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Auf der Suche nach einem guten Ort zum Weinen steigt eine Frau in den nächstbesten Bus und landet an einer Haltestelle in einem Nest an der Küste Seelands. Als ein Orkan aufzieht, bietet ihr ein junges Paar Unterschlupf. John und Putte kümmern sich liebevoll um sie, ohne Fragen zu stellen, und schnell wird die Unbekannte, die sich Bente nennt, in den Familien- und Freundeskreis aufgenommen. Mit Wärme und Humor erzählt Helle Helle von Lebenskrisen und dem ungewöhnlichen Zusammenleben von Bente, John und Putte - und von der Schwierigkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen …
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Seitenzahl: 196
Helle Helle
Färseninsel
Roman
Aus dem Dänischen von Flora Fink
DÖRLEMANN
Die Originalausgabe »Ned til hundene« erschien 2008 bei Samleren in Kopenhagen. Die Publikation des vorliegenden Romans wurde großzügig vom Danish Arts Council unterstützt. Der Verlag bedankt sich herzlich hierfür.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Copyright © 2008 Samleren, Kopenhagen Copyright © 2015 Dörlemann Verlag AG, Zürich Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-908778-64-6www.doerlemann.com
1
Ich suche einen guten Ort, um zu weinen. Einen solchen zu finden ist gar nicht leicht. Ich bin mehrere Stunden mit dem Bus gefahren, jetzt sitze ich auf einer wackeligen Bank draußen an der Küste. Hier gibt es keine Fähren. Nur einen Kahn, der Vieh zu einer unbewohnten Insel befördert, hin und zurück.
Ich wohne in einem Einfamilienhaus mit vielen Fenstern in Richtung Straße. Vielleicht hätte es auch schon geholfen, ein paar Fenster zu putzen. Andererseits kann man vor lauter immergrünem Gestrüpp sowieso nicht hinaussehen. Der letzte Sommer ist feucht gewesen, das Gestrüpp wie wahnsinnig gewachsen. Jetzt ist es Winter, und ich werde nicht mehr nach Hause zurückkehren. Um diese Zeit schlafe ich gewöhnlich ein wenig auf dem Sofa. Bjørnvig vereist eine Warze.
Es windet kräftig. Als ich mit meinem Rollkoffer aus dem Bus stieg, schlug mir der Wind ins Gesicht. Der Himmel über dem Meer ist dunkelgrau. Auf dem Weg unten am Wasser kommt ein Mann mit sichtlich großer Mühe auf einem Rad von rechts angefahren. Er trägt einen Arbeitsoverall. Jedes Mal, wenn er das Pedal nach unten drückt, beugt er sich tief über den Lenker. So fahre ich auch Rad, deshalb lasse ich es lieber sein. Er hält an und steigt ab. Blickt auf das Meer hinaus, stemmt die Hände in die Seiten. Er weiß natürlich, dass ich hier sitze. Ich sehe hinunter auf meine Hände in den Schweinslederhandschuhen.
Er hat sich wieder auf das Rad gesetzt und folgt weiter dem Küstenweg. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er wendet und vom Weg abfährt, an dem kleinen Schuppen vorbei und zu mir herunter. Er schiebt das letzte Stück. Er hat dunkles und dünnes Haar. Aber er ist gar nicht so alt, ein paar Jahre jünger als ich.
– Da sitzt es sich gut, sagt er.
– Ja.
– Sie werden wohl noch lange da sitzen.
– Ich weiß, sage ich aus meinem Schal heraus.
Wir schauen beide zu dem Fahrplan und danach auf den Rollkoffer.
– Naja, dann viel Vergnügen, sagt er und steigt auf sein Rad. Er fährt im Sitzen los, hebt zwei Finger zu einem Gruß, auf und ab. Jetzt hat er den Wind im Rücken, er ist schnell fort.
Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, ein Croissant mit Geflügelsalat. Beim Essen behalte ich die Handschuhe an, die Teigflocken fallen mir auf den Schoß, auf meinen Mantel. Ich bin 42 Jahre alt und noch immer nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Ich beiße gleich in den dicken Mittelteil, und Servietten habe ich auch keine mitgenommen. Ich stehe auf und fege die Brösel vom Mantel, habe schließlich an beiden Ärmeln Mayonnaise. Meine Beine sind ganz steif, und ich setze mich wieder. Es wird langsam dunkel, der Wind rüttelt am Dach des Wartehäuschens.
Er kommt zurück, jetzt mit einer Frau, beide zu Fuß. Wie er trägt auch sie einen Overall. Sie halten einander an der Hand und lassen erst los, als sie vor mir stehen.
– Hallo, sagt sie. Sie wissen, dass erst morgen wieder ein Bus fährt, oder? Hier kommt nur einer am Tag.
– Ja. Ich habe es gesehen.
– Sie warten vielleicht auf jemanden?
– Nein, eigentlich nicht.
– Möchten Sie telefonieren?
– Nein, danke, das ist nicht nötig.
– Wir heißen Putte und John, sagt sie. Sie können nicht einfach hier sitzen bleiben. Es soll einen kleinen Orkan geben.
– Das können wir nicht zulassen, sagt er.
Sie hieven mich hoch, halten mich jeweils an einem Arm. Er greift nach dem Handgriff des Koffers und zieht ihn hinter uns her. Die Rollen lärmen auf dem Asphalt. Sie wohnen in einem kleinen Haus ohne Vorgarten, der Putz sieht ganz frisch aus. In jedem Fenster ein runder Efeu und ein Windlicht. Sie öffnet die Haustür. Der Flur ist schmal, mit einer Kiefernholztreppe am hinteren Ende. Sie ziehen ihre Schuhe aus, und wir gehen ins Wohnzimmer. Im Kamin brennt ein Feuer. Ich bleibe mitten im Raum stehen. Sie geht hinaus und kommt kurz darauf mit einem Glas Wasser zurück, drückt es mir in die Hand.
– Warum habt ihr Overalls an?, frage ich.
– Wir kommen gerade von den Hunden, sagt sie.
Er hat den Fernseher angeschaltet und sitzt jetzt auf dem Sofa. Gerade kommt der Wetterbericht, er beugt sich weit nach vorne.
– Glaubst du, der Zaun hält?, fragt sie.
– Sonst lassen wir uns was einfallen, sagt er, und zu mir: Setz dich doch.
Ich trinke mein Wasser, während sie sich über dies und jenes unterhalten. Ich kriege nicht wirklich mit, was sie sagen. Putte steht auf und holt eine Lokalzeitung. Sie blättert darin, die Beine hochgelegt, sie hat etwas kräftige Oberschenkel. John sieht ihr dabei über die Schulter und brummt.
– Das hätten sie schon letztes Jahr tun sollen, sagt Putte und schüttelt den Kopf.
– Klar, aber naja, du weißt doch, sagt John.
– Trotzdem.
Sie sehen auf diese Weise die gesamte Zeitung durch. Dann faltet sie sie zusammen und schlägt ihm damit leicht aufs Knie:
– Und, was gibt’s heute?, fragt sie.
– Con Carne.
John schneidet Zwiebeln und schnieft aus der offenen Küche herüber, Putte knöpft ihren Overall auf und wirft ihn über einen Stuhl. Darunter trägt sie Leggings und ein weites kariertes Hemd. Skisocken über den Leggings. Sie nimmt eine Zigarette aus einer Schachtel auf dem Regal, zündet sie an und geht damit zu John, steckt ihm die Zigarette in den Mund.
– So heult man nicht, sagt sie zu mir.
Sie setzt sich und schaut zum Fernseher. Gähnt ein wenig. Legt sich halb aufs Sofa, greift nach einer Decke und zieht sie über sich. Wir sehen Regionalnachrichten. Sie schläft ein. Ich betrachte ihr Gesicht, sie ist vielleicht nur halb so alt wie ich.
Auch ich schlafe auf meinem Stuhl ein. Als ich aufwache, deckt John gerade den Esstisch. Er stellt Salz und Pfeffer bereit und faltet die Servietten ordentlich einmal in der Mitte. Er weckt Putte, indem er mit zwei Fingern an ihre Stirn klopft.
– Willst du nicht das warme Zeug ausziehen? Den Schal, zum Beispiel?, sagt er zu mir.
– Hmja.
Ich sehe an mir herunter: An meinem Mantel sind nicht nur Knöpfe, sondern auch ein Reißverschluss. Im Reißverschluss sitzen ein paar Fransen des Schals fest.
– Darf ich die Toilette benutzen?, frage ich.
– Nur zu.
Er zeigt über seine Schulter aus der Küche hinaus und macht mit den Zähnen ein zischendes Geräusch.
– Tsch. Dahinten.
Beim Essen erzählt Putte eine lange Geschichte von ihrem Vater, der offenbar in Næstved wohnt. Er hatte versucht, ein Medikament für Puttes Bruder zu besorgen, ohne dass der davon wusste, unter den Umständen wollte die Ärztin natürlich kein Rezept ausstellen, und da klagte der Vater über Atemnot und Kribbeln in den Fingern und musste gleich ein Glas kaltes Wasser haben, aber als die Ärztin ihm dann noch eine Plastiktüte von Lidl hinhielt, durch die der Vater Luft holen sollte, schlug er ihre Hand weg und sagte:
– Kommen Sie mir bloß nicht mit so einem Scheiß.
Putte schämt sich für ihren Vater, sie findet, dass er sich wie in kleines Kind aufführt. John verteidigt ihn:
– Und sie kennt doch Eskild.
– Ja, aber trotzdem. Ibber ist so was peinlich.
Ibber ist der Bruder, so viel verstehe ich. Putte schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck Milch. John trinkt Wasser, wie ich.
– Schmeckt es dir? Du musst nicht aufessen, sagt Putte zu mir, und einen Augenblick später:
– John ist unser bester Koch. Einen besseren Schweinebraten als seinen bekommst du hier in der ganzen Gegend nicht.
– Ach, ich weiß ja nicht, sagt er.
Die Schüssel ist leer. Putte wischt sie mit dem Finger sauber und steckt ihn in den Mund. Es sieht nicht so aus, als würden sie nach dem Essen rauchen. John steht auf und kocht Kaffee. Putte betrachtet seinen Rücken und spielt an ihrem Zopf herum. Ich sehe auf meine Hände, ich weiß nicht, was das ist mit diesen Händen.
– Wir gehen früh ins Bett, sagt Putte. Du kannst auf dem Sofa schlafen. Da liegt man gut.
– Wir holen gleich die Decke vom Speicher, sagt John aus der Küche. Dann können wir sie noch ein bisschen vor den Kamin hängen.
– Jetzt wäre es wohl angebracht zu sagen, dass ihr euch nicht zu viel Mühe machen sollt.
Putte verzieht keine Miene:
– Ach, wir haben sowieso nichts zu tun. Wir pflegen nur unsere Schleudertraumen.
– Wir freuen uns doch, wenn wir noch was anderes im Leben haben, sagt John, und dann lachen sie beide herzlich. John stellt eine Tasse vor mich hin, er legt einen Doppelkeks auf das Platzdeckchen und noch einen obendrauf und noch einen und noch einen. Jetzt zieht Putte ihn auf:
– Noch einen, John. Dann können wir Jenga spielen.
– Ich möchte gerne rüber auf die Insel, sage ich.
– Welche Insel denn?, fragt Putte und nimmt den obersten Keks.
– Die hier draußen?
– Die kleine gleich dort drüben.
– Das ist die Färseninsel, sagt John.
– Jetzt?, fragt Putte.
– Die wird als Viehweide genutzt. Sie gehört Pilegård.
– Da ist eine kleine Hütte hinter den Bäumen.
John nimmt einen Doppelkeks und noch einen und spricht mit Keks im Mund:
– Das ist ein hübsches Fleckchen.
– Nicht, wenn gerade Vieh drüben ist, sagt Putte.
– Kann man die Hütte vielleicht mieten?, frage ich.
John lacht, es staubt ein wenig aus seinem Mund.
– Pilegård vermietet auch seine alte Mutter, wenn einer sie haben will.
– In der einen Richtung ist Pilegårds Geldbeutel immer offen, sagt Putte, jetzt staubt auch sie.
– Willst du keinen Keks? Du bist mir vielleicht eine Dame.
– Ich gehe jetzt die Decke holen, sagt Putte und steht auf, der Zopf schwingt hin und her.
– Nein, das bin ich leider nicht. Und nein, danke, sage ich.
– Na, dann ist das wohl so, sagt John und kratzt sich unter dem Overall an der Brust.
2
Ich liege auf ihrem Ecksofa, mit den Füßen zur Ecke hin. Es bläst kräftig draußen, der Wind pfeift um das Haus, und das Licht der Straßenlaterne bewegt sich unregelmäßig durchs Wohnzimmer. Die Bettwäsche riecht nach Weichspüler. Von oben kommen jetzt keine Geräusche mehr. Zuerst hörte ich noch ihre Stimmen wie zwei verschiedene Tonarten, ohne Wörter ausmachen zu können. Sie haben lange gesprochen, einmal gelacht. Nach und nach wurden die Pausen zwischen den Sätzen dann immer länger. Ein Satz und eine Antwort und eine kurze Antwort. Pause. Ein kurzer Satz. Pause. Antwort.
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