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Tine hat sich ihr Leben lang um ihre kleine Schwester gekümmert. Als Jane ihre Ausbildung schmeißt, verschafft ihr Tine sofort einen Job als Parfümerieverkäuferin auf der Fähre Rødby-Puttgarden, wo sie selbst auch arbeitet. Die beiden Schwestern leben trotz gelegentlicher Affären ein Leben ohne Männer, schnuppern tagtäglich den Duft der großen weiten Welt - Paris, Arpège, White Linen - und schippern von Rødby nach Puttgarden und zurück. Jeder Auf- und Ausbruchsversuch von Jane endet unwillkürlich wieder in Tines Obhut. Doch eigentlich wäre es ein fröhliches Leben mit Tine und ihrer kleinen Tochter Ditte im Königskarree, wenn ihnen nicht ständig der Tod begegnen würde.
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Seitenzahl: 209
Helle Helle
Rødby – Puttgarden
Roman Aus dem Dänischen von Flora Fink
DÖRLEMANN
Die Originalausgabe »Rødby – Puttgarden« erschien 2005 bei Samleren in Kopenhagen. Lektorat: Anne-Bitt Gerecke eBook-Ausgabe 2012 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Copyright © 2005 Helle Helle, Kopenhagen Copyright © 2010 Dörlemann Verlag AG, Zürich Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN epub 978-3-908778-12-7www.doerlemann.com
KÖNIGSKARREE
1
In nur einer Woche starben vier, so war das hier bei uns. Einer von ihnen war Martin. Er wohnte im Block hinter uns. Wir hatten überlegt, ihn zum Kaffee einzuladen, aber daraus wurde dann ja nichts.
Ich zog bei Tine ein, weil ich auf der Fähre anfangen sollte. Tine brachte mich dort unter. Sie rief an und prahlte mit meinem Abitur, das ich vierundachtzig gemacht hatte. Währenddessen saß ich im Schaukelstuhl und gab Ditte das Fläschchen, ich konnte es kaum ertragen, die Prahlerei mit anzuhören. Ich schaukelte und schaukelte, schneller und schneller, und da zerbrach etwas an der einen Schiene unter dem Stuhl. Ich kippte zur Seite um und fiel auf den Boden, noch immer mit dem Fläschchen und Ditte im Arm. Tine sah es und schüttelte den Kopf, während sie weitertelefonierte. Sie drehte sich zum Wohnzimmerfenster um. Es regnete, der Regen malte lange nasse Streifen auf die Häuserblocks.
– So machen wir’s, tschühüüs, sagte Tine und legte auf.
– Du hättest dich mal hören sollen, sagte ich.
– Er will morgen mit dir sprechen. Du kannst dann im Februar anfangen. Nein, sie will nichts mehr.
Tine griff nach dem Fläschchen und sagte »da-da« zu Ditte und dann auch zu mir.
– Was sagt man da?, fragte sie.
– Was sagt man da?, sagte ich.
Tine hatte schon immer alles Mögliche für mich geregelt. Sie sagte, daran sei unsere Mutter schuld. Unsere Mutter habe sie gezwungen, sich um mich zu kümmern, sobald ich auf der Welt war. Sie musste mich wickeln, mich ins Bett bringen und mir vorsingen, bis sie Halsschmerzen bekam. Wenn sie sich beklagte, sagte unsere Mutter: Dummes Zeug, mach dir ein Marmeladenbrot. Als ich größer war, musste Tine mich zur Schule bringen und jeden Tag mit mir Hausaufgaben machen. Mein Hausaufgabenheft diente ihr als Beweismaterial:
– Schau doch selbst, sogar hier hab ich reingeschrieben, sagte sie einmal zu unserer Mutter.
– Du hast gebettelt, bis ich es dir erlaubt habe, sagte unsere Mutter.
– »Jane ging es nicht so gut, aber jetzt ist sie wieder topfit.«
– Du hast gebettelt, sag ich doch.
– Soso, sagte Tine mit einem Funkeln in den Augen.
Mit Hilfe ihrer funkelnden Augen regelte Tine so manches. Ditte war eine unmittelbare Folge davon und vollkommen geplant von Tines Seite. Sie war vierundzwanzig, als sie schwanger wurde. Der Vater war ein gutgebauter isländischer Elektriker, er war auf der Durchreise und musste in Rødbyhavn übernachten. Im Hotel war es sterbenslangweilig, also ging er abends aus und lernte Tine kennen. Am Tag darauf reiste er ab, und Tine hatte keine Ahnung, wo er jetzt war, sie konnte sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Vielleicht habe er Kádur oder Kálif geheißen, meinte sie, aber das konnte wohl kaum stimmen.
Wir saßen auf dem Fußboden vor dem gekenterten Schaukelstuhl. Ditte brabbelte vor sich hin. Ich dachte, ich würde niemals imstande sein, Parfum zu verkaufen, ich hatte ja selbst nie welches besessen.
– Was machen wir denn jetzt mit dem Schaukelstuhl?, fragte ich.
– Den lassen wir reparieren.
– Wo denn? Ich bezahle das natürlich.
– Wovon?
Tine stand auf. Sie ging aus dem Zimmer, zog ihre Jacke an und kam mit ihrem Geldbeutel in der Hand zurück:
– Ich geh nur schnell Marzipanschnecken holen, und dann machen wir es uns gemütlich.
– Tine, ich kann einfach kein Parfum verkaufen.
– Du wirst es schon lernen, sagte sie und ging.
Ich setzte Kaffee auf. Dann sah ich aus dem Küchenfenster, und als sie zurückkam, winkte ich ihr zu. Sie schwenkte die Bäckertüte über dem Kopf.
2
Das Gespräch fand in Alsings Büro statt. Er stand nicht auf, als ich hereinkam. Stumm nahm er meine Unterlagen entgegen und begann, darin zu blättern. Da nichts darauf hindeutete, dass ich mich setzen sollte, blieb ich stehen. Ich hatte mir Tines Ledersakko ausgeliehen.
– Na, sagte Alsing. – Läuft zu Hause alles rund?
– Rund?
– Mit der Kleinen. Wie alt bist du eigentlich?
– Neunzehn. Zwanzig.
Er nickte. Er sah mich die ganze Zeit an, auch als er mir die Unterlagen zurückgab.
– Ja, ihr seht einander wirklich ähnlich. Die Uniform bekommst du da drin.
Er machte eine Kopfbewegung zum Büro nebenan, und aus irgendeinem Grund machte ich einen leichten Knicks. Ich holte die Uniform ab, zwei weiße Blusen und einen Wickelrock, und fuhr mit dem Rad nach Hause, die Kleider baumelten in einer Plastiktüte am Lenker.
– Hattest du mal was mit Alsing?, fragte ich Tine, als wir beim Abendessen saßen.
– Nö, sagte sie, mit kurzem Ö, also hatte sie doch.
– Der hat vielleicht eklig dicke Lippen, sagte ich.
– Da hast du absolut recht.
Meine Sachen kamen früh an einem Mittwochmorgen aus Næstved an. Tine war mit Ditte beim Arzt, um sie impfen zu lassen. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit, und der Mann von der Spedition steckte einen Zettel hindurch und bat mich zu unterschreiben. Er sagte, er würde alles unten vor der Tür abstellen. Als ich hinunterkam, war er schon weg, und meine Sachen standen völlig chaotisch durcheinander. Ich fing an, sie hinaufzutragen, eine Kiste nach der anderen. Es waren insgesamt neun. Danach zerrte ich die Schreibtischplatte die Treppenstufen hinauf, was einen ziemlichen Lärm machte. Mit dem Bettgestell wollte ich auf dieselbe Weise verfahren, aber es war einfach zu sperrig. Zum Glück kam Tine in dem Moment nach Hause und fasste mit an.
Fünf der Kisten gehörten mir nicht. Sie enthielten eine Menge altes Zeug, Vasen und Figuren, alles in Zeitungspapier eingewickelt. Eine der Kisten war voller selbstgestrickter Pullis und Mützen, in einer anderen befand sich, in Styropor eingepackt, eine nagelneue Stereoanlage mit Plattenspieler, Kassettendeck und Verstärker, nur die Lautsprecherboxen fehlten.
Tine quietschte vor Freude. Sie warf mit Styroporkügelchen um sich und steckte überall irgendwelche Kabel ein. Ich saß auf dem Fußboden und sagte nichts. Einige meiner Kisten fehlten, und ich wollte sie gerne wiederhaben. Aber es würde wohl schwierig werden, sich bei der Spedition zu beschweren, ohne dabei die Stereoanlage zu erwähnen.
– Was war denn in deinen Kisten? Mach am besten gleich eine Liste, sagte Tine, und nachdem ich eine Weile darüber gebrütet hatte, versuchten wir, den Wert der verlorenen Sachen auszurechnen. Wir kamen auf gerade mal hundert Kronen. In einer Kiste hatten sich zum Beispiel achtundvierzig leere Senfgläser befunden, die unsere Mutter für mich gesammelt hatte. In einer anderen hatte ich meine alten Frauenzeitschriften und Poster verstaut. Alles in allem war die Stereoanlage weit mehr wert, und Tine bestand darauf, so zu tun, als wäre nichts passiert.
– Wir können garantiert meine Lautsprecher anschließen, sagte sie.
Die vier Kisten mit den Figuren und dem selbstgestrickten Zeug trugen wir in den Keller. Das Kellerabteil war übervoll, so dass wir uns gemeinsam gegen die Tür stemmen mussten, um sie wieder zuzubekommen. Dann liefen wir schnell zurück nach oben, es war, als hätten wir ein kleines Verbrechen begangen. Aber Tine meinte, man könne immer alles irgendwie erklären.
Zweimal hintereinander verschimmelte uns der Käse, und das war meine Schuld. Ich war mir sicher, dass unsere Mutter einmal gesagt hatte, Käse gehöre nicht in den Kühlschrank, weshalb ich ihn in eine Plastiktüte steckte und in den Küchenschrank legte. Ich hatte keine Ahnung, ich selbst aß nie Käse. Es war auch so warm in der Wohnung, denn hier im Königskarree wurden die Heizkosten gleichmäßig auf alle Parteien verteilt, und Tine sagte, wir müssten das ausnutzen und richtig aufdrehen. Das ganze Jahr über hatte sie kurzärmelige Sachen an. Sie schimpfte wegen des Käses. Im Gegenzug schimpfte ich über die Aschenbecher. Sie goss immer Wasser hinein, und das stank fürchterlich.
Aber wir mochten beide dieselben guten alten Gerichte mit Soße. Und wir lagen beide gern auf dem Sofa, besonders ich. Dazu kam unsere gemeinsame Begeisterung für Donnerstage mit Illustrierten und Kuchen vom Bäcker. Unsere Mutter hatte uns auf den Geschmack gebracht, Donnerstag war immer der Höhepunkt der Woche gewesen. Zu dieser Tradition gehörte auch der immergleiche Wortwechsel:
– Weißt du was?, fragte die eine.
– Nein, und ich will es gerne selbst lesen, sagte die andere.
Wir lasen auch Tove Ditlevsen und Knuth Becker und Pearl S. Buck. Auf der Schule in Næstved war einer, der behauptete, das sei überhaupt keine richtige Literatur. Er hieß Hans, und er war ein Jahr an der Universität gewesen. Ich maß seinen Äußerungen keine größere Bedeutung bei. Wenn er wirklich ein so großer Literaturkenner wäre, würde er wohl kaum eine Ausbildung zum Ergotherapeuten machen.
3
Im Hotel Vogelflug schnitt der Koch einmal das verdorbene Ende von einem Stück Ochsenlende weg und servierte den Rest sieben holländischen Gästen. Sie prosteten sich eifrig zu und tranken und aßen. Der Koch war versoffen. Der Besitzer war versoffen. Und die Wirtschafterin starb an Lebensmittelvergiftung, aber das war einige Jahre zuvor gewesen. Bevor sie starb, machte sie zweiundsiebzig Gläser pikante Rote Bete ein, die noch immer in Reih und Glied im Heizungskeller standen. Sie wurden zu den Vogelflug-Frikadellen serviert. Das war das Allerschlimmste, fand Tine. Sie arbeitete in den Sommerferien nach der neunten Klasse in der Küche und verliebte sich ein wenig in den Koch. In den Pausen saß sie auf einer Treppenstufe und hielt ihren geschwollenen Finger in ein Glas Seifenwasser. Komm, probier doch mal die Soße, sagte der Koch und zwinkerte ihr zu. Sie bekam achtzehn Kronen in der Stunde, das war nicht übel. Im Danhotel zahlten sie nur fünfzehn.
Ich sah sie einmal mitten während der Arbeitszeit die Havnegade hinunterrennen, laut kreischend, mit ihren Holzschuhen in der Hand, der Koch hinter ihr her. Ich war mit Kirsten Hansen auf dem Weg zum Strand, es war das erste Mal, dass wir allein zum Baden durften. Wir waren beide zehn Jahre alt und würden bald in die Fünfte kommen. Wir hatten die gleichen Fahrräder, und wir trugen die gleiche Art Perlen im Haar. Wir fuhren im selben Tempo nebeneinander her und drehten uns gleichzeitig um, als wir Tines Kreischen hörten. Der Koch hatte sie schon fast erwischt, als mein Vorderrad in das von Kirsten Hansen geriet, oder vielleicht war es auch umgekehrt, jedenfalls kippten unsere Fahrräder gleichzeitig um, und wir knallten beide mit der Stirn auf den Asphalt. Dabei ging Kirsten Hansens Lenker kaputt, und wir mussten den restlichen Weg zum Strand schieben. Dort angekommen, gingen wir aber doch nicht ins Wasser. Wir wussten nicht, ob es nicht vielleicht gefährlich sein könnte, wenn man sich gerade den Kopf verletzt hatte. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass es meine Schuld war. Wir können doch einfach Sandkörnchen zählen, hihi, sagte Kirsten Hansen, ohne auch nur ansatzweise zu lachen, und abends kam Tine nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause, und es gab einen Riesenärger.
Nach der zehnten Klasse fing sie auf der Fähre an. Im ersten Jahr räumte sie im Restaurant ab, aber sobald sie achtzehn war, versetzte Alsing sie in die Parfümerie. Sie wusste schon vorher aus einem Schönheitspflegekurs an der Volkshochschule alles über Reinigungsmilch und Gesichtswasser. Den Rest lernte sie schnell. Im Dezember konnte sie achtunddreißig Parfums auswendig, und als in Nykøbing Weihnachtsmarkt war, sauste sie aufgeregt die Einkaufsstraße auf und ab, den Frauen hinterher, und erschnupperte ihre Parfums: Nina Ricci! Missoni! Rive Gauche! Beruhig dich mal wieder, sagte unsere Mutter, aber das tat Tine nicht.
4
Ich freute mich nicht gerade darauf, auf der Fähre anzufangen. Am liebsten wäre es mir gewesen, meine Tage würden weiterhin so verlaufen, wie sie es jetzt taten. Morgens wurde ich von Dittes Geräuschen aus dem Schlafzimmer geweckt. Ich schlich mich hinein und nahm sie hoch, Tine drehte sich noch einmal um. Dann kochte ich Kaffee, während Ditte auf ihrer Spieldecke lag und mich ansah. Ich machte auch ein Fläschchen für sie fertig.
Im Laufe der nächsten Stunde stand Tine auf und kam zu uns in die Küche. Sie setzte sich, aß zwei Scheiben Knäckebrot und trank jede Menge Kaffee. Wir sagten kaum etwas. Erst wenn Ditte draußen in ihrem Kinderwagen lag und ihr Vormittagsschläfchen machte, begannen wir zu reden. Wir saßen am Esstisch und machten Pläne. Brauchten wir Schwarzbrot? Mussten wir heute zur Post? Welche Platten sollten wir uns das nächste Mal aus der Musikbibliothek ausleihen?
Tine hatte im Wohnzimmer ein Regal für die neue Stereoanlage leergeräumt, sie funktionierte bestens mit den alten Lautsprechern. Wir lagen auf dem Sofa, hörten Musik und guckten in den grauen Himmel hinaus. Tine lag auf ihrem Sofa, ich auf dem unserer Mutter. Zwischendurch stand ich auf und ging zum Fenster, um nachzusehen, ob Ditte sich in ihrem Kinderwagen bewegte.
Ich konnte Martin dort unten sehen. Er war auf dem Weg zum Fahrradschuppen, beide Hände in den Hosentaschen. Bei jedem Schritt ging er ganz auf die Zehenspitzen. Ich hatte oft gedacht, dass diese Art zu gehen besonders viele Kalorien verbrauchen müsste. Einmal bei einem Pfingstball hatten wir uns auf den Mund geküsst, und das war ein sehr energiearmer Kuss gewesen. Nicht nur von seiner Seite. Er hatte mich in dieser Hinsicht nie interessiert, er war schlaksig und launisch. Als wir zusammen zur Schule gingen, konnte er von einem Extrem ins andere fallen, eben noch laut schreiend im Klassenzimmer, dann klein und heulend auf der Toilette. Er hatte oft Magenschmerzen, und dann kam seine Mutter und holte ihn ab, die Umhängetasche eng an den Körper gepresst und mit einem Kopftuch auf. Sie verströmte einen Geruch von Hackbraten oder Eintopf mit Würstchen, weil sie das Abendessen immer schon am Vormittag kochte. Sie arbeitete jeden Tag ab sechzehn Uhr im Behindertenheim Rødbygård, alle nannten sie nur die Friseuse. Dabei wusste niemand, wie ihr Haar unter dem Kopftuch aussah. Sie zog mit dem heulenden Martin in der großen Pause ab, doch schon am nächsten Morgen war er lautstark zurück auf seinem Platz. Später, als er seiner Mutter über den Kopf gewachsen war, hatte er nicht mehr so oft Magenschmerzen.
Jetzt verschwand er im Fahrradschuppen, und kurz darauf kam er mit seinem Rad heraus. Er hatte eine dünne Jeansjacke an, er stieg auf und fuhr davon, sein Atem wehte weiß in der Luft. Er arbeitete in Teilzeit bei Frigodan, wo er gefrorene Zwiebeln und Bohnen verpackte.
5
Gegen fünf Uhr, wenn die Dunkelheit hereinbrach, holten wir die Kochbücher hervor. Tine sprach oft davon, dass wir Rinderschulter machen sollten. Das war eines der Paradegerichte unserer Mutter. Ein einziges Mal versuchten wir es, doch wir konnten uns nicht mehr daran erinnern, woraus man die Soße machte. Während wir uns das Hirn zermarterten, wurde das Fleisch im Ofen schon ganz trocken, und auch die Kartoffeln waren längst gar und das Wasser abgegossen. Brühwürfel hatten wir vergessen zu kaufen. Schließlich komponierte Tine eine Soße aus Wasser, Mehl und Salz, mangels Sahne schüttete sie ein wenig Joghurt hinein. Heraus kam etwas, das uns an Buttermilchsuppe erinnerte. Die gab es dann am Tag danach.
Wir wechselten uns damit ab, Ditte ins Bett zu bringen. Wenn ich an der Reihe war, gab ich ihr im Schlafzimmer das Fläschchen. Ich saß auf dem Doppelbett, den Rücken an die Wand gelehnt und Ditte im Arm. Ihre Kopfhaut roch nach warmem Sand. Zwischendurch ließ sie vom Fläschchen ab und schaute mich an, sie musterte mein Gesicht und wandte sich dann wieder ihrer Milch zu.
Wenn sie eingeschlafen war, legte ich sie vorsichtig ins Bett und schlich hinüber ins Wohnzimmer. Manchmal hatte Tine dann Kaffee gemacht, aber an einem Abend hatte sie uns einen Drink gemixt, Alles-was-das-Haus-zu-bieten-hat. Die einzelnen Bestandteile herauszuschmecken war unmöglich, er schmeckte einfach nur stark und nach Kokos.
Als wir unsere Gläser geleert hatten, schlug Tine mit beiden Händen aufs Sofa:
– Es muss endlich was passieren.
– Was denn?
– Hier passiert einfach rein gar nichts. Wie auch, wenn ich immer nur zu Hause hocke.
– Ja, aber, was soll denn passieren?
– Mach doch nicht immer so ein Gesicht. Ich brauch einfach eine Luftveränderung.
– Tut mir leid, wenn ich dich langweile.
– Blabla.
– Entschuldigung.
Die »Luftveränderung« bestand zunächst einmal darin, dass sie zweimal um den Block ging. Dabei schüttelte sie immer wieder ihre Hände, ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Ich beobachtete sie vom Wohnzimmer aus, und als sie um die Ecke verschwand, lief ich in die Küche und sah dort aus dem Fenster. Sie stellte sich unter eine Straßenlaterne und winkte und streckte mir die Zunge heraus. Dann machte sie mir ein Zeichen, dass ich das Fenster öffnen solle.
– Ich gehe kurz zur Sporthalle, sagte sie.
– Jetzt?
– Vielleicht trink ich da noch ein Bier in der Kneipe. Soll ich uns was Süßes mitbringen?
– Vielleicht eine Tüte Gummizeug.
– Groß oder klein?
– Groß.
Da hörte ich Ditte weinen, ich machte Tine ein Zeichen und ging ins Schlafzimmer. Als ich zum Küchenfenster zurückkam, war Tine weg. Ich putzte mir die Zähne, setzte mich ins Wohnzimmer und wartete.
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