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Inez Maus=s stories provide material to talk about. They trigger feelings and have an ability to explain the world when they connect with everyday experience. The stories collected and illustrated in the book give children of preschool and elementary school age, with and without autism, examples of how to get along together without obstacles or fears about contact. Each story deals with specific aspects associated with the diagnosis of autism. The aim is to bring children closer together and facilitate joint activities. The working sections of the book are aimed at family and professional adult caregivers. They provide background knowledge for using the story book and a variety of ideas for games and activities that arise from the stories or can be drawn from them. The book=s appendix includes a full-page coloring picture to accompany each story illustration.
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Seitenzahl: 340
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Die Autorin
Inez Maus ist Mutter eines autistischen Jungen und befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Autismus. Die promovierte Biochemikerin lebt in Berlin und arbeitet als selbstständige Autorin, Lektorin und Referentin zu autismusspezifischen Themen. Sie schreibt das Blog »Anguckallergie« (www.anguckallergie.info), auf dem sie Reflexionen und Begebenheiten, die ein Leben mit Autismus in der Familie mit sich bringt, festhält. Bei Kohlhammer sind bisher ihre Bücher »Geschwister von Kindern mit Autismus« und »Kompetenzmanual Autismus (KOMMA)« erschienen.
Kontaktadresse der Autorin: [email protected]
Für meine drei Testhasen
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-039504-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-039505-3
epub: ISBN 978-3-17-039506-0
Vorwort
I Hintergrund, Aufbau und Einsatz des Vorlese- und Arbeitsbuches
1 Entstehungshintergrund
2 Aufbau des Vorlese- und Arbeitsbuches
2.1 Struktur des Buches
2.2 Das Besondere der Geschichtensammlung
3 Autismus – Erklärung und Aufklärung
3.1 Kurze Einführung in das Thema Autismus
3.2 Aufklärung von Kindern im Vor- und Grundschulalter über Autismus
4 Bedeutung von Geschichten für Kinder
4.1 Eine Geschichte über Märchen
4.2 Eine Geschichte über Geschichten
5 Unterschiede bei der Rezeption von Geschichten zwischen autistischen und nicht-autistischen Kindern
5.1 Künstlerische Gestaltung
5.2 Inhaltliche Gestaltung
5.3 Umgebungsbedingungen
5.4 Emotionale Reaktionen
6 Zielgruppen
7 Einsatzbereiche
II Geschichten zum Vorlesen und Selbstlesen
A Quercus / Das Wettkriechen
Geschichten und Märchen aus dem Dicken Buch der Regenwürmer
B Flugsi / Die faule Biene
C Zwicky / Die Napfschnecke
D Hugo / Ein anderer Hai
E Flavia / Die Maus auf dem Sesamkorn
F Kastania und Kastagnette / Ein Feenmärchen
G Mika / Der Hochzeitskäse
H Rina und Rudi / Die Hängematte der Giraffe
I Nimimi / Ein Bett für das Streifenhörnchen
J Bruno / Sieben Siebenschläfer
K Skia und Luna / Ein Freund zum Einschlafen
L Miabella / Die mutige Taube
M Hoppla / Der ständig schnuppernde Hase
N Susa, Rika und Mari / Die Erkundung der Welt
O Rob und Robin / Die ungleichen Burgbewohner
P Fafnir / Erlebnisse in der Schule
III Botschaften, Besonderheiten und Einsatz der Geschichten
8 Direkte und indirekte Botschaften der Geschichten
9 Erläuterung der autismusspezifischen Besonderheiten in den Geschichten
10 Hinweise zum Einsatz der Geschichten
10.1 Fragen zu den Geschichten
10.2 Spiele und Aktivitäten zu den Geschichten
A Quercus / Das Wettkriechen
B Flugsi / Die faule Biene
C Zwicky / Die Napfschnecke
D Hugo / Ein anderer Hai
E Flavia / Die Maus auf dem Sesamkorn
F Kastania und Kastagnette / Ein Feenmärchen
G Mika / Der Hochzeitskäse
H Rina und Rudi / Die Hängematte der Giraffe
I Nimimi / Ein Bett für das Streifenhörnchen
J Bruno / Sieben Siebenschläfer
K Skia und Luna / Ein Freund zum Einschlafen
L Miabella / Die mutige Taube
M Hoppla / Der ständig schnuppernde Hase
N Susa, Rika und Mari / Die Erkundung der Welt
O Rob und Robin / Die ungleichen Burgbewohner
P Fafnir / Erlebnisse in der Schule
IV Spiele und Aktivitäten für Kinder mit und ohne Autismus
11 Drinnen und Draußen
12 Bauwettbewerb
13 Geschichten mit Fehlern
14 Schatzsuche
15 Instrumentalgeschichten
16 Trio-Memory
Schlussbemerkung und Ausblick
Literatur
Anhang
Eines Tages untersuchten Merlin und Birkin den Dachboden. Der Dachboden war so staubig und so dunkel, dass man meinen konnte, dass es weder Sonne noch Mond gibt.
Benjamin (elf Jahre, aus dem Märchen »Das Buch des Bösen«)1
Mein Großvater besaß einen Schatz – einen Schatz, den ich als Kind während eines Sommerurlaubs in seinem Haus entdeckte. Der Dachboden, der den Schatz beherbergte, war weder besonders staubig noch sehr dunkel. Ein winzig kleines Fenster ließ erstaunlich viel Licht herein, sodass der hölzerne Rollladenschrank neben dem Fenster nicht übersehen werden konnte. In diesem befand sich der Schatz: alte Bücher, nicht wertvoll im herkömmlichen Sinne. Tagelang blätterte und las ich in der Jubiläumsausgabe von Auerbachs Kinder Kalender aus den 1930er-Jahren, in diversen Alben, herausgegeben vom Cigaretten-Bilderdienst, in Märchen und Geschichten.
Ein Buch, welches den Titel Die Silberne Brücke (Vogel-Voll, 1951) trug, erregte ungemein meine Aufmerksamkeit. Neben den typischen Protagonisten eines Märchens agierten in dieser Erzählung einige ungewöhnliche Figuren. Als Kind hatte es mich in den Bann gezogen, das Dicke Ende, die Liebegüte oder die Liebezeit in Form von Personen lesend zu erkunden und als Bild zu betrachten. Damals wusste ich noch nicht, was Visualisierung bedeutet und wozu diese gut sein könnte.
Damals wusste ich auch noch nicht, dass ich ein autistisches Kind haben werde. Ein autistisches Kind, welches nach sechs beinahe sprachlosen Jahren die Sprache mühsam erlernt und dabei u. a. große Schwierigkeiten mit Redewendungen wie das dicke Ende offenbart. Ein autistisches Kind, dem ich die Welt mit Bildern erkläre, wenn die Sprache zu verwirrend ist.
Später habe ich mich gefragt, wieso die Autorin auf die Idee gekommen war, Redewendungen zu personifizieren. Ihrem Kunstmärchen vorangestellt ist die Widmung »Für mein Kind Annemarie« (ebd., S. 5). Hatte sie vielleicht auch ein Kind, welches sich mit dem Verstehen bestimmter allgemeinsprachlicher Wendungen schwertat?
Benjamin, mein autistischer Sohn, tat sich nicht nur mit dem Erlernen der Sprache und dem Verstehen bestimmter sprachlicher Wendungen schwer, sondern später auch mit dem Annehmen von Märchen und Geschichten. Überall wimmelte es von Ungereimtheiten, Ungenauigkeiten, Unappetitlichkeiten oder uninteressanten Handlungssträngen – Dinge, die seine Geschwister meist nicht als störend empfanden.
Geschichten bieten Stoff zum Reden, sie lösen Gefühle aus, und sie vermögen die Welt zu erklären. Dies gilt gleichermaßen für autistische und nicht-autistische Kinder, jedoch nicht immer in gleicher Weise. Um zu verhindern, dass gemeinsames Erleben von Geschichten durch den Autismus von Benjamin in unserer Familie unmöglich ist, schrieb ich für meine Kinder Geschichten – Geschichten, in denen sich alle meine Kinder wiederfinden konnten und die sich durch die Anwesenheit von Gereimtheiten (stimmige Zusammenhänge), Genauigkeiten sowie Appetitlichkeiten (Beschreibungen, die keinen Ekel erregen) auszeichneten. Diese Geschichten sowie von mir entwickelte Spiele und konzipierte Arbeitsmaterialien testeten meine Kinder ausgiebig. Einiges davon wird inzwischen mit Erfolg in Familien, die ich begleite, eingesetzt.
Im Grundschulalter begann Benjamin damit, selbst Märchen und Geschichten zu schreiben. Jene entpuppten sich nicht nur als interessant und spannend, sondern – wie das Eingangszitat zeigt – auf eine ungewöhnliche und erhellende Art auch als stimmig. Sonne und Mond werden hier in konsequenter Logik gleichzeitig als nicht verfügbare Lichtquellen aufgezählt. Üblicherweise findet das Mondlicht – entweder vorhanden oder fehlend – nur Erwähnung, wenn es sich um nächtliche Geschehnisse handelt.
Geschichten, die Erlebnisse aus dem Alltag und Vorlieben oder Besonderheiten der Kinder mit Autismus in eine fiktive Welt transportieren, eignen sich besonders gut, um Kindern im Vor- und Grundschulalter das nahezubringen, was Autismus ganz konkret für sie selbst, in ihrer Familie, in der Kindergartengruppe oder im Klassenverband bedeutet. Derartige Geschichten schaffen für die Kinder eine eigene kleine Welt, die es ihnen erlaubt, spielerisch Verständnis, Toleranz und Möglichkeiten zur Interaktion zu erproben und zu erlernen.
Eine derartige Geschichte, die sowohl autistische als auch nicht-autistische Kinder anspricht, wurde von mir in mein Buch Geschwister von Kindern mit Autismus (Maus, 2017) eingebaut. Eine Aufschlüsselung der auf verschiedenen Ebenen transportierten Botschaften ergänzt die Geschichte. Nachfragen von Lesern des Buches und Veranstaltungsteilnehmern, ob es weitere Geschichten wie Kastania und Kastagnette (ebd., S. 59 f.) gibt, ließen das vorliegende Buch entstehen.
Dieses Buch bietet Familienmitgliedern, Angehörigen und beruflich mit Kindern im Vor- und Grundschulalter in Beziehung stehenden Personen in der Praxis erprobte Geschichten für das Erklären von autismusspezifischen Besonderheiten. Es zeigt familiären und professionellen Bezugspersonen von autistischen und nicht-autistischen Kindern weiterhin auf, welche Botschaften die Geschichten vermitteln, wie die Geschichten zum Einsatz kommen können und welche weiterführenden Aktivitäten möglich sind. Die Geschichten im Buch – das Herzstück – freuen sich auf Kinder mit und ohne Autismus im späten Kindergarten- und im Grundschulalter.
Meinen drei Testhasen danke ich dafür, dass sie jede meiner Geschichten mit ihrer kindlichen Unvoreingenommenheit einer Prüfung unterzogen. Ihre Prüfung erfolgte so gründlich, dass sich mein jüngster, inzwischen erwachsener Sohn bei der Nachricht über die Realisierung des vorliegenden Buches sofort an mehrere Geschichten erinnerte. Die Formulierung Testhase – ein »Synonym« für das Wort Versuchskaninchen– stammt von meinem autistischen Sohn und entstand aufgrund seines visuellen Denkens (vgl. Maus, 2017, S. 144 ff.). Ebenso danke ich meinem Mann, der mir auch bei diesem Vorhaben den nötigen Freiraum zum Schreiben geschaffen hat.
Frau Katharina Reichert-Scarborough bin ich nicht nur für die wunderbaren Illustrationen zu meinen Geschichten dankbar, sondern auch für die sehr emotionalen Momente, die ihre Zeichnungen bei den Mitgliedern meiner Familie bewirkten.
Den Mitarbeitern des W. Kohlhammer Verlages gilt mein Dank dafür, dass sie dieses ungewöhnliche Projekt ermöglicht haben. Insbesondere danke ich Frau Annika Grupp und Frau Kathrin Kastl für die erneute bereichernde Zusammenarbeit.
Zu guter Letzt sei erwähnt, dass ich dem Lesefluss zuliebe die verschiedenen Personen- oder Berufsgruppen im generischen Maskulinum benutze. Erzieherinnen, Lehrerinnen und alle Vertreterinnen weiterer Professionen fühlen sich bitte hier ebenfalls angesprochen. Weibliche Familienmitglieder wie Mütter und Schwestern sind in diesem Fall privilegiert, da die deutsche Sprache für sie bereits eigene Bezeichnungen bereithält. Wer sich in dem überkommenen binären Geschlechtersystem nicht wiederfindet, möge sich bitte nicht vom Lesen des Buches abhalten lassen.
Berlin, im April 2021
Inez Maus
www.anguckallergie.info
1 (Maus, 2014, S. 187)
Warum fallen schwangere Fledermäuse beim Fliegen nicht herunter?
Benjamin
Die Frage wird in diesem Buch nicht beantwortet, obwohl es eine Geschichte gibt, in der eine Fledermaus agiert. Die Frage ist aber typisch für unseren Alltag mit einem autistischen Grundschulkind. Sie offenbart Interessen und Neigungen – das Interesse an naturwissenschaftlichen Fakten und die Liebe zur Tierwelt. Beides ist in die Geschichten, die sich in diesem Buch versammelt haben, eingeflossen, denn beides war der Schlüssel, um Benjamin an Geschichten heranzuführen. Es war der Schlüssel, um ihm und seinen Geschwistern Autismus näherzubringen, um Probleme zu besprechen, um Selbstvertrauen aufzubauen und um Spaß zu haben. Genau diese Ziele verfolgen die Geschichten im Buch immer noch, wenn sie nun von anderen Kindern rezipiert werden.
Das vorliegende Buch verbindet ein Geschichtenbuch zum Vorlesen mit einem Arbeitsbuch. Die als Arbeitsbuch bezeichneten Teile des Buches richten sich an familiäre und professionelle erwachsene Bezugspersonen. Sie liefern diesen das Hintergrundwissen zum Gebrauch des Geschichtenbuches und eine Vielzahl an Ideen für Spiele und Aktivitäten, die sich aus den Geschichten ergeben oder ableiten lassen.
Jede Geschichte beschäftigt sich mit bestimmten Aspekten, die mit der Diagnose Autismus assoziiert werden. Somit vermag einerseits eine individuelle Zusammenstellung mehrerer Geschichten Teile der Persönlichkeit eines autistischen Kindes abzubilden. Andererseits können sich auch Kinder ohne Autismus in den Geschichten wiederfinden – entweder als weitere Akteure der Geschichte, als Verbündete des Protagonisten oder als Träger bestimmter Merkmale, denn einige Symptome, die bei Autismus beobachtet werden, finden sich isoliert auch in der Allgemeinbevölkerung. So wird sich ein Kind mit Wahrnehmungsbesonderheiten in einer Geschichte, die dies thematisiert, wiedererkennen und sofort eine Verbindung zum autistischen Kind aufbauen. Die Geschichten helfen, Gemeinsamkeiten wie bspw. gleiche Interessen zu finden und somit ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln.
Die Geschichten im Buch haben sich das Ziel gesetzt, autistische und nicht-autistische Kinder einander näherzubringen und gemeinsame Aktivitäten anzubahnen. Dieses Näherkommen sowie das Finden von Berührungspunkten und das Entdecken von Gemeinsamkeiten entspricht dem inklusiven Gedanken unserer Gesellschaft und stellt die Weichen dafür, dass die älter werdenden Kinder gelebte Inklusion praktizieren, weil es für sie selbstverständlich ist, so zu handeln.
Entstanden ist das Buch – wie im Vorwort erwähnt – aufgrund von Feedbacks zu der bereits publizierten Geschichte Kastania und Kastagnette und aufgrund von Nachfragen nach weiteren Geschichten. Leserbriefe, von denen ich zwei Auszüge exemplarisch hier wiedergeben möchte, beflügelten meine Idee, die Geschichten zu veröffentlichen.
Lesermeinung: »Ihre Kurzgeschichte fand ich richtig gut gelungen mit der kleinen Waldfee und der Maus. […] Sie hat mich richtig berührt im Herzen und ich konnte mir Ihre Familie noch besser vorstellen. Ansonsten denke ich, dass man es generell auf den Umgang mit Andersartigkeit in welcher Form auch immer beziehen kann.«
Lesermeinung: »Die Geschichte ist ganz wunderbar verfasst. Sie ist originell (habe ich so noch nicht gehört), gut geschrieben, und ich vermute, gerade weil Sie sie für Ihre Kinder geschrieben haben, kommt etwas Persönliches rüber. Mit der Literatur, sollte sie gut sein, gibt man immer viel von sich preis. Tut man es nicht, ist die Literatur nicht gut. […] Ihre Geschichte funktioniert für mich literarisch und pädagogisch.«
Ein Prozess wurde in Gang gesetzt, der bei mir nicht nur Tatendrang auslöste, sondern auch Fragen aufwarf. Meine Gefühle und Gedanken dazu fasste ich im Jahr 2019 in einer E-Mail-Antwort folgendermaßen zusammen (Auszug): »Ich werde inzwischen bei Veranstaltungen zum Geschwister-Thema regelmäßig gefragt, ob ich noch weitere derartige Geschichten geschrieben habe, was ich wahrheitsgemäß bejahe. Dann kommt sofort der Wunsch oder auch die Forderung, dass ich diese Geschichten als Buch herausbringen soll. Ich weiß, dass Geschichten für eine so spezielle Zielgruppe nicht auf dem Markt existieren und dringend benötigt werden, aber im Moment habe ich keine Zeit dafür. Ich bin mir auch noch nicht sicher, ob ich das wirklich möchte, weil sie doch sehr privat sind. Es ist etwas anderes, ob man Geschichten, die man für seine Kinder geschrieben hat, veröffentlicht, oder ob man sich Geschichten für Kinder (die man zumindest beim Schreiben nicht kennt) ausdenkt. Allerdings weiß ich bei meinen Geschichten, dass sie funktionieren, weil sie ja schon erprobt sind.«
Im selben Jahr wurde dieser Prozess durch eine unerwartete Begegnung auf der Leipziger Buchmesse beschleunigt. Nach einem Gespräch mit dem Kinder- und Bilderbuchautor Helmut Spanner – dessen Bücher Benjamin als Kind liebte – war ich sicher, dass »ich das wirklich möchte«. Herr Spanner empfahl mir sogleich eine Illustratorin, wodurch die wunderbare Zusammenarbeit mit Frau Reichert-Scarborough zustande kam.
Nun war ich mir zwar sicher, dass »ich das wirklich möchte«, aber ich war zu Beginn unschlüssig, welche Geschichten Eingang in das Buch finden werden. Letztendlich half mir meine Familie bei der Entscheidungsfindung.
Meine Geschichten haben unterschiedliche Entstehungshintergründe, die sich i. d. R. in den Erzählungen widerspiegeln. An einigen Beispielen möchte ich das verdeutlichen:
• Manche Geschichten wie bspw. Miabella ( Kap. II-L) beruhen auf tatsächlichen Erlebnissen. Die Geschichte mit Miabella gibt es in zwei Varianten – eine Geschichte für Stadtkinder und eine Geschichte für Landkinder, welche sich im Buch befindet.
• Auch besondere Ereignisse oder Erfahrungen in der Schule führten dazu, dass diese Erlebnisse in Geschichten verarbeitet wurden. Dies ist bspw. in den Geschichten mit Flavia ( Kap. II-E) und Quercus ( Kap. II-A) der Fall.
• Es existieren nicht nur Parallelgeschichten für Stadt- und Landkinder, sondern auch für Mädchen und Jungen. Mit Susa, Rika und Mari ( Kap. II-N) fiel die Wahl der Geschichte für das Buch auf die Variante für/mit Mädchen.
• Andere Geschichten entstanden als Antwort auf Fragen, ähnlich der am Kapitelbeginn zitierten Frage. Als Beispiel sei hier die Geschichte mit Mika ( Kap. II-G) genannt.
• Hugo ( Kap. II-D) verdankt seine Existenz einer Äußerung meines jüngsten Sohnes. Als er im Alter von vier Jahren zum ersten Mal einen Hai sah, rief er aus: »Ein Hai! Ein Hai! Ich habe Angst! Ich will einen anderen Hai sehen!« (Maus, 2013, S. 255). Hinter der Glasscheibe drehte nur ein Katzenhai seine Runden im Becken des Aquariums.
• Auch Zeichnungen meiner Kinder dienten als Inspiration für Erzählungen. Drei dieser Geschichten haben Eingang in das Buch gefunden. Zwicky ( Kap. II-C), Rina aus der Geschichte mit Rina und Rudi ( Kap. II-H) und Luna aus der Geschichte mit Skia und Luna ( Kap. II-K) bringen ihre Urbilder mit.
Genauso unterschiedlich wie die Entstehungshintergründe der Geschichten sind auch die Quelldaten, die für dieses Buch als Ausgangsmaterial dienten. Geschichten, die für bestimmte Anlässe wie Geburtstage von mir geschrieben wurden, liegen in einer ausformulierten Fassung vor. Spontan im Alltag erzählte Geschichten habe ich meist am Abend des Tages in Stichpunkten oder Skizzen festgehalten. Die dritte Möglichkeit, um Geschichten vor der Vergänglichkeit zu retten, bestand in Audioaufnahmen während des Erzählens. Die Geschichten wurden oft erzählt oder vorgelesen und somit änderten sich einige im Laufe der Zeit, da meine Kinder sich mit Ideen aktiv in die Geschichtenrunden einbrachten.
Das Buch besteht im Wesentlichen aus vier Teilen. Drei dieser Teile richten sich an die erwachsenen Bezugspersonen, ein Teil an die betreuten Kinder mit und ohne Autismus.
Ein Stichwortverzeichnis enthält das Buch nicht, denn dies wäre bei der vorgenommenen Unterteilung in drei Arbeitsbuchteile und einen Geschichtenbuchteil nicht ziel-, sondern irreführend. Stattdessen geben dem Leser zwei Tabellen im neunten und zehnten Kapitel eine Orientierung, welche autismusspezifischen Besonderheiten ( Tab. 9.1) und welche kommunikativen, emotionalen sowie sozialen Inhalte ( Tab. 10.1) in den jeweiligen Geschichten thematisiert werden.
Im Anhang des Buches befindet sich zu jeder Geschichte ein Ausmalbild als Kopiervorlage.
Der erste Teil beschäftigt sich mit der Bedeutung von Geschichten für Kinder sowie mit den Unterschieden zwischen autistischen und nicht-autistischen Kindern beim Rezipieren von Geschichten. Erkenntnisse, die ich diesbezüglich im Umgang mit meinen drei Kindern – eines davon ist autistisch – gewinnen konnte, fließen in diesen Abschnitt ein.
Einen besonderen Schwerpunkt bildet der zweite Teil. Dieser Abschnitt enthält 16 Geschichten, die jeweils einen Aspekt des Zusammenlebens beleuchten, wie z. B. Dinge gemeinsam zu tun, einen Geburtstag zu feiern oder Mut aufzubringen. Jeder Geschichte ist eine Illustration vorangestellt. Die Geschichten können sowohl von der familiären oder professionellen Bezugsperson vorgelesen als auch von älteren Kindern selbst gelesen oder ebenfalls vorgelesen werden, bspw. wenn es sich um Geschwister handelt.
Der dritte Teil wendet sich wieder den erwachsenen Lesern zu. Zu jeder Geschichte erhalten Bezugspersonen Erläuterungen zu den direkten und indirekten Botschaften, die die jeweilige Handlung und die Beschreibung der Umgebung transportieren. Ebenso werden die mit Autismus in Verbindung stehenden Besonderheiten erklärt und zur Geschichte passende, in den Alltag übertragbare Handlungshinweise gegeben. Fragen zu der entsprechenden Geschichte, die Unklarheiten aufseiten der Kinder aufdecken und das Gelernte vertiefen sollen, sowie inhaltsbezogene Aktivitäten runden diesen Teil ab. Die Fragen und Aktivitäten richten sich ebenfalls an alle Kinder.
Eine Sammlung von Spielen, die Kinder mit und ohne Autismus einander näherzubringen vermögen, umfasst der vierte Teil. Die Spiele wurden so konzipiert, dass einerseits autistische Kinder ihre Stärken hier einbringen können und andererseits nicht-autistische Kinder durch die Spielkonzepte und Themen angesprochen oder sogar positiv herausgefordert werden. Sowohl die Regeln der Spiele als auch die spezifischen Hintergründe der Spielkonzepte sowie die erreichbaren Ziele werden erklärt.
Jede Geschichte in diesem Buch beschäftigt sich mit einzelnen oder wenigen Aspekten der Diagnose Autismus oder mit häufigen Begleiterscheinungen wie Weglauftendenzen und Schlafproblemen. Dadurch wird einerseits Enttäuschung oder Verwirrung bei den kindlichen Rezipienten der Geschichten verhindert, da sie nicht erwarten, dass das Wesen des autistischen Kindes, dessen Besonderheiten vermittelt werden sollen, in einer einzigen Geschichte erfasst wird.
Andererseits ermöglicht diese Vorgehensweise den größten Lerneffekt, weil einzelne Aspekte des Phänomens Autismus nacheinander vermittelt werden. Beschreibt eine Geschichte Besonderheiten, die bei einem autistischen Kind nicht anzutreffen sind, dann ergibt sich hier die Möglichkeit, auf die Vielfalt bei Autismus kindgerecht einzugehen.
Das Besondere der in diesem Buch versammelten Geschichten besteht darin, dass sie sich alle sowohl an autistische als auch an nicht-autistische Kinder richten. Sie können somit für alle Kinder einer Familie und für Kinder aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis genutzt werden. Sie können ebenso für die Freunde, Kinder aus der Kindergartengruppe, Klassenkameraden oder Freizeitkontakte des autistischen Kindes und/oder der Geschwister genutzt werden.
Die Antwort auf die Frage, was Autismus ist, könnte das ganze Buch füllen. Da ich aber bereits ein Buch zu diesem Thema gefüllt habe und da in dem jetzigen Buch der Einsatz von Geschichten im Kontext von Autismus im Vordergrund steht, werden in diesem Kapitel nur einige wichtige diesbezügliche Aspekte kurz angesprochen.
Im dritten Buchteil findet sich zu jeder Geschichte eine Analyse der mit Autismus in Zusammenhang stehenden Besonderheiten, die in der jeweiligen Geschichte thematisiert werden. Dadurch ergibt sich bei den Anwendern im Verlauf der Nutzung der Geschichten ein vielfältiges Bild des Autismus. Ein Überblick zum jeweiligen Inhalt der Geschichten befindet sich im Erklärungsteil des dritten Buchteils ( Tab. 9.1).
Des Weiteren beschäftigt sich dieses Kapitel kurz mit der Fragestellung, wie Kinder im Zielgruppenalter der Geschichten neben dem Einsatz der Geschichten über bestimmte Aspekte des Autismus aufgeklärt werden können. Ausführliche Informationen zur Aufklärung von Kindern und Jugendlichen über Autismus und autistisches Verhalten finden sich in meinem Buch Geschwister von Kindern mit Autismus (Maus, 2017, S. 54–72).
Ein dreizehnjähriger Junge schrieb über seinen Autismus Folgendes: »Den Autismus gibt es nicht; wir haben alle Probleme. Bei manchen sind diese Probleme auffälliger als bei anderen« (Sheffer, 2018, S. 289). Bei denjenigen, bei denen die Probleme auffälliger als bei anderen sind, spricht die Medizin von einer tief greifenden Entwicklungsstörung.
Das Erscheinungsbild dieser tief greifenden Entwicklungsstörung ist geprägt durch Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation sowie der sozialen Interaktion und durch repetitive Handlungen oder Interessen. Häufige Formen des Autismus sind der frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom, wobei sich das Asperger-Syndrom dadurch auszeichnet, dass die sprachliche Entwicklung altersgerecht verläuft und die kognitive Entwicklung nicht eingeschränkt ist. Der frühkindliche Autismus ist gekennzeichnet durch eine ausbleibende oder verzögerte Sprachentwicklung. Eine häufige Begleiterscheinung (komorbide Störung) beim frühkindlichen Autismus ist die Störung der kognitiven Entwicklung. Wenn die kognitive Entwicklung bei dieser Form des Autismus nur wenig oder nicht beeinträchtigt ist, wird von High-Functioning-Autismus gesprochen.
Die Einteilung in einzelne Störungsbilder ist veraltet, da diese nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Daher hat sich inzwischen die Auffassung vom autistischen Spektrum durchgesetzt, sodass ab dem Jahr 2022 die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (nach ICD-112) mit verschiedenen Schweregraden eingeführt werden wird. Im folgenden Text werden wenige Male die Begriffe Asperger-Syndrom und High-Functioning-Autismus verwendet, damit dem Leser eine schnelle Einordnung der Hinweise ermöglicht wird. Im außermedizinischen Bereich ist es für die Entwicklung des autistsichen Kindes und für das Zusammenleben einschließlich gemeinsamer Aktivitäten förderlich, wenn Autismus nicht als Störung, sondern als besonderer Lernstil und als andere Form der Wahrnehmung begriffen wird.
Autismus ist angeboren und lässt sich nicht durch Therapien oder Medikamente beseitigen. Therapien, die es in einer großen Fülle gibt, zielen darauf ab, dass das Kind lernt, besser mit seinen Schwierigkeiten umzugehen. Unseriöse Therapien zeichnen sich dadurch aus, dass sie entweder der Gesundheit des Kindes schaden und/oder Heilungsversprechen abgeben.
Wenn die Summe der beim Kind vorgefundenen Symptome eine in den Diagnosekriterien festgelegte Anzahl erreicht oder übersteigt, wird Autismus diagnostiziert. Diese Vorgehensweise, die als Summationsdiagnose ( Kap. III-9) bezeichnet wird, erklärt die große Vielfalt der Ausprägungsformen bei Autismus.
Schwierigkeiten im Bereich der Kommunikation reichen bspw. von der Unfähigkeit, altersgerechte Gespräche zu führen, bis zu fehlender verbaler Sprache. Sprache wird oft wörtlich verstanden und Witze, Ironie, Sarkasmus, Füllwörter, aber auch Metaphern können Probleme bereiten. Dies wirkt sich unmittelbar auf das Leseverständnis aus. Autistische Kinder fallen oft durch eine wenig modulierte Stimme und ungenügende Prosodie auf.
Abweichendes Sozialverhalten äußert sich z. B. in Form von mangelndem oder fehlendem Blickkontakt, aber auch in einer zur jeweiligen Situation nicht passenden Mimik und Gestik. Es bestehen Schwierigkeiten im Erkennen von nonverbaler Kommunikation und im Erfassen von sozialen Regeln. Autistische Kinder entwickeln später als nicht-autistische Kinder eine Theory of Mind, die die Fähigkeit beschreibt, anderen Menschen mentale Zustände wie bspw. Gefühle oder Wünsche zuzuschreiben ( Kap. III-8 und Kap. III-10.1).
Repetitive Handlungen beschreiben entweder Wiederholungshandlungen wie Stereotypien – die von außen betrachtet scheinbar nicht im Kontext der aktuellen Gegebenheiten vollführt werden – und Rituale oder Spezialinteressen, die besonders von Kindern mit dem Asperger-Syndrom gepflegt werden.
Besonderheiten im Bereich der Wahrnehmung, die sowohl die Sinnesorgane als auch Signale aus dem Körperinneren betreffen, finden sich bei autistischen Kindern häufig. Oft reagieren sie empfindlich auf akustische und visuelle Reize und sind davon rasch überfordert. Ein abweichendes Schmerzempfinden birgt eine erhöhte Verletzungsgefahr oder die Gefahr, dass Bezugspersonen Verletzungen falsch einschätzen.
Einige Kinder mit Autismus denken überwiegend in Bildern ( Kap. III-G). Fast alle autistischen Kinder haben Veränderungsängste und versuchen, die Welt, die sie umgibt, konstant zu halten, um den Veränderungsängsten entgegenzuwirken.
Motorische Auffälligkeiten, Probleme bei der Handlungsplanung und beim Automatisieren von Handlungen sowie Schwierigkeiten beim Aufgabenverständnis und beim Zeitempfinden sind bei autistischen Kindern mehr oder weniger stark ausgeprägt anzutreffen. Des Weiteren fällt es ihnen schwer, Gedanken oder Handlungen auf ähnliche oder gleiche Situationen zu übertragen.
Der Alltag mit einem autistischen Kind ist oft geprägt von Schlafstörungen, Problemen bei der Ernährung, Ängsten oder Weglauftendenzen, weil das Weglaufen in einer schwierigen Situation die einzige Möglichkeit zum Reagieren darstellt, auf die das Kind zugreifen kann.
Nach dieser – wie in der Überschrift angekündigt – sehr knappen Einführung in das Thema Autismus stellt sich die Frage, wie man mit einem autistischen Kind umgeht. Auch darauf hat der eingangs zitierte Junge eine Antwort: »Menschen mit Autismus sollten so behandelt werden wie alle anderen, denn, wenn man es nicht tut, werden sie noch weniger sozial werden« (ebd.). Das vorliegende Buch gibt eine Fülle an Hinweisen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit autistische Kinder so wie alle anderen behandelt werden und damit sie Dinge tun können, die alle anderen tun. Dazu gehört das gewollte und genussvolle gemeinsame Lesen von Geschichten.
Bei der Aufklärung von Kindern über Autismus muss unterschieden werden, ob es sich bei den Kindern um das autistische Kind, um die Geschwister oder um familienfremde Kinder handelt. Das Einverständnis der Erziehungsberechtigten ist erforderlich, wenn Fachpersonen den Geschwistern den Autismus des Bruders oder der Schwester erklären wollen oder wenn sie beabsichtigen, mit dem autistischen Kind über dessen Besonderheiten zu reden, und wenn familienfremde Kinder wie bspw. Mitschüler von Fachpersonen über den Autismus des jeweiligen Kindes aufgeklärt werden sollen.
Geschwister sollten das Wort Autismus in Verbindung mit dem Bruder oder der Schwester zum ersten Mal von den Eltern hören, damit kein Vertrauensverlust entsteht. Die Aufklärung muss möglichst frühzeitig beginnen, um zu verhindern, dass sich Geschwister aus Beobachtungen oder zufällig Gehörtem ein falsches Bild von Autismus machen.
Für Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter ist die Gewissheit, dass sie die Eltern alles zu diesem Thema fragen dürfen, enorm wichtig. Die Aufklärung über Autismus ist kein einmaliger Akt, sondern erfolgt in Stufen, die sich aus dem aktuellen Gesprächs- oder Handlungsbedarf ergeben. Kinder in diesem Alter sollten mit dem Wort Autismus das verbinden, was sie bei dem Bruder oder der Schwester als Unterschied zu sich selbst wahrnehmen können. Dies kann bspw. sein, dass das autistische Kind wenig spricht, oft allein mit Bausteinen baut oder Musik, die das Geschwisterkind nicht als zu laut empfindet, nicht aushält.
Die Aufklärung über Autismus benötigt in diesem Alter keinen speziellen Zeitplan, sondern der Alltag wird ständig neue Fragen hervorbringen, die es erfordern, im Gespräch zu bleiben und zeitnah zu agieren. Geschwister benötigen Hinweise oder Anleitungen, wie das Zusammenleben gelingen kann und wie sie das autistische Kind besser verstehen können. Altersgemäße Bilderbücher zu diesem Thema oder Geschichten – wie die in diesem Buch befindlichen – ergänzen und bereichern die Aufklärung über Autismus.
Autistische Kinder in diesem Alter wissen meist, dass sie sich von ihren Geschwistern unterscheiden, weil sie i. d. R. viele Arzt- und Therapietermine absolvieren müssen. Ihre sozialen und emotionalen Schwierigkeiten nehmen sie häufig noch nicht als solche wahr, wohl aber den Stress, den Veränderungen oder unterschiedliche sensorische Reize bei ihnen auslösen. An diesen Punkten kann das Anderssein in diesem Alter festgemacht werden, um dann entsprechend der Entwicklung schrittweise auch soziale Themen zu besprechen. Auch ihnen helfen die Geschichten dabei, die Welt ein wenig besser zu verstehen.
Ungefähr gegen Ende der Grundschulzeit sind Kinder alt genug, um sich unter Anleitung differenzierter mit dem Thema Autismus auseinanderzusetzen. Sie sind nun in der Lage, Informationen in Zusammenhänge zu integrieren und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. In diesem Alter bietet es sich an, erste Blicke auf das Autismus-Spektrum mit seiner Vielfalt zu werfen.
Familienfremde Kinder sollten – das Einverständnis der Erziehungsberechtigten vorausgesetzt – immer nur so viel über das autistische Kind erfahren, wie in einer bestimmten Situation oder Konstellation notwendig ist. So sind bspw. Schlafprobleme dieses Kindes für die Geschwister relevant, für die Mitschüler jedoch nicht, solange keine Klassenfahrt geplant ist.
2 Die Diagnose von Erkrankungen erfolgt nach den Kriterien der von der WHO erstellten ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme).
Märchenähnliche Geschichten haben vermutlich schon die Menschen in der Jungsteinzeit3 untereinander ausgetauscht. Ursprünglich waren Märchen jedoch nicht für Kinder gedacht, sondern sie boten den Erwachsenen eine Möglichkeit, um Legenden zu verbreiten, um sich den Herausforderungen des Lebens stellen zu können, um Mut zu machen und Furcht zu besiegen – denn sie haben immer ein glückliches Ende – und gelegentlich auch, um gemeinsam Spaß zu haben. »Märchen sind in langen Zeiten verdichtete Lebenserfahrungen. […] So sind Märchen wie eine Stimmgabel, die uns einen Ton vorgibt, mit dem wir uns einstimmen können auf ein Leben, das stimmt« (Dickerhoff & Fiebig, 2016, S. 9). Erst die Gebrüder Grimm passten ihre gesammelten Märchen in der dritten Auflage für Kinder an.
Kinder benötigen Geschichten, um Alltagserlebnisse zu verarbeiten, Fantasie zu entwickeln, den Umgang mit Gefühlen zu erproben, ihre Persönlichkeit zu entfalten und letztendlich, um sich ein Bild von der Welt aufzubauen. Dazu muss das Kind an die Geschichte(n) aber herangeführt werden. »Soll eine Geschichte ein Kind fesseln, so muß sie es unterhalten und seine Neugier wecken«, formulierte es Bruno Bettelheim (1977, S. 10). Um Neugier zu wecken, ist es wichtig, dass die Erzählungen Themen, die die Kinder bewegen, aufgreifen und verarbeiten.
Geschichten und auch Märchen sind für die emotionale, sprachliche und kognitive Entwicklung eines Kindes wichtig. Dies stellt hohe Anforderungen an den Inhalt und die Ausgestaltung einer Geschichte, denn »sie muß auf seine Ängste und Sehnsüchte [des Kindes] abgestimmt sein, seine Schwierigkeiten aufgreifen und zugleich Lösungen für seine Probleme anbieten. Kurz: sie muß sich auf alle Persönlichkeitsaspekte beziehen« (ebd.).
Konkrete Vorschläge zum Handeln in bestimmten Situationen werden in Geschichten als Erlebnisse der Hauptfiguren – meist Tiere bei den in diesem Buch versammelten Geschichten – angeboten, ohne dass der Eindruck eines erhobenen Zeigefingers entsteht. Damit funktionieren Geschichten in der Weise, dass sie es ermöglichen, reale Probleme anhand erdachter Handlungen zu erkennen, zu verstehen und zu lösen, wenn man sich von den Schwingungen der Stimmgabel verzaubern lässt.
Im Alter von siebeneinhalb Jahren versuchte mein autistischer Sohn zum ersten Mal, ein Märchen nachzuerzählen. Bis dahin waren wir uns aufgrund seiner langen Sprachlosigkeit nicht sicher, ob er die Geschichten und Märchen, die wir ihm vorlasen – während er dabei meist ein Spielhaus umkreiste –, verstand.
Es handelte sich um das Märchen Ritter Blaubart von Charles Perrault, welches sein jüngerer Bruder unmittelbar zuvor Freunden, die zu Besuch waren, nacherzählt hatte. Benjamin startete mit dem Anfang des Märchens – er erzählte mit holpriger, lauter Stimme und viele Wörter waren noch schwer zu verstehen.
Allerdings lieferte er keine Nacherzählung des Märchens, sondern präsentierte kurz nach dem Beginn ein opulentes Bild des Schlosses von Ritter Blaubart. In der Originalvorlage wurden die Räumlichkeiten wie folgt beschrieben: »Am Morgen des nächsten Tages kamen die Besucherinnen dort an und begaben sich auf Entdeckungsreise durch die vielen Räume. Sie liefen ungeniert durch Säle und Flure […]« (Perrault, 1985, S. 138). Benjamins Schilderung dagegen klang wie eine detaillierte Führung durch eine prächtige Sehenswürdigkeit. Er beschrieb alle Zimmer, die vom großen Saal abgingen, und klärte über deren kostbares Inventar auf.
An jenem Tag verstand ich besser, wie Benjamins Denken funktioniert. Er hatte vernommen, dass in dem Märchen ein Schloss eine Rolle spielt, und diese verbale Information setzte er sofort in Bilder eines solchen Gebäudes um. Beim Nacherzählen rief er dieses in seiner Fantasie so facettenreiche Bild auf und gab es in Worten, die wahrscheinlich nicht im Entferntesten an sein schillerndes inneres Gemälde heranreichten, wieder. Zwei Dinge mussten dabei zwangsläufig auffallen. Zum einen spielten die handelnden Personen in Benjamins Erzählung nur eine Nebenrolle, zum anderen unterlag er dem von ihm selbst nicht zu durchbrechenden Zwang, sein ganzes inneres Bild wiedergeben zu müssen.
Als er in seinem Monolog eine kurze Pause einlegte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich nach dem Ende seiner Geschichte zu erkundigen. Sichtbar erleichtert antwortete er knapp: »Und im Nicht-Reingeh-Zimmer war schrecklicher Drache« (Maus, 2014, S. 17 ff.).
Diese Erkenntnis setzte ich daraufhin in meinen eigenen Geschichten dahingehend um, dass von nun an jede Geschichte mit Beschreibungen des Handlungsortes oder Sachwissen zum Thema der Geschichte begann ( Kap. I-5.2). Diese Vorgehensweise erleichtert autistischen Kindern ungemein den Einstieg in eine Geschichte.
Ungefähr ein Jahr nach der eben geschilderten Begebenheit begann Benjamin, eigene Geschichten zu schreiben. Damals war sich die Fachwelt einig darüber, dass autistische Kinder nicht kreativ sein können: »Die intelligenteren Kinder mit Autismus haben wenig Schwierigkeiten mit dem Schreiben. Aber auch wenn sie meist richtig konstruierte Sätze schreiben können, sind sie deshalb nicht kreativ. […] die Inhalte sind lediglich exzentrisch, bizarr und repetitiv« (Aarons & Gittens, 2007, S. 118). Zahlreiche autistische Künstler haben in den vergangenen Jahren derartige Feststellungen widerlegt.
Benjamins Geschichten erwiesen sich als interessant, stimmig, spannend und waren in einer erhellenden Art in sich logisch. Der das Vorwort einleitende Ausschnitt aus einer Geschichte meines Sohnes offenbart dem (autismus-)kundigen Leser bereits einige Unterschiede im Inhalt.
Weitere Besonderheiten betreffen die Struktur einer Geschichte, wie das folgende Beispiel verdeutlicht.
Auszug aus einer Geschichte Benjamins (Maus, 2014, S. 118):
Wir schreiben das Jahr 1793. Es war um 3.00 Uhr am dreizehnten Mai. Mein bester Mann, der gerade im Ausguck war, schrie: »Ich sehe eine unbekannte Insel mit einer Stadt.« […] »Alle von Bord!«, rief ich. »Wenn Sie gern als Haifutter enden wollen, dann gehen Sie von Bord«, sagte Tom, mein viertbester Mann. […] Auf einmal kamen schwer bewaffnete Schiffe. Mein dümmster Mann hatte eine Flaschenpost losgeschickt. Den Rest der Geschichte könnt ihr euch selbst vorstellen.
Dieser kurze Ausschnitt weist zwei interessante Merkmale auf. Zum einen sind die Zeitangaben sehr präzise, obwohl sie für die Handlung der Geschichte nicht in dieser Genauigkeit erforderlich gewesen wären. Zum anderen wird jeder Person eine eindeutige Stellung zugewiesen. Es gibt einen besten, einen viertbesten und einen dümmsten Mann. Ein tiefes Bedürfnis nach Ordnung wird hier befriedigt, welches den eigentlichen Text jedoch nicht beeinträchtigt, sondern bereichert, ihn interessant macht.
Diesem Bedürfnis nach Ordnung bin ich in meinen Geschichten nachgekommen, indem bspw. Zwicky ( Kap. II-C) sich nicht auf einige, sondern auf fünf Schnecken zubewegt, indem im Schloss von Gauda ( Kap. II-G) die genaue Anzahl der Gästezimmer genannt wird oder indem das exakte Baujahr der Burg, in der Rob und Robin leben ( Kap. II-O), erwähnt wird.
Viele Jahre später stellte Benjamin zwei seiner aktuellen Geschichten einem öffentlichen Publikum vor. Zum Beginn der Lesung erklärte er seine Leidenschaft für Geschichten folgendermaßen: »Geschichten haben mir von Kindheit an Zugang zu Elementen und Emotionen eröffnet – Elemente und Emotionen, die mir wegen meiner eingeschränkten Sozialfähigkeiten verwehrt blieben. Geschichten sind erfüllt von Träumen, Wünschen, Ängsten und allem anderen, was den menschlichen Geist ausmacht. Zugleich ist aber auch die subtilste Geschichte immer noch direkter als die Wirklichkeit. Geschichten sind aus den geballten Essenzen des Lebens gewoben.«
3 Die frühesten Wörter unserer modernen Sprachen datieren ungefähr 8000 Jahre zurück.
Viele autismustypische Besonderheiten führen dazu, dass autistische Kinder einen anderen Zugang zu Geschichten haben bzw. benötigen. Ihr häufig visuelles Denken und das wortwörtliche Sprachverständnis erfordern eine deutliche Ausdrucksweise in den Geschichten bzw. ein Erläutern von unklaren Sachverhalten. Schwierigkeiten im sozialen Bereich führen einerseits meist dazu, dass Geschichten, die dies vordergründig thematisieren, von autistischen Kindern abgelehnt werden, weil sie Stress auslösen. Andererseits haben diese Kinder oft Spezialinteressen, die ihnen einen Zugang zu anderen Themen wie bspw. zwischenmenschliche Interaktionen ermöglichen können.
In den folgenden Unterkapiteln wird darauf eingegangen, welche Dinge bei den Geschichten besonders gestaltet wurden, um autistischen Kindern einen guten Einstieg in die Welt der jeweiligen Protagonisten zu ermöglichen, und worauf Erwachsene bei der Präsentation der Geschichten achten sollten.
Jeder Geschichte ist eine Illustration vorangestellt – dies ist erst einmal nichts Ungewöhnliches bei Geschichten für Kinder im Vor- und Grundschulalter. Da viele autistische Kinder aber das Problem haben, dass bestimmte Farben körperliche Missempfindungen auslösen und diese Farben daher verständlicherweise gemieden werden, wurden die Illustrationen in Grautönen angefertigt. Um jedoch der kindlichen Fantasie aller Rezipienten freien (Farbver-)Lauf zu lassen, befinden sich die Illustrationen zu sämtlichen Geschichten im Anhang als Ausmalbild zum Kopieren.
Die Frage, welche Szenen abgebildet werden sollen, stellte ich meinem autistischen Sohn. Er antwortete mir, dass es eine Szene aus dem ersten Drittel der Geschichte – möglichst dicht am Beginn – sein muss, weil er sonst einer Geschichte nicht folgen kann, wenn er über den Inhalt der Illustration grübelt. Dieser wichtige Hinweis wurde von Frau Reichert-Scarborough und mir beachtet.
Die einzige Ausnahme bezüglich der Gestaltung bildet die Illustration auf dem Cover. Dieses Bild stellt nicht das im Vorwort erwähnte dicke Ende einer Geschichte dar, sondern das wahre Ende der Geschichte Kastania und Kastagnette ( Kap. II-F), bei dem es den Protagonisten gelingt zusammenzufinden.
Die Strichführung ist klar, sodass keine Linien, die ein Objekt oder ein Subjekt begrenzen, im Nichts enden. Die Ausmalbilder haben zudem einen Rahmen erhalten, um insbesondere autistischen Kindern eine Struktur in Form einer Begrenzung zu liefern.
Jede Geschichte besitzt zwei Titel. Die Titel der Geschichten sind nicht als Titel und Untertitel gedacht, sondern es handelt sich hierbei um alternative Titel. Es gibt einmal einen Titel, der den oder die Namen der Hauptfigur/en enthält. Der zweite Titel bezieht sich auf die Handlung oder die Art der Geschichte.
Diese Titelgebung entstand vor dem Hintergrund, dass autistische Kinder überall nach Ordnung oder Strukturen suchen. Sie bevorzugen daher Einheitlichkeit, weil ihnen die damit mögliche Wiedererkennbarkeit Sicherheit vermittelt. Manche von ihnen hätten gern Namen im Titel einer Geschichte, andere, die sich mit Namen schwertun, sind dann schon beim Vernehmen des Titels angespannt. Geschichtentitel, in denen sich Namen und Handlungshinweise abwechseln oder sogar vermischen, können bei autistischen Kindern viel Stress auslösen.
Nicht-autistische Kinder wünschen sich in den meisten Fällen Abwechslung. So habe ich die Lösung der Doppeltitel gefunden, damit jeder beim Vorlesen der Geschichten das Passende auswählen kann. Entweder wird der Titel gewählt, der dem autistischen Kind die Teilnahme an der Vorleserunde ermöglicht, oder dieser Titel wird zuerst genannt, um dann nach einer kurzen Pause den Zweittitel für die anderen Kinder zu erwähnen. Erwachsene, die die Geschichten zur Anwendung bringen, werden rasch die optimale Variante für jede Kindergruppe ermitteln.
Autistische Kinder suchen nicht nur nach Regelmäßigkeiten, sondern sie sind auch sehr regelbewusst. Regeln schaffen Vorhersehbarkeit, die es diesen Kindern ermöglicht, etwas Ordnung in ihre sich schnell verändernde Umgebung zu bringen. Bei Unstimmigkeiten in einer Geschichte kommt es daher schnell zu einem Abbruch der gemeinsamen Aktivität. Um dies zu verhindern, hat mein autistischer Sohn alle Geschichten noch einmal gelesen.
Ein Teil der autistischen Kinder denkt überwiegend in Bildern. Dabei wird das Gehörte sofort in Bilder umgesetzt und in dieser Form gespeichert. Das kann eine Ursache dafür sein, dass diesen Kindern beim Lesen oder Vorlesen übel wird, wenn scheinbar harmlose, unappetitliche Dinge geschildert werden. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Mein autistischer Sohn musste in der Grundschule ein älteres Kinderbuch lesen, in dem eine fliegende Katze einem Gast im Restaurant dabei zuschaut, wie jenem die Augen vor Schreck aus dem Kopf quellen (Hüttner, 1994, S. 45). Nach dieser Textpassage war mein Sohn nicht mehr in der Lage, das Buch weiterzulesen. Die Geschichten in diesem Buch sind frei von solchen Schilderungen.
Die Protagonisten der Geschichten sind in der Mehrzahl Tiere. Zum einen liegt das darin begründet, dass jüngere autistische Kinder oft Geschichten mit Tieren solchen mit Menschen vorziehen, zum anderen, dass soziale Geschichten mit tierischen Helden einen größeren Interpretationsspielraum haben. Sie bereiten somit autistischen Kindern bei dem Erfassen von sozialen Interaktionen weniger Probleme als Geschichten aus ihrem unmittelbaren Alltag, denn die Furcht, einen Fehler zu machen, wird dadurch minimiert.
Die erste Geschichte des Buches endet damit, dass die Hauptfigur Quercus aus dem Dicken Buch der Regenwürmer vorliest. Alle folgenden Geschichten stammen somit aus diesem Sammelwerk. In diesen Geschichten agieren verschiedene Tiere und auch Menschen.