Fantastic Pulp 2 -  - E-Book

Fantastic Pulp 2 E-Book

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Beschreibung

Die besten Pulp-Geschichten aus den USA des 19. und 20. JahrhundertAusstrahlung (The Man the World Forgot, 1940) von David Wright O'BrienDie Geschichte von dem Mann, den niemand wahrnahm.Die Mordmaschine (The Murder Monster, 1932) von Paul ChadwickDie Geschichte von dem Berserker, der keiner war.Stalagmiten (Women of Stone, 1935) von Arthur J. BurksDie Geschichte von der Höhle, deren Schrecken scheinbar endlos sind.Kleines Missverständnis (Mistaken Identity, 1957) von Ralph WilliamsDie Geschichte von dem Mahl der besonderen Art.Der Wunschstein (The Wishing Stone, 1953) von Randall GarrettDie Geschichte von dem Stein, der zu wünschen übrig lässt.Altweibersommer (Fairy Gossamer, 1924) von Harry Harrison KrollDie Geschichte von der Höhle, die Schreckliches bereit hält.Einfuhrverbot für Horgels (Quarantained Species, 1957) von Jesse Franklin BoneDie Geschichte von einer besonderen Pandemie.Die Pulp-MagazineMatthias Kaether berichtet über Amerika im Bann der Kurzgeschichte

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Seitenzahl: 204

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Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)FANTASTIC PULP 2

In dieser Reihe bisher erschienen

01 Geisterstunden vor Halloween von Stefan Melneczuk

02 Drachen! Drachen! von Frank G. Gerigk & Petra Hartmann (Hrsg.) 03 Hunger von David Grashoff & Pascal Kamp (Hrsg.)

04 Schattenland von Stefan Melneczuk

05 Der Struwwelpeter-Code von Markus K. Korb06 Bio Punk‘d von Andreas Zwengel

07 Xenophobia von Markus K. Korb08 Nachtprotokolle von Anke Laufer09 Reiche Ernte von Matthias Bauer

10 Das Tor von Matthias Bauer

11 Fantastic Pulp 1 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

12 Wenn die Welt klein wird und bedrohlich von Felix Woitkowski (Hrsg.)

13 Geisterstunden von Stefan Melneczuk

14 Fantastic Pulp 2 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

Fantastic Pulp 2

Phantastische Geschichten

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannLektorat: Julia Annina JorgesTitelbild: Björn Ian CraigIllustrationen: Hans Waldemar Wessolowski Umschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-613-2Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Matthias Käther: Hommage an Hans Wessolowski (1894-1948)
Geschichten
David Wright O‘Brien: Ausstrahlung (1940)
Paul Chadwick: Die Mordmaschine (1932)
I.
II.
III.
IV.
V.
Arthur J. Burks: Stalagmiten (1935)
Ralph Williams: Kleines Missverständnis (1957)
Randall Garrett: Der Wunsch-Stein (1953)
Harry Harrison Kroll: Altweibersommer (1924)
Jesse Franklin Bone: Einfuhrverbot für Horgels (1957)
I.
II.
III.
IV.
V.
Artikel
Matthias Käther: Die Pulp magazines (2020)
Amerika im Bann der Kurzgeschichte
1. Anfänge und Aufstieg der Pulps
Was waren das für Geschichten in den frühen Pulps zwischen 1896 und 1920?
2. Pulp-Genres
a) Horror- und Shudder-Pulps
b) SF-Pulps
c) Sport- und Fliegerpulps
d) Hero-Pulps und Novel-Pulps
e) Krimi- und Detektiv-Pulps
f) Liebes- und Erotic-Pulps
g) Western
g) Adventure-Pulps
h) Pulp-Ableger
Relationen
3. Glanzzeit und Untergang der Pulps
4. Sind Pulps Schund?
Herausgeber

Vorwort

Liebe Leser phantastischer Literatur,

wir kehren zurück in die Vergangenheit, in die Frühzeit moderner phantastischer Literatur.

Im vorliegenden Band finden Sie Geschichten aus den Jahren 1932 bis 1957, alle übersetzt vom Pulp-Kenner Matthias Käther. Inhaltlich bieten die Stories eine ganze Bandbreite, ob Horror, SF oder Funtasy. Ob es die Angst vor Spinnen ist oder vor einer außerirdischen Pandemie, einem ganz besonderen Mahl oder die Angst vor dem künstlichen Menschen, die Sammlung wird Sie wieder gruseln, amüsieren oder überraschen, auf jeden Fall niemals langweilen.

Zum Abschluss finden Sie eine Einführung in die Geschichte der amerikanischen Pulps. Lassen Sie sich überraschen von der Vielfalt der Inkarnationen.

Und Sie werden sehen, da ist immer noch ein großer Schatz, der gehoben werden muss, also bleiben Sie uns gewogen, wir werden uns darum kümmern, weiter für Nachschub zu sorgen.

Um die Stimmung der damalige Zeit wiederzugeben, haben wir zwischen den Geschichten jeweils eine Illustration des Künstlers Hans Waldemar Wessolowski beigefügt.

Mit phantastischen Grüßen,

Matthias Käther und Michael Schmidt

Matthias Käther: Hommage an Hans Wessolowski (1894-1948)

Die Bilder, die Sie zwischen den folgenden Geschichten sehen, bereiten Ihnen vielleicht Kopfzerbrechen, weil sie sich nicht unmittelbar der Handlung zuordnen lassen. Sie gehören auch nicht direkt dazu. Wir dachten, es wäre an der Zeit, in einer Anthologie, die die Fantastik-Pulps feiert, den Mann zu erwähnen, der die visuelle Seite dieser frühen Pulps prägte wie kaum ein anderer: der deutsche Maler und Grafiker Hans Waldemar Wessolowski, den die Pulp-Fans nur als „Wesso“ kannten – das war sein Pseudonym in den zehn Glanzjahren 1929-39.

Schon sein Äußeres prädestinierte ihn zum skurrilen Maler des Grotesken und Bizarren – er hatte ein Glasauge. In der Kindheit hatte er ein Auge bei einem Unfall verloren – er gehörte zu den wenigen Zeichnern, die auch ohne perspektivisches Sehen den Weg zum Zeichen-Star in den Massenblättern schaffte.

In Graudenz (das heute zu Polen gehört) 1894 geboren, begann er seine Karriere beim legendären Münchner Satiremagazin „Simplicissimus“, nachdem er an der Königlichen Akademie Berlin sein Handwerk gelernt hatte. Durch sein fehlendes Auge wurde er vom Militärdienst befreit – verspürte aber nach geraumer Zeit doch eine unstillbare Abenteuerlust und ging zur deutschen Handelsmarine. Des harten Dienstes überdrüssig, sprang er 1912 in der Nähe von New Orleans über Bord und schwamm an Land. Schon 1913 gelang ihm die Einbürgerung, und er wurde amerikanischer Staatsbürger.

Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bevor er sich als Zeitungsgrafiker zurückmeldete – dass es ihm gelang, lag vermutlich nicht zuletzt am boomenden Markt; fast alle Magazine brachten nun prächtige Illustrationen, gute Zeichner wurden händeringend gesucht. Auch die Pulps begannen sich umzustellen und warben mit immer mehr Illustrationen in ihren Blättern. Ab 1928 taucht sein Kürzel Wesso vermehrt in ihnen auf – zunächst in nicht-phantastischen Pulps wie Air Adventures und The ­Danger Trail.

1929 entdeckte ihn der blutjunge Markt phantastischer Blätter – nach ersten Arbeiten in Amazing Stories warb ihn der legendäre Herausgeber Harry Bates (dessen UFO-Novelle „Der Tag, an dem die Erde stillstand“ weltberühmt wurde) für seine beiden phantastischen Zeitschriften „Astounding Stories“ und Strange Tales“ an. Wesso wurde Chefillustrator und lieferte nicht nur zahllose prachtvolle Schwarzweiß-Innenillustrationen, sondern auch sämtliche (!) Cover. Tragischerweise ging Bates‘ Verlag Clayton 1933 im Zuge der Weltwirtschaftskrise Pleite.

Wesso hatte Glück im Unglück:

Astounding Stories wurde vom Pulp-Riesen Street & Smith gekauft, der Wesso von früher her schätzte; Wesso hatte lange für ihr Magazin „Clues“ gezeichnet. Und so setzte er seine Arbeit für das neue „Astounding“ auch hier in unregelmäßigen Abständen fort, begann aber auch, für andere neue SF-Magazine zu zeichnen. 1939 berichtet Chefredakteur Mort Weisinger in „Thrilling Wonder ­Stories“, dass Wesso ein exzellenter Golf-Partner sei – das klingt nicht gerade nach einem verarmten Künstler; er schien von der Zeichnerei gut leben zu können.

Ein Jahr später erreichte ihn eine Nachricht, die ihn sehr erfreut, seine Fans aber herb enttäuscht haben dürfte – die New York Daily News boten ihm einen festen Job als Zeichner an. Damit endete seine zehnjährige glanzvolle Karriere als Zeichner des Unheimlichen, Bizarren und Phantastischen.

1948 starb er nach kurzer schwerer Krankheit.

Anders als sein deutschsprachiger Kollege Franz R. Paul, der ebenfalls zu den Pionieren der phantastischen Pulp-Zeichnung gehört, faszinierte Wesso nicht vordergründig utopische Architektur. Paul wirkt immer dann formelhaft und starr, wenn er Menschen oder Monster in Aktion zeigen will – genau hier liegt Wessos Stärke. Beide ergänzten sich großartig. Obwohl Wesso ebenfalls einige beeindruckende technische Apparaturen und ­Raumfahrzeuge gezeichnet hat, liebte er die groteske Situation, den unvorstellbaren Moment – er scheute sich auch nicht, diffuse psychodelische Beschreibungen etwa in den frühen Erzählungen von John W. Campbell zu Papier zu bringen, vor deren Darstellung andere zurückgeschreckt wären. Auch wenn seine Schwarzweißzeichnungen besser waren als seine Cover, gibt es einige Ikonen unter letzteren, die die Optik des B-Movie-Horrors nachhaltig beeinflussen sollten, wie den amoklaufenden Gorilla, der am Hochhaus klebt, oder die bedrohlichen Flossenhände eines Monsters. Bedrohliche Tentakel liebte er besonders – immer wieder zeichnete er sie in Form von Schlangenkörpern, Pflanzenranken, Insektengliedmaßen oder Krakenkörpern. Er illustrtierte Geschichten fast aller Ikonen der frühen Pulp-Phantastik (Arthur J. Burks, Clark ­Ashton Smith, John W. Campbell, Murray Leinster, Hugh B. Cave und viele andere) und verlieh so ihren frühen Visionen ein markantes optisches Gesicht.

Geschichten

David Wright O‘Brien: Ausstrahlung (1940)

David Wright O‘Brien (1918-44) gehört zu den tragischen Figuren der phantastischen Literatur, die heute fast vergessen sind. Als er im Zweiten Weltkrieg in Deutschland fiel, war der amerikanische Autor erst 26 Jahre alt. Er hatte keine Zeit, sich einen Ruf von Dauer aufzubauen und wurde bisher in Anthologien kaum berücksichtigt. Von Werkausgaben ganz zu schweigen...

Er war der Neffe des legendären Weird-Tales-­Herausgebers Farnsworth Wright. Wohl um Vettern­wirtschaft zu vermeiden, veröffentlichte er, abgesehen von einem Gedicht, nichts in der Zeitschrift Lovecrafts und Howards. Stattdessen schloss er eine enge Freundschaft mit dem SF-Herausgeber Raymond Palmer, der u.a. auch Amazing Stories betreute.

O‘Brien schrieb ab 1940 ausschließlich für Palmers Magazine.

Er hatte von Anfang an eine geniale satirische Ader. Der Durchbruch gelang ihm mit Truth is a Plague (Wahrheit ist eine Plage, 1940), eine Humoreske, in der eine Stadt für Feldversuche mit einem Wahrheitsgas besprüht wird und komplett aus den Fugen gerät.

Obwohl O‘Brien nur 6 Jahre lang schrieb, hinterließ er ein beachtliches Werk von über 100 Geschichten, darunter auch einige sehr originelle Horror-Stories. Hier ist eine davon.

Erstdruck in: Fantastic Adventures, April 1940

Keiner der Passagiere des Acht-Uhr-Zwanzig-Zuges schenkte Lucius Beem die geringste Beachtung, als er in die Vorortbahn stieg. Allerdings fand Mr. Beem - gekleidet in seinen üblichen unaufdringlichen grauen Anzug und seinen grauen Mantel, bedeckt mit seinem grauen Hut - das nicht im Mindesten ungewöhnlich. Wenige Leute schenkten ihm jemals Beachtung.

„Schöner Morgen“, bemerkte Mr. Beem, als er im Abteil Platz nahm. „Ausgesprochen schöner Morgen. Wirklich.“

Sein Gegenüber blickte zerstreut auf.

„Oh, äh, ja, schöner Morgen, Mister, äh … Mister …“

Mr. Beem seufzte resigniert. Kaum jemand konnte sich seinen Namen merken.

„Beem. Mein Name ist Mr. Beem.“

Er entschied reuevoll, dass es keinen Zweck hatte, diesen Mann an seinen Namen zu erinnern. Es war das sechzehnte Mal in diesem Monat, dass er ihn vergessen hatte. Beide fuhren seit zehn Jahren im selben Zug in die Stadt und saßen fast immer zusammen.

„Klar. Natürlich“, murmelte der Passagier. „Peinlich von mir, das zu vergessen, Mr. Dream.“

Mr. Beem vergrub sein Gesicht in seiner Zeitung und überflog die Tagesnachrichten. Fünfzehn Minuten später blickte er auf und sprach seinen Abteilgenossen ein weiteres Mal an.

„Ist das nicht seltsam?“ Beem wies auf die Kolumne seiner Zeitung. „Dieser berühmte Professor Snell ist nicht in der Lage, irgendjemanden für seine radioaktiven Strahlungs-Tests zu finden. Man sollte doch denken, dass sich irgendwer auf der Welt nicht zu schade ist, ein Opfer zu bringen für eine bessere Welt, was?“

„Hä?“

Der Passagier warf Mr. Beem einen leeren Blick zu. „Haben Sie irgendwas gesagt?”

„Ich hab gesagt …“ Mr. Beem seufzte und gab es auf. Der Mann hatte sich wieder abgewandt.

*

Mr. Beem entstieg seinem Zug und schlängelte sich durch das Gewühl der Menge zu einem kleinen Café an der Bahnhofsecke. Es war eine zehn Jahre währende Gewohnheit, hier zunächst mal Brötchen und Kaffee zu frühstücken, bevor er weiter ins Büro marschierte.

Mr. Beem schlüpfte auf einen Barhocker am Tresen. Als Cleo, die Kellnerin, herüber schwebte, um die Bestellung aufzunehmen, raffte er sich zu etwas auf, das er für ein ermutigendes Lächeln hielt. Es war etwas Beruhigendes, Cleo jeden Morgen zu sehen. Sie arbeitete hier als Kellnerin, solange er denken konnte.

„Morgen, Cleo!“, sagte Mr. Beem herzlich. „Schöner Morgen, nicht?“

Das Gesicht des Mädchens blieb undurchdringlich. „Mja“ nickte sie unverbindlich. „Sollsnsein?“

Mr. Beems Stimme klang einen Hauch vorwurfsvoll.

„Das Übliche bitte.“

„Und was“, fragte sie scharf, „is das übliche?“

Mr. Beem seufzte schwer. „Kaffee und Brötchen.“

Er fühlte sich plötzlich ein bisschen einsam. Die Leute nahmen ihn für gewöhnlich nicht wahr. Solche Dinge wie eben passierten ständig in seinem einfachen, anspruchslosen Leben. Doch dieser spezielle Morgen war schlimmer als jeder andere, den Mr. Beem je erlebt hatte. Mit einem wehmütigen Blick auf die Wanduhr schlürfte Mr. Beem seinen Kaffee.

*

In den Aufzug seines Bürogebäudes steigend, nickte Mr. Beem dem Fahrstuhlführer nüchtern zu. „Moin, Ted!“, murmelte er. Nachdem der Fahrstuhlführer fröhlich die anderen Ankömmlinge per Namen begrüßt hatte, schenkte Ted seinem blassen Passagier einen uninteressierten Blick.

Es war Teds Stolz, dass er den Laden in- und auswendig kannte und alle Stammkunden, die er täglich rauf und runter kutschierte, beim Namen nennen konnte. Folgerichtig starrte Mr. Beem ihn säuerlich an, als der Aufzug nach oben sauste. Ted wandte sich ihm zu. „Etage, bitte?“

Doch als er in das Büro von Sharpe & Sholt trat, wo er seit fünfzehn Jahren eine bescheidene Stellung innehatte, vergaß Mr. Beem die anderen vergleichsweise kleinen Zwischenfälle des Morgens vollständig.

Denn Lola, die Rezeptionistin, hielt ihn am Eingang auf.

„Wollen Sie jemanden Bestimmten sprechen?“

Mr. Beem war nicht der Typ, der sich ohne weiteres aus der Bahn werfen ließ. Aber zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er etwas, das einem Schockzustand sehr nahekam.

„… jemanden … Bestimmten … sprechen … ?“, sagte er wie unter Hypnose. „Das ist ein Witz, oder?“

Lola verzog bedauernd das Gesicht.

„Tut mir leid, Sir. Offensichtlich waren Sie schon einmal hier. Aber haben Sie eine Verabredung mit jemandem?“

„Ich … also … naja … ähm … Ich arbeite hier ...“, stammelte Mr. Beem.

„Sie arbeiten hier?“ Die Stimme des Mädchens war plötzlich eine Mischung aus Ungläubigkeit und Misstrauen. „Hier???“

Unvermittelt begann sie an ihrem Pult herumzustöpseln und Kabel zu verbinden. Blinkende Lichter spiegelten sich in ihrem Gesicht.

„Mr. Sharpe“, sagte sie. „Hier is ein Typ, den ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hab. Er behauptet, er is hier angestellt. Will rein zu Ihnen. Was soll ich machen?“

Lola wandte sich zum schockstarren Mr. Beem. „Mr Sharpe würde gern Ihren Namen wissen, Sir. Er sagt, falls Sie eine Stellung haben wollen, hinterlassen Sie bitte Ihren Namen, und wir rufen Sie an, wenn sich irgendwas ergibt.“

„Sag ihm“ - Mr. Beem wurde langsam grantig - „mein Name ist Beem. Keine Ahnung, was du hier für eine Nummer abziehst, Lola, aber Mr. Sharpe wird ...“

„Er sagt, sein Name ist Team“, raunte Lola ins Mikrofon, „… oder so ähnlich … Was? Ja, Sir, ich sags ihm.“

Sie wandte sich erneut an Mr. Beem.

„Mr. Shape, sagt, er hat noch nie was von Ihnen gehört, aber wenn Sie Ihre Qualifikationen in dieses Formular eintragen möchten“, sie hielt ihm ein Blatt Papier hin, „würde er gern mit Ihnen in Kontakt bleiben, falls sich was ergibt, und …“

Sie stoppte ihnen Redefluss abrupt, den Mund weit offen, denn der graue, mausartige Mann stob aus dem Büro und rannte Hals über Kopf den Korridor entlang, als wären tausend Teufel hinter ihm her.

*

Fast eine Stunde lang wanderte Mr. Beem verzweifelt und verwirrt durch die Straßen, nachdem er aus dem Büro gestürmt war. Durch sein Hirn waberten halbformulierte Fragen, vage Verdächtigungen und unfertige Antworten. In der ersten halben Stunde tendierte Mr. Beem zu der erschütternden These, dass die Welt begann, ­durchzudrehen.

Doch nach einer Weile verwarf er diese Erklärung, sich daran erinnernd, dass es die Gewohnheit aller Psychotiker war, anzunehmen, alle außer ihnen selbst seien wahnsinnig. Dann fielen ihm Horror-Geschichten ein, in denen unheimliche Gestalten unerkannt durch die Welt schlurften, beachtet von niemandem. Diese Schauergeschichten endeten für gewöhnlich mit der faden Pointe, dass Held der Story längst tot war. War er, Mr. Beem, gestorben? Der Gedanke war grauenvoll, und Mr. Beem schreckte vor ihm zurück. Nein, er war ganz gewiss nicht tot.

Unbewusst hatten Mr. Beems Füße ihn ohne sein Wollen zum Bahnhof zurückgetragen. Fast ohne es zu bemerken, kaufte er ein Ticket für die Vorortbahn und setzte sich in die Wartehalle, um die Ankunft des nächsten Zuges zu erwarten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich sein Verstand etwas geklärt. Er würde nach Hause gehen. Martha, seine Frau, würde zwar ziemlich überrascht sein, ihn zu sehen. Er war nicht mehr unerwartet nach Hause gekommen, seit damals, als sein Blinddarm geplatzt war. Es würde eine Menge Mühe kosten, Martha zu erklären, was passiert war, aber sie war seine einzige Chance auf etwas Trost. Der einzige verbleibende feste Anker seines Lebens. Vielleicht, dass sie ihm einen Doktor rief. Und es könnte beschlossen werden, dass er eine Pause vom Job brauchte.

Das war es! Nervenzusammenbruch!

In die Straße seines behaglichen kleinen Vororthäuschens einzubiegen war tröstlich für Mr. Beem.

Die vertraute Reihe von Pappeln und weiß bemalten Zäunen gab ihm ein vages Gefühl der Sicherheit. Als er seine eigene weiße Holzzaunpforte öffnete und seinen Gartenweg betrat, pfiff er sogar vor Erleichterung. Es war ein melodieloses Pfeifen, öde, fahl und unharmonisch.

Martha hatte ihm nie einen eigenen Schlüssel gegeben. So war Mr. Beem gezwungen, den Türklopfer zu benutzen. Er bemühte sich um ein selbstsicheres Lächeln, als er seine Frau zur Tür laufen hörte. Er wollte sie auf keinen Fall schockieren oder erschrecken. Schließlich könnte sie denken, er wäre ernstlich krank.

Er hörte im Haus ihre Absätze über den Boden klackern. Die Tür schwang auf. Mr. Beem trat auf die Schwelle.

„Hallo, Süße“, sagte er, „krieg bloß keinen Schreck. Ich fühl mich nicht so gut heute und dachte, ich fahr besser nach Haus ...“

Doch er kam nur ein paar Zentimeter weit. Denn Mrs. Beem starrte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Verärgerung an. Bevor er ganz im Flur war, schmetterte sie ihm die Tür vor die Stirn.

„Ma … Martha, was ist los? Ich bins bloß! Stimmt was nicht?“ Mr. Beems Stimme verlor beinahe ihre Fadheit, und eisiger Schrecken ließ seine Knie weich werden.

Die Stimme seiner Frau war hoch, schrill und vermutlich in der ganzen Straße zu hören. „Wer immer Sie sind, Vertreter oder Aufreißer – sie haben den Nerv, mich Süße zu nennen und versuchen, sich Zutritt zu meiner Wohnung zu verschaffen? Verschwinden Sie sofort oder ich ruf die Polizei!“

Dann brachte sie einen geschickten, fiesen Kick gegen Mr. Beems Schienbein an, das sich immer noch zwischen Tür und Pfosten befand. Er zog es rasch zurück, und augenblicklich knallte die Tür zu. Er hörte seine Frau die Sicherheitsriegel vorschieben. Dann klickerten ihre Absätze erneut über den Flur.

Für mehrere zähe Minuten stand Mr. Beem vor seiner verschlossenen Tür, sein schmerzendes Schienbein reibend. Panik griff mit eisigen Fingern in sein Hirn.

Mit dem Handrücken die Augen wischend, stakste der verwirrte Mr. Beem die Stufen seines Heims hinunter und wanderte ein weiteres Mal ziellos durch die Straßen. Verzweiflung hatte den schmalen Mann erfasst. Rasende Verzweiflung – und Todesangst.

Tief in einem versteckten Winkel seines gemarterten Hirns raunte eine penetrante, peinigende, spöttische Stimme: „Du wirst verrückt! Das ist es. Du wirst verrückt!“

Mr. Beem stand stocksteif mitten auf dem Bürgersteig und wehrte sich mit aller Macht gegen diesen Gedanken. „Nein …“ erklärte er sich selbst. „Ich-drehe-nicht-durch …“

Er sah den Gehweg hinauf – und hinunter. Da war niemand, der seinem Statement widersprach. Eine Träne wegwischend, bewegte sich Mr. Beem erneut in Richtung Bahnhof.

*

Zwei Stunden später stand ein verzweifelter Mr. Beem, gekleidet in dröges Grau, nervös vor einer Tür im zwölften Stock eines Bürohauses im Zentrum der Stadt. Die Aufschrift auf der Milchglasscheibe lautete: „Dr. ­Clarence Q. Zale, Psychiater.“

Der unauffällige kleine Mann hüstelte nervös, straffte seine herabhängenden Schultern, atmete tief durch und trat ein.

Er fand sich in einer Art kleiner Rezeption wieder. Dahinter sah er eine weitere Milchglasscheibentür mit der schlichten Aufschrift: „Dr. Zale.“

Die zweite Milchglasscheibentür öffnete sich und ein großer, bärtiger, sehr eindrucksvoll aussehender Mann von etwa Fünfzig erschien, um Mr. Beem zu begutachten. Er glättete die Aufschläge seines Prinz-Albert-Anzugs mit professionellem Griff, warf seinem recht gewöhnlichen Besucher einen nachlässigen Blick zu und sprach:

„Ich bin Dr. Zale. Wollen Sie zu mir?“

„Ja“, flüsterte Mr. Beem. „Ich wollte zu Ihnen. Ich glaube nämlich, ich verliere den Verstand.“

„Tsss!“, machte Dr. Zale abwesend. „Wie bedauerlich. Aber kommen Sie doch rein.“

Es war vielleicht fünfzehn Minuten später, als Mr. Beem die aufregendste Geschichte seines Lebens beendet hatte: die turbulenten Ereignisse dieses Morgens.

Dr. Zale erhob sich aufgeregt von seinem Schreibtisch. „Das“, rief er aus, „ist ja unglaublich!“

Mr Beem blickte auf den Psychiater mit einer Art von hündischer Ergebenheit und Hoffnung.

„Wenn das alles wahr ist, was Sie da erzählt haben“, fuhr Dr. Zale fort, „dann sind Sie das interessanteste ­Exemplar der psychiatrischen Forschung, dem ich je begegnet bin! Sie, Mr. Leem, sind das perfekte Beispiel für die oft postulierte und nie gefundene Minus-­Persönlichkeit!“

Mr. Beem zuckte zusammen.

„Mi-nus …“

„Genau. Minus-Persönlichkeit. Sehen Sie, Mr. Weem, Charakter oder Persönlichkeit ist in Wahrheit nichts anderes als eine Art elektromagnetische Aura des Menschen. Nicht zufällig nennt der Volksmund das Aus-Strahlung. Je stärker diese elektrische Aura ist, desto größer die menschliche Ausstrahlung. Wir sprechen dann von einer starken Persönlichkeit.“

Der Psychologe machte eine Pause, um Mr. Beem Zeit zu geben, das verdauen.

Dann fuhr er fort:

„Ausgehend von dem, was Sie mir grade erzählt haben, Mr. Deem, hatten Sie schon immer eine ausgesprochen schwache Persönlichkeit. Ihre Umgebung fand es von jeher schwierig, sich an Sie zu erinnern. Grund ist die schwache Aura. In letzter Zeit ist Ihre positive Ausstrahlung schwächer und schwächer geworden.“

Die nächste Pause wählte Dr. Zale aus dramaturgischen Gründen.

„Heute, Mr. Ream, haben Sie nicht nur aufgehört, eine positive Aura auszustrahlen, sie haben Energie absorbiert. Anders gesagt, Sie strahlen nun ­negative ­Persönlichkeits-Signale aus. Sie sind eine Minus-­Persönlichkeit geworden.“

Der vor Entsetzen gelähmte Mr. Beem war sich der Bedeutung dieser Ansprache des Psychiaters nicht ganz klar, doch der Ton der Experten-Stimme war unheilsschwanger genug, um ihn tödlich erblassen zu lassen.

„Nein …“, krächzte der negative Mr. Beem.

„Doch!“, versicherte Dr. Zale. „Und das Ergebnis ist, dass die Welt beginnt, Sie völlig zu vergessen. Für die Menschen, die Sie bisher gekannt haben, sind Sie nie geboren worden! Sie machen einen konstanten negativen Eindruck von großer energetischer Wucht auf sie!“

Mr. Beem saß schlotternd auf seinem harten Stuhl, seine Hände in qualvoller Verzweiflung verschränkend und wieder auseinanderreißend. Seine wässrigen bleichen Augen sendeten ein stummes Flehen an den Spezialisten.

„Aber Sie werden natürlich nicht wirklich vergessen werden, Mr. Jeem“, beruhigte Dr. Zale. „Denn von diesem Moment an gehen Sie in die Geschichte ein. Sie sind das größte medizinische Phänomen aller Zeiten!“

Die Stimme des Doktors hatte eine exaltierte Schärfe bekommen. Seine Augen funkelten.

„Sie bleiben, wo Sie sind! Sie bewegen sich nicht von der Stelle! Ich gehe raus und rufe ein paar Kollegen aus dem Haus zusammen. Ich brauche ein paar weitere Meinungen, Mr. Queem.“

Er hastete zur Tür, stoppte, wendete sich noch einmal an Mr. Beems Stuhl. „Keinen Zentimeter bewegen Sie sich da weg!“ wies er ihn erneut an, seine schmale Schulter tätschelnd. „Auf keinen Fall verlassen Sie die Praxis! Ich bin sofort mit den Kollegen zurück!“

Mr. Beem verschmolz gehorchend mit seinem Stuhl.

Dr. Zale raste aus seinem Behandlungszimmer, stürmte den langen Korridor hinunter. Seine Schritte hallten für einige Meter gehetzt über den Marmorboden, dann zögerten sie, verlangsamten sich, stoppten.

Dann waren sie erneut zu hören. Sie kehrten gelassen zurück. Der Psychiater schlenderte gemächlich in sein Zimmer, steuerte den Garderobenständer an und nahm Hut und Mantel vom Haken. Er kleidete sich an, etwas Unverständliches murmelnd, schenkte Mr. Beem keinerlei Beachtung und verschwand erneut.

Verwirrt starrte Mr. Beem ihm nach, um dann noch weiter im Stuhl zu versinken, falls das überhaupt möglich war. Er wartete lange, nervös zappelnd. Eins-, zweimal erhob er sich und wanderte auf und ab, um sich bald wieder bescheiden auf seinem Stuhl niederzulassen.

Aber Dr. Zale kehrte nicht zurück.

Und dann realisierte Mr. Beem endlich die Wahrheit. Man hatte ihn wieder vergessen.

*

Mr. Beem verließ niedergeschmettert die Praxis, einen dicken Kloß in seinem dürren Hals mühsam herunterwürgend. Warum, überlegte er in einer Art qualvoller Sehnsucht, konnte er nicht einfach ein Amnesie-Opfer sein anstatt einer Minus-Persönlichkeit? Ein perfektes Amnesie-Opfer, genau, das wärs. Dann hätte er die Welt vergessen, nicht umgekehrt.

Doch als der kleine Mann auf die Straße trat, wusste er im Grunde seines Durchschnitts-Herzens, dass das kein echter Trost war.

Die Abendbrotzeit rückte heran, und wehmütig schaute Mr. Beem in die erleuchteten Fenster der Stadt, dachte schmerzlich an sein eigenes grüngedecktes Häuschen, und wie Martha in ihm ihr Essen kaute. Der Gedanke an seine Frau, die nicht länger wusste, dass sie verheiratet war, war mehr, als Mr. Beem ertragen konnte. So verdrängte er die Bilder, nur mit dem Ergebnis, dass noch bitterere Empfindungen in ihm hochkochten.

Da war der Fluss, zum Beispiel. Nur ein paar Häuserblocks entfernt. Es wäre ein kurzer Spaziergang. Das Brückengeländer war nicht hoch …

Mr. Beem schauderte. Nein, er war kein Feigling. Selbstmord, das war die letzte Ausflucht eines Versagers. Eines Menschen, der am Ende war.

„Ich bin kein Versager! Ich bin nicht am Ende!“, versicherte sich Mr. Beem leidenschaftlich. Doch im gleichen Augenblick durchflutete ihn die Erkenntnis seiner ganzen jämmerlichen, vergeblichen Existenz um so heftiger. Was sollte er tun? Wo sollte er hin?

Die Welt hatte keinen Platz für vergessene Menschen.

Mr. Beem vergrub seine Hände in seinen grauen Mantel­taschen und stapfte voran. Da war plötzlich etwas Entschiedenes, ja Kämpferisches in seiner Brust. Da war etwas, das er nicht richtig in Worte fassen konnte. Er wusste nur, dass er irgendwie, in irgendeiner Weise die Welt auf sich aufmerksam machen musste, damit sie ihn wieder wahrnahm. Und zwar nicht bloß als Mann, sondern als eine Berühmtheit, als eine grandiose Figur von Ewigkeitswert, bewundert von der Nachwelt.

Leben und Tod – beides war unwichtig angesichts dieser neuen Entschlossenheit, die plötzlich in der Brust des Mr. Minus-Beem brannte. Es zählte nicht länger, was aus dem physischen Mr. Beem wurde, solange er dem unsterblichen Lucius Beem zum Erfolg verhalf.