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Norditalien 1685: Zwischen Blumenwiesen und Bergen wächst Giovanni Maria Farina heran. Gesegnet mit einem äußerst feinen Geruchsinn avanciert er vom Bauernjungen zum Liebling der Gesellschaft. Denn er kreiert etwas, nach dem alle lechzen: ein Parfüm das ewige Jugend verheißt. Im Rausch der ersten Liebe ist er besessen von dem Gedanken, einen einzigartigen Duft für seine Angebetete zu schaffen, und treibt sie damit geradewegs in die Arme seinen Nebenbuhlers. Tief verletzt ändert er die Rezeptur und widmet sie schließlich der Stadt, die seine Liebe rettet - aus seinem Aqua mirabilis wird das weltberühmte Eau de Cologne... Zitrusfrüchte und Moschus, Ambra und Bergnarzissen: die wahre Geschichte des Parfüms in einer sinnlich-opulenten Entdeckungsreise zwischen Venedig, Paris und Köln.
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Seitenzahl: 559
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Die promovierte Botanikerin Ina Knobloch lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Journalistin, Autorin und Regisseurin. Für ihre zahlreichen, oft international verkauften Filme(ARD/ARTE/ZDF), Bücher(Piper/Scherz/Mare) und Artikel(u.a. GEO/FAZ) recherchiert sie in allen Teilen der Erde. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre eigenen Sendungen und ihre viel zitierten Werke über Heilpflanzen– und das Dokudrama »Das Parfum– die wahre Geschichte«(ZDF/ARTE2014) über Giovanni Maria Farina.
Dieses Buch ist ein Roman, basierend auf einer wahren Geschichte, der Geschichte von Giovanni Maria Farina(geboren1685 in Santa Maria Maggiore, gestorben 1766 in Köln), dem wohl größten Parfümeur der Historie. Die Kundenliste der Farinas im Anhang liest sich wie das »Who’s who« des18. und 19.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: shutterstock.com/Nejron Photo Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-915-8 Historischer Roman Vollständig überarbeitete Neuausgabe Dieses Buch erschien 2010 unter dem Titel »Der Duftmacher« im Piper Verlag.
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Endlich ein Duft, der nicht den Körper verklebt,sondern den Geist inspiriert.
Voltaire(1694–
1. KAPITEL
DER DUFT VON SCHNEE
Flockenflaum zum ersten Mal zu prägen
mit des Schuhs geheimnisvoller Spur,
einen ersten schmalen Pfad zu schrägen
durch des Schneefelds jungfräuliche Flur.
Christian Morgenstern(1871–1914), in: »Neuschnee«
Köln, 1.Dezember 1713
Dicke Schneeflocken schwebten weihevoll um den Kölner Dom, tanzten scheinbar hämisch um den unvollendeten Turm und segelten schließlich sanft auf die gepflasterte Gasse. Als Lucia Farinas Landauer geräuschvoll um die Ecke kutschierte, bildete der Schnee bereits ein deutliches Muster auf der Straße. Hätte sie nicht so fasziniert auf die weißen Flocken vor der eindrucksvollen Kirchenfassade geschaut, hätte sie den zusammengesunkenen Körper am Fuße der Kathedrale gesehen. Aber so erfreute sie sich nur an dem Naturschauspiel, das sie ansonsten nur aus der Piemonter Bergregion kannte.
Rasend schnell veränderten sich die kristallinen Sprenkel zu einer jungfräulich weißen Decke, die den stinkenden Unrat und den muffigen Dreck der Stadt unter sich begrub– genau wie den Mann, der noch immer reglos in der Ecke lag.
Köln war kaum wiederzuerkennen. Das empfand auch Giovanni, wobei er den bezaubernden Anblick der »gezuckerten« Stadt noch gar nicht erspäht hatte, aber seine Nase sog genüsslich die vom Schnee gereinigte Luft ein.
Den ganzen Tag schon hatte der frische Duft des Schnees in seiner Nase gelegen, und nun entlud er sich über Köln, als würde Frau Holle persönlich ihre Bettdecke ausschütteln.
Kaum hatte Giovanni die ersten Flocken gerochen, unterbrach er seine Arbeit. Sehnsüchtig hatte er darauf gewartet, dass der Schnee die üblen Ausdünstungen der Stadt unter sich begrub– und jetzt endlich war es so weit. Giovanni, der eben noch konzentriert über seinen Bestellungen gebrütet hatte, zog die Nase kraus und legte beglückt seine Feder auf den Schreibtisch. Langsam und mit einem Lächeln auf den Lippen ging der junge Mann zum Fenster und öffnete es weit, bevor er die Luft noch einmal ganz tief durch die Nase sog. Er liebte den sanften, sauberen Geruch des Schnees, vor allem den ersten des Jahres und vor allem in dieser Stadt, deren Odeur sonst wenig schmeichelhaft für seine empfindliche Nase war.
Obwohl ihm das Klopfen und anschließende Quietschen der Tür entgangen waren, wusste er sofort, wer in seinem Arbeitszimmer stand. Noch immer schaute er versonnen zu den tanzenden Schneeflocken und begrüßte Lucia lächelnd, ohne sich umzudrehen: »Du riechst zehn, nein mindestens fünfzehn Jahre jünger, liebe Mutter. Hat dich Baptiste gleich zur Begrüßung in mein Aqua mirabilis gehüllt?«
Lucia blieb kopfschüttelnd mitten im Raum stehen. »Ach, mein Kleiner, du hast dich nicht verändert!« Nach einer kurzen Pause ergänzte Giovannis Mutter noch immer kopfschüttelnd: »Du hast mir doch selbst eine Rosolie geschickt! Ich liebe dein Duftwasser, es erfrischt mich jeden Morgen und erquickt mich jeden Abend. Es ist so anders als alles, was man sonst bekommt, frühlingsgleich, frisch und aristokratisch elegant. Großmutter wäre so stolz auf dich gewesen! Aber das habe ich dir doch schon alles geschrieben.«
Erst jetzt drehte sich Giovanni um und ging auf seine Mutter zu, um sie sanft in den Arm zu nehmen. »Schön, dass du da bist! Aber ich hatte dich erst in ein paar Tagen erwartet und muss noch einige Bestellungen erledigen.«
Lucia nahm die Hände ihres erwachsenen, nun fast achtundzwanzigjährigen Sohnes wie die eines kleinen Kindes in ihre Hände und erwiderte schmunzelnd: »Du musst deine alte Mutter nicht unterhalten. Ich werde mich in Köln schon vergnügen!«
Nachdenklich ließ Giovanni die Hände wieder sinken und blickte durch das noch immer offene Fenster zu den tanzenden Schneeflocken. Fast abwesend fragte er seine Mutter: »Wirst du Paolo besuchen?«
Lucia nickte langsam. »Wir Italiener müssen hier in der Fremde zusammenhalten. Ich habe es Caterina am Totenbett versprochen, und dein Vater und dein Onkel wünschen es auch.«
Giovannis Blick wurde ernst, und eine tiefe Kerbe über der Nasenwurzel grub sich in das hübsche Gesicht. Nach einer kurzen Pause erwiderte er schließlich: »Du weißt, dass ich ihn nicht riechen kann, und ich habe meist den richtigen Riecher. Wenn ihr damals nicht verhindert hättet, dass Bernardo mit den Schornsteinfegern geht, wäre mir viel erspart geblieben.«
2. KAPITEL
DER GERUCH VON BLUT
Die Heide riecht nach Menschenblut
und riecht nach Todesschweiß,
und blutig ist des Baches Flut
und geht so träg und leis;
und ging am Morgen flink und laut
und ging so hell und klar,
viel guter Männer rotes Blut
hineingeronnen war.
Hermann Löns(1866–1914), in: »Das bunte Lied«
Norditalien, Santa Maria Maggiore, Oktober 1685
Der Himmel war blutrot, und fast schwarze Wolken zogen wie ein unheilvoller Schatten über den Himmel wie der Rauch von Kanonen über ein Schlachtfeld. Lucia stand am Fenster des Salons und sinnierte über die brutale Verfolgung der Hugenotten, die zu Tausenden aus Frankreich flohen. Mit dem Edikt von Fontainebleau hatte LudwigXIV. gerade das Edikt von Nantes widerrufen und damit das Schicksal der Hugenotten in Frankreich endgültig besiegelt. Das erzählte zumindest der schwer kranke Mann, der gerade in der Küche saß. Viele Flüchtlinge hatte Lucia an ihrem Haus schon vorbeiziehen sehen. Sie flohen in die Wälder, auf der Suche nach etwas zu essen, oder schleppten ihre letzten Habseligkeiten durch die Gassen, in der Hoffnung auf eine Unterkunft und etwas zu essen. Ganze Familien waren auf der Suche nach einer neuen Heimat, die sie bei den Waldensern zu finden hofften. Wenn sie Santa Maria Maggiore lebendig erreichten, hatten sie es fast geschafft. Bis dorthin war es nur noch eine Tagesreise. Der Mann in der Küche, den ihre Schwiegermutter Caterina mit Essen und Medizin versorgte, würde es trotzdem nicht schaffen. Lucia roch den Tod.
Sie hatte sich selbst gewundert, wie gut ihre Nase bei ihrer zweiten Schwangerschaft geworden war. Sie konnte Dinge riechen, die sie zuvor noch nicht einmal ansatzweise wahrgenommen hatte. Und jetzt war es der nahende Tod, die beginnende Zersetzung des Körpers, der schwach, aber noch lebendig war, der so viel Leid erfahren hatte und dem nun nicht mehr geholfen werden konnte– nur die Schmerzen wurden noch gelindert. Der Geruch war so intensiv, dass Lucia das Haus verlassen musste. Ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, nahm sie ihren Mantel und schlich aus dem Haus.
Dankbar atmete Lucia die frische Herbstluft ein und versuchte, die Bilder des Grauens aus den Erzählungen des jungen Hugenotten aus ihrem Kopf zu bekommen. Sie nahm den Weg hinter dem Haus, entlang der Wiesen zum Wald. Beim Anblick des bunten Herbstlaubs, das wie ein künstlerisch gestaltetes Mosaik die Bäume lieblich überzog, wurde es ihr bald leichter ums Herz. Doch ihre Freude an der Natur sollte nicht lange währen. Kaum hatte sie den Weg am Waldrand erreicht, drangen schreckeinflößende Laute zu ihr vor. Trotz aller Warnsignale näherte sie sich den Geräuschen und stützte sich zitternd an einem Baum ab.
Lucia stöhnte auf, als eine Welle von Schmerzen ihren schwangeren Körper durchfuhr. Es war, als würde ihr eine Faust in den Leib gerammt und nicht der Kreatur, die wimmernd am Boden lag.
Sie hielt sich weiterhin in nächster Nähe hinter dem Baum versteckt, konnte aber ihre Neugier nicht zügeln und lugte hinter der aufgeworfenen Rinde hervor. Irgendwoher kannte sie den Mann, der hemmungslos auf den anderen einschlug und ihn obendrein wüst beschimpfte: »Verräter! Dieb! Nichtsnutz!« waren die Worte, die Lucia vernahm.
Der Geruch von Alkohol und Blut drang in ihre Nase und übertönte die Frische des Waldes, das Erdige des feuchten Bodens. Erneuter Schmerz und Übelkeit überfielen die Schwangere, die jetzt ihre Neugier vergaß, sich mit dem Rücken an den Baum lehnte und tief einatmete.
Während Lucia versuchte, mit Hilfe eines mit Rosenöl beträufelten Tüchleins Übelkeit und üble Gerüche zu bannen und mit ihrer Atmung den Schmerz im Körper zu beherrschen, überlegte sie fieberhaft, wer wohl der Übeltäter war, den sie soeben beobachtet hatte. Das Gesicht und die Stimme waren ihr ebenso vertraut wie verhasst. Lucia schloss die Augen und dachte nach. Diese Ablenkung vom eigenen Schmerz half ein wenig, ihn zu vertreiben.
Doch die Erholung war nur von kurzer Dauer, denn Lucia sah plötzlich sich selbst unter dem Peiniger liegen, der sie mit einem Stein in der Hand bedrohte und »Verräterin!« rief. Das Gesicht wies dieselben Züge auf, allerdings war es kein Mann, den sie vor ihrem geistigen Auge sah, es war ein Junge– der Nachbarsjunge aus Crana. Lucia musste sich auf die Zunge beißen, um es nicht laut hinauszuschreien: Paolo FEMINIS!
Einen fetten Schinken hatte er damals von den Farinas geklaut, Lucia hatte es heimlich beobachtet– und es gesagt, als man sie fragte.
Ja, hätte sie lügen sollen? Sie hatte ja nicht wissen können, dass er fortgeschickt würde.
Lucia zitterte, durchlebte den Angriff noch einmal. So, wie sie selbst jetzt hinter einem Baum verborgen stand, so hatte Paolo Feminis damals auf sie gelauert. Sie war völlig arglos auf dem Weg in die Schule gewesen, als er hinter dem Baum hervorgesprungen war, sie zu Boden geworfen und den Stein gehoben hatte. Dabei hatte er sie so laut als Verräterin beschimpft, dass ihr schließlich jemand zu Hilfe gekommen war.
An mehr konnte sich Lucia nicht erinnern, denn sie hatte das Bewusstsein verloren. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie in ihrem Bett gelegen. Das Nächste und Letzte, was sie danach von Feminis gehört hatte, war, dass er mit einem Schornsteinfeger hatte mitgehen müssen.
Furchtbare Geschichten hatte Lucia schon über Schornsteinfegerkinder gehört. Wenn die schwarzen Männer aus Mailand kamen, versteckten sich alle Kinder, so schnell sie konnten, denn immer wieder geschah es, dass Eltern ein Kind dem Schornsteinfeger mitgaben. Die Angst saß tief bei den Kleinen, geschürt von den gruseligen Geschichten der Älteren, die für die engen Schornsteine schon zu groß waren.
Und nun war Paolo Feminis wieder da.
Als Lucia vorsichtig hinter dem Baum hervorlugte, um erneut einen Blick auf das gewalttätige Szenario zu riskieren, waren die beiden Männer verschwunden. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? So eine Schwangerschaft hatte ja die seltsamsten Begleiterscheinungen.
Der Schmerz hatte inzwischen nachgelassen, die von ihrer Schwiegermutter verordneten Atemübungen halfen. Immer noch leicht beunruhigt schlug Lucia den Rückweg ein, änderte dann aber kurz vor der Hoftür noch einmal ihre Meinung und ging weiter ins Dorf. Sie wollte den Rat ihrer fürsorglichen Schwiegermutter Caterina beherzigen und sich bei Paola die genannten Tinkturen und Öle besorgen.
Als Lucia das Haus der Baderin und Hebamme erreichte, drangen laute Stimmen nach draußen, die sie abrupt innehalten ließen: »Gian Paolo, du musst von hier verschwinden und diesmal endgültig!«
»Er ist doch noch am Leben.«
»Verschwindet, beide…« Paola sprach nun so leise, dass Lucia nichts mehr hören konnte. Schon wollte sie kehrtmachen, als Paola die Stimme wieder erhob: »Und vergiss das Kind nicht! Es ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn der Junge größer wird und Pietro erkennt, wessen Züge sein Sohn trägt, wird er dich umbringen. Du solltest dich hier nicht mehr blicken lassen. Dann wird er es in seiner Eitelkeit und mit seinem vom Alkohol ständig benebelten Blick vielleicht nicht bemerken.«
Feminis’ Antwort ließ auf sich warten: »Und wo soll ich deiner Meinung nach hin, verehrtes Tantchen?«
»Nenn mich nicht Tantchen! Ich hab dich aufgezogen wie mein eigen Fleisch und Blut. Also behandel mich nicht wie ein altes Kräuterweib!«
»Im Ernst, Paola, wenn du mich nicht mehr mit deinen Aquae mirabiles, Tinkturen und Kräutern versorgst, kann ich nicht länger als fliegender Händler die Franzosen beglücken. Oder soll ich hier als Schornsteinfeger umgehen und die Kinder deiner Freundinnen einsammeln, so wie ich einst eingesammelt wurde?«
Auf diese letzte Frage, bei der Paolo merklich die Stimme gehoben hatte, folgten der harte Schlag einer Faust auf einen Tisch und dann betretene Stille.
Lucia sog so scharf die Luft ein, dass sie schon fürchtete, bemerkt zu werden. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie gerade gehört hatte.
War Paolo Feminis all die Jahre immer wieder zurückgekehrt, und niemand hatte es bemerkt?– Außer Paola natürlich. Und was war mit Pietros Frau Maria, war Paolo wirklich der Vater ihres Kindes? Die gläubige und brave Lucia konnte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte.
Schwer atmend wollte sie den Rückweg antreten, als Paolas feste, entschlossene Stimme sie zusammenfahren ließ: »Köln, jawohl, Paolo, du wirst nach Köln gehen und Tante Bernardi unter die Arme greifen…«
3. KAPITEL
DER DUFT VON TRÄNEN
Israelische Forscher haben herausgefunden, dass der Duft von Tränen die Lust dämpft und Schutzinstinkte auslöst.
Köln, 1.Dezember 1713
Lucia hatte Tränen in den Augen, als sie ihren Sohn anblickte. »Ich habe damals tagelang an nichts anderes gedacht, bis ich mich getraut habe, Paola aufzusuchen. Ich habe nicht gewusst, ob ich es überhaupt schaffe, sie nach dem denkwürdigen Tag zu fragen– aber du kennst sie ja. Kaum hatte ich ihre Stube betreten und unschuldig nach einem Aqua mirabilis gegen meine Schmerzen gefragt, wusste sie auch schon Bescheid. Ja, Paolo hatte Maria geschwängert. Ein junger Schornsteinfeger hatte Paolo und Maria im Heuschober beobachtet. Das war noch vor der Hochzeit mit Pietro. Die hübsche Maria hätte Pietro sonst nie geheiratet. Mein Gott, sie hätte jeden Mann haben können. Aber als sie gemerkt hat, dass sie schwanger ist, musste sie schnell einen Mann finden– aber ausgerechnet Pietro… Paolo hatte keine Ahnung, dass er Vater wird, er war ja immer nur ganz kurz da, um bei Paola Aqua mirabilis einzukaufen.
Der junge Mann, den Paolo verjagt hatte, hat auch Maria erpresst, hat sie mit seinem dreckigen Teil bedrängt. Als sie sich wehrte, hat er ihr die Kette vom Hals gerissen und ist abgehauen. Paolo hat ihn erwischt, konnte ihm die Kette entreißen und wollte ihm eine Lektion erteilen, die er nicht so schnell wieder vergisst.
Verstehst du: Ich bin daran schuld, dass Paolo die Stadt verlassen musste und als Schornsteinfegerjunge fast gestorben ist. Ich bin schuld, dass Paolo seine Maria nicht heiraten konnte, und ich bin daran schuld, dass Paola ihr Ziehkind weggeben musste.«
Giovanni nahm ein Taschentuch und wischte seiner Mutter die Tränen aus den Augen. Nachdenklich schüttelte er den Kopf: »Du kannst nichts dafür, Mutter. Und ich kann Paolo trotzdem nicht riechen– aber warum erzählst du mir das alles jetzt?«
4. KAPITEL
GÖTTLICHER GRUSS DER HESPERIDEN
Smaragdgrün und edel fließt das Öl der Bergamotte aus der Schale. Die bis dahin unbekannte Zitrussorte fand im 17.Jahrhundert den Weg nach Italien. Es duftet wunderbar frisch und wirkt beruhigend, stimmungsaufhellend und antiseptisch– ideal bei der Begrüßung eines neuen Erdenbürgers.
Santa Maria Maggiore, Dezember 1685
Seit jenem denkwürdigen Oktobernachmittag kehrte der Schmerz in regelmäßigen Abständen in Lucias Leib zurück. Ein Gefühl, das sie in ihrem Zustand bis dahin nicht gekannt hatte, so unbeschwert und glücklich war sie durch ihre erste Schwangerschaft spaziert.
Als sie ihr erstes Kind erwartet hatte, hatte sie auf jammernde Gebärende stets hinabgeblickt. Unnütz und überflüssig waren ihr damals die täglichen Salbungen der Schwiegermutter mit diversen Tinkturen und Elixieren erschienen. Nur ihrem besorgten Gatten zuliebe hatte sie diese Prozeduren über sich ergehen lassen, die sie nun schmerzlich vermisste.
Doch ihre Schwiegermutter Caterina Farina, geborene Gennari, war weit weg, sie besuchte ihren Bruder in Venedig. Dabei hätte ein Wort genügt, und Caterina wäre geblieben, um der Schwangeren Beistand zu leisten.
Jetzt ärgerte sich Lucia, dass sie der alten Frau beim Abschied versichert hatte, sie käme schon allein klar. Zum Glück hatte Caterina versprochen, rechtzeitig zur Niederkunft zurück zu sein, worauf Lucia inständig hoffte. Denn sie ahnte, dass ihr eine schwere Geburt bevorstand, und hatte längst eingesehen, dass es dumm gewesen war, Caterina gehen zu lassen.
Stöhnend griff sie nach der Phiole mit der in Mandelöl aufgelösten Bergamotte-Essenz, verrieb einige Tropfen in ihren Händen und massierte sich den gewölbten Bauch so, wie es ihr Caterina gezeigt hatte. Tief atmete sie den frischen Duft mit der leicht herben Note ein, der gleich durch jede Pore ihres Leibes zu dem ungeborenen Kind zu dringen schien. Der Schmerz ließ etwas nach.
Lange war Lucia die Bergamotte, diese seltsame Zitrusfrucht, gänzlich unbekannt gewesen, deren Schale von duftendem Öl troff.
»Ein Geschenk der Hesperiden«, hatte Caterina vielsagend erklärt und Lucia wortlos das Werk »Hesperides sive de malorum aureorum cultura et usu libri quatuor« des Botanikers Giovanni Baptista Ferrarius überreicht.
Es war nicht immer leicht für Lucia, sich in dieser weltgewandten Familie zurechtzufinden. In ihrem ganzen Leben war sie selbst nicht weiter als bis zum Lago Maggiore gekommen. Rom und vor allem Venedig kannte sie nur aus den Erzählungen ihrer Schwiegereltern und ihres Mannes.
Manchmal fragte sich Lucia, ob Giovanni Antonio sie vielleicht nur wegen der Ländereien geheiratet hatte, die sie erben würde. Aber nein, sie wollte nicht schlecht über ihren Mann denken, sie hätte sich keinen besseren Gatten vorstellen können. Es fiel ihr nur schwer, sich vorzustellen, was er an ihr fand.
Sie kannten sich schon seit der Kindheit, genau genommen kannte sie gar kein Leben ohne Giovanni Antonio. Und im Vergleich zu ihm war sie immer nur das dumme Bauernmädchen gewesen, was er sie jedoch nie hatte spüren lassen. Während sie stolz gewesen war, überhaupt in eine Schule gehen zu können, hatten seine Vorfahren die Schule gegründet.
»Du riechst so gut«, hatte er ihr irgendwann zugeflüstert, während er mit seiner etwas zu groß geratenen Nase die Luft über ihrem Kopf einsog.
Die Bemerkung war dem streng katholisch erzogenen Mädchen unheimlich gewesen, auch wenn er sie dabei gar nicht berührt hatte. Lucia musste lächeln, wenn sie daran dachte.
Sie hatte zwar nie wirklich verstanden, was diese Familie mit ihren Nasen hatte, sie wusste aber inzwischen, dass für ihren Mann und seine Familie Riechen wichtiger war als Sehen, Hören, Fühlen oder Schmecken. Wobei Letzteres dem Riechen schon sehr nahe kam, denn schließlich gab es nichts, was man schmeckte, ohne es zuvor gerochen zu haben.
So wurden jede Speise und jedes Getränk in diesem Haushalt zunächst nach dem Geruch beurteilt, genau wie jede Zutat, bevor sie verköstigt, verarbeitet oder angeboten wurde.
Nicht dass Lucia keine duftenden Blumen liebte oder ein angenehmes Duftöl nicht zu schätzen wusste, aber die Familie Farina definierte einfach alles über die Nase. Ob der Boden gut für Getreide, Wein, Obst oder Viehwirtschaft war oder ob jemand krank war oder einen verderblichen Charakter hatte– die Farinas rochen einfach mehr, als sie sahen.
Wenn Lucia ihre Haare nicht ordentlich gekämmt hatte, sagte keiner etwas, aber wehe, sie hatte in den falschen Tiegel gegriffen oder sich nicht peinlichst gesäubert.
Sie selbst dagegen vertraute lieber auf das, was sie sah und hörte. Und sie sah, dass ihr Giovanni Antonio ein wirklich gut aussehender, redlicher Mann war, und hörte, dass er stets nur Nettes zu ihr oder Gutes über sie sagte. Und wenn der Duft, den sie verströmte, ihn über ihre etwas zu weit auseinanderstehenden Augen und ihren etwas zu großen Mund hinwegsehen ließ, sollte es ihr recht sein.
Auch wenn ihr Mann sagte, dass sie mit ihrem wallenden roten Haar und den grünen Augen wunderschön sei– Lucia wusste es besser, denn die Komplimente brachte er meist mit geschlossenen Augen hervor.
Plump und trampelig kam sie sich in dieser eleganten Familie häufig vor, und ihre derzeitigen Umstände verbesserten diesen Eindruck nicht gerade. Der geschwollene Leib ließ sie watscheln wie eine Ente.
Ihre Schwiegermutter Caterina Farina war da so ganz anders. Mit ihrem fast noch tiefschwarzen Haar, das nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen war, den großen dunklen Augen und den ebenmäßigen Zügen war sie noch mit Mitte sechzig eine Schönheit. Ihre Gestalt war anmutig und ihr Gang aristokratisch. Caterina strahlte das Flair der Großstadt aus. Stets trug sie die neueste Mode oder entwarf ihre Kleider selbst– angeblich kam es nicht selten vor, dass sich die Patrizierinnen von Venedig Caterina zum Vorbild nahmen. Lucia traute der älteren Dame durchaus zu, in der Stadt für Aufsehen zu sorgen.
Inzwischen bewunderte sie ihre Schwiegermutter mehr als jede andere Frau, die ihr je begegnet war. Sie konnte in verschiedenen Sprachen lesen und schreiben, sprach fließend Französisch und konnte besser rechnen als jeder Mann im Haus. Ach, was heißt im Haus, im ganzen Tal! Sie war gläubig und hatte sogar dafür gesorgt, dass der Kaplan in ihrem Haus wohnte, aber sie ließ sich niemals einschüchtern. Priester waren für sie auch nur Menschen und ihr Urteil fehlbar.
Dabei ging Caterina mit ihrer Meinung äußerst diplomatisch um. Und es gab niemanden im Dorf, dem sie nicht schon auf irgendeine Weise geholfen hätte. Lucia war sich sicher, dass, wenn Caterina nicht schon so viel Gutes getan hätte, so mancher Dorfbewohner mit dem Finger auf sie gezeigt hätte– eine Erfahrung, die Caterinas Cousine, die Baderin und Hebamme Paola, immer wieder machen musste.
Als Kind hatte Lucia sich vor Caterina gefürchtet, die mit ihrer Ausstrahlung alle Blicke auf sich zog. Einmal hatte sie ihr, mit einer Freundin hinter einer Hausmauer verborgen, »Hexe« hinterhergerufen.
Es war ein Streich gewesen, eine Mutprobe. Damals hatte sie noch nicht gewusst, welch furchtbare Folgen solch unsinniges Gerede nach sich ziehen konnte. Von den Grausamkeiten der Welt hatte sie bis dahin nichts mitbekommen.
Bei dem Gedanken daran bekreuzigte sich die junge Frau eilig, musste aber sogleich wieder lächeln, als ihr auffiel, dass allein beim Gedanken an Caterina ihre Schmerzen schon viel besser wurden. Sie hoffte inständig, dass die Schwiegermutter ihr nicht gram war und, wie ursprünglich geplant, Mitte Dezember zurück sein würde.
Mühsam richtete sich die Schwangere auf und überlegte angestrengt, wo Caterina die reinen Lavendel- und Bergamottetropfen aufbewahrte. Denn von dem Bergamotte-Mandelöl hatte sie gerade den letzten Tropfen verbraucht.
Lucia war erleichtert, als sie die duftenden Öle in sorgsam beschrifteten Fläschchen in ihrem Nachttisch fand. Ausnahmsweise trank sie auch das Craveggia-Wasser, das sie eigentlich jeden Morgen trinken sollte, das aber zu scheußlich schmeckte.
Leise hatte Anna, die den Farinas schon länger diente, als Lucia denken konnte, das Heilwasser am Morgen auf Lucias Nachttisch gestellt und den kleinen Giovanni Battista, der gerade aufgewacht war, mit hinausgenommen. Giovanni Antonio, Lucias Mann, war zu der Zeit schon lange auf den Beinen. Zwar war die Erntezeit längst vorüber und die letzten Kastanien bereits eingesammelt, aber es gab immer noch so viel zu tun, dass er nie bis Sonnenaufgang im Bett blieb.
Normalerweise stand Lucia mit ihrem Mann auf, doch in der letzten Zeit hatte ihr die Schwangerschaft zu sehr zu schaffen gemacht, und sie war ständig müde. Wenn Lucia morgens die Augen aufschlug, war sie daher meist allein, ihr Mann auf dem Feld und ihr Kind in den Armen der Amme.
Angewidert trank sie das metallisch schmeckende Wasser.
Caterina hatte sie hin und wieder mitgenommen zu der »Quelle des Lebens und der ewigen Jugend«, wie ihre Schwiegermutter sie nannte. Selbst im Winter war das Wasser dort angenehm warm.
Caterina hatte ihr erklärt, dass das Wasser seine heilende Wirkung auch entfaltete, wenn man darin badete, und nachdem Lucia sich beim ersten Mal in Grund und Boden geschämt hatte, genoss sie inzwischen den Aufenthalt in dem warmen Quellwasser.
Sie war lange nicht mehr dort gewesen; seit ihrer Schwangerschaft wusch sie sich nur noch zu Hause. Und auf dieses morgendliche Ritual zu verzichten kam im Hause Farina nicht in Frage.
Beschwerlich wie alle Hochschwangeren stieg Lucia aus dem Bett und ging an den Waschtisch. Sie fröstelte, als ihre Fingerspitzen das kalte Wasser berührten. Anna hätte ihr warmes Wasser bringen sollen, doch seit Caterina in Venedig war, war Anna nachlässig geworden. Sie neigte dazu, Lucias Gutmütigkeit auszunutzen, aber sie war gut zu Battista und immer freundlich.
Die Morgentoilette war schnell erledigt, und Lucia machte sich daran, die für sie nach wie vor luxuriöse Unterwäsche anzuziehen. Bis zu ihrer Hochzeit hatte sie derartige Unterkleider nicht gekannt, und im Dorf waren die Farinas wahrscheinlich die Einzigen, die Unterwäsche trugen. Lucia wusste diese Kleidung, die den Schweiß aufnahm wie ein Schwamm, inzwischen durchaus zu schätzen.
Jeden Morgen brachte ihr Anna frische blütenweiße, duftende, linnene Unterkleider und half ihr, die zahlreichen Schnüre an der richtigen Stelle zusammenzubinden. Solange Lucia in anderen Umständen war, durfte sie auf das einengende Mieder verzichten, und was das anging, konnte die Schwangerschaft ruhig noch eine Weile dauern.
Erfrischt und mit etwas Rosenöl parfümiert, öffnete Lucia das Fenster und sog die winterliche Luft ein. Es war ein milder Dezembermorgen, der Novemberschnee verschwunden, und die Sonnenstrahlen fielen wärmend ins Zimmer. Der Zitronenbaum in der Mitte des windgeschützten Gartens strahlte mit seinen Blüten und Früchten wie ein Stern in einem untergehenden Kosmos. Die meisten anderen Pflanzen hatten sich schon zur winterlichen Ruhe begeben oder warfen ihre bunten Blätter dem blühenden und fruchtenden Baum zu Füßen. Vielleicht war dies der letzte schöne Tag im Jahr.
Sie beschloss, die sonnigen Stunden für einen Spaziergang zu nutzen, doch erst nach dem Frühstück, denn der Duft von warmer Honigmilch und frischem Brot stieg ihr in die von der Schwangerschaft geschärfte Nase und lockte sie die Treppe hinunter ins Esszimmer.
Der kleine Battista wartete schon und schlang die kurzen Ärmchen um den geschwollenen Leib seiner Mutter. Lucia drückte einen Kuss auf das Lockenköpfchen und setzte sich an den gedeckten Tisch.
»Wollen wir nach dem Frühstück spazieren gehen?«
Battista, der sich gerade ein mit Milch vollgesogenes Stück Brot in den Mund geschoben hatte, nickte eifrig.
»Verzeihung, ich glaube, Battista wird bald müde sein, er ist schon seit sechs Uhr auf den Beinen«, wandte Anna ein.
Und da Battista kurz darauf herzhaft gähnte, musste Lucia dem Hausmädchen recht geben.
»Dann werde ich wohl allein gehen«, erwiderte sie, während sie ihrem Sohn über den Kopf strich und mühsam aufstand.
»Der Herr Farina wird sicher besorgt sein, wenn er nach Hause kommt und Euch allein unterwegs weiß«, gab Anna zu bedenken. »Es ist im Moment niemand da, der Euch begleiten könnte, wenn ich bei Battista bleibe.«
»Falls ich zum Mittagessen nicht zurück bin, könnt ihr ja nach mir suchen lassen«, gab Lucia unbeschwert zurück.
Seit ihrer Kindheit war sie allein durch die Felder und Wiesen gestreift. Sie liebte die Natur hier in den Bergen, und so schnell ließ sie sich nicht davon abhalten, ihrem täglichen Bedarf nach Frischluft und Bewegung nachzukommen. Auch das kleine Kerlchen in ihrem Bauch schien ruhiger zu werden, wenn sie die frische Berg- und Waldluft einatmete– denn dass es ein Kerlchen werden würde, das spürte sie.
Lucia beschloss, das Tal hinunter in Richtung des Wallfahrtsortes Re zu laufen, um dort bei der »Madonna del Sangue« ihr Gewissen zu erleichtern und Kraft zu schöpfen. Die heilige Muttergottes war ihr schon immer eine gute Stütze gewesen. Außerdem liebte Lucia den Weg dorthin, entlang des Malescoflusses, der gemächlich in seinem Flussbett plätscherte, während er im Frühjahr gern zu einem reißenden Strom anschwoll.
An diesem Tag war vielleicht die letzte Gelegenheit zu diesem Spaziergang vor der Geburt. Entschlossen nahm Lucia ihren Mantel und verließ durch den Hinterausgang das Haus. Unbemerkt ging sie durch den Garten, vorbei an dem duftenden Zitronenbaum und durch das Gartentor hinaus auf den Feldweg, der direkt zu dem alten Saumweg nach Re führte. Wenn sie sich gut fühlte, würde sie es bis zur Kirche dort schaffen.
Trotz ihrer strengen Erziehung war Lucia keine treue Messgängerin. Oft nutzte sie eine Ausrede, um den sonntäglichen Gang zur Kirche in Santa Maria Maggiore zu meiden. Es waren die endlosen Predigten, die sie abschreckten. Kirchen mochte sie am liebsten, wenn sie allein mit sich und Gott war. Und in Re zog es sie besonders zu dem Bildnis der heiligen Maria.
Die Legende sagte, dass einst Blut aus deren Stirn gequollen war, nachdem ein Ungläubiger einen Stein dagegengeschleudert hatte. Zwanzig Tage lang sei das Blut aus der Wunde geflossen, und so lange würde auch sie bluten, wenn sie ihr Kind geboren hatte.
Lucia bekreuzigte sich und schämte sich dafür, dass ihr bei dem Gedanken an die heilige Maria das Wochenbett in den Sinn kam.
Nachdem das Blut aus dem Marienbild versiegt war, hatte die Heilige immer wieder Wunder getan, schon vielen kranken Menschen geholfen und Pilger von weit her angelockt. Es hieß, sie habe sogar die Pest ferngehalten.
Lucia war zuletzt im Sommer dort gewesen und hatte für das Kind gebetet, das sie unter ihrem Herzen trug. Damals waren so viele Pilger in der Kirche gewesen, dass sie kaum einen Blick auf das Bildnis hatte werfen können. Jetzt, Anfang Dezember, war sicher niemand unterwegs zu der abgelegenen Kirche.
Schon von Weitem konnte Lucia den noch immer blühenden Orangenbaum riechen, der einen bizarren Schatten in den Kirchhof warf. Der Duft hing ihr noch in der Nase, als sie bereits vor dem Marienbild im Inneren der Kirche niederkniete. In demütiger, betender Haltung beichtete sie der Muttergottes, was sie zwei Monate zuvor im Wald beobachtet und dass sie geschwiegen hatte, anstatt zu ergründen, ob Giovanni Paolo Feminis’ Opfer noch lebte.
Im selben Moment durchfuhr sie ein reißender Schmerz. Der Geruch von Blut mischte sich mit dem Orangenduft, der vom Kirchhof herüberwehte, und Lucias Erinnerung an Feminis verblasste hinter den Gedanken an ihre erste Niederkunft, als Caterina sanft ihre Stirn mit Bergamotteöl betupft hatte.
Das war das Letzte, woran sie dachte, bevor sie ohnmächtig vor dem Marienbild zusammensank.
Später würde sie sagen, dass sie sich an nichts weiter erinnerte, als dass sie das Blut gesehen hatte, das aus der Stirn der heiligen Maria gequollen war.
Als Lucia erwachte, lag sie in ihrem Bett und blickte in Caterinas Gesicht. Wie versprochen, war Caterina rechtzeitig zur Geburt zurückgekehrt, keine Stunde nachdem Lucia zu ihrem Spaziergang aufgebrochen war. Caterina hatte das Hausmädchen getadelt und war sofort mit einer Kutsche zum Wallfahrtsort aufgebrochen. Caterinas Sohn, Lucias Mann Giovanni Antonio, war inzwischen auch wieder im Haus und wartete nervös vor der Tür.
Lucia hatte starke Schmerzen, doch die Öle der Schwiegermutter beruhigten die Gebärende, und die eilig herbeigeholte Hebamme, Caterinas Cousine Paola, war zuversichtlich, dass es nicht lange dauern würde. Und sie sollte recht behalten, denn wenig später hatte sie einem kleinen Jungen auf die Welt geholfen, der mit einem kräftigen Schrei ein deutliches Lebenszeichen von sich gab.
Über die Frage, welchen Namen er erhalten sollte, gab es keine Diskussion. Den ersten Vornamen, Giovanni, erhielt er von seinem Vater, und mit dem zweiten wurde er nach der Schutzheiligen Maria benannt.
Es war der 8.Dezember 1685, als Giovanni Maria Farina das Licht der Welt erblickte. Zunächst jedoch erroch er ihren Duft, denn er zog die Nase kraus, bevor er die Augen öffnete.
Caterina hatte frisches Bergamotteöl und andere ätherische Öle aus Venedig mitgebracht. Vorsichtig tropfte sie die duftenden Essenzen in eine dunkle Flasche, die halb mit Mandelöl gefüllt war. Ein paar Tropfen der Ölmischung wärmte sie in ihren Händen und rieb damit den Körper des inzwischen gereinigten, aber immer noch schreienden Neugeborenen ein.
Es dauerte nicht lange, bis der Säugling aufhörte zu brüllen und stattdessen genüsslich die inzwischen offenen Augen wieder schloss und die winzigen Nasenflügel blähte.
Caterina wusste schon in diesem Moment, dass dieser Enkel ein ganz besonderes Kind sein würde, und mit dieser Besonderheit sollte die Familie schon sehr bald Bekanntschaft machen.
Wie bei Lucias erstem Kind, so war auch für das zweite eine Amme vorgesehen, die den neuen Erdenbürger mit kräftiger Milch versorgen sollte. Doch bei Giovanni funktionierte die Ernährung durch die fremde Frau nicht. Mit all seinen spärlich vorhandenen Kräften wehrte er sich dagegen, die dargebotene Brust zu berühren. Er wandte sein kleines Gesicht ab, so weit er konnte, schrie aus vollem Halse und rümpfte das winzig kleine Näschen.
Lucia hatte große Angst um ihr Kind, Angst, es verweigere die Nahrung generell und könne verhungern. So ließ sie sich von ihrer Schwiegermutter dazu überreden, das Kind an die eigene Brust zu legen, und kaum hatte sie es im Arm, fing es aufgeregt an, das Näschen an der mütterlichen Brust zu reiben. Das Köpfchen bewegte sich suchend hin und her, bis es endlich die Quelle gefunden hatte, nach der es suchte. Gierig schnappte der kleine Mund nach der Brustwarze, hungrig begann das Baby zu saugen.
Giovanni trank so lange, bis er mit einem zufriedenen Lächeln an der Brust seiner Mutter einschlief. Und auch Lucia schloss erleichtert und erschöpft die Augen.
Die Amme versuchte später noch ein paarmal, das Kind anzulegen, aber Giovanni verzog jedes Mal angewidert das Gesicht und schrie aus Leibeskräften. Lucia musste ihr Kind selbst stillen, und das für lange Zeit. Über Jahre wollte der Kleine keine andere Nahrung als die Milch seiner Mutter akzeptieren.
5. KAPITEL
ROSMARIN– DER TAU DES MEERES
Rosmarin in Wein gesotten ist gut für Ohnmächtigkeit oder Urkräfte des Herzens.
Der Arzt Adam Lonicerus(1528–1586)
Köln, 1.Dezember 1713
Giovanni nahm die Hände seiner Mutter, drehte sie um und roch an den Innenflächen. »Rosmarin! Frischer Rosmarin!« Giovanni sog den Duft tief ein und schloss dabei die Augen. »Weißt du, dass ich mich noch daran erinnern kann, dass deine Milch manchmal köstlich nach Rosmarin gerochen hat?«
Lucia schüttelte etwas peinlich berührt den Kopf. »Ich kann es nicht glauben! Aber ja, du hast recht. Deine Großmutter hat immer darauf geachtet, dass ich genug Rosmarin zu mir nehme. ›Er hält dich jung und gesund‹, waren ihre Worte. Und wie versprochen habe ich dir Öl und frische Zweige mitgebracht.«
6. KAPITEL
TRÜFFELN– DIAMANTEN DES WALDBODENS
Allein der Duft der edlen Erdpilze wirkt schon aphrodisierend, für Schönheit und Wohlbefinden ein wahrer Gaumenschmaus.
Santa Maria Maggiore, April 1695
So wie Giovanni Maria Farina als Säugling an ihrer Brust gehangen hatte, suchte er auch als neunjähriger Junge immer wieder die Nähe seiner Mutter. Und genau wie sie liebte er ausgedehnte Spaziergänge durch die Wiesen und Wälder des Vigezzotals, was für ein Kind in seinem Alter eher ungewöhnlich war.
Im Frühjahr, wenn die Bergwiesen blühten und nach Narzissen und Krokussen dufteten, im Sommer, wenn sich der Geruch von Heu mit dem von sommerlichen Kräutern mischte, und im Herbst, wenn die feuchten Wälder nach Erde und Pilzen– vor allem nach Steinpilzen– rochen, wanderte er durch die Täler und machte sich bei der Ernte nützlich. Besonders hilfreich war er bei der Suche nach den »Juwelen des Waldes«, den weißen Piemont-Trüffeln, denn er hatte die seltene Gabe, die edlen Pilze, die tief in der Erde wuchsen, treffsicher zu erschnuppern.
Während Lucia diesen Erdfrüchten eher wenig abgewinnen konnte, schätzte Caterina nicht nur selbst deren Aroma, sondern wusste auch sehr genau, welch großer Beliebtheit sich die Pilze in den adligen Häusern erfreuten. Daher wurden im Hause Farina gern Trüffeln serviert, wenn hoher Besuch zu Gast war. Die Zubereitung übernahm Caterina höchstpersönlich, und selbst die Reinigung der edlen Erdfrüchte übertrug sie niemals an die Köchin, nur Giovanni durfte ihr dabei helfen.
Konzentriert wie ein Erwachsener bei einer anspruchsvollen Arbeit schrubbte Giovanni die Knollen sanft, aber entschieden mit einer Gemüsebürste, bis gerade genug gesäubert, gereinigt und geschält war. Unter dem wachsamen Auge seiner Großmutter schnitt er dann die Trüffeln gekonnt in hauchdünne Scheiben, die Caterina sofort sorgsam und einzeln in feines Olivenöl einlegte.
Zur Erntezeit wurden die Trüffeln natürlich bevorzugt frisch gegessen, meist fein gehobelt auf einer hausgemachten Pasta– eine Saison, in der sich besonders häufig und gern Gäste einfanden. Was die eingelegten Trüffeln anging, achtete Caterina stets darauf, dass der Vorrat bis zur nächsten Ernte reichte. So konnte sie immer darauf zurückgreifen, wenn unerwartet hoher Besuch oder einfach nur liebenswerte Gäste kamen.
So war es auch im April 1695, als ein Bote die Familie Brentano aus Mailand ankündigte, sehr angesehene und von den Farinas hochgeschätzte Kaufleute, die schon seit Jahrzehnten den Norden mit Südfrüchten versorgten und nie vergaßen, erlesene und außergewöhnliche Kostproben bei ihren Besuchen mitzubringen– ein Fest für die Nase des kleinen Giovanni, der die Zitrusfrüchte stets einzeln zu begutachten pflegte.
Geschickt ritzte er dafür mit seinen Fingernägeln die Schale an, rieb mit dem Daumen darüber und inhalierte die Aromen, die den Schalen daraufhin entströmten. Inzwischen konnte er blind mindestens zwei Dutzend Sorten unterscheiden, doch diesmal blieb ihm das Vergnügen zunächst versagt, denn die Erwachsenen hatten geschäftliche Dinge zu besprechen, und Kinder waren dabei nicht erwünscht.
Lucia, die sich um die Kinder kümmern wollte, bot an, mit ihnen einen Spaziergang zu machen, doch nur die kleine Antonia Brentano nickte sofort wohlerzogen und schüchtern, während Giovanni noch ein wenig wehmütig dem Zitruskorb hinterherblickte und seine und Antonias Geschwister gelangweilt in die Luft starrten.
Lucia zuckte mit den Schultern und wies das Kindermädchen an, mit den Kindern, die nicht mitgehen wollten, im Garten zu spielen. Als sie sich auf den Weg machten, fragte sie Giovanni: »Wollen wir uns einen duftenden Korb zusammenstellen?« Und an Antonia gewandt, fuhr sie fort: »Und du, kleine Dame, möchtest du einen wunderschönen Blumenstrauß pflücken?«
Während Antonia erneut brav nickte, erhellte sich Giovannis Gesicht, der sofort wusste, wovon seine Mutter sprach. Flugs wollte er in den Keller eilen, um einen der Weidenkörbe zu holen, die dort für die Ernte bereitstanden, hielt aber kurz inne. »Mutter, bist du sicher, dass sie schon da sind?«
Lucia lächelte. »Hätte ich mich sonst getraut, dir diesen Vorschlag zu unterbreiten?«
Giovanni lächelte ebenfalls und verschwand, während die kleine Antonia verwirrt um sich schaute. Doch weder Giovanni, der mit dem Weidenkorb bereits zur Stelle war, noch seine Mutter hatten anscheinend die Absicht, das Mädchen einzuweihen.
»Lass dich überraschen« war alles, was Antonia zu hören bekam, als sie Lucias Hand ergriff und mit ihr und Giovanni nach draußen ging. Die anderen Kinder waren längst im Garten.
Der Weg zu den Bergnarzissenwiesen– denn diese waren das Ziel– war nicht wirklich weit, aber mit der in Wanderungen ungeübten Antonia, die mit ihrem Kleidchen und dem feinen Schuhwerk ohnehin nicht richtig gerüstet war, dauerte der Spaziergang doch eine gute Stunde.
Tapfer und ohne ein einziges Wort der Beschwerde trottete die Kleine an Lucias Hand über den holprigen Saumweg. Und wie nicht anders zu erwarten, rief Giovanni, lange bevor eine einzige Blume zu sehen war: »Du hattest recht, Mutter!«, und rannte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zur Narzissenwiese.
Fragend schaute Antonia zu Lucia, die den Blick mit den vielsagenden Worten »Gleich wirst du es sehen, junge Dame« erwiderte, und wenige Minuten später entdeckte auch sie die wunderschönen Bergnarzissen, die überall auf der Wiese ihre anmutigen Köpfe reckten.
Etwas überrascht sah sie zu, wie Giovanni sich auf der Blumenwiese wälzte, doch keinerlei Gedanken an Spott und Häme drängten sich ihr auf, denn dieser sensible Junge war ihr viel lieber als die gockelhaften Raufbolde, die sonst ihre Wege kreuzten. Ein zauberhaftes Lächeln, das winzige Grübchen auf den Wangen der Zehnjährigen hervorrief, zeichnete sich auf ihrem ebenmäßigen und eben noch so ernsten Gesicht ab.
Da alle drei keine Menschen der großen Worte waren, ließ sich jeder von ihnen stumm und zufrieden an einer anderen Stelle der Wiese nieder und pflückte mit Hingabe die schönen Frühlingsboten.
Vielleicht ahnte Giovanni damals schon, dass ihn der Duft der Bergnarzissen an einem italienischen Frühlingsmorgen für immer prägen würde. Jedenfalls hatte er bereits einen festen Platz in seinem Riechgedächtnis und löste nicht nur Glücksgefühle bei ihm aus, sondern auch seine Zunge.
»Riechen sie nicht wundervoll?« waren die ersten Worte, mit denen Giovanni Antonia an diesem Tag bedachte.
Und ohne Scheu erwiderte das schüchterne Mädchen: »Ja, es sind die schönsten Blumen, die ich je gesehen habe. Diese und die Rosen meiner Mutter in unserem Garten. Die duften auch so wunderbar.«
Verblüfft lauschte Lucia der Unterhaltung der beiden Kinder, bevor sie die beiden zum Rückweg rief. Alle drei hatten sie einen dicken Strauß Bergnarzissen im Arm, und Lucia und Giovanni legten ihre in den Korb. Antonia aber wollte ihre Blumen selbst tragen, sodass Lucia sie nicht mehr an die Hand nehmen konnte.
Das Trio hatte gerade das Dorf erreicht, als lautes Kindergeschrei ertönte. »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«, rief ein Junge lautstark, den Lucia sofort als ihren Ältesten erkannte. Im Chor antworteten die anderen Kinder: »Niemand!«
Und wieder Battista: »Und wenn er kommt?«
Bereits im Rennen, riefen die anderen zurück: »Dann laufen wir!«
Lucia schüttelte den Kopf. Seit sie als Kind mitbekommen hatte, wie der Nachbarsjunge Paolo Feminis vom »schwarzen Mann«, dem Schornsteinfeger, mitgenommen worden war, hasste sie dieses Spiel. Doch davon konnten ihre Kinder nichts ahnen.
Gedankenverloren war sie weitergegangen und hatte Giovanni und Antonia einen Moment aus den Augen gelassen, als sie einen Aufschrei hinter sich vernahm.
Eines der rennenden Kinder hatte Antonia umgerissen. Die Blumen waren auf der Erde verstreut, und das Mädchen lag ebenfalls auf dem Boden und weinte bitterlich. Giovanni, der dicht vor Antonia gelaufen war, hatte genau wie seine Mutter erst auf den Aufschrei reagiert.
Besorgt lief Lucia zu dem Kind. Antonia hatte sich die Hände aufgeschürft und ein Knie aufgeschlagen, das stark blutete. Glücklicherweise war es nicht mehr weit nach Hause, und Lucia konnte die Kleine, nachdem sie sie etwas getröstet hatte, auf den Arm nehmen und die letzten Meter tragen.
Bestürzt blickten die Eltern auf das schluchzende Mädchen, das tapfer versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Caterina versorgte die Wunde, während sich Giovanni Antonio Farina den Vorfall von seiner Frau schildern ließ. Es dauerte nicht lange, bis er Battista ausfindig gemacht und dazu genötigt hatte, die beteiligte Dorfjugend zu versammeln. Der Hausherr bestand darauf, dass sich der rüpelhafte Übeltäter entschuldigte, doch stellte sich dieser nicht freiwillig.
Da trat Giovanni vor, hob den Arm und zeigte mit dem Finger auf einen kräftigen Jungen. »Der war’s! Bernardo hat Antonia umgestoßen!«
Mehr Worte brauchte er nicht. Er ließ den Arm sinken, trat einen Schritt zurück und stellte sich wortlos neben seinen Vater, der für einen Moment sprachlos war.
Nun war es Lucia, die sich einmischte: »Aber Giovanni, du konntest doch gar nicht sehen, wer Antonia umgerannt hat, du bist doch vor ihr gegangen.«
»Ich konnte es riechen« war alles, was Giovanni dazu zu sagen hatte.
Inzwischen war unter den Kindern Unruhe ausgebrochen, Anschuldigungen wurden so lange hin- und hergeschickt, bis es nicht mehr zu leugnen war: Bernardo war der Täter.
Für den Raufbold ungewöhnlich artig, brachte er seine Entschuldigung hervor, die Antonia, um die unangenehme Situation zu beenden, versöhnlich annahm.
Nach einer dampfenden heißen Schokolade und dem anschließenden köstlichen Essen hatte das Mädchen den Vorfall beinahe schon vergessen, ebenso wie alle anderen Anwesenden im Hause Farina.
Für Bernardo dagegen war die Angelegenheit noch längst nicht ausgestanden. Bis zu seinem Vater hatte es sich herumgesprochen, dass er mal wieder als Raufbold aufgefallen war, und die harte Strafe, die darauf folgte, hatte keiner der Farinas oder Brentanos gewollt. Selbst Giovanni, der Bernardo hasste, hätte ihm diese Tracht Prügel nicht gewünscht. Und es zeigte sich mal wieder, wie wenig er vom Leben der anderen Dorfkinder wusste und es eigentlich auch gar nicht wissen wollte.
Der Raum, in dem der Schulunterricht für die Kinder im Dorf abgehalten wurde, lag nahe dem Haus der Farinas, sodass Giovanni auf dem Weg dorthin kaum jemandem begegnete. Am liebsten hätte er außer denen seines Zuhauses gar keine Räumlichkeiten betreten, denn der Geruch vieler Menschen verursachte ihm Übelkeit. Doch ließ es sich leider nicht vermeiden, dass er die Kirche und den Unterrichtsraum aufsuchte. Er hätte es vorgezogen, in allen Fächern Einzelunterricht zu erhalten wie in Latein. Dabei empfand er längst nicht alle Kinder als abstoßend, aber bei manchen war es so schlimm, dass er den Unterrichtsraum verlassen musste, wenn sie ihm zu nahe kamen.
Vor allem hoffte er jeden Tag, dass Bernardo nicht kommen würde. Und das war auch schon vor dem Zwischenfall mit Antonia so gewesen. Der Junge war nicht nur groß und stark wie ein Bär, er roch auch wie ein solcher. Der saure Geruch von zersetztem Schweiß, gemischt mit dem süßlich schweren Duft eines brünstigen Ebers, hüllte den selbstbewussten, kräftigen Jungen ein. Giovanni musste schon ein Würgen unterdrücken, wenn er nur daran dachte.
Vor einiger Zeit hatte er der Familie von Bernardo einmal Brot und Wein bringen müssen, weil die Mutter krank war. Sie hatten ihm eine heiße Milch angeboten, doch der Geruch, der über die Türschwelle drang, hatte ihn abgeschreckt und sich unauslöschlich in Giovannis Gedächtnis gebrannt.
Der Junge mit der außergewöhnlichen Nase hatte den Gestank von Krankheit und Tod sofort erkannt, obwohl er den schwer kranken Großvater nicht hatte sehen können. Der dahinsiechende alte Mann lag in einem abgetrennten verdunkelten Raum im oberen Stockwerk des Hauses. Bernardos Großmutter wachte an seinem Bett und verabreichte ihrem kranken Mann Laudanum zur Linderung der Schmerzen.
Die Ausdünstungen des Kranken stiegen trotz der Entfernung in Giovannis Nase und vermischten sich mit dem Geruch nach Schweiß, billigem Alkohol und den Essensdämpfen von Wochen, der das Haus beherrschte.
Als Bernardos Großmutter die Treppe herunterkam und Giovanni an die Hand nehmen wollte, um ihn hineinzuführen, konnte der Junge nicht anders, als sich blitzschnell umzudrehen und davonzulaufen.
Bernardo hatte Giovanni dies sehr übel genommen und ihn von da an für verwöhnt und hochnäsig gehalten. Und seit Giovannis Verrat hatte sich die Feindschaft zu glühendem Hass gesteigert.
Lucia, die diese gegenseitige Abneigung sorgenvoll beobachtete, wollte ihr entgegenwirken. In einem ruhigen Moment sprach sie mit ihrem Sohn: »Hör zu, ich mag den Jungen auch nicht besonders, aber Bernardos Familie ist entfernt mit uns verwandt. Seit sein Onkel Paolo verschwunden ist, geht es der Familie nicht gut. Bernardo denkt jetzt, du hältst dich für etwas Besseres. Versuch, dich mit ihm zu vertragen. Unser Dorf ist nicht groß, und wir müssen miteinander auskommen.«
Giovanni schwieg dazu. Es gab auch nichts zu sagen. Er konnte den Jungen schlicht und ergreifend nicht riechen. Es war schon schlimm genug, dass er Bernardo im Unterricht ertragen musste, aber zu mehr war er einfach nicht in der Lage. Nie und nimmer, dachte er sich, während er abwesend nickte.
Lucia machte sich zunehmend Sorgen um ihren Zweitgeborenen, der sich immer mehr zurückzog. Doch Caterina, die ebenfalls die Häuser der anderen Dorfbewohner mied, versuchte, sie zu beruhigen. »Lucia, es ist für uns unerträglich, so als wenn du einen Raum mit gleißend hellem Licht betreten musst, das dir in den Augen brennt oder in dem ein schrecklich hoher Ton dir in den Ohren schmerzt. So ist es für uns mit den Gerüchen: Ein übler Geruch verursacht ihm körperliche Schmerzen.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Giovanni so anders ist als andere Kinder. Und es ist nicht gut, wenn er immer nur für sich ist«, gab Lucia zu bedenken.
»Im Garten spielt er mit anderen, und er hat seine Geschwister. Mach dir keine Sorgen.«
Lucia versuchte zu verstehen, doch ließen sich ihre Ängste nicht vollkommen vertreiben.
Giovanni war inzwischen oft allein auf den Wiesen und Feldern der Umgebung unterwegs. Er schnupperte an wilden Pflanzen und Kräutern, pflückte Blumensträuße für seine Mutter und wählte dabei die Blüten nicht nach ihren Farben und Formen aus, sondern allein nach ihrem Duft.
Giovannis Vater hatte gewisses Verständnis für seinen Sohn– denn auch er hatte eine sehr gute Nase. Doch wirklich daran gewöhnen, dass Giovanni lieber Lavendel zupfte, als sich zu raufen, würde er sich wohl nie.
An einem sonnigen, warmen Sommertag streifte Giovanni wieder einmal durch die blühenden Berghänge und begutachtete die verschiedenen Lavendelbüsche.
Es fiel ihm leicht, die unterschiedlichen Düfte von Speiklavendel, dem Echten Lavendel und dem Schopflavendel zu unterscheiden. So wies die eine Sorte zum Beispiel neben dem typischen sanften, beruhigenden Lavendelduft einen deutlichen Beigeruch von Kampfer auf, die andere erinnerte ein wenig an den Geruch von Salbei.
Giovanni nahm ein paar Blüten in die Hand und zerrieb sie zwischen den Fingern, um noch einmal die beruhigende Wirkung des Echten Lavendels zu testen. Völlig benebelt von dem herrlichen Duft, roch er nichts anderes mehr, als plötzlich eine Horde Kinder unter dem Anführer Bernardo über ihn herfiel. Es waren an die zwanzig Kinder, und Giovanni hatte keine Chance. Mit lautem Gejohle fesselten sie ihn und trugen ihn zu einem einsamen Schuppen am Feldrand.
Giovanni konnte schon von Weitem einen unerträglichen Gestank wahrnehmen: In der Hütte, in die er von Bernardo und seinen Kameraden eingesperrt wurde, lag auf einem kleinen Misthaufen ein verwesender Hase.
»Wollen wir doch mal sehen, wie empfindlich deine Nase wirklich ist«, kommentierte Bernardo die Aktion hämisch.
Giovanni schnappte nach Luft und rang nach Atem. »Lasst mich raus!«, flehte er, was in dem Gelächter der Kinder unterging. Schweißperlen standen dem Jungen auf der bleichen Stirn, während er anfing zu würgen.
»Klar lassen wir dich raus«, höhnte Bernardo und fügte nach kurzer Pause hinzu: »Rechtzeitig zum Abendessen!«
Laut lachend verschwand die Bande, während Giovanni zitternd und schweißgebadet zusammenbrach.
Es war Caterina, die den Jungen fand. Irgendwie hatte sie gespürt, dass sich Giovanni in Not befand. Den Geruch der Verwesung nahm auch sie schon von Weitem wahr, und es war nicht schwierig, den stinkenden Kerker zu finden.
Caterina schob den Riegel beiseite, öffnete die Tür und sah den bewusstlosen Jungen sofort. Sie war zornig auf sich selbst, weil sie das Unglück nicht hatte kommen sehen. Ganz im Gegenteil, sie hatte sich selbst getäuscht und Lucia noch beruhigt. Und jetzt war das Unglück geschehen.
Behutsam trug sie den zitternden Körper ins Haus und legte den Jungen auf sein Bett. Vorsichtig rieb sie ihn mit lauwarmem Lavendelwasser ab und massierte ihn anschließend mit Mandelöl, dem sie Bergamotte-, Neroli-, Melissen- und Rosenöl beigefügt hatte.
Es war vor allem die angstlösende Wirkung des Bergamotteöls, die Giovanni wieder zu sich brachte und den Schock löste. Der Junge lag in seinem weichen, duftenden Bett, blinzelte und schaute direkt in das Antlitz seiner Großmutter, als er flüsterte: »Nonna, ich hatte einen schrecklichen Traum.«
Caterina strich ihm übers Gesicht, das allmählich wieder Farbe annahm, und erwiderte: »Ich weiß, mein Kleiner, jetzt ist alles wieder gut!« Wohl wissend, dass es alles andere als ein Traum gewesen war, was Giovanni in diesen erbärmlichen Zustand versetzt hatte.
Als Lucia Caterina an Giovannis Bett ablöste, ging diese, ohne zu zögern, zu dem Haus von Bernardos Familie. Mehrmals hatte Giovanni in seinem Dämmerzustand Bernardos Namen gerufen, und Caterina hatte ohnehin geahnt, dass der Junge in die Angelegenheit verwickelt war. Sie stellte Bernardo zur Rede und drohte der Familie, dafür zu sorgen, dass der Junge das Dorf verlassen müsse, wenn noch einmal irgendetwas in dieser Art vorkomme.
Die Drohung wirkte. Es war das erste Mal, dass Bernardo vor einer angedrohten Strafe wirklich Angst hatte. Er wusste zu gut, wie ernst seine Mutter es meinte, als sie ihm in Aussicht stellte, ihn bei einem weiteren Vorfall mit einem Schornsteinfeger nach Mailand zu schicken. Bernardo war mit zehn Jahren zwar fast schon zu groß für einen Schornsteinfegerjungen, aber eben auch nur fast. Und er wusste, welch grausames Schicksal ihn dann erwartete.
Dieses Mal blieb es ihm noch erspart, doch sein Vater Pietro ließ ihn spüren, wie wichtig ihm das gute Verhältnis zur Familie Farina war. Er arbeitete für die Farinas, genau wie vorher sein Schwiegervater. Sie wurden angemessen bezahlt und hatten kein allzu schweres Leben, was der Familienvater auf keinen Fall wegen der Streiche seines ungehorsamen Sohnes aufs Spiel setzen wollte.
»Ich werde dir die Faxen schon austreiben!«, brüllte Pietro immer wieder, während der Lederriemen erbarmungslos auf Bernardos nackten Hintern knallte. Bernardos Haut war wund und blutig, aber er war die Schläge längst gewohnt, und sie hätten ihn ganz sicher nicht dazu gebracht, Giovanni in Ruhe zu lassen.
Es war allein die Aussicht, als Schornsteinfegerlehrling durch die engen, verrußten Kamine der Großstädter klettern zu müssen, die Vorstellung, unter erbärmlichen Umständen den Dreck wegzufegen, die Bernardo davon abhielt, Giovanni noch einmal zu misshandeln.
Nachdem sein Vater von ihm abgelassen hatte, schlich sich Bernardo in das Zimmer seiner Großmutter. Er wusste, dass die Frauen in der Küche gewesen waren und getratscht hatten, während er verprügelt worden war. Wie er sie hasste! Er griff in den Nachtschrank und holte mit sicherem Griff das Laudanum heraus.
Nachdem Pietro seinen Sohn das erste Mal mit dem Riemen grün und blau geschlagen hatte, hatte die Großmutter Bernardos Schmerzen mit dem Mittel gestillt, weil ihr der kleine Junge leidgetan hatte. Er war höchstens vier Jahre alt gewesen, ein fröhlicher Junge und stets zu Scherzen aufgelegt. Vielleicht war genau das sein Fehler gewesen: In seiner Familie hatte man nicht fröhlich zu sein.
Ob das am Alkohol lag, dem sein Vater stets zu reichlich zusprach, oder am allzu strengen Großvater, wusste Bernardo nicht zu sagen, aber inzwischen waren die Prügel beinah alltäglich, und der Junge beschaffte sich das Laudanum selbst, um den Schmerzen zu entfliehen.
Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, bevor er sich wieder aus dem Raum schlich und sich in seiner eigenen winzigen Kammer bäuchlings auf dem Bett ausstreckte. Mit geschlossenen Augen genoss Bernardo, wie das Opiat seinen Körper erfüllte und die Schmerzen dämpfte.
Der Illusion, dass alles nur ein schrecklicher Alptraum war, wurde Giovanni jedoch schnell beraubt: Das ganze Dorf sprach tagelang von nichts anderem.
Zukünftig ließ Bernardo Giovanni in Ruhe. Die beiden Jungen gingen sich möglichst aus dem Weg. Nur den Schulunterricht mussten sie weiterhin gemeinsam ertragen.
Giovanni gewöhnte es sich an, sich mit in Alkohol gelöstem Bergamotte-, Neroli- und Lavendelöl einzureiben, und baute damit nicht nur einen Schutzwall gegen die strengen Ausdünstungen des anderen auf, sondern genoss zudem die beruhigende und angstlösende Wirkung dieser ätherischen Öle.
7. KAPITEL
DER DUFT DER KINDHEIT
Du bist der Duft, der meine Seele speiset, verlass mich nicht!
Traum, der mit mir durchs Leben reiset, verlass mich nicht!
Friedrich Rückert(1788–1866)
Köln, 1.Dezember 1713
Der Duft des Rosmarins hatte Giovanni tief in seine Vergangenheit tauchen lassen– nicht nur die guten Erinnerungen krochen in seine Nase, auch das verhasste Odeur seines Nebenbuhlers, vermischt mit den Ausdünstungen von verwesendem Fleisch. Abwesend zog Giovanni ein Taschentuch aus seiner Weste und tupfte sich damit die Stirn ab, auf der sich ein paar Schweißperlen gebildet hatten. Nach seinem Aqua mirabilis griff er anschließend wie ein Verdurstender nach Wasser. Obwohl Lucia ahnte, welche Erinnerungen in Giovanni wach geworden waren, fragte sie besorgt: »Ist alles in Ordnung?«
Giovanni riss sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. »Alles in Ordnung, Mutter, danke. Ich werde ins Labor gehen und nachschauen, was du alles mitgebracht hast.« Ohne sich umzudrehen, ging Giovanni zur Tür.
8. KAPITEL
AQUA MIRABILIS– WUNDERWASSER
Sammelbegriff seit mehr als fünfhundert Jahren für alle wässrigen und alkoholischen Lösungen medizinischer oder/und duftender Essenzen– sowohl zur innerlichen als auch zur äußerlichen Anwendung.
Köln, Juni 1695
Als sich die Ladentür öffnete, roch Caterina Bernardi den Alkohol, noch bevor Paolo Feminis den winzigen Laden betrat. Es war nicht das erste Mal, dass Paolo dem Schnaps noch vor dem Mittagsläuten zugesprochen hatte.
An solchen Tagen war Caterina Bernardi froh, dass ihr Neffe das Angebot, ihr Teilhaber zu werden, nicht angenommen hatte. Wäre er in ihrem Geschäft der »Herr der Flaschen«, hätte er wahrscheinlich mehr von den Aquae mirabiles getrunken, als er verkauft hätte.
Es gab Momente, in denen sie ihre Schwester Paola verfluchte, hatte sie Paolo doch auf den Gedanken gebracht, sie in Köln aufzusuchen. Es kam aber auch vor, dass sie glaubte, ihr Neffe könne ihr auf ihre alten Tage noch zu Reichtum verhelfen. Denn er hatte die Gabe, mit unglaublichem Geschick Alkohol und Essenzen zu Elixieren zu mischen, nach denen manche ihrer Kunden geradezu süchtig waren.
Aber heute war ganz sicher kein solcher Tag. Paolo Feminis stand seiner Tante mit geröteten Augen und von Alkoholdunst umgeben gegenüber. Nur die kleine Ladentheke, auf die sich Paolo mit beiden Händen stützte, trennte die beiden voneinander. Es war unverkennbar, dass Paolo Dringliches auf dem Herzen hatte. Doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff die alte Bernardi das Wort: »Ich muss mit dir reden.«
»Ich brauche einen Arzt« war alles, was Paolo Feminis erstaunlich nüchtern erwiderte.
Caterina Bernardi benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass das, was sie ihrem Neffen gerade mitteilen wollte, warten musste. »Was ist passiert?«
»Die Zwillinge…«, stammelte Paolo nun.
»Was ist mit den Zwillingen?«
»Ich will nicht, dass die Zwillinge auch noch sterben.«
Mut und Entschlossenheit waren aus Caterina Bernardis Gesicht gewichen, auf dem sich auf einmal Milde und Mitleid abzeichneten. Alle zwei Jahre war ihm ein Kind gestorben, erst Carl, dann Johanna und Anna Maria gleich nach der Geburt. Es war ein Wunder gewesen, dass Paolos Frau Sophia das Wochenbett überlebt hatte. Danach hatte der Arzt gesagt, dass sie wahrscheinlich keine Kinder mehr bekommen könne. Die Zwillinge waren daher wie ein Geschenk des Himmels gewesen.
»Sie glühen wie Kohlen«, jammerte der sonst so selbstbewusste Mann.
Die alte Bernardi verlor keine Zeit. Sie nahm alle Münzen aus der Kasse, notierte die Auslage und verschloss die Kasse wieder. Dann nahm sie einige Flaschen des Aqua mirabilis aus dem Regal, das bei Fieber schon seine Dienste erwiesen hatte.
»Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren«, mahnte sie, ohne dabei auf den jammernden Neffen zu achten. Mit kleinen, schnellen Schritten eilte die Krämerin vorbei an den Auslagen mit allerlei nützlichen und unnützen Dingen zur Tür und wendete das Schild, sodass jeder, der des Lesens mächtig war, erkennen konnte, dass der Laden »Französisch Kram« für diesen Tag geschlossen war.
Wortlos folgte Paolo Feminis seiner Tante die Hohe Straße entlang bis kurz vor den Dom, dessen gewaltiges gotisches Seitenschiff ihn jedes Mal aufs Neue beeindruckte. Der fehlende Turm der Kathedrale verlieh ihr dagegen fast etwas Menschliches. In Paolos Augen war der Dom damit so unvollkommen wie die Menschen auch.