein konfliktfreieres Miteinander zu erleben [...]« (Walter, 2020, S. 247). Das autistische Kind wiederum möchte wie folgt von den Eltern behandelt werden: »mit klaren Strukturen, klaren Gesetzen und Regeln – und selbstverständlich alles schriftlich-verbindlich, nachvollziehbar und nicht willkürlich« (Girsberger, 2022, S.15). Insbesondere Mütter autistischer Kinder pendeln oft zwischen »Erklärung und Rechtfertigung, Trauer und Verzweiflung, immer neuen Herausforderungen durch die wechselnden Anforderungen« (Preißmann, 2015, S. 112).

Diese Ausführungen werfen die Frage auf, ob Familienbande – also ein besonderer Zusammenhalt von Familienmitgliedern – unter den geschilderten Bedingungen überhaupt möglich sind.

In den vergangenen fünfzehn Jahren haben sich einerseits immer mehr autistische Menschen zu Wort gemeldet und entscheidend zum besseren Verständnis des Phänomens Autismus beigetragen. Die Beziehungen zu ihren Familienmitgliedern werden hierbei entweder als schwierig beschrieben oder es wird von verständnisvollen Eltern berichtet, ohne jedoch darauf einzugehen, ob und – wenn ja – wie ein familiärer Zusammenhalt daraus resultiert‍(e). Andererseits besteht die Tendenz, dass sich Berichte von Eltern autistischer Kinder zunehmend in den Hintergrund gedrängt finden. Diese Berichte lassen allerdings meist ebenso eine multidirektionale Betrachtung des Familiengeschehens vermissen.

In den letzten zehn Jahren hatte ich während meiner Veranstaltungen, bei Elterntreffen und bei der Begleitung von Familien mit einem autistischen Kind reichlich Gelegenheit, Einblicke in das Denken und Fühlen von Eltern zu erlangen. Eltern eines autistischen Kindes nehmen sich immer mehr in eine passive Rolle gedrängt wahr – eine Rolle, bei der ihnen die Umwelt entscheidende Kompetenzen abspricht. Sie haben immer öfter das Gefühl, sowohl von wenigen Fachpersonen als auch von einigen autistischen Menschen gelegentlich rigide wirkende Anweisungen zum Handeln anstatt Hilfen zur Entscheidung zu erhalten. Es findet dabei nicht selten eine Einmischung in Familienangelegenheiten statt, die wohl bei kaum einer anderen Behinderung so anzutreffen ist. Damit wird das autistische Kind von außen zu Unrecht in die Rolle des von Carl H. Delacato beschriebenen unheimlichen Fremdlings (Delacato, 1985) gedrängt – ein unheimlicher Fremdling, der bspw. in Person des sechsjährigen Bob in das Arbeitszimmer des Autors tritt, »gefolgt von seinen traurig blickenden Eltern« (ebd., S. 23).

Die eben geschilderten Tendenzen erwecken den Anschein, dass ein autistisches Kind automatisch zu einer Spaltung der Familie führt, dass es nur fordert – Kräfte, Nerven, finanzielle Mittel, Zeit –, aber nichts oder wenig einbringt, dass beiderseitiges Verständnis und gegenseitige Bereicherung nur Wunschträume sind. Der Anschein trügt.

Familienbande sind ebenso mit einem autistischen Kind in der Familie möglich. Es bedarf hierzu anderer Strukturen als in Familien ohne ein solches Kind und es gibt andere äußerlich wahrnehmbare Signale, die auf einen derartigen Zusammenhalt hindeuten, wie das eingangs zitierte Beispiel des Rabensohns verdeutlicht.

Das erste Kapitel beinhaltet einführende Gedanken zu den Themen Familie, familiärer Zusammenhalt und Auswirkungen von Belastungssituationen auf die Familie. Hintergrundinformationen zum Thema Autismus ergänzen dies.

1.1 Autismus – eine kurze Einführung6

Autismus ist medizinisch betrachtet eine tief greifende oder neuronale Entwicklungsstörung (nach ICD-10 bzw. ICD-11). Das Erscheinungsbild dieser Entwicklungsstörung ist geprägt durch Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation sowie der sozialen Interaktion und durch repetitive Handlungen oder Interessen. Häufige Formen des Autismus sind der frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom, wobei sich das Asperger-Syndrom dadurch auszeichnet, dass die sprachliche Entwicklung altersgerecht verläuft und die kognitive Entwicklung nicht eingeschränkt ist. Der frühkindliche Autismus ist gekennzeichnet durch eine ausbleibende oder verzögerte Sprachentwicklung. Eine häufige Begleiterscheinung (komorbide Störung) beim frühkindlichen Autismus ist die Störung der kognitiven Entwicklung. Wenn die kognitive Entwicklung bei dieser Form des Autismus nur wenig oder nicht beeinträchtigt ist, wird von High-Functioning-Autismus gesprochen.

Als Erstbeschreiber des Phänomens gelten Leo Kanner (1943, frühkindlicher Autismus) und Hans Asperger (1944, autistische Psychopathen im Kindesalter). Das von Hans Asperger beschriebene Störungsbild wurde in den 1980er-Jahren als Asperger-Syndrom benannt. Frühere Beschreibungen von autistischen Kindern existieren von Grunja E. Scucharewa und Ida Frye (vgl. Maus, 2020, S. 18 f.).

Die Einteilung in einzelne Störungsbilder ist veraltet, da diese nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Daher hat sich inzwischen die Auffassung vom autistischen Spektrum durchgesetzt, sodass im Jahr 2022 die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (nach ICD-11) mit verschiedenen Schweregraden eingeführt wurde. Aktuell wird von einer Prävalenz von 1 % für die Autismus-Spektrum-Störung ausgegangen. Im außermedizinischen Bereich ist es für die Entwicklung eines autistischen Kindes und für das Zusammenleben einschließlich gemeinsamer Aktivitäten – auch in der Familie – förderlich, wenn Autismus nicht als Störung, sondern als besonderer Lernstil und als andere Form der Wahrnehmung begriffen wird.

Autismus ist angeboren und lässt sich nicht durch Therapien oder Medikamente beseitigen. Therapien, die es in einer großen Fülle gibt, zielen darauf ab, dass der autistische Mensch lernt, besser mit seinen Schwierigkeiten umzugehen. Unseriöse Therapien zeichnen sich dadurch aus, dass sie entweder der Gesundheit des Behandelten schaden und/oder Heilungsversprechen abgeben.

Wenn die Summe der bei der untersuchten Person vorgefundenen Symptome eine in den Diagnosekriterien festgelegte Anzahl erreicht oder übersteigt, wird Autismus diagnostiziert. Diese Vorgehensweise, die als Summationsdiagnose bezeichnet wird, erklärt die große Vielfalt der Ausprägungsformen bei Autismus.

Schwierigkeiten im Bereich der Kommunikation reichen bspw. von der Unfähigkeit, altersgerechte Gespräche zu führen, bis zu fehlender verbaler Sprache. Sprache wird oft wörtlich verstanden und Witze, Ironie, Sarkasmus, Füllwörter, Metaphern, aber auch Sprichwörter und Redewendungen7 können Probleme bereiten. Aus diesem Grund sind in diesem Buch alle Redewendungen und Sprichwörter in Fußnoten erklärt. Autistische Personen fallen oft durch eine wenig modulierte Stimme und ungenügende Prosodie auf.

Abweichendes Sozialverhalten äußert sich z. B. in Form von mangelndem oder fehlendem Blickkontakt, aber auch in einer zur jeweiligen Situation nicht passenden Mimik und Gestik. Es bestehen Schwierigkeiten im Erkennen von nonverbaler Kommunikation und im Erfassen von sozialen Regeln. Autistische Kinder entwickeln später als nicht-autistische Kinder eine Theory of Mind, die die Fähigkeit beschreibt, anderen Menschen mentale Zustände wie bspw. Gefühle oder Wünsche zuzuschreiben.

Repetitive Handlungen beschreiben entweder Wiederholungshandlungen wie Stereotypien – die von außen betrachtet scheinbar nicht im Kontext der aktuellen Gegebenheiten vollführt werden – und Rituale oder Spezialinteressen, die besonders von Menschen mit dem Asperger-Syndrom gepflegt werden.

Besonderheiten im Bereich der Wahrnehmung, die sowohl die Sinnesorgane als auch Signale aus dem Körperinneren betreffen, finden sich bei autistischen Menschen häufig. Oft reagieren sie empfindlich auf akustische und visuelle Reize und sind davon rasch überfordert. Ein abweichendes Schmerzempfinden birgt eine erhöhte Verletzungsgefahr oder die Gefahr, dass Bezugspersonen Verletzungen falsch einschätzen.

Einige autistische Menschen denken überwiegend in Bildern. Fast alle autistischen Kinder haben Veränderungsängste und versuchen, die Welt, die sie umgibt, konstant zu halten, um den Veränderungsängsten entgegenzuwirken. Diese Tendenz bleibt oft im Erwachsenenalter erhalten.

Motorische Auffälligkeiten, Probleme bei der Handlungsplanung und beim Automatisieren von Handlungen sowie Schwierigkeiten beim Aufgabenverständnis und beim Zeitempfinden sind bei autistischen Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt anzutreffen. Des Weiteren fällt es ihnen schwer, Gedanken oder Handlungen auf ähnliche oder gleiche Situationen zu übertragen.

Der Alltag mit einem autistischen Kind ist oft geprägt von Schlafstörungen, Problemen bei der Ernährung, Ängsten oder einer Weglauftendenz, weil das Weglaufen in einer unklaren oder schwierigen Situation die einzige Möglichkeit zum Reagieren darstellt, auf die das Kind zugreifen kann.

1.2 Familie – eine kurze Einführung

Die Frage, was eine Familie ist, scheint leicht beantwortbar zu sein. Bei genauerem Hinsehen stellt man aber schnell fest, dass sich hierbei viele Fragen auftun. Im Alltagsverständnis besteht eine Familie aus einer Eltern- und Kindergeneration. Im weiteren Sinn können auch Großeltern, Tanten, Onkel und andere Verwandte zur Familie gezählt werden.

Lange Zeit definierte sich Familie durch eine genetische Verbindung im Sinne von Verwandtschaftsbeziehungen. Historische Veränderungen und aktuelle Tendenzen haben das Verständnis von Familie inzwischen geändert. Heutzutage wird eine Familie durch die konkreten Beziehungen untereinander bestimmt, wobei diese Beziehungen immer noch zwischen verschiedenen, nicht zwingend blutsverwandten Generationen bestehen. Durch unterschiedliche Ereignisse wie Geburten, Trennungen oder neue Partnerschaften sieht sich die Familie gezwungen, sich immer wieder neu zu organisieren.

Familien zeichnen sich dadurch aus, dass sie über einen längeren oder kürzeren Zeitraum räumlich mehr oder weniger nah zusammenleben, ihre Lebenstätigkeit aufeinander abstimmen und die Erziehung und Betreuung der in dieser Konstellation lebenden Kinder übernehmen, falls diese noch minderjährig sind. Im Alter kann sich dieses Verhältnis umkehren, sodass die Kinder die Betreuung der älteren Generation übernehmen. Dieses Zusammenleben führt im Idealfall zu Solidarität unter den Mitgliedern dieser Gemeinschaft, zu einer Gefühlsintimität und zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl, welches man auch mit Wir-Bewusstsein umschreiben könnte.

Das Statistische Bundesamt definiert Familie folgendermaßen:

Die Familie umfasst im Mikrozensus alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, das heißt Ehepaare, nichteheliche (gemischtgeschlechtliche) und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften sowie Alleinerziehende mit Kindern im Haushalt. Einbezogen sind – neben leiblichen Kindern – auch Stief-‍, Pflege- und Adoptivkinder ohne Altersbegrenzung. Damit besteht eine Familie immer aus zwei Generationen: Eltern/-teile und im Haushalt lebende Kinder. (destatis.de, o. D.)

In allen eben genannten Eltern-Kind-Gemeinschaften können autistische Kinder leben.

1.3 Situation von Eltern eines autistischen Kindes

Familien mit einem autistischen Kind sind genau wie jede andere Familie – sie sind einzigartig. Sie sind einzigartig hinsichtlich ihrer familiären Konstellation, ihrer Ansichten und Handlungsweisen und ihrer Familiengeschichte.

Die Situation von Eltern eines autistischen Kindes wird beeinflusst durch allgemeine Belastungen, die aus der Betreuung des besonderen Kindes resultieren, durch die Darstellung von Autismus in den Medien, durch Erlebnisse mit und in der Öffentlichkeit, durch vorhandene oder fehlende Hilfen und Unterstützung, durch den allgemeinen Sprachgebrauch, durch den Umgang mit Fachpersonen, durch Ressourcen, auf die die Familie zugreifen kann, und durch Bewältigungsstrategien, die sie sich angeeignet hat und anwendet.

Allgemeine Belastungen führen dazu, dass sich Eltern autistischer Kinder nicht nur viel stärker herausgefordert fühlen als Eltern von nichtbehinderten Kindern, sondern auch stärker belastet als Eltern von Kindern mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten (Tröster & Lange, 2019). Meist ist die Belastung ungleich verteilt. Eine Reihe von Studien kommt übereinstimmend zu der Erkenntnis, »dass Mütter das am stärksten belastete Familienmitglied sind, da sie meist die Hauptlast der Betreuung und Versorgung ihrer autistischen Kinder übernehmen« (Jungbauer & Meye, 2008, S. 522). Belastungen entstehen durch autismusbedingte Verhaltensweisen des autistischen Kindes wie bspw. eine Weglauftendenz, ein mangelndes Gefahrenbewusstsein, Unselbständigkeit durch fehlende Automatisierung von Handlungen, Reaktionen auf Reizüberflutungssituationen oder Veränderungen und Schwierigkeiten bei der Interaktion, wobei die Eltern sich in ihrer Lebensgestaltung stärker einschränken müssen, je »ausgeprägter die Autismusproblematik ist« (ebd., S. 530).

Allgemeine Belastungen lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen.

Die erste Kategorie umfasst Probleme und Sorgen, die aus dem unmittelbaren Alltagsgeschehen hervorgehen. Als Beispiele seien hier genannt:

die Sorge um das behinderte Kind,

Gefühle von Hilflosigkeit,

Zeitmangel,

mangelnde Erholung,

abwertendes Verhalten der umgebenden Personen,

misstrauisches Beäugen aller Kinder durch die umgebenden Personen,

Verlust oder Reduktion des Freundeskreises,

Einschränkung der Spontaneität,

finanzielle Sorgen.

Die zweite Kategorie bezieht sich auf die Erziehung und kindbezogene Emotionen der Eltern (▸ Kap. 1.4). Probleme entstehen bspw. durch:

fehlendes Lächeln und/oder Kuscheln/Schmusen,

die Notwendigkeit der Erziehung über Kognition statt Intuition,

traumatisierende Wirkung unwissender Fachkräfte.

Die dritte Kategorie fasst Probleme mit Behörden sowie medizinischen und anderen Einrichtungen zusammen. Herausforderungen entstehen hier bspw. durch:

das Anzweifeln der Diagnose durch verschiedene Stellen,

ermüdende Auseinandersetzung mit Behörden (z. B. lange Bearbeitungszeiten beim Versorgungsamt),

die Ablehnung von Therapien durch Kostenträger,

keine Aufnahme des autistischen Kindes in geeigneter Schule (z. B. Regelschule),

die Verweigerung von Nachteilsausgleichen in der Schule,

die Ablehnung eines Schulbegleiters,

keine Feststellung eines entsprechenden Pflegebedarfs (keine Anerkennung eines Pflegegrades).

Die Darstellung von Autismus in den Medien hat Auswirkungen auf das Verhalten der Eltern. Viele Berichte über Autismus konzentrieren sich entweder auf die negativen Aspekte der Diagnose oder auf die positiven Merkmale, die glorifiziert werden. Autistische Protagonisten in Film und Fernsehen sowie in belletristischen Werken werden meist fehlerhaft, einseitig und klischeehaft dargestellt. Diese Darstellungen haben allerdings großen Einfluss auf das Wissen der Allgemeinbevölkerung über Autismus. Ein ausschließliches Beachten der negativen Aspekte führt zu Unsicherheit und Vorurteilen. Das exklusive Wahrnehmen der positiven Aspekte bewirkt, dass Probleme, die Familien haben können, marginalisiert werden. Bei Eltern können die medialen Verzerrungen von Autismus Angst oder falsche Erwartungen auslösen.

Autismus ist eine unsichtbare Behinderung, was bedeutet, dass man Autismus nicht am Äußeren erkennen kann. Wenn es in der Öffentlichkeit zu schwierigen Situationen mit dem autistischen Kind kommt, dann erleben Eltern häufig Situationen, in denen ihnen ihre Erziehungsfähigkeit von umgebenden Personen abgesprochen wird.

Die autismusbedingten Besonderheiten des Kindes werden in der Familie in der Regel primär als individuelle Charakteristika ihres Kindes wahrgenommen und finden Akzeptanz, dagegen vermittelt die Umwelt vielfach eine deutliche Skepsis, Unsicherheit oder auch Ablehnung gegenüber den beobachteten Abweichungen von einer angenommenen Norm kindlichen Verhaltens. (Eckert, 2011, S. 22)

Dadurch entstehen bei Eltern viel Unsicherheit und Verletzbarkeit durch ungeplante öffentliche Begegnungen. Sowohl Eltern als auch Geschwister werden unvorbereitet mit diesen unangenehmen Situationen konfrontiert, wobei Eltern eigentlich ihre ganze Kraft zum Managen der kritischen Lage benötigen.

Hilfen und Unterstützung für Familien mit einem autistischen Kind sind in mannigfacher Weise möglich, aber oft limitiert oder schwer zugänglich. Entlastung von Familien kann bspw. durch mobile soziale Dienste wie den Familienentlastenden Dienst (FeD) sowie durch Einzelfall- und Familienhilfe erreicht werden. Therapien können entlastend auf den Familienalltag wirken, wenn sie bei alltagspraktischen Dingen zu Fortschritten führen oder dazu beitragen, dass sich die Kommunikation in der Familie verbessert. Viele Eltern wünschen sich Beratung, um Entscheidungen hinsichtlich wichtiger Themen wie Therapien, Beschulung oder spätere Wohnmöglichkeiten treffen zu können und um Informationen zu Finanzierungsmöglichkeiten zu erhalten.

Sprache schafft Wirklichkeit – das gilt insbesondere für Beschreibungen oder Zuschreibungen. Defizitäre Beschreibungen von Autismus, die immer noch fast allgegenwärtig sind, behindern die innere Souveränität autistischer Menschen und deren Familien. Familien, die durch defizitäre Beschreibungen konditioniert wurden oder werden, plagen Selbstzweifel und Unsicherheit. Diese führen dazu, dass sie sich und ihrem autistischen Kind wenig zutrauen und mitunter Versagensgefühle entwickeln. Oft existiert zudem ein Machtgefälle, denn Fachpersonen sind nicht nur Experten für Autismus, sondern auch für das familiäre Zusammenleben mit einem solchen Kind, obwohl sie nie einen Tag, eine Woche, einen Monat oder gar ein Jahr permanent mit einem autistischen Kind zusammengelebt haben. Damit wird nicht nur das familiäre Zusammenleben und die Selbstbestimmung der Eltern erschwert, sondern außerhalb der Familie auch die Teilhabe und Selbstverwirklichung.

Die Art und Weise, wie Fachpersonen mit Eltern umgehen, wirkt sich unmittelbar auf das Handlungsvermögen von Eltern aus. Die Erforschung des Phänomens Autismus bringt ständig neue Erkenntnisse zu Tage, was dazu führen kann, dass Eltern mit kontroversen Ratschlägen und Meinungen von Fachpersonen konfrontiert werden (Schatz & Schellbach, 2011). Dies führt zu Unsicherheit und Verwirrung, die meist schwer wieder aufzulösen sind.

Es gibt drei Modelle von Elternarbeit – das Laienmodell, das Co-Therapeutenmodell und das Empowered Family Model. Beim Laienmodell nehmen Fachpersonen Eltern als unwissend und inkompetent wahr. Häufig kommt es dann dazu, dass von schwierigen, komischen oder uneinsichtigen Eltern die Rede ist. Dieses Modell bietet Eltern keine Entwicklungschancen, es zwängt sie in eine passive Rolle. Beim Co-Therapeutenmodell werden Eltern therapeutische Interventionen übertragen, obwohl sie selbst keine adäquate Ausbildung haben. Sie sind gezwungen, ihre Elternrolle teilweise aufzugeben, um die ihnen übertragene Rolle, die zwar semiaktiv, aber fremdbestimmt ist, auszufüllen. Das Empowered Family Model sieht Eltern eines behinderten Kindes im Allgemeinen und Eltern eines autistischen Kindes im Besonderen als Experten in der eigenen Sache. Der Grundgedanke dieses Modells ist, dass »Eltern, die sich ihrer Stärken und Kompetenzen bewusst sind und diese zur Verbesserung der Lebensbedingungen nutzen, auch ihrem behinderten Kind bei der Entwicklung und Verwirklichung von Autonomie im Sinne von Empowerment behilflich sein können« (Theunissen, 2022, S. 158). Eltern werden durch diese Vorgehensweise gestärkt, aktiv und selbstbewusst an ihrer Lebenssituation zu arbeiten, wobei sie kompetente Fachpersonen an ihrer Seite wissen.

Ressourcen, über die eine Familie verfügt, lassen sich in personale Ressourcen, familiäre Beziehungen und das soziale Netzwerk unterteilen. Personale Ressourcen beziehen sich auf persönliche Einstellungen und hängen von der Persönlichkeit des jeweiligen Elternteils ab. Sie bestimmen, mit welcher Haltung sich Eltern der Situation stellen und wie sie mit den neuen, durch den Autismus des Kindes bedingten Aspekten ihres Lebens umgehen. Eine wichtige personale Ressource, die das Belastungsempfinden deutlich senkt, besteht darin, dass Eltern sich in der Erziehung ihres autistischen Kindes als kompetent wahrnehmen. Selbstzweifel und Versagensgefühle bewirken das Gegenteil. Familiäre Beziehungen als Ressource äußern sich in Form von gegenseitiger Unterstützung, auch emotional, und in gemeinsamen Interaktionen. Offene altersgerechte Gespräche und das Wahrnehmen der Bedürfnisse aller Familienmitglieder wirken besonders auf Geschwisterkinder in dem Sinne, dass sie sich nicht zurückgesetzt oder zu wenig beachtet fühlen. Soziale Netzwerke umfassen die Unterstützung der Familie durch Freunde, aber auch die Anbindung der Eltern an Selbsthilfegruppen oder Ähnliches. Unterstützung kann hier bei ganz praktischen Dingen wie der Kinderbetreuung erfolgen, aber sich auch der Informationssuche widmen oder in Form eines Gespräches emotionale Entlastung bringen.

Bewältigungsstrategien, die Eltern einsetzen, können funktional oder dysfunktional bzw. effektiv oder ineffektiv sein. Zu den dysfunktionalen Bewältigungsstrategien zählen bspw. eine negative Erwartungshaltung und die Vermeidung von erforderlichen Aktivitäten. Vermeidung erfolgt häufig durch Ignorieren der Situation, durch Ablenkung mit anderen Aktivitäten oder durch Isolation. Die Verhaltensprobleme des autistischen Kindes verstärken sich über eine längere Zeit, wenn Eltern miteinander in Konflikt sind oder sehr unter Stress stehen (Kelly, Garnett, Attwood & Peterson, 2008). Die wichtigste positive Bewältigungsstrategie ist das sogenannte Reframing. Unter Reframing wird eine Neuausrichtung verstanden, die sich auf die eigene Einstellung und die Anpassung der Lebenspläne bezieht. Dieses aktive Handeln setzt Energien frei, die es ermöglichen, mit Belastungen besser umzugehen.

1.4 Beziehung von Eltern zu ihrem autistischen Kind

Zu den Kernproblemen bei Autismus gehören Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion. In den Diagnosekriterien für Autismus finden sich dazu entsprechende Symptome wie bspw. verminderter Austausch von Interessen, Gefühlen und Affekten, schlecht aufeinander abgestimmte nonverbale und verbale Kommunikation oder Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation, Auffälligkeiten beim Blickkontakt, Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme und beim Anpassen des Verhaltens an verschiedene Kontexte (Falkai et al., 2015).

Im Alltag kann das bedeuten, dass das autistische Kind nicht oder selten (zurück-)‌lächelt, dass es nicht kuscheln oder schmusen möchte bzw. kann. Es kann bedeuten, dass es den Eltern keine Bauwerke präsentiert oder nicht an Gesprächen interessiert zu sein scheint. Lächeln und Schmusen sind klassische soziale Belohnungen für nicht-autistische Menschen. Diese sozialen Belohnungen füllen die Kraftreserven der Eltern wieder auf, lassen sie insbesondere die erste betreuungsintensive Zeit mit einem Baby und Kleinkind gut überstehen. Fehlen solche Belohnungen, dann fühlen sich Eltern schnell zurückgewiesen und ihre Erwartungen werden nicht erfüllt.

Auch autistische Kinder entwickeln eine Beziehung zu ihren Bezugspersonen, die allerdings aufgrund fehlender oder anderer Signale von den Bezugspersonen zumindest anfänglich nicht erkannt wird. Je mehr sich Eltern mit dem Thema Autismus beschäftigen, desto besser verstehen sie ihr Kind und erkennen andere Formen von Zuwendung und Zuneigung. Ein Beispiel für eine solche Zuneigungsbekundung kann sein, dass das autistische Kind das Lieblingskuscheltier, welches es immer mit sich herumträgt, wortlos in das elterliche Bett legt.

Bezugspersonen fällt es daher schwer, die Signale des Kindes aufzunehmen und richtig zu deuten. Dennoch haben viele autistische Kinder eine intensive Beziehung zu ihren nächsten Bezugspersonen, an die sie sich oft klammern. (Nussbeck, 2008, S. 17)

Ein autistisches Kind reagiert aufgrund seiner autismustypischen Besonderheiten nicht oder anders auf die Erziehungsbemühungen und Zuwendungsbekundungen seiner Eltern. Eltern wissen bspw. intuitiv, wie man ein weinendes Kind tröstet. Dieses »neurotypische Schnelltrösten funktioniert nicht«8 bei autistischen Kindern, denn die Ursachen für ihr Weinen sind i. d. R. andere als bei nicht-autistischen Kindern. Außerdem können sie aufgrund ihrer Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen keinen oder wenig emotionalen Gewinn aus Handlungen wie Streicheln oder Umarmen ziehen. Ähnlich verhält es sich mit verbalen Trostsequenzen.

Auch ich fühlte mich hilflos, denn nichts, was ein anderes Kind beruhigt hätte, funktionierte bei Benjamin: kein Streicheln, kein Zureden, kein Singen, kein Schmusetier, kein Lieblingskissen, kein Trinken, kein Keks ... (Maus, 2013, S. 58)

Bei dem Versuch, ein autistisches Kind zu erziehen, geraten Eltern häufig in eine Situation, in der sie ihre Kompetenzen anzweifeln. Wenn das autistische Kind das Erstgeborene ist und der Umgang mit dem Kind aufgrund fehlenden Wissens nicht gelingt, geben sich Eltern schnell selbst die Schuld an dieser Situation. Erziehungsratgeber werden hinzugezogen und trotzdem kommt es weiterhin zu schlechten Erziehungserfahrungen. Haben die Eltern unrealistische Erziehungsansprüche? Bei nicht-erstgeborenen autistischen Kindern verfügen die Eltern bereits über positive Erziehungserfahrungen, sodass sie die Ursachen für das Fehlschlagen ihrer Erziehung auch beim Kind suchen, also in Betracht ziehen, dass ihr Kind eine Besonderheit aufweist.

Die eben beschriebene Situation ändert sich meist schlagartig, wenn bei dem Kind Autismus vermutet oder diagnostiziert wurde. Eltern beschäftigen sich mit dem Thema, erkennen die Besonderheiten und Bedürfnisse ihres Kindes und beginnen damit, ihr autistisches Kind nicht mittels ihrer Intuition, sondern über Kognition zu erziehen. Sie wenden das erworbene Wissen über Autismus auf ihr Kind an. In den meisten Fällen entspannt sich die familiäre Situation an diesem Punkt der Entwicklung spürbar.

Wenn das autistische Kind kein Einzelkind ist, dann befinden sich Eltern in einer schwierigen Situation, denn sie praktizieren zwei verschiedene Erziehungsstile gleichzeitig: Das nicht-autistische Kind wird weiterhin intuitiv erzogen, das autistische Kind mithilfe des erworbenen Wissens. Das ständige Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Erziehungsstilen kann kräftezehrend wirken.

Ebenfalls kräftezehrend wirken können Formulierungen, die von außenstehenden Personen benutzt werden. In der Umgangssprache sowie in der Fachliteratur kommt es regelmäßig zur Verwendung von Formulierungen wie betroffene Eltern, betroffene Mutter, betroffener Vater oder betroffene Geschwisterkinder. Wovon sind all diese Personen denn betroffen? Von einem autistischen Kind? Und wie wirkt sich diese Formulierung auf die Beziehungen innerhalb der Familie aus?

Betroffene – Ich bin nicht betroffen9

Eine Formulierung, die mir persönlich Probleme bereitet, ist die Annahme oder Zuschreibung, ich sei von meinem autistischen Kind betroffen. Auch hier mag das Empfinden unterschiedlich sein, aber ich nehme dieses Betroffen-Sein, welches mir die Umgebung versucht anzuhängen oder aufzubürden, nicht an!

Betroffenheit entsteht, wenn etwas Trauriges oder etwas, das als belastend und nicht wünschenswert betrachtet wird, zu bewegten Gefühlen, oft verbunden mit dem Empfinden von Hilflosigkeit, führt.

Synonyme zu betroffen (Auswahl laut duden.de) sind beklommen, bekümmert, bestürzt, betreten, fassungslos, getroffen, konsterniert. Keines dieser Worte entfesselt produktive Energie, zeigt Ressourcen auf oder mobilisiert Kräfte.

Als Betroffene bin ich in dieser Bedeutungsübersicht von einer Sache betroffen, in Mitleidenschaft gezogen. Ich bin nach dieser Deutung Leidtragende und Benachteiligte.

In betroffenen Familien, eine betroffene Mutter, ich als Betroffener – all das sind für mich Formulierungen, die lähmen, die in die Defensive treiben, die zum Opfer machen.

Wovon bin ich als betroffene Mutter betroffen? Von meinem autistischen Kind? Oder wohl eher von einer oft verständnislosen Umwelt, von nervenraubenden Behördengängen, vom Anzweifeln der Diagnose, von Schuldzuweisungen ...?

Betroffen-Sein führt in meinem Empfinden zu Gefühlen von Passivität (ich kann nicht viel ändern) und Ergebenheit (jemand muss mir helfen). Des Weiteren kann das Betroffen-Sein beim Gegenüber zu Betroffenheit führen, die schnell in Mitleid umschlägt. Beides ist wenig produktiv. Es beruhigt das Gegenüber, bringt aber weder Verständnis noch konstruktive Hilfen hervor.

Eine gute Alternative zu der Formulierung betroffene Eltern wäre es, einfach zu sagen, dass sie Eltern eines autistischen Kindes sind.

Endnoten

4Maus, 2014, S. 263. Der Begriff Rabenmutter (auch Rabenvater oder Rabeneltern) wird verwendet, um anzuzeigen, dass sich die Mutter in nicht ausreichendem Maße um ihr Kind oder um ihre Kinder kümmert. Er kommt als Schimpfwort zum Einsatz. Die Formulierung geht vermutlich darauf zurück, dass junge Raben frühzeitig das Nest verlassen und außerhalb des Nestes unbeholfen wirken.

5Die Diagnose von Erkrankungen erfolgt nach den Kriterien der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). International derzeit gültig ist seit dem 01. 01. 2022 die ICD-11, in Deutschland werden Diagnosen nach ICD-10-GM (GM – German Modifikation) verschlüsselt, bis eine qualitätsgesicherte deutsche Ausarbeitung vorliegt.

6Dieses Kapitel basiert auf Maus, 2022.

7Redewendungen bestehen meist nur aus einzelnen Wörtern und dienen dazu, etwas zu erklären, was sonst umständlich umschrieben werden müsste. Wenn man sich beispielsweise wie ein Elefant im Porzellanladen verhält, dann bedeutet dies, dass man als ungeschickt oder tollpatschig angesehen wird. Sprichwörter dagegen vermitteln in Form eines kurzen Satzes Volks- und Lebensweisheiten auf eine einprägsame, oft metaphorische Art und Weise.

8Mitschrift zum Vortrag »Löweneltern« von Kirsten Hildebrand am 06. 04. 2022.

9Auszug aus einem Artikel, der bereits publiziert wurde auf www.inez-maus.de (Maus, 2017d).

2 Gedankenaustausch über Autismus zwischen Mutter und Sohn

Inez Maus und Jannis Benjamin Ihrig

Als Autist denke ich nicht, dass meine subjektive Wahrnehmung eines Lebens mit Autismus mir mehr Expertise über dieses Thema gibt, als ein Neurotypischer aufweist, der jenes jahrelang studiert und erforscht hat.Benjamin

Mein schwarzes Vogelkind (vgl. Beginn ▸ Kap. 1) – mein inzwischen erwachsener, autistischer Sohn Benjamin – bereicherte mich bei der Arbeit am Kompetenzmanual Autismus (KOMMA) in zahlreichen Gesprächen mit seinen Sichtweisen, Empfindungen und Wahrnehmungen. Dabei entwickelte sich eine beiderseitige Erkenntnis, wie eine (unsere) Familie mit und trotz Autismus funktioniert und was sie zusammenhält.

Das zweite Kapitel betrachtet unsere Familie aus unterschiedlichen Blickwinkeln und zu verschiedenen Zeiten. In der Vergangenheit relevante Themen sind Ansichten zu Kindheitserinnerungen, zur Diagnose, zu Therapien, zur Schulzeit und zu den Geschwistern. Auch Fragen wie die folgenden müssen bzw. sollen gestellt werden: »Haben wir als Eltern aus deiner Sicht Fehler im Umgang mit dir gemacht? Welche?«

Betrachtungen zur Gegenwart zielen u. a. darauf ab, das jetzige allgemeine Lebensgefühl zu erfassen, Schwierigkeiten und Stärken zu beleuchten sowie den bisher praktizierten Umgang mit der Autismus-Diagnose zu hinterfragen. Erfahrungen an der Universität und Schritte zur Ablösung vom Elternhaus sind weitere zentrale Themen dieses Kapitels. Letztendlich führte die Pandemie dazu, dass ein ursprünglich nicht geplantes Kapitel über den Aufenthalt in einer Tagesklinik nun im Buch zu finden ist. Der Abschnitt über die Zukunft fragt nach Träumen, Wünschen, Hoffnungen – jeweils aus beiden Perspektiven. Abgeschlossen wird dieses Kapitel durch die Ausführungen weiterer Familienmitglieder.

Ursprünglich war dieses Kapitel so geplant, dass wir uns gegenseitig Fragen zu dem jeweils besprochenen Punkt stellen. Im Gespräch funktioniert so etwas gewöhnlich gut zwischen uns. Beim geschriebenen Text stellte sich recht schnell heraus, dass diese Arbeitsweise nicht zu Benjamin passt. Daher schlug er Folgendes vor: »Es würde mir leichter fallen, wenn du jede meiner Antworten als indirekte Frage verstehst.« Ich habe versucht, dies zu tun, und somit ist ein Dialog der etwas anderen Art entstanden.

2.1 Rückblick: Vergangenheit – Kindheit und Jugendzeit mit Autismus

Führen Menschen lange, belanglose Gespräche, um ein Gesprächsthema zu finden?Benjamin

Die Rahmendaten unserer Familie, die für das Verstehen der folgenden Texte notwendig sind, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Familie besteht aus fünf Personen. Neben uns Eltern hat Benjamin noch einen jüngeren und einen älteren Bruder. Schon von Geburt an zeigten sich bei Benjamin vielfältige unspezifische Schwierigkeiten bspw. in Form von Ess- und Schlafstörungen, Veränderungsängsten, sensorischen Überempfindlichkeiten und Kommunikationsproblemen (vgl. Maus, 2013, 2014). Im Alter von drei Jahren teilten uns die entsprechenden Fachpersonen im SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum) mit, dass unser Sohn geistig behindert und hörbeeinträchtigt sei. Die Prognose lautete, dass er nie das Sprechen erlernen werden wird und dass er nicht beschulungsfähig ist. Eine Unterbringung in einer Ganztageseinrichtung für schwerbehinderte Kinder wurde uns nahegelegt. Wir entschieden uns aufgrund eines uns nicht überzeugenden Förderkonzeptes gegen diese Einrichtung. Stattdessen verzichtete ich vorübergehend auf meinen beruflichen Wiedereinstieg und übernahm die Betreuung und Förderung von Benjamin.

In den folgenden sechs Jahren absolvierten wir auf der Suche nach den Ursachen für die Schwierigkeiten unseres Sohnes einen Arztmarathon, in dessen Verlauf viele Verdachtsdiagnosen wie bspw. Landau-Kleffner-Syndrom10, Hirntumor, ADHS, Intelligenzminderung gestellt und wieder verworfen wurden. Erst im Alter von neun Jahren erfolgte die fachärztliche Stellung der Diagnose Autismus (frühkindlicher Autismus ohne Intelligenzminderung). Vielfältige Therapien prägten Benjamins Kindheit ab seinem dritten Lebensjahr. Keine dieser Therapien war autismusspezifisch, da einerseits die Autismus-Diagnose sehr spät gestellt worden war und andererseits entsprechende Angebote nicht existierten. Alle Therapien hatten somit den Charakter von Begleittherapien. Unter dem Begriff Begleittherapien werden Therapieformen zusammengefasst, die bei diversen Schwierigkeiten, die nicht nur bei autistischen Menschen auftreten können, zur Anwendung kommen (vgl. Maus, 2020, S. 29 f.).

Ab einem Alter von vier Jahren besuchte Benjamin stundenweise einen Integrationskindergarten. Von dort wechselte er in die Vorschule einer Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, in die er dann auch eingeschult wurde. Im Alter von ungefähr sechs Jahren begann Benjamin, sich verbal in Form von einzelnen Wörtern und Zweiwortsätzen zu artikulieren. Die Kommunikation verbesserte sich in der folgenden Zeit ständig durch kontinuierliche Verlockungen von unserer Seite. Ab der vierten Klasse besuchte Benjamin eine Regelschule und wurde dabei von einer stundenweise anwesenden Schulhelferin unterstützt. Seine Schullaufbahn beendete er mit dem Abitur.

Eine der ersten Fragen, die Benjamin nach Besprechen des vorliegenden Projektes an mich stellte, lautete: »Hättest du mich abgetrieben, wenn es eine Pränataldiagnostik für Autismus gegeben hätte?«

2.1.1 Kindheitserinnerungen

Benjamin:Hättest du mich abgetrieben, wenn es eine Pränataldiagnostik für Autismus gegeben hätte?

Inez:Ich hätte dich nicht abgetrieben, denn ich würde aus persönlichen, keineswegs religiösen Gründen kein Kind abtreiben. Jetzt magst du anmerken, dass dies leicht gesagt ist, wenn man nie in einer derartigen Situation gewesen ist. Wir als Eltern haben uns jedoch bereits vor deiner Geburt in einer solchen Situation befunden, denn in meiner ersten Schwangerschaft wurde per Ultraschall ein Hydrocephalus (Wasserkopf) beim ungeborenen Kind diagnostiziert. Die Ärzte empfahlen uns eine Abtreibung des Kindes. Wir haben dieses Kind nicht abgetrieben, aber all das durchlitten, was eine derartige Feststellung durch einen Arzt mit sich bringt. Und die spätere Erleichterung, weil es eine Fehldiagnose war, machte das nicht ungeschehen.

Die Darstellung der Gefahr, dass Autismus bei immer besserem Verständnis des menschlichen Genoms durch pränatale Gentests ausgerottet wird, geistert seit einiger Zeit durch das Internet. Zur Ausrottung von Autismus braucht es nicht einmal die vollständige Entzifferung des menschlichen Genoms. Bereits eine Liste mit maßgeblich am Autismus beteiligten Genveränderungen und entsprechende Screening-Verfahren könnten entscheidend dazu beitragen, Autismus zu reduzieren.

Potenziellen Müttern wird oft vorgeworfen, dass sie durch gezielte Abtreibungen die Vielfalt der Menschheit verringern würden. Mehr oder weniger unausgesprochen steht die Forderung im Raum, dass diese Föten nicht abgetrieben werden dürfen, da sonst die genetische Bandbreite nicht erhalten bleibt.

Personen, die das Bild dieser Gefahr heraufbeschwören, sind mehrheitlich Menschen, die nie ein Kind zur Welt gebracht haben. Die nicht wissen, wie es ist, jahrelang mit extremem Schlafmangel leben zu müssen. Die nicht die brutale Hilflosigkeit kennen, wenn man dem eigenen Kind nicht helfen kann, es nicht versteht, es nicht einmal berühren darf. Die nie den Anfeindungen und Beschuldigungen einer den Eltern nicht wohlwollenden Umgebung ausgesetzt waren. Die die Dinge rational, aber nicht aus dem eigenen Erleben heraus betrachten.

Ich weiß, was es bedeutet, ein autistisches Kind zu haben. Ich kenne die Verzweiflung, die die Sprachlosigkeit des eigenen Kindes bei Eltern auslösen kann. Ich fühle noch heute, wie kraftraubend jeder einzelne Tag sein konnte. Aber ich weiß auch, welche Stärken du hast und wie du deine Zuneigung äußerst. Ich weiß, wie sehr ich dich liebe und dass ich dich auf keinen Fall abgetrieben hätte.

Ich bin mir sicher, dass es viele Mütter gibt, die ähnlich empfinden und die alle ohne äußeren Druck dazu beitragen, dass Autismus nicht ausgerottet wird. Es wird immer werdende Mütter geben, die ein potenziell behindertes Kind abtreiben und keine von ihnen verurteile ich. Jede werdende Mutter kann diese Entscheidung nur für sich allein oder mit ihrem Partner treffen.

An dieser Stelle fällt es jetzt schwer, einen Übergang zu den Kindheitserinnerungen zu finden. Ich beginne einmal mit folgender Frage: Was ist die früheste Erinnerung an deine Kindheit?

Benjamin:Dies ist schwierig für mich zu sagen. Generell sind diese Fragen über meine Erinnerung knifflig, denn ich denke, meine Art des Erinnerns ist ungewöhnlich. Wenn ich versuche, mich zu erinnern, dann ploppen bei mir im Kopf nicht Bilder oder Szenen an bestimmte Lebensereignisse auf, sondern vielmehr etwas, was wie eine Abstraktion wirkt. Ich erinnere mich, dass ich in die Körperbehindertenschule und später in die Grundschule gegangen bin, doch ich könnte nicht aus dem Stegreif von einem Erlebnis erzählen. Allgemeine Dinge über bestimmte Personen und Teile meines Lebens könnte ich schon erzählen, wie z. B., welcher Lehrer gut zu mir war oder wie das soziale Klima in meiner Klasse war, doch zumeist könnte ich keine konkreten Erlebnisse erzählen, so wie du und Vater es immer wieder tun.

Ich glaube aber nicht, dass ich all die Details und Erlebnisse vergessen habe, denn ich erinnere mich zumeist wieder, wenn du oder andere Ereignisse aus der Vergangenheit erwähnen. Mein Gehirn scheint nur nicht jenes Detail selbst hochzerren zu können, sondern muss dazu angeregt werden. So wie ein Bibliothekar, der dem Besucher nicht zufällige Bücher vorlegt, sondern erwartet, dass man bestimmte Daten zu dem gesuchten Buch bzw. zur Art des Buches angibt.

In meinem Kopf ploppen also nun nicht bestimmte Erinnerungen auf, wenn ich versuche, mich an meine Kindheit zu erinnern. Jedoch sind da Bilder und Eindrücke, die aus irgendeinem Grund immer wieder hochkommen. Die frühesten dieser Bilder – vermute ich – sind jene mit einem Puppentheater, das wir zu Hause veranstaltet haben. Mit einem Pappschild im Türrahmen und mit Fingerpuppen der Figuren aus »Puuh, der Bär«, wobei ich mich konkret an Tigger- und Ferkelpuppen erinnern kann.

Inez: