Fantastische Abenteuer 1 - Michaela Göhr - E-Book
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Fantastische Abenteuer 1 E-Book

Michaela Göhr

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Beschreibung

Timo findet sich eigentlich ganz normal. Und mal ehrlich - kann er was dazu, dass er zufällig blind ist? Eines Tages zieht im Nachbarhaus eine Familie mit einem Jungen in seinem Alter ein. Und der ist nun echt nicht normal! Alles, was Simon sich vorstellt, wird wirklich – egal, ob es sich um Schokotorte, Inline-Skates oder einen megastarken Riesen handelt. Schnell freunden sich die beiden ungleichen Jungen an und erleben aufregende Abenteuer zusammen. Eigentlich läuft alles perfekt - bis finstere Gestalten aus Simons Vergangenheit auftauchen und sowohl die Freunde als auch ihre Familien in große Gefahr bringen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Zur Autorin
Dank
Impressum
Voll Normal
Hüpfen will gelernt sein
Schulische Probleme
Ein gejagter Fernsehstar
Von Feen, Riesen und anderen Geheimnissen
Runter kommt man immer
Im Wasser
Auf Inlinern
Harmlose Tricks und böse Streiche
Ein fantastisches Band
Wilde Tiere
Ein gefährlicher Fund
Im Dunkeln
Heimliche Helden
Rettung aus höchster Not
Flugversuche
Der Mann auf dem Hof
Polizeischutz
Flucht in den Wald
Ein heißes Bad mit Folgen
Blindlings durch die Hecke
Kontakt zu Simon
Verbotene Gespräche
Flugbegleitung
Gefangen
Erwischt!
Eine gefährliche Mission
Fluchtgedanken
Was machst du da bloß?
Dummes Geschwätz
Abschied von Simon
Bereit für neue Abenteuer
Worterklärungen
Weitere Abenteuer

 

Michaela Göhr

 

Fantastische Abenteuer 1

 

Ein unglaubliches Band

 

 

Zur Autorin

 

Michaela Göhr wurde in eine lesebegeisterte Familie hineingeboren und wuchs umgeben von Büchern auf. Schon als Kind schrieb sie leidenschaftlich gern eigene Geschichten und lebte ständig in anderen Welten. Heute wohnt sie mit ihrer eigenen kleinen Familie direkt gegenüber von ihrem Elternhaus, arbeitet als Lehrerin, Hausfrau und Mutter, treibt gern Sport und hämmert nebenbei stundenlang wie wild auf der Tastatur ihres PCs herum, um die Geschichten aus ihrem Kopf zu befreien.

 

 

Dank

 

Ich danke Elisabeth Marienhagen, Christine Föllmer-Maier und allen anderen Menschen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Außerdem bedanke ich mich bei Kathrin Franke-Mois von Epic Moon – Coverdesign für die schöne Neugestaltung des Umschlags.

 

 

Alle Teile dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

 

 

 

Michaela Göhr

 

Fantastische

Abenteuer

 

Ein unglaubliches Band

Impressum

 

Text: © Michaela Göhr Birkenweg 24, 58553 Halver Mail: [email protected] FB: www.facebook.com/derfantast24/ Homepage: https://derfantast.jimdofree.com

 

Umschlag: ©Gestaltung von Coverdesing Epic Moonwww.facebook.com/EpicMoonCoverdesign/

https://epicmooncoverdesign.com

 

Bilder: ©Michaela Göhr, Pixabay

ISBN: 9783754626559

 

Erstausgabe 2021 independantly published

 

 

 

 

 

Für Nico

und alle Fantasten dieser Welt

 

 

Voll Normal

 

Ich heiße Timo, bin neun Jahre alt und gehe in die dritte Klasse. Eigentlich bin ich ganz normal – finde ich zumindest. Aber von Geburt an hat etwas mit meinen Augen nicht gestimmt. Ich bin so blind, wie man nur sein kann. Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst – nichts zu sehen, meine ich. Nicht einmal Lichtschein. Keine Menschen, keine Gegenstände, keine Farben – einfach nichts. Für mich ist das absolut normal, weil ich es überhaupt nicht anders kenne. Eher schon finde ich es schwierig, mir vorzustellen, wie Sehen funktioniert. Keiner hat mir das bisher richtig erklären können. Oder gelingt dir das? Wenn ja, dann darfst du mir gerne eine E-Mail schreiben, denn die kann ich mit meiner Braillezeile lesen. Apropos – du kennst so ein Teil wahrscheinlich noch nicht. Deshalb gibt es ganz am Ende der Geschichte eine kurze Erklärung dazu, ebenso zu einigen anderen Begriffen, die nicht alltäglich sind.

So, das soll erst mal reichen. Denn eigentlich möchte ich dir von den supercoolen Abenteuern erzählen, die ich mit meinem Freund Simon erlebt habe. Um dir unsere besondere Freundschaft richtig vorzustellen, fange ich am besten ganz am Anfang an, auch wenn ich dazu in Gedanken ein paar Jahre zurückgehen muss. Zum Glück fällt mir das nicht weiter schwer, weil mein Gedächtnis ziemlich gut ist.

 

Es war kurz vor meinem sechsten Geburtstag, als Simon eines Tages zu uns in die Kindergartengruppe kam und von unserer Erzieherin als ‚der Neue‘ vorgestellt wurde. Natürlich sagte sie auch seinen Namen, aber wer hört schon richtig hin, wenn er gerade mitten im Spiel ist? Ich jedenfalls nicht. Zum Glück hatten der Neue und ich eine große gemeinsame Leidenschaft – nämlich Lego. So kam es, dass er bereits nach kurzer Zeit in der Bauecke landete, wo ich selig vor mich hinarbeitete.

„Gibst du mir mal den roten Vierer da drüben?“, bat er mich irgendwann freundlich. Ich antwortete nicht. Normalerweise fragt mich so was niemand.

„Na dann eben nicht“, brummte er gleich darauf und holte sich den Stein selbst. Er sprach mich auch nicht mehr an. Keine Ahnung, ob er beleidigt war oder bloß total vertieft in sein Legospiel.

Kurze Zeit später war ich fertig mit meinem Werk und wollte es jemandem zeigen. Der fremde Junge war dafür so gut wie jeder andere. Ich rief ihm stolz zu: „Guck mal, was ich gebaut habe!“

Er meinte: „Schon ganz okay. Wie findest du meins?“

Ich wollte mir sein Bauwerk gern ansehen. Also tastete ich in seiner Richtung auf dem Boden herum. Anschauen bedeutet für mich nämlich Fühlen. Leider warf ich dabei aus Versehen den Turm aus Steinen um.

„Oh, Entschuldigung!“, rief ich sofort. Das hatte ich mir längst angewöhnt, weil mir so oft irgendwas Dummes passierte. Bei Erwachsenen half das normalerweise. Sie antworteten dann bloß: „Das macht doch nichts, du hast es ja nicht mit Absicht gemacht.“

Bei Kindern klappte das allerdings weniger, vor allem, wenn sie mich nicht kannten. Deshalb war ich auf Gebrüll, Jammern oder sogar Handgreiflichkeiten gefasst. Leicht panisch hatte ich schon den nötigen Hilferuf auf den Lippen, der meine Aufpasserin Alexa alarmieren würde. Um ein Haar wäre er mir rausgeflutscht. Doch der Neue reagierte ganz anders als gedacht.

„Du Tollpatsch!“, schrie er wütend. „Kannst du nicht aufpassen? Das hier sind echte Steine, die siehst du doch!“

„Hä?“ Vor Verblüffung über diese komischen Worte vergaß ich, dass ich nach Alexa schreien wollte.

„Jetzt tu nicht so blöd und hilf mir lieber, alles wieder einzusammeln!“

Es klang so streng, dass ich starr vor Schreck dasaß und anfing zu weinen.

„Aber das kann ich nicht!“, jammerte ich und meine Hände machten sich selbstständig. Ich wedelte damit irgendwo in der Luft herum.

Das passiert mir immer noch ab und zu, wenn ich aufgeregt oder nervös bin. Aber inzwischen habe ich es besser unter Kontrolle. Damals im Kindergarten habe ich es nicht mal richtig mitbekommen.

„Ach ja – und warum nicht?“, herrschte mein Gegenüber mich an. „Du hast es kaputtgemacht, also kannst du mir wenigstens helfen. Da liegen die Steine doch – oder bist du blind?“

„Äh …“

Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Trotzdem brauchte ich unheimlich viel Mut, zu sagen: „Ja, stimmt.“

„Ehrlich? Du kannst wirklich nichts sehen?“

„Ja.“

Irgendwie war dieses Geständnis schlimmer als zuzugeben, dass man in die Hose gemacht hat. Ich glaube, das wäre mir in dem Moment leichter gefallen. Der Junge vor mir schien jetzt total durcheinander und wusste nicht, was er sagen sollte.

„Oh“, machte er bloß und schwieg ziemlich lange.

Mich tröstete dieses Schweigen und ich wischte mir die Tränen ab. Er sagte nicht, dass es ihm leidtat, aber ich spürte irgendwie, dass es so war. Er wurde danach auch viel freundlicher und schob mir hin und wieder passende Steine zu. Damit hatte sich unser Streit schon erledigt.

Irgendwann bekam ich heraus, dass er Simon hieß, und sagte ihm auch meinen Namen. Von da an hing er an mir wie eine Klette. Das war spaßig, weil die anderen Kinder mir normalerweise lieber aus dem Weg gingen. Simon wollte alles von mir wissen. Er war neugierig, wie ich mein Brot aß, aufs Klo ging, die Schuhe anzog und so weiter. Ich fand es klasse, ihm die Sachen zu zeigen. So viel Interesse an mir zeigte sonst kaum jemand! Besonders beeindruckt schien er davon, wie gut ich mich überall auskannte. Das machte mich stolz und ich führte ihn im Kindergarten herum. Damit verging der Vormittag so schnell wie selten zuvor. Kurz bevor er endgültig rum war, fragte mich mein neuer ständiger Begleiter: „Möchtest du vielleicht zum Spielen zu mir kommen?“

Ich war erst mal völlig geplättet und stotterte: „Ja, äh – klar! Wenn du willst … gerne! Wann denn?“

„Na, am besten gleich heute Nachmittag. Ich möchte dir was zeigen.“

„Oh, das ist toll!“

Ich war überwältigt und strahlte vor Glück. Dann fiel mir ein, dass ich meine Mama fragen musste. Ich brauchte sie schließlich als Fahrdienst. Sie würde bestimmt ja sagen, weil sie sich immer sehr freute, wenn ich einen Spielkameraden fand. Das kam nicht oft vor – eigentlich fast nie. Die meisten Spiele, die bei den Kindern in meinem Alter total angesagt waren, fand ich blöd.

Du kannst dir sicher vorstellen, dass solche Sachen wie Fußball oder Fangenspielen nicht gerade der Hit sind, wenn man nichts sieht.

Aber Simon war irgendwie anders. Ich konnte nicht mal genau sagen, was so anders an ihm war, und doch fühlte ich mich magisch zu ihm hingezogen. Komischerweise schien es ihm umgekehrt ja genauso zu gehen. Als ich Mama meinen frisch gebackenen Freund vorstellte, rief sie erfreut: „Ach, das ist der Junge von unseren neuen Nachbarn! Schön, dich kennenzulernen.“

Gleich darauf kam Simons Mutter und die beiden verstanden sich auf Anhieb prächtig. Puh, was für ein Glück, dass Erwachsene so leicht Freundschaften schließen! Das erleichterte es ungemein, unser Treffen für später klarzumachen. Jetzt, da wir beide wussten, wie nah wir beieinander wohnten, freuten wir uns doppelt. Mama war total begeistert – so sehr, dass es schon peinlich wurde. Ich war bloß heilfroh, dass sie an diesem Nachmittag keine ‚wichtigen Termine‘ für mich hatte.

Wenig später stand ich nervös vor der Haustür unserer Nachbarn. Mama zeigte mir, wo ich klingeln musste. Die Tür wurde sofort aufgerissen, so als ob Simon dahinter gelauert hätte, und mein neuer Freund rief: „Hi, Timo! Toll, dass du schon da bist. Komm rein, ich zeig dir alles.“

Sofort packte er meine Hand und zog mich mit sich. Es gelang mir gerade noch, meiner Mutter ein hastiges „Tschüss“ zuzurufen, bevor die Tür hinter uns ins Schloss fiel. Simon führte mich durch den Flur und redete dabei munter drauflos.

„Ich zeig dir erst mal mein Zimmer, das ist das Wichtigste. Die anderen Räume können wir später besichtigen. Mama ist gerade im Keller, die kennst du ja. Papa ist noch arbeiten, er kommt aber bald. Vorsicht, hier steht etwas!“

Schon ging es eine Treppe hoch. Zumindest zog Simon an meiner Hand und ich stieß mir erst einmal den großen Zeh an der untersten Stufe, bevor ich sie halbwegs hochstolperte.

„Autsch!“, fluchte ich leise. „Wo ist denn hier das Geländer? Treppen kann ich besser alleine gehen.“

Geländer zeigen einem bei Treppen immer, wo es langgeht und ob noch Stufen kommen oder nicht.

„Oh, das wusste ich nicht“, murmelte Simon, führte meine Hand zu der seitlich angebrachten Stange und stiefelte vor mir lautstark hoch. Diese Treppe war lang und steil, genau wie bei uns zu Hause. Sofort danach bog mein Freund rechts ab und ich folgte seinen Geräuschen.

„He, du brauchst ja gar keine Hand!“, rief er erstaunt.

„Nö, wenn du so einen Krach machst, finde ich dich auch so“, erwiderte ich grinsend.

„Super, schließt du dann die Tür hinter dir?“, kam es aus dem Raum vor mir.

Ich tat es und tastete mich vorsichtig weiter.

Wenn ich ins Zimmer meiner großen Schwester kam, lagen überall Klamotten verteilt, ihre Schultasche stand mitten im Weg und ich stolperte mindestens über den Mülleimer oder stieß mir das Schienbein an ihrem Schreibtischstuhl, der nicht dort war, wo er sein sollte. Die Hände in Schutzhaltung ausgestreckt bewegte ich mich langsam auf meinen Freund zu. Ich hörte sein leises Atemgeräusch und ein unterdrücktes Kichern. „Komm einfach, da ist nichts vor dir. Ich hab gerade aufgeräumt. Schließlich wusste ich, dass du mich besuchst.“

Ich atmete erleichtert auf und machte mutig zwei schnellere Schritte, bis ich vor Simons Bett stand, auf dem er hockte.

„Setz dich“, meinte er und klopfte einladend neben sich. Noch bevor ich richtig saß, beugte er sich nah zu mir und flüsterte mir zu: „Ich erzähle dir jetzt ein Geheimnis. Aber du darfst es niemandem verraten, hörst du?“

Ich schwor es feierlich und spürte, wie aufgeregt mein Sitznachbar plötzlich war. Es musste ein sehr, sehr wichtiges Geheimnis sein!

„Wenn ich mir etwas vorstelle, dann ist es wirklich da“, sagte er leise.

„Hä?“ Ich glaubte, mich verhört zu haben.

„Wenn ich mir …“, begann er erneut, doch ich winkte ab. „Ich hab dich schon gehört, aber was meinst du damit? Soll das heißen, wenn du dir eine Tüte Gummibärchen vorstellst, dann gibt es sie plötzlich? Das geht doch gar nicht!“

„Klar geht das! Sag mir einfach, was du dir wünschst. Am besten etwas, das ich bestimmt nicht in meinem Zimmer habe. Also?“

„Hmm“, machte ich nachdenklich. Woher sollte ich wissen, was Simon alles in seinem Zimmer aufbewahrte?

„Gib mir einen Kaugummi mit Colageschmack“, verlangte ich.

Schon drückte Simon mir eine kleine Kugel in die Hand. Ich roch daran – Cola. Fühlte sich wie Kaugummi an. Also probierte ich vorsichtig. Okay, es war ein Cola-Kaugummi und ich kaute ein Weilchen darauf herum.

„Und?“, fragte mein Freund. „Schmeckt’s?“

„Klar. Aber das ist doch ein echter Kaugummi. Den hattest du wahrscheinlich noch neben dem Bett liegen. Kann ich ja nicht wissen.“

„Ich sagte ja, dass du dir etwas wünschen sollst, was ich nicht neben dem Bett liegen haben kann! Obwohl ich den Kaugummi, den du da hast, auch ausgedacht habe. Ich beweise es dir.“

Plötzlich war das Teil aus meinem Mund verschwunden. Mist! Wo war es hin? Ausgespuckt hatte ich es nicht. Vielleicht verschluckt?

„Wo ist mein Kaugummi hin?“, fragte ich verblüfft.

„Weg. Weil ich ihn aufgelöst habe. Alles, was ich ausgedacht habe, kann genauso schnell wieder verschwinden. Entweder ich vergesse es oder ich denke es weg. Kapiert?“

Nein, nicht wirklich. Wie sollte ich das auch verstehen? Ich dachte, er nimmt mich bloß auf den Arm. Irgendwie hatte ich den Kaugummi wahrscheinlich doch aus Versehen verschluckt. Aber dann fiel mir etwas ein, das er garantiert nicht so schnell herbeischaffen konnte. Ha!

„Ich hätte gern eine Kugel Schokoeis im Hörnchen. So eins wie von der Eisdiele.“

Überrascht hielt ich zwei Sekunden später eine Eiswaffel in der Hand. Wie ging das jetzt? Vorsichtig fühlte ich daran, roch, schleckte – Schokoeis von der leckersten Sorte!

„Hmm, lecker! Aber wie hast du das gemacht? Kannst du … Kannst du wirklich zaubern?“

„Eigentlich nicht. Ich stelle mir die Sachen bloß vor. Und ich muss auch ganz fest dran glauben, dass sie da sind. Wenn nicht … Tja, dann sind sie halt wieder weg.“

Schwupps war mein Eis verschwunden!

„He!“, rief ich protestierend und suchte überall um mich herum. „Warum hast du es mir wieder weggenommen?“

Ich tastete in seine Richtung und erwartete, dass er mein Eis in der Hand hielt. Aber er hatte gar nichts in den Händen, die er mir zum Beweis entgegenstreckte. Dabei lachte er und meinte: „Ich sag doch, dass ich die Sachen auch wieder wegdenken kann. Das geht ganz fix.“

„Ach bitte, das Eis war so lecker! Hast du nicht noch eins für mich?“, bettelte ich.

„Na gut. Aber du kannst auch was anderes haben.“

Er drückte mir eine zweite Eiswaffel in die Hand, an der ich begeistert schleckte. Toll! Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass etwas an dem Eis merkwürdig war. Ich fühlte, hielt die Waffel zur Sicherheit an meine Wange und bemerkte staunend: „Das Eis ist gar nicht richtig kalt! Komisch. Warum schmilzt es nicht, wenn es so warm ist?“

„Ups, das hat mir noch nie einer gesagt. Aber stimmt. Hmm, lass mal überlegen …“

Schon war mein schönes Eis wieder verschwunden und Simon gab mir ein neues. Diesmal war es viel kälter, aber noch immer nicht ganz so, wie ich es gewöhnt war. Leider machte ich den Fehler, den Künstler auf diese Dinge hinzuweisen, sodass ich ständig ein neues Eis bekam. Simon wollte wohl, dass seine selbstgemachte Köstlichkeit ganz genauso war wie die von der Eisdiele. Schließlich reichte es mir und ich aß das kalte Zeugs so schnell wie möglich auf, bevor er es sich anders überlegte. Uff, geschafft!

Mit dieser Aktion hatte er mich völlig überzeugt. Niemand konnte so viel Schokoeis in seinem Kinderzimmer haben – schon gar kein warmes.

Ich war komplett begeistert. „Das ist ja total super! Was kannst du noch alles erfinden? Auch Spielsachen?“

„Klar. Wollen wir mit Lego spielen oder mit Autos?“

„Beides!“

Wir vertieften uns in die aufregende Spielwelt. Simon gab mir jede Menge verschiedener Sachen. Legosteine, Bauklötze, Steckteile, Stofftiere und Autos. Wir bauten eine richtige Carrerabahn auf und ließen die Rennwagen darauf fahren. Sie taten es von ganz allein, wenn mein Freund es wollte.

Irgendwann öffnete Simons Mutter die Zimmertür. Meiner Meinung nach hatten wir das Bett voller Süßigkeiten. Überall auf dem Boden lagen Stofftiere und Spielsachen herum, ganz zu schweigen von der Bahn, die bestimmt den gesamten Raum einnahm. Aber sie sagte nichts dazu. Stattdessen fragte sie mich freundlich: „Möchtest du ein Stück Kuchen haben?“

Ich war so pappsatt nach all dem Zuckerzeug, dass ich nein sagte.

Da lachte sie und meinte: „Okay. Unser kleiner Zauberer hat dich sicherlich schon ausreichend mit Gummibärchen und Keksen vollgestopft. Ich komm in einer halben Stunde noch mal, dann hast du bestimmt wieder Hunger.“

Ich konnte es mir zwar nicht so recht vorstellen, aber bei ihrem nächsten Besuch hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein ordentliches Stück Kuchen vertragen zu können.

„Sobald du mein eigenes Zeug verdrückt hast, löst es sich auf“, erklärte mir Simon beim Kuchenessen im Wohnzimmer. Erstaunt bemerkte ich, dass seine Eltern es scheinbar völlig normal fanden, dass ihr Sohn so etwas tat.

„Trotzdem solltet ihr zwei nicht so viel naschen“, ermahnte seine Mama uns. „Vor allem Simon nicht. Sein eigenes Essen macht ihn nämlich wesentlich länger satt als andere Leute und er mag dann nichts Gesundes mehr.“

Hüpfen will gelernt sein

 

Dass Simon so nah bei uns wohnte, war wirklich ein Glücksfall. So konnten wir nicht nur vormittags im Kindergarten gemeinsam spielen, sondern auch nachmittags. Wenn es das Wetter zuließ, wollte mein Freund fast immer rausgehen. Erst fand ich das blöd, weil die Welt draußen für mich groß, unbekannt und beängstigend war. Außerdem wusste ich für dort kaum Spiele, die ich interessant fand und kannte mich nur an wenigen Orten richtig gut aus. So spielten wir zunächst meistens in unserem Garten und auf dem nahen Spielplatz.

Zum sechsten Geburtstag bekam ich ein Trampolin geschenkt und zeigte es einen Tag später stolz her, nachdem ich heimlich schon mal darauf geübt hatte. Simon lachte, stieg schnell wie der Wind hinauf und hüpfte, dass die Federn knarrten.

„Was machst du?“, fragte ich vom Rasen aus und traute mich nicht, zu ihm aufs Trampolin zu klettern. Es hörte sich ziemlich wild an, was er da tat!

„Ach, nichts Besonderes“, gab er zurück und juchzte vergnügt. Das klang ganz schön weit oben!

„Du machst ja richtige Kunststücke, Simon!“, rief mein Vater vom Fenster aus. „Lass das besser, sonst verletzt du dich noch!“

Seufzend stoppte der Kunstspringer und fragte: „Willst du nicht auch raufkommen?“

„Okay, aber spring nicht so wild. Ich übe noch.“

Wir hüpften zusammen und hatten jede Menge Spaß. Als er mir zeigen wollte, wie man einen Salto macht, kam Papa angerannt und verbot es uns. Ich war nicht mal unglücklich darüber, auch wenn ich erst viel später verstand, was ‚Salto‘ eigentlich bedeutete. Mein neuer Freund hielt sich an das Verbot, raunte mir jedoch zu: „Wir machen es bei uns, wo deine Eltern nicht zugucken können. Dann haben wir auch viel mehr Platz auf meinem eigenen Trampolin.“

Bereits am nächsten Tag fragte Simon meine Eltern sehr höflich: „Darf Timo mit mir in unseren Garten gehen? Ich möchte ihm da ein paar Dinge zeigen.“

Meine Mutter war sofort einverstanden, mein Vater zögerte erst und meinte, er wolle lieber zunächst mitkommen und sich ansehen, welche ‚gefährlichen Spielgeräte‘ mittlerweile Einzug aufs Nachbargrundstück gehalten hatten. Von unserem Haus aus konnte er nämlich nicht alles sehen.

„Aber klar doch“, erklärte mein Freund völlig cool. „Sooo viel Besonderes gibt es nicht zu bestaunen.“

In Wirklichkeit gab es nur Wiese und ein kleines Beet mit verschiedenen Gemüsesorten, die Simons Mutter dort zog. Mein Kumpel gab vor, mir genau dieses interessante Fleckchen Erde zeigen zu wollen, und ich befühlte brav die Tomatenpflanzen. Mein Vater stapfte beruhigt von dannen. Sobald wir unter uns waren, zog Simon mich fort vom Beet und schleppte mich an der Hand ungeduldig zur Wiese.

„Was macht ihr?“, hörte ich seine Mutter rufen.

„Ich zeige Timo, wie man Trampolin springt“, rief mein Begleiter zurück.

„Ist gut, aber übertreibt’s nicht!“, mahnte sie. Besorgt klang sie nicht. Dafür wuchs meine Sorge, als mein Freund mich an den Rand eines Trampolins stellte und ermunterte: „Klettere rauf!“

Wenigstens gab es eine Trittstufe, damit schaffte ich es. Simons Spielgerät war höher als mein eigenes und der Rand kam mir schmaler vor. Außerdem gab es kein Netz außen rum.

„Wie soll ich denn wissen, wo es zu Ende ist?“, fragte ich zweifelnd. Simon lachte und sprang schon auf das Tuch, das gar nicht knarzte wie bei mir. Ich merkte nur an der Bewegung neben mir, dass er auf und ab hüpfte.

„Ich sag’s dir schon, keine Bange! Außerdem haben wir immer so viel Platz, wie wir brauchen. Also komm, stell dich hin und zeig mir mal, was du drauf hast!“

Da ich nicht wie ein Idiot dastehen wollte, biss ich die Zähne zusammen und kam seiner Aufforderung nach. Mann, war das wackelig! Es gelang mir kaum, stehenzubleiben, wie sollte ich da springen? Nirgendwo gab es etwas zum Festhalten, der Boden schwankte wie bei einem Erdbeben der Stärke zehn und ich wusste nicht, wie weit ich überhaupt in jede Richtung gehen konnte, ohne vom Trampolin zu fallen. Nee, so wurde das nichts!

„Hör bitte auf zu hüpfen“, bat ich. „Sonst kann ich das echt nicht!“

Prompt spürte ich, wie das Tuch still wurde. Nicht langsam, sondern mit einem Schlag.

„So besser?“, erklang Simons Stimme etwas weiter weg von mir. Komisch, ich merkte gar nicht mehr, dass er auf dem Tuch stand!

„Äh, ja, viel besser. Aber wo bist du jetzt? Stehst du auf dem Rand?“

„Nö, ich bin auf einer kleinen Plattform. Dann kannst du erst mal in Ruhe springen und es wackelt nicht so.“

„Aha …“

Mehr wusste ich nicht zu sagen. Das mit der Plattform verstand ich nicht. Aber es war mir auch ziemlich egal, weil ich mich nun darauf konzentrierte zu hüpfen.

Ganz langsam und zaghaft fing ich an. Simons Tuch stieß mich sofort kräftig nach oben, auch wenn ich das gar nicht wollte. Mann, ging das Teil ab! Nach zwei, drei Hüpfern verlor ich die Kontrolle über meine Gliedmaßen, ruderte wie wild mit den Armen und stand schräg in der Luft. Mit einem komischen Quietscher kam ich total schief auf, hüpfte mächtig zur Seite und prallte auf den Hintern. Auch aus dieser Position wurde ich wieder hochgeschleudert, landete auf dem Rücken wie eine Schildkröte und tupfte ein paarmal auf, bis das Tuch sich beruhigt hatte. Simon lachte sich scheckig.

„Urkomische Nummer! Mach das noch mal!“

„Lach nicht!“, protestierte ich, musste aber trotzdem mitlachen. Das Gekicher wirkte total ansteckend. Gleich darauf spürte ich, wie mein Freund mit großen Sprungschritten zu mir kam. Das Trampolin war wirklich riesig!

„Das sah beim letzten Mal aber besser aus“, witzelte Simon, während er mir aufhalf und wir beide auf dem schwankenden Boden standen. Mit ihm an der Hand ging es schon wesentlich leichter.

„Kein Wunder!“, grummelte ich. „Dein Trampolin ist so groß und ich hab überhaupt keinen Halt.“

„Ach so, sag das doch gleich! Komm, dann springen wir gemeinsam.“

Er nahm meine beiden Hände, ich spürte, wie er ganz vorsichtig ins Tuch sprang. Das machte mir Mut – so hatte er es gestern auch versucht. Wir waren immer höher gehüpft, bis Papa aufgetaucht war.

„Ja, so ist es gut!“, rief er und spornte mich damit an. Ich lachte und hatte plötzlich gar keine Angst mehr. Simons Hände fühlten sich stark und sicher an wie die meines Vaters, obwohl mein Freund nicht viel größer und kräftiger sein konnte als ich. Dennoch kam ich mir bei ihm so vor, als könnte mir nichts auf der Welt etwas anhaben. Jeder Sprung katapultierte uns ein Stück höher hinaus und bald schon dauerte es wirklich lange, bis wir wieder unten ankamen. Immer landeten wir genau gleichzeitig, sodass ich nicht ein einziges Mal das Gefühl hatte, schief aufzukommen oder während des Fluges das Gleichgewicht zu verlieren.

„Das ist voll krass!“, schrie ich in den Wind, der an meinen Haaren zerrte, mich jedoch nicht aus der Bahn werfen konnte.

„Nicht wahr!“, brüllte Simon zurück und jauchzte.

„Wie hoch sind wir?“, fragte ich atemlos, als wir den höchsten Punkt des Sprungs erreicht hatten.

„Keine Ahnung, jedenfalls höher als unser Haus.“

„Aaaah! Du bist verrückt!“, kreischte ich.

Wir hatten wirklich ausgesprochenes Glück, dass meine Eltern in dem Moment die Nachrichten guckten und nicht aus dem Fenster. Zumindest vom oberen Stockwerk aus hätten sie uns sonst regelmäßig über dem Dachfirst des Nachbarhauses auftauchen sehen. Wir rauschten senkrecht wie in einem Fahrstuhlschacht auf und ab.

„Jetzt reicht’s aber!“

Die männliche Stimme riss mich unsanft aus dem wundervollen Fluggefühl. Oha, das roch nach Ärger!

„Och, Menno!“, rief mein Sprungpartner enttäuscht. „Es läuft doch grade so gut, Papa!“

„Trotzdem ist es genug. Willst du die ganze Nachbarschaft anlocken?“

Simons Vater klang zugleich streng und irgendwie amüsiert, als müsste er sich das Lachen verkneifen.

Seufzend bremste mein Partner uns ab, sodass wir sehr rasch an Höhe verloren und nach wenigen Hüpfern wieder zum Stehen kamen. Irgendwie war das Trampolin plötzlich überhaupt nicht mehr wackelig und erschien mir so fest wie der Boden. Bei genauerer Betrachtung war es der Boden. Verwundert bückte ich mich und strich über das Gras. Wie hatte er das jetzt wieder gemacht? Die Frage nach diesem Wunder verkniff ich mir. Zumindest ersparte es mir den mühsamen Abstieg und dafür war ich meinem Freund echt dankbar.

„Tut mir leid“, murmelte Simon neben mir. „So ist es immer. Kaum hat man ein bisschen Spaß, heißt es wieder: ‚Lass das, sonst gucken die Leute.‘ Echt blöd. Wir brauchen einen Ort, an dem wirklich niemand zusehen kann.“

„Quatsch!“, rief ich begeistert aus. „Das war mega! So was hab ich noch nie gemacht – einfach supersupertoll! Das hier reicht mir echt völlig. Wir müssen ja nicht ganz so hoch springen.“

Mein Herz raste vor Aufregung. Das Erlebnis eben hatte mich so sehr in den Bann geschlagen, dass ich noch immer den Wind auf meinem Gesicht und die Geschwindigkeit spürte.

„So, meinst du? Das war eigentlich gar nichts.“

Mein Freund klang mürrisch. Als er meine Hand fasste, meinte ich einen winzigen Moment lang, eine Mischung aus Wut und Traurigkeit zu spüren. Aber es war gleich wieder vorbei.

„Machen sich deine Eltern gar keine Sorgen, wenn du solche Kunststücke veranstaltest?“, fragte ich auf dem Weg zum Haus. Schaudernd überlegte ich, was mein Papa dazu gesagt hätte. Daran wagte ich gar nicht zu denken.

Simon lachte. „Iwo. Die wissen genau, dass mir dabei nichts passiert und dir genauso wenig. Ich pass schließlich auf. Ist alles völlig ungefährlich. Es ist bloß nicht so einfach, das den Leuten zu erklären. Deshalb wollen die Großen nicht, dass ich mir was Auffälliges ausdenke.“

Schulische Probleme

 

Unser letztes Kindergartenjahr verging mit verrückten Einfällen und fantastischen Ideen wie im Flug. Bald wurde es Zeit, sich auf den ‚Ernst des Lebens‘ vorzubereiten – die Schule. Eigentlich hatten wir damit kein Problem, im Gegenteil! Wir waren schon mächtig gespannt auf diesen Ort. Aber vor allem freuten wir uns darauf, zusammen dorthin zu gehen. Und genau da lag der Haken. Kinder, die irgendwie nicht in die ‚normale‘ Schule passten, wurden nämlich meistens auf eine besondere Schule geschickt, die extra dafür eingerichtet war. In meinem Fall war das eine für Schüler, die nicht gut gucken konnten, eine ‚Förderschule Sehen‘.

Im Grunde war die Idee ja gar nicht übel. Dort gab es alle Hilfsmittel, die ich zum Lernen brauchen würde, und die Lehrer kannten sich perfekt mit blinden Kindern aus. Allerdings lag dieser Ort weit weg von unserem Zuhause, sodass ich jeden Tag lange Stunden im Taxi verbracht hätte. Aber am allerschlimmsten war, dass Simon nicht mit mir zusammen dorthin durfte. Also wollte ich es absolut nicht. Meine Eltern fanden die Idee auch blöd, weil sie meinten, ich könnte genauso gut auf die örtliche Grundschule gehen. Frau Schulte von der Förderschule dachte das ebenfalls. Ich kannte sie schon lange. Sie kam mich immer wieder besuchen, um mit mir Sachen zu üben, zu spielen und mir Dinge beizubringen. Allerdings nicht besonders häufig, weil sie meinte, ich bräuchte sie nicht so dringend wie die anderen Kinder, zu denen sie auch hinfahren musste.

Voller Hoffnung machte meine Mutter sich mit mir deshalb eines Morgens auf den Weg zu der Grundschule, die zu Fuß in fünf Minuten erreichbar war. Genau wie Simon hatten wir eine Einladung zum Einschulungsgespräch erhalten, unser Termin war bloß einen Tag später. Die Direktorin empfing uns sehr freundlich. Sie fragte mich nach meinem Namen und ob ich mich schon auf die Schule freuen würde. Natürlich sagte ich ja, und dass ich mich besonders darüber freuen würde, auf diese Schule zu gehen, zusammen mit meinem besten und einzigen Freund Simon.

Sie lachte. „Das sollte ja kein Problem sein, wenn es der Simon ist, der mich gestern besucht hat.“

Dann meinte sie: „Ich würde dir gern ein paar kleine Aufgaben stellen, um herauszufinden, was du schon alles kannst. Schau mal hier …“

Meine Mutter wollte etwas dazu sagen, aber die Direktorin würgte sie ab. „Es wäre nett, wenn Sie so lange draußen warten würden. Timo schafft das sicherlich ganz allein.“

Also verließ Mama wortlos den Raum. Typisch. Wie sollte ich jetzt wissen, was diese Frau von mir wollte?

Vorsichtig fragte ich: „Kann meine Ma nicht vielleicht dableiben? Ich weiß nämlich leider nicht, was ich machen soll.“

„Schau dir doch einfach mal das Bild an“, sagte die Frau vor mir freundlich. „Oben ist Platz für deinen Namen. Kannst du den schon schreiben?“

„Ja, aber nur in Punktschrift. Hast du hier eine Punktschriftmaschine? Dann zeige ich es dir.“

Die Direktorin lachte.

„Du bist lustig! Hier, du kannst diesen Stift nehmen.“

Ich streckte meine Hand aus. Wie gehofft wurde das lange dünne Holzstück hineingeschoben. Puh, Glück gehabt! Mit der anderen Hand tastete ich vor mir nach dem Papier. Gut, dass Frau Schulte mit mir schon mal Malen geübt hatte! Allerdings auf einer speziellen Zeichentafel mit einer Folie drauf, bei der man fühlen konnte, was man malte. Zumindest beherrschte ich ein paar Striche und wusste, wie man den Stift dabei halten sollte. Bei der Folie musste man feste aufdrücken, damit man den Strich anschließend gut fühlen konnte, deshalb tat ich es auch auf dem Papier. Leider war es ziemlich dünn und bekam ein kleines Loch bei meinem ersten Versuch. Beim zweiten Strich brach der Bleistift ab.

„Ups“, sagte ich verstört, „das wollte ich nicht!“

„Na ja, das macht nichts“, hörte ich die Stimme, die nicht mehr ganz so freundlich klang. „Hast du denn eine Idee, was du mit diesem Bild anfangen kannst?“

„Äh, ja.“ Ich nahm das Blatt vorsichtig und faltete daraus einen Hut. Stolz zeigte ich ihn her. „Siehst du, das habe ich mit Frau Schulte geübt. Klappt gut, oder?“

„Das hast du ganz prima gemacht, Timo“, stieß die Schulleiterin etwas gepresst hervor. Dann bat sie meine Mutter herein.

„Du wartest bitte draußen“, erklärte sie mir und schob mich ein Stück vor sich her. Hinter mir wurde die Tür wieder geschlossen. Natürlich spitzte ich die Ohren und bekam so fast alles mit, was im Raum gesprochen wurde.

„Hat Ihr Sohn ein Handicap, von dem Sie mir nichts gesagt haben?“, fragte die Direktorin. Es klang zugleich vorwurfsvoll und besorgt.

„Ich wollte es Ihnen sagen, aber Sie haben mich nicht zu Wort kommen lassen“, verteidigte meine Mutter sich. „Timo ist von Geburt an vollblind. Wir würden ihn trotzdem gern an Ihrer Schule anmelden, weil er sehr clever ist und Frau Schulte von der Förderschule meint, er könnte durchaus integrativ beschult werden.“

„Der Junge ist blind?“ Die Schulleiterin hörte sich völlig geschockt an.

„Aber ja. Haben Sie das nicht selbst bemerkt?“

„Nein, es erklärt allerdings vieles. Vor allem das mit der Punktschrift. Er ist sicherlich sehr klug, trotzdem können wir ihn unmöglich aufnehmen. Er gehört auf die Förderschule mit fachlich ausgebildeten Lehrern. An unserer Schule haben wir gar nicht die Möglichkeit, Ihren Sohn anständig zu fördern. Er braucht speziellen Unterricht, die richtigen Hilfsmittel und jede Menge Hilfestellung. All das können wir ihm hier nicht geben. Es tut mir furchtbar leid …“

Mir tat es auch furchtbar leid. Und meiner Mutter erst recht. Sie versuchte es mit Frau Schulte und gab wieder, was sie zu uns gesagt hatte, aber nichts half. Also gingen wir, ich mit dem Gefühl, dass eine Welt für mich zusammenbrach.

„Hä? Fördern? Was soll das denn heißen? Dich braucht man überhaupt nicht zu fördern“, sagte mein Freund ärgerlich, als ich ihm anschließend von der Pleite erzählte. „Die müssen höchstens gefördert werden!“

Ich war froh, dass er es so sah. Es gab mir das Gefühl, nicht allein mit meinem Kummer zu sein. Meine Eltern standen ebenfalls voll hinter mir und wollten sich keinesfalls damit abfinden, dass diese dämliche Schule mich einfach ablehnte. Als Erstes riefen sie bei Frau Schulte an und dann beim Schulamt. Aber so richtig viel Erfolg hatten sie nicht. Mein Vater hörte sich wirklich traurig an, als er uns das Ergebnis mitteilte: Die Grundschule sollte entscheiden. Das schien hoffnungslos, weil die Direktorin so sehr dagegen war. Aber Simon wäre nicht Simon, wenn er dadurch den Mut verloren hätte.

„Wir müssen diese dumme Frau mal besuchen“, sagte er, als wir allein waren und ich ziemlich verzweifelt auf meinem Bett hockte und heulte.

„Aber sie war so gemein zu uns! Eigentlich möchte ich die doofe Kuh nie wieder sehen …“

Simon lachte.

„Ich verspreche dir, dass du sie nicht siehst.“

„Ah, du weißt genau, wie ich das meine!“

Aber ich war schon wieder ein wenig getröstet, weil mein Freund sich so für mich einsetzte. Ihm traute ich ziemlich viel zu.

Wir beschlossen, die Direktorin mit einem Besuch zu überraschen, um sie davon zu überzeugen, dass ich ein absoluter Musterschüler war, an dem die Lehrer ihre Freude hätten. Also überlegten wir, was ich dieser Frau zeigen konnte, um sie zu beeindrucken.

Nach einem kurzen Kindergartentag marschierten wir schließlich mit einem Punktschriftbuch im Gepäck los. Unseren Eltern hatten wir gesagt, dass wir auf den Spielplatz nebenan gehen wollten, um dort ein Picknick zu machen. Deshalb hatten wir auch noch Kekse, Saft und eine kleine Decke im Rucksack. Es war kurz nach dem Mittagessen und wir hofften einfach, dass die Schulleiterin in ihrem Büro sein würde.

Schüchtern betraten wir das Schulgebäude, aus dem gerade die letzten Kinder trödelten. Simon wusste zum Glück, wo sich das Direktorzimmer befand, weil ich es mir bei meinem vorangegangenen Besuch nicht gemerkt hatte. Aber als er an die Tür klopfte, tat sich nichts, sie war abgeschlossen.

„So ein Mist“, brummte ich enttäuscht. „Komm, wir gehen wieder, es hat keinen Zweck.“

„Ach, lass uns noch einen Augenblick bleiben“, bat Simon. „Vielleicht kommt sie ja gleich? Ich weiß jetzt, wie man Türen aufschließt. Wir könnten drinnen auf sie warten, dann ist sie bestimmt total überrascht und kann uns nicht so schnell rauswerfen.“

Ich zögerte. Es erschien mir keine gute Idee zu sein, einfach in den fremden Raum reinzugehen.

„Ist das nicht so wie Einbrechen?“, fragte ich.

„Iwo“, winkte mein Freund ab. „Wir haben doch einen Schlüssel. Einbrecher machen die Tür kaputt. Außerdem wollen wir ja nichts klauen, nur drinnen warten.“

„Okay …“

Ganz wohl war mir bei der Sache noch immer nicht. Ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, dass wir dabei waren, etwas Verbotenes zu tun. Aber Simons Worte klangen logisch und beruhigten mein schlechtes Gewissen ein wenig. Ich hörte ein leises Klicken und dann das Öffnen der Bürotür.

„Wow, wie hast du das gemacht?“, flüsterte ich aufgeregt, indem ich meinem Freund rasch in den Raum folgte und wir die Tür hinter uns zuzogen.

„Ich habe mir einfach einen Schlüssel vorgestellt, der genau in dieses Schloss passt und ihn rumgedreht. Natürlich in die richtige Richtung.“

„Und woher weißt du, wie er dafür sein muss? Es gibt doch bestimmt verschiedene.“

Simon lachte. „Na klar, sogar sehr viele! Sonst könnte man ja mit jedem Schlüssel jede Tür aufschließen. Aber meiner passt fast überall rein, weil der Teil vorne weich ist und sich beim Reinstecken verformt. Guck hier!“

Er drückte mir einen kleinen Gegenstand in die Hand, den ich aufmerksam befühlte. Das Ding bestand nicht aus Metall, sondern aus einer Art Knetmasse oder so. Ich konnte den dünnen Teil davon ganz leicht verbiegen.

„Und wie kannst du ihn drehen?“, fragte ich fasziniert. „Der hält ja nichts aus.“

Solche technischen Sachen interessierten mich damals schon ungemein. Natürlich wusste ich längst, wie man einen Schlüssel bediente, und wollte Simons erfundenen unbedingt ausprobieren. Er führte meine Hand zum Türschloss des Büros und zeigte mir die Öffnung.

„Hier. Du kannst es ja mal versuchen.“

Das war der Plan! Zufrieden schob ich das Gerät vorsichtig in das enge Loch und war überrascht, wie einfach es ging. Als würde der Schlüssel ganz genau hineinpassen und nicht ein bisschen klemmen. Sobald er drin war, wurde er irgendwie fester. Versuchsweise probierte ich, ihn herumzudrehen. Es klappte sofort, klickte und die Tür war wieder abgeschlossen. Dann hörte ich, wie jemand von außen einen Schlüssel einsteckte.

„Oh, oh“, murmelte ich und machte sicherheitshalber zwei Schritte rückwärts. Simon zog mich noch weiter nach hinten.

„Lass mich reden“, zischte er.

Gleich darauf wurde die Tür geöffnet und ein leiser überraschter Schrei erklang.

„Was macht ihr denn hier?“, kam die erwartete Frage.

„Wir wollten mit dir sprechen“, antwortete Simon.

„Aber wie kommt ihr hier rein?“

Die Frau schien völlig von den Socken.

„Wieso? Die Tür war doch offen“, log mein Freund. Meine feinen Ohren hörten dabei keine Unsicherheit in seiner Stimme, die ihn verriet. Dennoch erwiderte die Direktorin: „Na, das erscheint mir seltsam. Ich habe doch gerade eben den Schlüssel rumgedreht! Hat euch jemand von den Lehrern aufgemacht?“

Ich stieß meinem Freund in die Rippen und antwortete: „Ja. Das hat Simon gemeint. Eine Frau kam vorbei und hat aufgeschlossen. Dann ist sie weggegangen und wir sind rein. Sie kam zurück, hat etwas auf den Tisch gelegt und ist wieder gegangen. Sie hat auch abgeschlossen. Scheinbar hat sie uns gar nicht bemerkt.“

„Ach so, sagt das doch gleich! Das war bestimmt Frau Böttcher. Komisch, dass sie euch nicht gesehen hat. Sie wollte mir noch eine Telefonnummer geben. Wo hat sie die bloß hingelegt? Na, ich werde sie schon finden.“

Der Schreibtischstuhl knarzte leicht, als sie sich draufsetzte.

„Jetzt aber mal zu euch beiden. Warum wollt ihr mich denn so dringend sprechen? Wartet mal … Ich kenne euch doch! Ihr kommt im Sommer in die Schule, nicht wahr? Ich habe euch an den Kennenlerntagen getroffen. Du bist doch Timo, der blinde Junge. An dich erinnere ich mich natürlich besonders gut. Und du? Deinen Namen weiß ich leider nicht mehr.“

„Simon“, sagte der Angesprochene. „Wir wollten dich fragen, ob Timo hier zur Schule gehen kann. Er ist wirklich gut und weiß schon ganz viel. Ich bin sein Freund und kann ihm immer helfen, wenn er es braucht. Aber er macht eigentlich alles alleine, deshalb könnte er doch …“

„Moment mal“, unterbrach ihn die Direktorin erstaunt. „Ihr zwei seid extra hierhergekommen, um mich das zu fragen? Wissen eure Eltern, dass ihr hier seid?“

„Äh, nein“, stotterte ich verlegen. „Wir dachten …“

„Also, so was habe ich wirklich noch nie erlebt. Da kommen zwei Vorschulkinder ganz allein in mein Büro geschneit, weil sie zusammen zur Schule gehen möchten – einfach unglaublich!“

Zu meiner Verwunderung hörte sich die Stimme gar nicht böse an, eher amüsiert.

---ENDE DER LESEPROBE---