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Die Kontroversen, die 1995 sofort nach der Veröffentlichung des Romans Faserland ausbrachen, haben sich gelegt, der Roman ist heute ein Klassiker der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der immer wieder neue Generationen von Lesern fasziniert. »Ein junger Mann irrt durch die alte Bundesrepublik. Wir schreiben das Jahr 1995, und die Mauer ist gefallen, das interessiert den jungen Mann aber nicht. Von Nord nach Süd lässt er sich treiben, von Sylt zum Bodensee, dann weiter nach Zürich ans Grab von Thomas Mann. Betrunken ist er häufig, angewidert eigentlich ständig. Von den Menschen, dem Land, der Zeit. Geld hat er viel, Stil auch, nur Halt hat er keinen. Er versteht alles, sagt er, dann entgleitet ihm wieder alles. Christian Kracht legt in seinem Debütroman Faserland das hedonistische Zeitalter der Bundesrepublik, legt seine eigene Generation unters Mikroskop. Und findet hinter tausend Marken, hinter tausend Masken, unter einer meterdicken Oberfläche keine Welt. Als Geburt der Popliteratur in Deutschland wurde Krachts schnoddrig-verzweifeltes Debüt bezeichnet. Es war nicht ihre Geburt, es war ihre Hinrichtung.« Elmar Krekeler, Die Welt
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2020
Christian Kracht
Roman
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Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ,»Imperium« und »Die Toten« sind in 30 Sprachen übersetzt. 2012 erhielt Christian Kracht den Wilhelm-Raabe-Preis.
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»Ein junger Mann irrt durch die alte Bundesrepublik. Wir schreiben das Jahr 1995, und die Mauer ist gefallen, das interessiert den jungen Mann aber nicht. Von Nord nach Süd lässt er sich treiben, von Sylt zum Bodensee, dann weiter nach Zürich ans Grab von Thomas Mann. Betrunken ist er häufig, angewidert eigentlich ständig. Von den Menschen, dem Land, der Zeit. Geld hat er viel, Stil auch, nur Halt hat er keinen. Er versteht alles, sagt er, dann entgleitet ihm wieder alles. Christian Kracht legt in seinem Debütroman Faserland das hedonistische Zeitalter der Bundesrepublik, legt seine eigene Generation unters Mikroskop. Und findet hinter tausend Marken, hinter tausend Masken, unter einer meterdicken Oberfläche keine Welt. Als Geburt der Popliteratur in Deutschland wurde Krachts schnoddrig-verzweifeltes Debüt bezeichnet. Es war nicht ihre Geburt, es war ihre Hinrichtung.«
Elmar Krekeler, Die WELT
Hinweis zum Buch
Widmung
Motto
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind, von den gelegentlich erwähnten Personen des öffentlichen Lebens abgesehen, frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist völlig unbeabsichtigt.
Für meine Schwester Dominique.
Vielleicht hat es so begonnen. Du denkst, du ruhst dich einfach aus, weil man dann besser handeln kann, wenn es soweit ist, aber ohne jeden Grund, und schon findest du dich machtlos, überhaupt je wieder etwas tun zu können. Spielt keine Rolle, wie es passiert ist.
Samuel Beckett Der Namenlose
Give me, give me – pronto – Amaretto.
The Would-Be-Goods
Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist eine Fischbude, die deswegen so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am obersten Zipfel von Sylt steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude.
Also, ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever. Weil es ein bißchen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war. Der Himmel ist blau. Ab und zu schiebt sich eine dicke Wolke vor die Sonne. Vorhin hab ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns noch aus Salem, obwohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich hab sie ein paar mal im Traxx in Hamburg gesehen und im P 1 in München.
Karin sieht eigentlich ganz gut aus, mit ihrem blonden Pagenkopf. Bißchen zuviel Gold an den Fingern für meinen Geschmack. Obwohl, so wie sie lacht, wie sie das Haar aus dem Nacken wirft und sich leicht nach hinten lehnt, ist sie sicher gut im Bett. Außerdem hat sie mindestens schon zwei Gläser Chablis getrunken. Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man sowas ja nicht wissen. Sie trägt auch eine Barbourjacke, allerdings eine blaue. Eben, als wir über Barbourjacken sprachen, hat sie gesagt, sie wolle sich keine grüne kaufen, weil die blauen schöner aussehen, wenn sie abgewetzt sind. Das glaube ich aber nicht. Meine grüne Barbour gefällt mir besser. Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts. Das erkläre ich später, was ich damit meine.
Karin ist mit dem dunkelblauen S-Klasse-Mercedes ihres Bruders hier, der in Frankfurt Warentermingeschäfte macht. Sie erzählt, daß der Mercedes ganz gut ist, weil der wahnsinnig schnell fährt und ein Telefon hat. Ich sage ihr, daß ich Mercedes aus Prinzip nicht gut finde. Dann sagt sie, daß es sicher heute abend regnen wird, und ich sage ihr: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich stochere mit der Gabel in den Scampis herum. Ich mag die nicht mehr aufessen. Karin hat ziemlich blaue Augen. Ob das gefärbte Kontaktlinsen sind?
Jetzt erzählt sie von Gaultier und daß der nichts mehr auf die Reihe kriegt, designmäßig, und daß sie Christian Lacroix viel besser findet, weil der so unglaubliche Farben verwendet oder so ähnlich. Ich hör nicht genau zu.
Andauernd ruft jemand von Gosch über das Mikrophon irgendwelche bestellten Muschelgerichte aus und das lenkt mich immer wieder ab, weil ich mir vorstelle, daß eine der Muscheln verseucht ist und heute nacht irgendein chablistrinkender Prolet ganz schlimme Bauchschmerzen kriegt und ins Krankenhaus gebracht werden muß mit Verdacht auf Salmonellen oder irgendsowas. Ich muß grinsen, wie ich mir das vorstelle, und Karin denkt, ich grinse über den Witz, den sie gerade erzählt hat und grinst zurück, obwohl ich, wie gesagt, gar nicht zugehört hab.
Ich zünde mir eine Zigarette an, und während Karin weitererzählt, beobachte ich, wie ein schwarzer Windhund mit einem Halsband, auf das so winzige goldene Kühe geklebt sind, eine große Kackwurst neben einen Tisch setzt. Der Hund kackt komischerweise halb im Stehen, und ich kann genau erkennen, wie ein Viertel der Wurst an seinem Hintern klebenbleibt.
Ich muß schon wieder grinsen, obwohl mir jetzt richtig schlecht ist, weil ja auch die Scampis irgendwie komisch geschmeckt haben, und ich unterbreche Karin und frage sie, ob wir nicht ins Odin fahren wollen, nach Kampen. Sie sagt ja, und ich trinke mein Bier aus, obwohl mir Jever eigentlich gar nicht schmeckt, und wir laufen zu ihrem Auto, da ich gerade keine Lust habe, in meinem engen Triumph zu sitzen.
Sie schließt ihren Wagen auf, und wir steigen ein, und es riecht innen noch ganz neu, nach Leder. Ich werfe meine Zigarette aus dem Fenster, während Karin losfährt, weil ich diesen neuen Geruch nicht zerstören mag und weil sie nicht raucht. Sie legt eine Kassette ein, und während ein ganz schlechtes Lied von Snap aus den Boxen kommt, überholt sie einen Golf, in dem ein ziemlich hübsches Mädchen sitzt. Ich setze meine Sonnenbrille auf, und Karin erzählt irgend etwas, und ich sehe aus dem Fenster.
Links und rechts der Straße rast Sylt an uns vorbei, und ich denke: Sylt ist eigentlich super schön. Der Himmel ist ganz groß, und ich habe so ein Gefühl, als ob ich die Insel genau kenne. Ich meine, ich kenne das, was unter der Insel liegt oder dahinter, ich weiß jetzt nicht, ob ich mich da richtig ausgedrückt habe. Ich kann mich natürlich auch täuschen.
Kurz vor Kampen biegt Karin plötzlich rechts ab, auf den Parkplatz von Buhne 16, dem Nacktbadestrand, und ich denke, Moment mal, was kommt denn jetzt? Wir parken direkt zwischen einem Porsche und so einem blöden Geländewagen und steigen aus, und weil ich Karin durch meine Sonnenbrille etwas fragend ansehe, merkt sie, daß ich eben im Auto nicht zugehört hab. Sie lacht wieder auf ihre hübsche Art und erklärt mir, wir müßten vorher noch Sergio und Anne abholen, die gerade am Strand sitzen und daß die beiden extra vorhin mit dem Mobiltelefon angerufen hätten, bei ihr im Mercedes, meine ich.
Wir steigen aus, und ich denke daran, daß das Mobiltelefon sicher ziemlich versaut wird, dort am Strand, wegen dem Sand und dem Salzwasser. Karin drückt dem Parkwächter ein paar Mark in die Hand, und wir laufen auf dem Holzsteg durch die Dünen zum Strand. Während wir auf den verwitterten Holzbohlen laufen, redet Karin vom Schumanns in München und wie sie da neulich Maxim Biller kennengelernt hat und daß der so blitzgescheit gewesen ist und sie ein klein wenig Angst vor ihm gehabt hat.
Ab da höre ich nicht mehr zu, weil mir plötzlich dieser Geruch der Holzbohlen und des Meeres in die Nase steigt, und ich denke daran, wie ich als kleines Kind immer hierher gekommen bin, und beim ersten Tag auf Sylt war das immer der schönste Geruch: wenn man das Meer lange nicht gesehen hatte und sich riesig darauf freute und die Holzbohlen durch die Sonnenstrahlen so einen warmen Duft ausgeströmt haben. Das war ein freundlicher Geruch, irgendwie verheißungsvoll und, na ja, warm. Jetzt riecht es wieder so, und ich merke, wie ich fast ein bißchen heulen muß, also zünde ich mir schnell eine Zigarette an und fahre mir mit dem Ärmel meines Barbours über die Stirn.
Ziemlich peinlich, das Ganze, aber Karin hat davon nichts mitbekommen, außerdem ist sie gerade mit dem Strandwächter beschäftigt, der die Kurkarten von den blöden Rentnern sehen will, die hier an den Strand wollen. Karin gibt dem Mann für uns beide zwölf Mark für eine Tageskarte, und ich will mich bei ihr bedanken, lasse es dann aber sein.
Die Sonne fängt an, vom Himmel zu stechen, und mir wird heiß und Karin offenbar auch, weil sie ihren Barbour auszieht und ihren Pullover auch. Der Pullover ist wirklich hübsch. Darunter trägt sie nur einen Body, und ich sehe, daß sie ziemlich große, feste Brüste hat, und ich merke, daß sie weiß, daß ich das sehe. Ihre Nippel stehen ein bißchen vor wegen dem Wind, der immer noch ziemlich kühl ist, obwohl die Sonne so sticht.
Ich ziehe mir auch die Barbourjacke aus und das Jackett, und krempele mir die Hemdsärmel hoch. Gut, daß ich die Sonnenbrille dabei hab, denke ich. Der Seewind wirbelt meine zurückgegelten Haare nach vorne. Ich habe nämlich vorne ziemlich lange hellbraune Haare, und wenn ich mir sie runterziehe, dann gehen sie mir übers Kinn. In dem Moment fällt mir ein, daß ich in der Innentasche der Barbourjacke noch ein bißchen Haargel haben muß, und ich überlege, wann ich das Zeug benutzen könnte, ohne daß es gleich peinlich aussieht.
Wir sind jetzt fast am Strand. Links und rechts sind die Dünen, und überall weht dieses Heidegras und der Strandhafer. Das sieht fast so aus wie Wellen an Land. Über uns kreischen Seemöwen, und ich denke daran, daß Göring, der hier auf Sylt Ferien machte, einmal seinen Blut-und-Ehre-Dolch hier verloren hat, mitten in den Dünen. Es gab eine riesige Suchaktion und eine hohe Belohnung für den Finder, und schließlich wurde der Dolch gefunden, von einem gewissen Boy Larsen oder so, einem Jungbauern. Das hieß damals so. Alle haben sich über den dicken Göring totgelacht, wie der beim Pinkeln in den Dünen seinen blöden Dolch verloren hat, nur der Boy Larsen nicht, weil der die Belohnung eingesackt hat. Erst danach hat er, glaube ich, herzlich gelacht.
Ich denke an den Namen Boy und daran, daß nur hier oben auf Sylt die Menschen so heißen, als ob das gar nicht mehr Deutschland wäre, sondern so ein Mittelding zwischen Deutschland und England. Hier auf Sylt stand die Flak, sozusagen auf vorgeschobenem Posten, und die Engländer waren lange hier stationiert nach dem Krieg, und als kleiner Junge habe ich in den letzten deutschen Bunkern gespielt, bei Westerland. Inzwischen hat man sie, glaube ich, gesprengt.
Da vorne, am Strand, in einem blau-weiß gestreiften Strandkorb, sitzen Sergio und Anne. Ich sehe die beiden sofort, weil ich Anne erkenne. Ich hab einmal im P 1 versucht, sie aufzureißen, und das ist damals ziemlich in die Hose gegangen, da ich betrunken war und kotzen mußte, und als ich vom Klo zurückkam, war sie verschwunden. Jedenfalls glaube ich, daß es so war. Karin und ich steuern auf den Strandkorb zu. Wir sagen hallo, aber Anne erkennt mich nicht, oder sie tut so, als ob sie mich nicht erkennen würde. Die beiden haben zwei Flaschen Champagner dabei und bieten uns zwei Plastikbecher an. Karin redet mit Anne, also fange ich mit Sergio ein Gespräch an. Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß und dazu eine alte Rolex, und wenn er nicht barfuß wäre, mit hochgekrempelten Hosenbeinen, dann würde er Slipper tragen von Alden, das sehe ich sofort.
Um irgend etwas zu sagen, sage ich, daß es nachher regnen wird, und Sergio meint, daß das Wetter ganz bestimmt so bleibt. Ich merke, daß er einen Akzent hat, und frage ihn, woher er kommt, und er sagt: aus Kolumbien. Dann geht uns irgendwie der Gesprächsstoff aus, und Sergio redet nicht weiter, also zünde ich mir eine Zigarette an und sehe erst auf meine Fingernägel und dann aufs Meer.
Es gibt ein Geheimnis, das wir Kinder, die früher auf Sylt Ferien machten, immer erzählt bekamen, hinter vorgehaltener Hand: Weit draußen, vor Westerland, wo heute die riesige Nordsee liegt, gab es einmal eine Stadt, die Rungholt hieß. Diese Stadt war früher Teil der Insel, bis vor zweihundert Jahren oder so eine große Sturmflut kam und alles ins Meer zog, in den blanken Hans, so hieß das Meer nämlich damals. Jedenfalls sind alle Einwohner damals ertrunken, und das Geheimnis dabei war, daß man, wenn man bei Westwind genau hinhörte, die Kirchturmglocken von Rungholt hören konnte, wie sie unter dem Meer den Christen zum Gebet läuteten. Das hat uns immer eine Heidenangst eingejagt, diese Vorstellung, aber oft sind wir Kinder an den Strand gegangen, nachts, um zu lauschen, die Ohren ganz dicht in den Sand gepreßt.
Sergio nimmt sich inzwischen das Mobiltelefon und telefoniert auf spanisch mit irgend jemand und sieht mich dabei immer an, und das irritiert mich, also wende ich mich Karin und Anne zu. Wir trinken alle drei wie auf Kommando einen Schluck Roederer, und das sieht so komisch aus, daß Karin wieder lachen muß. Ich glaube, ich mag Karin ganz gerne.
Danach brechen wir auf, zurück zum Parkplatz. Karin und ich steigen in ihren Mercedes und Sergio und Anne in den Land Cruiser, neben dem wir vorhin wie zufällig geparkt haben. Anne und Karin sind ziemlich angetrunken und fahren auch so. Ich erzähle Karin, daß das mein letzter Tag auf Sylt sei und daß ich morgen abfahre, und Karin nickt und sagt: Schade, und dann sieht sie mich an und lächelt. Es ist ein sehr schönes Lächeln.
Kurz hinter dem Kampener Ortsschild überfährt sie um ein Haar einen Rentner, der dort über die Straße läuft und das Auto nicht kommen sieht. Der Rentner trägt ein Cordhütchen und ein auberginefarbenes Blouson, und er schimpft wie ein Berserker hinter uns her, und ich sage zu Karin, daß das sicher ein Nazi ist, und Karin lacht.
Wir biegen in die Whiskystraße ein. Die Sonne steht schon tief am Himmel und taucht die Whiskystraße in ein goldenes Licht. Vielleicht heißt sie deswegen so, denke ich, nicht nur wegen den vielen Kneipen, sondern auch, weil sie so goldgelb aussieht, wenn die Sonne so schräg drauffällt wie jetzt. Ich bin ganz schön angetrunken, daß ich so einen Unsinn denke. Wir parken den Wagen, steigen aus und laufen zum Odin. Unterwegs streift Karins Hand ganz kurz meine Hand, und ich bekomme einen Hustenanfall.
Das Odin ist rappelvoll, obwohl es noch früh am Abend ist. Normalerweise bekommt man hier erst ab elf, halb zwölf Uhr keinen Platz mehr, aber heute ist schon alles belegt. Karin kennt die Besitzerin der Bar, und sie winkt freundlich und scheucht einen Kellner zu uns hin. Ich denke daran, daß die Bedienung im Odin immer gut aussieht, braungebrannt und so, und daß die immer extrem gutgelaunt sind, und ich überlege, woher das wohl kommt. Der Haushund ist ein dunkelbrauner Labrador namens Max, und Karin gibt ihm anscheinend immer ein Brötchen, wenn sie im Odin ist, der Hund kennt das nämlich schon. Da kommt er auch schon angelaufen, drückt sich an den vielen Beinen vorbei und schnappt sich das Brötchen, das Karin ihm hinhält.
Danach bestellt sie zwei Flaschen Roederer, und als sie kommen, trinken wir jeder ein Glas auf ex, und jemand hinter der Bar legt Hotel California von den Eagles auf, und wie die Musik so spielt und der Hund Max sein Brötchen zerkaut und draußen die Sonne untergeht, fühle ich mich auf einmal so verdammt glücklich. Ich bekomme ein dämliches Grinsen, weil ich so glücklich bin, und Anne merkt das und fängt auch an zu grinsen, und jetzt grinst auch Karin und sogar Sergio muß lächeln.
Das Odin wird langsam zu voll. Am Nebentisch stehen drei Männer und reden ziemlich laut über ihren Testarossa. Sie tragen alle Cartier-Uhren, und man sieht ihnen förmlich an, daß sie Golf spielen. Die haben eine Behäbigkeit, die sich nach dreißig einstellt, so eine braungebrannte, unsympathische Behäbigkeit. Der eine wischt sich immer an der Nase herum, und tatsächlich verschwindet er alle zehn Minuten aufs Klo und kommt dann immer ganz erfrischt zurück und klatscht sich in die Hände und sagt immer so Zeug wie: Bestens, Männer!
Karin und ich sehen uns an, und Karin verdreht die Augen. Irgendwie ist es besser, man geht. Wir verabschieden uns von Sergio und von Anne, weil die noch bleiben wollen, und ich zahle die zwei Flaschen Roederer, damit ich vor Sergio angeben kann, obwohl mir das im gleichen Moment wieder extrem peinlich ist, und ich kaufe dann gleich noch eine dritte Flasche, die wir mitnehmen, und die Chefin küßt Karin dreimal auf die Wange, genau wie in Frankreich, und dann gibt die Chefin uns noch zwei Sektgläser mit.
Karin und ich laufen zu ihrem Wagen, und unterwegs sehe ich, wie ein völlig betrunkener junger Mann auf die Tür seines maulbeerfarbenen Porsche-Cabrios kotzt, während er versucht, den Wagen aufzuschließen. Ich sehe schnell auf die Autonummer. D wie Düsseldorf. Aha, ein Werber, denke ich. Das muß man sich mal vorstellen: Ein maulbeerfarbener Porsche.
Mehrere Leute sehen sich von der gegenüberliegenden Straßenseite das Ganze an und lachen hämisch, und ich glaube, da drüben auch Hajo Friedrichs zu erkennen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, da ich gehört habe, daß der inzwischen so aufgeschwemmt ist im Gesicht. Ich frage Karin, ob ich nicht lieber fahren soll, da sie ganz schön betrunken ist, aber sie sagt nein, sie könne noch fahren, und ich setze mich auf den Beifahrersitz, und jetzt riecht es wieder nach Leder und ein bißchen nach Parfum.
Karin fährt los, und während der Fahrt erzählt sie irgend etwas, und ich bemühe mich zuzuhören, es gelingt mir aber nicht, und so starre ich sie von der Seite an. Wie ihr buntes Hermes-Halstuch sich gegen ihren braunen Hals abzeichnet und wie ihr braungebrannter Arm auf dem Lenkrad ruht, dieser Arm, der bedeckt ist mit kleinen goldenen Härchen, und ich erinnere mich daran, wie ich einmal, als kleiner Junge, neben einem kleinen Mädchen auf einem Handtuch am Strand von Kampen gelegen habe, wir beide auf dem Bauch, und das kleine Mädchen war eingeschlafen, und ich habe ihr den weißen Sand über den Arm rieseln lassen und beobachtet, wie sich der feine Sand in ihren Armhärchen verfangen hat. Davon ist sie aufgewacht, und sie hat mich angelächelt, und dann haben wir zusammen am Meer mit bunten Plastikschaufeln eine Sandburg gebaut. Ich hatte eine orangefarbene Schaufel, das weiß ich noch genau.
Vor der Kupferkanne rollt der Mercedes langsam aus. Die Reifen knirschen auf dem Kies, und Karin stellt den Motor ab. Ich höre ein Rauschen im Ohr und bilde mir ein, es wäre das Meer, aber das kann es ja gar nicht sein, weil wir hier auf der Wattseite sind. Wir sehen uns an, steigen aus und setzen uns auf einen der grünen Hügel vor der Kupferkanne.
Karin macht die Flasche Roederer auf, und sie läßt den Korken nicht knallen, und ich denke daran, wie sehr ich Menschen hasse, die einen Champagnerkorken ordentlich knallen lassen, damit sich alle umdrehen. Wir trinken aus den mitgebrachten Sektgläsern und beobachten die Leute, die in die Kupferkanne gehen. Danach sehen wir aufs Wattenmeer.
Karin legt ihre Hand auf meine Schulter, und da, wo ihre Hand ist, wird es warm, und dann küßt sie mich auf den Mund. Sie schmeckt nach Champagner und nach warmer Haut. Ich schließe die Augen, aber dann wird mir schwindelig, weil ich zuviel getrunken habe, also mache ich die Augen wieder auf. Wir küssen uns, und ich sehe ihr dabei in die blaugefärbten Kontaktlinsen, obwohl es schwierig ist, auf die kurze Entfernung die Sehschärfe zu behalten. Ich glaube, Karin ist auch ein bißchen schwindlig. Wir hören auf, uns zu küssen. Dann sieht sie mich an und sagt allen Ernstes, wir sollten uns morgen abend treffen, im Odin. Das sagt sie wirklich. Dabei habe ich ihr doch erklärt, daß ich morgen abfahre. Na ja, vielleicht hat sie das schon wieder vergessen.
Jedenfalls steht sie ziemlich schnell auf, stellt das Sektglas auf einen flachen Stein und läuft zu ihrem Auto. Sie steigt ein, läßt den Motor an und fährt los. Ich bleibe eine Weile auf dem Hügel sitzen, das leere Glas in der Hand. Etwas weiter entfernt studiert ein Rentnerpaar die Kuchenkarte. Kuchen jetzt? Es ist doch schon viel zu spät dafür, denke ich. Ich schenke mir aus der Champagnerflasche nach, aber der Roederer perlt nicht mehr, und als ich einen Schluck davon trinke, schmeckt er schal und flach und abgestanden und nach Asche. Ich glaube, ich werde nicht mehr nach Sylt fahren.
Am nächsten Tag nehme ich doch erst den Abendzug nach Hamburg, ohne Karin nochmal gesehen zu haben. Den Triumph habe ich auf der Insel gelassen. Bina wird schon darauf aufpassen. Im Speisewagen trinke ich ziemlich schnell hintereinander vier kleine Flaschen Ilbesheimer Herrlich, während bei Husum die Sonne untergeht.
Ich sehe aus dem Fenster und schmiere mir ein Brötchen mit Meggle-Butter aus den kleinen Plastiknäpfen, und diese norddeutsche Ebene zieht vorüber, Schafe und alles, und ich muß daran denken, wie ich mich früher immer aus dem Zugfenster gelehnt habe, den Kopf im Fahrtwind, bis die Augen tränten, und wie ich immer gedacht hab, wenn jetzt jemand auf der Toilette sitzt und pinkelt, dann fliegt die Pisse von unter dem Zug nach oben und zerstäubt in Fahrtrichtung ganz fein auf mein Gesicht, so daß ich es nicht merke, nur daß ich dann eben so einen Urinfilm auf dem Gesicht habe, und wenn ich mir mit der Zunge über die Lippen fahren würde, dann könnte ich das schmecken, die Pisse von Fremden. Da war ich zehn, als ich das gedacht habe.
Heute kann man die Fenster natürlich nicht mehr aufmachen, da im ICE, dessen Einrichtung ganz grauenvoll ist und mich immer an irgendwelche Einkaufspassagen erinnert, gar nichts mehr schön ist und erst recht gar nichts mehr so wie früher. Heute ist alles so transparent, ich weiß nicht, ob ich mich da richtig ausdrücke, jedenfalls ist alles aus Glas und aus so durchsichtigem türkisen Plastik, und es ist irgendwie körperlich unerträglich geworden.
Also, ich sitze da und versuche mich zu erinnern, wie die Züge früher waren, und der Ilbesheimer Herrlich knallt ganz ordentlich rein. Durch das Gerüttel dieses blöden Zuges verschütte ich auch noch einen Teil des Rotweines auf mein Kiton-Jackett, und wie man ja weiß, gehen Rotweinflecken nie raus, aber ich reibe trotzdem wie ein Irrer daran herum, schütte auch noch Salz aus dem DSG-Tütchen drauf, weil meine Mutter mir mal erzählt hat, das würde helfen. Natürlich nützt das überhaupt nichts, und wie ich da so sitze und reibe und schütte und inzwischen vollkommen betrunken bin, weil ich ja vorhin auch noch nichts gegessen habe, da kommt ein Mann an den Tisch und fragt, ob da noch frei sei.
Ich sehe erstaunt nach oben, weil ich diesen Satz Ist da noch frei? so unglaublich finde und kann gar nicht schnell genug reagieren, weil ich, wie gesagt, ziemlich betrunken bin, und da setzt sich der Mann auch schon hin, ohne eine Antwort abzuwarten, direkt mir gegenüber, und nimmt sich die Speisekarte vor. In dem Moment denke ich, daß ich doch lieber den Triumph genommen hätte.
Ich sehe mir den Mann an, wie er da so vor mir sitzt und die blöde bunte Speisekarte anguckt, und er hat tatsächlich so ein kleines Bärtchen, so einen Lenin-Bart, wie ihn jetzt die Leute im Mojo-Club tragen, aber er meint das gar nicht modisch, sondern völlig ernst, obwohl die Jazz-Freaks im Mojo-Club das ja eigentlich auch ernst meinen, nein, er trägt so ein Lenin-Beamtenbärtchen und mein Freund Nigel würde dazu sagen: Mösenbart.
Also, der Mann blättert in der Speisekarte, ruft dann die Kellnerin und bestellt zwei Bockwürste mit Kartoffelsalat und ein Bier, und als das Bier kommt, schenkt er sich ein, indem er das Glas leicht schräg hält, damit nicht soviel Schaum in das Glas kommt, und dann prostet er mir zu, das stimmt jetzt wirklich, er prostet mir zu und sagt: Mahlzeit. Dabei lächelt er.
Ich muß schon wieder an den Triumph denken und daß ich jetzt wahrscheinlich schon in Hamburg wäre, anstatt hier im Speisewagen zu sitzen und mich von Mösenbärten anprosten zu lassen. Ich sehe dem Mann genau in die Augen, obwohl mir das schwerfällt, die Sehschärfe zu kontrollieren, meine ich, und lächele nicht und sage nichts.
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