Der gelbe Bleistift - Christian Kracht - E-Book

Der gelbe Bleistift E-Book

Christian Kracht

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Beschreibung

Phnom Penh, Peshawar, Vientiane, Tokio, Rangun. Als ausgewiesener Asien-Kenner und ehemaliger Indien-Korrespondent des »Spiegel« zeigt Christian Kracht dem Leser Asien, wie er es bislang noch nicht erleben durfte. Lakonisch beobachtend, nie zynisch, flaniert er durch den Kontinent und knüpft hierbei an die große angloamerikanische Tradition der Reiseschriftstellerei an.

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Seitenzahl: 198

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Christian Kracht

Mit einem Vorwort von Joachim Bessing

Der gelbe Bleistift

Reisegeschichten aus Asien

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Christian Kracht

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoIm Land des schwarzen GoldesKill ’em all, let God sort ’em outDanger Who LoveDer Besuch des KlempnersDas neue Licht von MyanmarDer Islam ist eine grüne Wiese, auf der man sich ausruhen kannHello Kitty GoetheMit meiner Mutter im Eastern & Oriental ExpressEin Jahr vor der ÜbergabeAprès nous le délugeAuf der deutschen BotschaftDisneyland mit PrügelstrafeZu früh, zu frühZu spät, zu spätTristesse RoyaleKo Samui™Postminister Bötschs letzte ReiseWie ich einmal sehr sportlich warLob des SchattensDer Doktor, das Gift und Hector Barantes
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Errol Trzebinski gewidmet

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Surface is an illusion, but so is depth.

David Hockney

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Der gelbe Bleistift

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Im Land des schwarzen Goldes

Baku, 1998 

So, der Kaukasus. Was weiß ich denn so darüber? Wir hatten auf dem Internat einen Geologielehrer, dem sind im Kaukasus die Zehen abgefroren, als Hitler dort unten die Ölfelder erobern wollte. Eine Zangenbewegung sollte das werden, erst die rumänischen Ölfelder und dann, weiter östlich, die kaukasischen Ölfelder; Öl für den Rußlandfeldzug, natürlich auch Öl gegen das britische Öl im Zweistromland. Sofort kommt man da ins Mythische hinein, wenn man darüber spricht oder nachdenkt – das Zweistromland, der Kaukasus.

Das große Spiel wurde hier in der Gegend gespielt, vor dem Ersten Weltkrieg, The Great Game; Südpersien und Indien, die ja britisch waren, gegen Nordpersien, da saßen die Russen, und irgendwo dazwischen lagen die deutschen Interessen. Und die waren wiederum verwoben mit den Interessen der Türken, die, quer durch Asien, ein pan-türkisches Reich vom Bosporus bis nach China erschaffen wollten. Und dazwischen lagen die kleineren Interessen noch zweier Völker, die von allen anderen um sie herum ausgerottet wurden – die der Armenier und der Kurden. Kipling, oder irgendein anderer, hat mal über Transkaukasien geschrieben, es sei das Zentrum der Welt. Und dieses Zentrum, das darf ich sagen, ist sehr verwirrend, wie wir schauen werden.

Von Enver Pascha habe ich gelesen, dem türkischen Schlächter der Armenier, und von Wilhelm Wassmuss, dem deutschen T. E. Lawrence, der im Ersten Weltkrieg eine neue Front gegen die Briten aufmachen wollte, von Afghanistan kommend, und der schließlich in Kabul steckenblieb und dort, zusammen mit seinen Freunden Kapitän Oskar von Niemeyer und Otto von Hentig, zwei Jahre herumsaß und Däumchen drehte, weil keiner die Deutschen ernst nahm. Wassmuss, so heißt es, habe nämlich eine Schwäche dafür gehabt, Frauenkleider anzuziehen, und das habe der Emir in Kabul damals eher als unangenehm empfunden.

Von den dreiundzwanzig Kommissaren der provisorischen Sowjetregierung in Baku habe ich gelesen, die eines Nachts vor die Stadt gebracht wurden und an einer Eisenbahnlinie erschossen wurden. Man sagt, die britischen Offiziere standen daneben und sahen zu, und heute soll es noch ein Gemälde geben in Baku, gemalt vom sowjetrevolutionären Maler Isaac Brodsky, und links am unteren Rand des Bildes sei eben der historiologische Beweis der Mitschuld der Briten an dem Massaker zu sehen.

Und dann gab es vor kurzem natürlich den immer wiederkehrenden Tschetschenien-Krieg, der immer wieder allerschlimmstens aufflammt, den Ölfluß vom Kaspischen Meer nach Rußland unterbrechend, und daß die große Krise, das finale Armageddon, wenn es kommen wird, seinen Anfang in ebendiesem undurchsichtigen Zentrum der Welt, im Kaukasus, nehmen wird. Es ging, so erinnere ich mich, um das verwirrende geopolitische Geflecht dreier Pipelines, die eine über ebendas besagte Tschetschenien, die zweite über Georgien – dessen Präsident Eduard Schewardnadse neulich zum zehnten Mal nur knapp einem Attentat entgangen war – und die dritte durch den Iran und durch die Türkei, und von dort endlich an die Raffinerien und bis an die Zapfstellen Europas.

Also: Es ging früher wie heute da unten in Baku um Öl. Unter dem Kaspischen Meer liegt mehr Öl als unter Saudi Arabien und Kuwait zusammen. Die Lufthansa fliegt heute dreimal die Woche dorthin, die British Airways und die KLM ebenfalls, und bald auch die Swissair. Und doch weiß man so gut wie nichts über Baku. In den Reisebuchhandlungen gibt es keine Reiseführer über den Kaukasus, weder bei Dr. Götze Land & Karte in Hamburg noch in der größten der Welt, in London. Vergessen Sie es, heißt es, da will doch eh keiner hin. Und das wiederum war ein ausgezeichneter Grund, sofort dorthin zu fahren.

 

Der Flug Frankfurt–Baku ging von einem Gate tief unten im Keller ab, sozusagen im Strafkeller des Frankfurter Flughafens. Überall in diesem Keller lag Dreck herum und Papierschnipsel und Zigarettenkippen. Undurchsichtige Amerikaner in beigefarbenen Anzügen flogen mit. Das große Fieber des schwarzen Goldes stand ihnen mit dicken Buchstaben auf der Stirn geschrieben. Fette, reiche Punjabis mit Sikh-Turbanen und silbernen Nike-Air-Max-Turnschuhen standen herum, rauchten Zigaretten und traten sie mit den Füßen auf dem Boden aus, obwohl das Rauchen verboten war.

Der Flug selbst hatte erst recht etwas von einem Strafflug, zumindest für die Stewardessen. Das erste, was auffiel: alle Passagiere redeten viel lauter als gewohnt, viel lauter als Passagiere sonst in Flugzeugen miteinander sprechen. Sehr betrunkene Männer in schwarzen schlechtgeschnittenen Jacketts und schwarzen eckigen Wollhüten verlangten erst nach Whisky, dann, als der ausgetrunken war, nach warmem Wodka. Sie rochen ungewaschen und warm, nach Ziegen und nach Schafen. Es wurde gesoffen und geschrien und gequietscht, und die Stewardessen verdrehten die Augen, und während der Landung spielte »Barbie Girl« von Acqua.

Die Lufthansa setzte auf dem Rollfeld auf, kam zum Stehen, und aus der Scheibe des zerkratzten Plastikfensters konnte man sehen, daß es keinen Finger geben würde. Das, so dachte ich bei mir, unterscheidet ja immer den interessanten Teil der Welt vom uninteressanten Teil – daß man aus dem Flugzeug steigt mit seinem Handgepäck und dann selbst über das Flugfeld zur Empfangshalle laufen muß, ohne Finger, wie es heißt, und ohne Bus.

 

Dort war der Zoll. Ein paar Bretterverschläge, mehr nicht. Und dort am Zoll fuchtelten türkisch aussehende Männer in sowjetischen Uniformen mit Kalaschnikows herum und schrien sich an. Die roten Sterne auf ihren Mützen und an ihren Revers hatten sie mit einem auf grünem und roten Grund gestanzten Halbmond ausgetauscht. In der Flughafenhalle roch es nach Bohnerwachs. Die Neonröhren in den aufgesprungenen Anzeigetafeln knisterten. Es roch auch nach Döner Kebab, es roch also türkisch, dachte ich, türkisch und alt.

Da ich aus dem einfachen Grund kein Visum hatte, daß in Deutschland drei Wochen lang niemand an das Telefon der aserbaidschanischen Botschaft gegangen war, wurde mein Paß einbehalten. Macht nichts, sagte man mir, ich könne ihn mir werktags im Außenministerium abholen. Morgen war Sonnabend. Mein Paß verschwand in der Aktentasche eines Mannes mit großer Persianerkappe, er schob dafür einen rezeptgroßen rosafarbenen Zettel herüber, den, so schärfte er mir ein, man auf keinen Fall verlieren durfte.

Merkwürdigerweise mußte das Gepäck nach dem Zoll noch einmal geröntgt werden, obwohl keiner der Männer mit den Kalaschnikows und den komischen Hüten auf den Schirm schaute. Ich nahm schnell ein Taxi – einen weißen Wolga – zum Hotel Story Intourist in der Innenstadt, für fünfundzwanzig Dollar. Es ging an unzähligen Tankstellen vorbei, der Liter Diesel kostete – hurtig umgerechnet – fünfzehn Pfennig. Ich zählte vierundvierzig Tankstellen auf dem Weg nach Baku.

Hier ging es gleich um Benzin und um Öl und um Aggregatszustände, das war vorher nicht so klar. Hier in Baku ging es um diesen halb schmutzigen, halb sauberen Stoff, der erst schlecht riecht und dann ganz gut und der die Dinge in Bewegung hält. Vor neunzig Jahren lieferte Baku die Hälfte des in der Welt verbrauchten Öls. Armenier, Türken, Russen, Briten, Juden, Deutsche und Amerikaner bauten sich hier Paläste, die Dynastien der Rothschilds und der Nobels begründeten hier den größten Teil ihres Reichtums. Und heute sollte das endlich wieder so werden. Die großen Konsortien waren wieder da und mit den Konsortien natürlich das große Geld und die Hoffnung auf das Benzin, das fließen mußte und auch fließen würde.

Meine Güte, hier ging es um Benzin, ja. Hier an der Straße vom Flughafen in die Stadt war das Benzin schon zu haben, noch für unglaublich wenig Geld. Nur daß es das Destillat des Öls, das Destillat des Crude sozusagen, schon hier gab, schon fertiggemacht und aufbereitet, zur Abfüllung direkt aus dem Schlauch in den weißen Wolga hinein, das war nicht so klar.

 

Im Hotel Story Intourist herrschte Totenstille. Es gab keine anderen Gäste. Die Lobby war ganz in Orange und Gold gehalten, zwei Farben, die in ihrem Zusammenspiel Schlimmes auslösen können. Eine Frau mit sehr schlecht blondgefärbten Haaren und noch schlechteren Zähnen lag auf einer Couch in einer Ecke der Empfangshalle und starrte in einen Grundig-Farbfernseher.

Sie sah kurz hoch, als ich hereinkam, und starrte dann wieder auf die RTL-Sendung. Ich kramte meine drei Worte Russisch hervor, und sie sagte auf deutsch: Zweihundertachtzig Dollar die Nacht, Vorkasse.

Das Zimmer war so, wie man sich Zimmer mehr oder weniger schon immer gewünscht hatte: stalinistische Strenge und Entbehrung trafen auf türkische Schludrigkeit. Eine große Fototapete klebte an der Wand neben dem mit braunem Manchester-Cord bezogenen Bett. Ein Bergsee war darauf zu sehen, eine grüne Wiese, Fichten und Tannen, gelbe Blumen. Die Fototapete war in der Schweiz aufgenommen. Ich inspizierte das Badezimmer. Das Toilettenpapier war aus sauber zurechtgeschnittenem Zeitungspapier.

Während ich auf dem Badewannenrand saß und in den angegilbten Spiegel starrte, in dem meine Gesichtshaut erst fahl wirkte und dann, mit der nach zwei Minuten stroboskopartig einsetzenden Neonbeleuchtung, eine seltsame türkise Färbung annahm, entfaltete ich stückweise das Toilettenpapier und dachte darüber nach, welcher Teil der zweihundertachtzig Dollar nun dafür aufgewendet wurde, ich meine, gab es eine direkte Verbindung zwischen dem Toilettenpapier, dem Hotel, meinem Geld und dieser Fototapete? Ich überlegte eine Weile, und dann ging ich wieder ins Schlafzimmer.

Ich wollte telefonieren. Telefonieren konnte man in diesem Hotel nicht. Ein Anruf bei der Rezeptionistin, die sich nach genau vierzehn Mal klingeln von der RTL-Sendung loseiste, um muffig das Telefon abzunehmen, bestätigte dies. Die Rezeptionistin berichtete mit einer Spur Schadenfreude, man könne sich abends auf eine Liste eintragen, und am übernächsten Tag würde man dann durchgestellt werden. Das war also jetzt der Kaukasus, die feine Balance zwischen der Türkei, dem Iran und Rußland, das Zünglein an der Waage der Weltölwirtschaft und dadurch auch des Weltfriedens. Ich legte mich auf das Bett, las ein paar Zeilen von Wyndham Lewis »Journey into Barbary« und schlief bald ein. Und ich träumte, warten Sie – ich träumte von großen unterirdischen Höhlen, in denen Unmengen von Benzin verbrannten.

 

Am nächsten Morgen inspizierte ich das zahnbelagfarbene Frühstücksbuffet des Hotel Stary Intourist und checkte danach aus. Die Sonne schien, ich stand mit meinem Koffer auf der Straße und rauchte eine Zigarette. Ein schwarzer Wolga hielt neben mir, und ein bärtiger Mann linste heraus, ob ich ein Hotel suchen würde. Es gab, so erfuhr ich, in Baku ein Hyatt-Hotel. Ein Hyatt, jawohl, endlich. Ich ließ mich direkt dorthin fahren, für zwanzig Dollar.

Das billigste Zimmer im Hyatt kostete dreihundertachtzig Dollar die Nacht. Aber dafür konnte man auch telefonieren und zurückgerufen werden. Große, feingewebte Teppiche aus Buchara lagen auf dem Fußboden der Lobby, und unter einem Ölgemälde des Staatspräsidenten Alijew stand ein Blumenarrangement aus weißen Lilien. Die britische Botschaft war auch im Hyatt-Hotel untergebracht, der Union Jack flatterte lustig im Wind vor dem Hotel, und kleine, unscheinbare Briten, die alle exakt so aussahen wie John le Carrés trauriger Held George Smiley, huschten durch die Lobby. Es war perfekt. Ich nahm mir sofort ein Zimmer.

Das Hyatt hatte aber nicht nur üppig ausgestattete Telefone und die Botschaft Großbritanniens vorzuweisen, nein, das Hyatt Baku beherbergte auch das größte Kasino des Kaukasus. Wahrscheinlich, so dachte ich, würden gepanzerte Mercedes-Limousinen dort abends vorfahren, und dralle Frauen in Gummikleidern würden um die Croupiers herumstehen, und wunderbar ausschauende aserbaidschanische Ölmilliardäre würde es dort geben, die ihren Leibwächtern aus Langeweile die Zehntausend-Dollar-Chips hinwarfen, damit sie sie für sie setzen, weil es für sie natürlich viel zu öd war, über solche kleinen Beträge überhaupt nachzudenken. Das würde ich alles heute abend sehen. Und es würde prima Stoff für eine Reportage abgeben, weswegen ich ja schließlich in Baku war. Öl, Geld, Frauen, Krugchampagner, unfaßbare Dekadenz, Menschen mit goldenen Schneidezähnen – eine elektrische Mischung. Es kam ganz anders.

 

Die Sonne schien. Es war außerordentlich warm für April. Aus dem Hotelzimmerfenster war zu beobachten, wie sehr starke Winde die Wolken vom Kaspischen Meer wegjagten, erst über die Stadt hin und dann, als Nachgedanke sozusagen, ins Inland. Ein merkwürdiges Licht ließ die Stadt gestochen scharf erscheinen, wie München während des Föhns.

Oft, so dachte ich mir, erfährt man am meisten, wenn man sich einer Stadt vom Bahnhof her kommend nähert. Ein kleiner im Hotelzimmer ausliegender, mit dem Namen Hyatt Regency versehener Stadtplan von Baku zeigte aber keinen Bahnhof. Es waren auch keine Bahngleise darauf verzeichnet. Die Botschaft des Sudans, beispielsweise, war klar erkennbar, sie lag in der General Tarlan Alijarbajow street, aber der Hauptbahnhof war tatsächlich nirgendwo zu finden. Ich erinnerte mich, daß es eine Zugverbindung von Baku nach Moskau gab, es mußte also ganz klar einen Hauptbahnhof geben.

Also hinunter zur Rezeption, an der gleich eines der Hauptmysterien Bakus offenbar wurde: Keiner der Einwohner schien sich in der eigenen Stadt auszukennen. Wo, fragte ich, bitte, wo ist der Hauptbahnhof? An der Rezeption des Hyatt gab es ein kollektives Achselzucken. Bitte, sagte ich, bitte schreiben Sie auf russisch Bahnhof auf einen Zettel, den könnte ich ja dann einem Taxifahrer zeigen.

Die Rezeptionistin verdrehte die Augen, schrieb dann irgend etwas auf einen Zettel, legte ihn auf den Rezeptionstresen und verschwand in einer Besenkammer. Schließlich hatte sie Besseres zu tun, als Gästen, die dreihundertachtzig Dollar die Nacht bezahlten, so etwas Stupides zu erklären.

Der Taxifahrer vor der Tür konnte ganz offensichtlich kein Russisch lesen, ich hielt ihm den Zettel hin, er lachte und sagte Njet. Ich ahmte eine Dampflokomotiven nach, die auf Gleisen langsam in einen Bahnhof einfuhr und mit laut quietschenden Bremsen zum Halten kam. Der Taxifahrer lachte noch mehr, sagte dann Train station und Twenty dollars, ich stieg ein, und wir brausten los. Im Radio, so war zu hören, spielte »Love Machine« von Supermax.

Genau sechs Minuten später hielten wir vor dem Bakuer Hauptbahnhof. Der Bahnhof selbst war ein unglaublich häßliches grau verschimmeltes Gebäude im Plattenbaustil, vor dem ein Gemüsemarkt aufgebaut war. Davor prügelten sich ein Mann und eine Frau halbherzig um ein paar Steckrüben. Ich ging hinein. Die Haupthalle des Bahnhofs war bizarrerweise gar nicht mit den Gleisen verbunden. Das heißt, wenn man beispielsweise mit dem Zug von Baku nach Tiflis fahren möchte, muß man zum Bahnhof, sich in der Bahnhofshalle ein Billett kaufen, dann wieder heraus, um den Bahnhof herum, ein paar Straßen weiter, und dort sind dann erst die Gleise. Ich machte ein paar Fotos von ankommenden Zügen, von abfahrenden Zügen und von riesigen, gemalten, an die Plattenbauten befestigten Porträts des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew.

Der Bahnhof, so erfuhr ich, durfte aber eigentlich gar nicht fotografiert werden. Ein paar Männer von der Miliz tauchten auf. Ich zog meinen aserbaidschanischen, vom Außenministerium ausgestellten, mit beeindruckend vielen Stempeln versehenen Presseausweis hervor. Die Männer von der Miliz interessierte das leider weniger. Doch, doch, Germania, Almaniya, sagte ich. Ah! Njet! Haha! Nemetz! Nemetz! Haha! Faschisti! riefen sie und wiesen, mächtig lachend, mit ihren Kalaschnikows auf den Ausgang. Ich verließ das Gelände. Vor dem Bahnhof, auf dem von der Sonne grell beschienenen Platz, stand ein Hütchenspieler und wartete auf Kundschaft. Die Frau mit der Steckrübe war nicht mehr zu sehen.

Später erfuhr ich, warum jemand, der sich in Baku als Deutscher zu erkennen gibt, erst einmal mit Lachen, Schulterklopfen und einem kräftigen Faschist! begrüßt wird. Das lag daran, daß nach Kriegsende viele deutsche Gefangene nach Baku verschifft wurden, zur Zwangsarbeit, um hier Schulen zu bauen, stalinistische Prachtbauten, Universitäten und Museen.

Also zurück auf die Straße. Ich wollte mich Baku ja vom Bahnhof her kommend nähern, und das tat ich dann auch. Ich spazierte zum Meer hinunter. Baku, so heißt es, ist noch vor Chicago die windigste Stadt der Welt. Sie war sehr angenehm anzuschauen. Klassizistische Fassaden wurden von Jugendstilfassaden abgelöst. Männer mit langen schwarzen Mänteln, hohen Persianerkappen und festem Schuhwerk huschten durch die Gassen, in denen das Sonnenlicht so schräg stand, daß die Schatten die Männer in Schwarz fast vollständig verschluckten. Die Stadt sah aus wie, warten Sie, wie von De Chirico gemalt. Es windete wirklich sehr. Unten am Meer spazierte ich die Promenade entlang, die mich an Cannes erinnerte, aß ein etwas mehliges Sandwich von einem Stand, der sich, ich lüge nicht, Baku’s Boogie-Burger nannte, und bestieg irgendwann einen Bus. Dort fiel mir auf, daß die beliebtesten Musikstücke im Radio Baku erstens »Barbie Girl« von Acqua, zweitens »Gangstas Paradise« von Coolio und drittens »Love Machine« von Supermax waren.

Die Busse, die durch Baku fuhren, waren offenbar alle in Schleswig-Holstein ausrangiert und dann hierher importiert worden. Oben, über dem Führerhäuschen, stand bei einigen noch die Busroute »Husum–Niebüll«, und an der Seite eines Busses klebte in großen gelben Buchstaben »Vor allem Fohr – Das Qualitäts-Pils aus dem Westerwald«. Ich sah aus dem Fenster und wippte mit dem Fuß im Takt zu Supermax. Weshalb eigentlich Supermax? Das war doch, wenn ich mich recht erinnerte, eine eher mittelmäßig begabte Hardrock-Disco-Band aus München. Ich konnte es mir nicht erklären, und doch schienen die Aserbaidschaner diese Band sehr zu schätzen.

Zurück im Hyatt, telefonierte ich mit der deutschen Botschaft. Ich wollte Öl sehen. Der Kanzler der Botschaft, ein Herr Dobychai, erklärte mir, daß es wahrscheinlich eher schwierig sein würde, Interviews mit Vertretern der Ölgesellschaften zu bekommen, und es noch schwieriger sein dürfte, Bohrtürme zu fotografieren. Man müsse mit einem Hubschrauber hinausfliegen, aber es sei teuer, gefährlich, und obendrein würden die Ölgesellschaften keine Journalisten hinlassen. Er könne aber, wenn ich wollte, ein Interview mit Dr. Ramiskulijew vermitteln, dem hiesigen Vertreter der Joghurtfirma Zott. Ich bedankte mich, sah mir meine Fingernägel an und legte auf.

Ich war hungrig. Das Sandwich war nicht wirklich gut gewesen. Also beschloß ich, das auf großen Plakaten stadtweit angepriesene Restaurant Viva Mexicana auszuprobieren. Dort gab es Fajitas, Tacos, Burritos, Heineken-Bier und Mojitos. Im Restaurant selbst, das mit grau schraffiertem Stahlbeton ausgekleidet war, saßen breitschultrige amerikanische Ölarbeiter und norwegische Ingenieure, denen es offenbar nicht besonders viel ausmachte, für einen Taco-Burrito-Combo-Platter, der in Baltimore oder in Oslo fast nichts kostet, sechsunddreißig Dollar auszugeben. Nein, sie bestellten, was das Zeug hielt, schrien herum, klopften sich männlich auf den Rücken und verbreiteten zwanghaft gute Stimmung. Ich selbst setzte mich in eine Ecke, trank ein Bier und aß eine kleine, gar nicht mal schlechte Portion Chili con carne.

 

Zurück im Hyatt-Hotel, es war Abend, zog ich mir für den Kasinobesuch meinen extra mitgebrachten dunklen Anzug an, die Schuhe putzte ich mit einem kleinen schwarzen Schwamm, der praktischerweise neben der Minibar lag. Kurzer Check in der Minibar: Miniflasche Jack Daniels sechzehn Dollar. Flasche Carlsberg-Bier acht Dollar. Lieber nicht. Jetzt hinunter, ins Kasino. Ich spiele leidenschaftlich gern Roulette und gewinne eigentlich immer. Das Kasino war aber leider geschlossen. Staatspräsident Alijew hatte es per Dekret gerade zugemacht. Ärgerlich dies, und ich mutmaßte, sein Sohn habe zu hohe Spielschulden gemacht.

Die Enttäuschung mag man mir etwas angesehen haben, denn als ich die Rezeptionistin des Hyatt nach einer guten Bar fragte, empfahl sie mir die Bar des Hyatt-Hotels, die Mosaic-Bar hieß oder Dragon-Bur oder so etwas ähnliches. Dort trank ich für zwanzig Dollar zwei Corona-Biere, hörte den Song »Barbie Girl« von Acqua und schaute mir die Menschen an.

In einer Ecke saß ein sehr deutsch aussehender blonder Hüne und lächelte. Ich stand auf, stellte mich vor, und er bat mich an seinen Tisch. Tom trug von Kopf bis Fuß schwarzes Leder und war über zwei Meter groß. Seine Haare waren hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wir plauderten eine Weile, und ich erfuhr, daß er aus Hamburg komme, lange auf den Kanaren gelebt habe und irgendwann mit seiner Harley-Davidson hier in Baku gelandet sei. Ah, ein Meister, dachte ich und bestellte mehrere Biere und Whiskys, die wir sehr schnell austranken, um dann noch mehr zu bestellen.

Außerdem habe er, Tom, hier eine Werbeagentur, ein Heiratsvermittlungsinstitut, sei Manager der Gruppe Supermax, und in Deutschland habe ihm einmal die Computerfirma Systematics gehört. Ich sagte Nein! und er sagte Doch!. Und: Es sei alles sehr schwierig hier, durch den aserbaidschanischen Server kämen beispielsweise gerade mal nur 4K pro Minute, aber wenn ich wollte, könnte ich mit ihm hier gleich morgen eine Zeitung für Expats aufmachen oder ihm helfen, ein Konzert mit seiner Gruppe Supermax zu organisieren oder ein riesiges Motorradtreffen. Und er müsse mich unbedingt morgen wiedersehen, denn dann würde er mir seine Frau vorstellen und überhaupt alles in Baku zeigen. Selbstverständlich, lallte ich, sehr gerne. Bis morgen also. Und dann fiel ich ins Bett.

 

Das Telefon klingelte. Ich träumte gerade von großen dunklen Bohrtürmen, die ich fast nackt, nur mit einem Chiffonschal bekleidet, umtanzte. Erst dachte ich noch, das Klingeln sei ein schlechter Scherz, und stülpte mein Kopfkissen über das Telefon. Ich hatte sehr große Kopfschmerzen. Das Telefon klingelte weiter. Es war Herr Dobychai von der deutschen Botschaft.

Es ist wegen Ihres Ölwunsches, sagte er, und seine Stimme klang in meinem schmerzenden Ohr wie die schnarrende Stimme Heinrich Himmlers. Um auf ein Ölfeld draußen im Kaspischen Meer zu kommen, sagte Herr Dobychai, müßte man zuerst den Menschen von der Deutschen Tiefbohr-AG treffen. Aber es klappt sowieso nicht, sagte er, das sage ich ihnen gleich. Ich bedankte mich und legte auf. Es war neun Uhr morgens.

Ich wollte ganz sicher nicht den Menschen von der Deutschen Tiefbohr-AG treffen. Ich wollte lieber mit meinem neuen Rockerfreund Tom auf seiner Harley durch Baku fahren und dabei Supermax hören. Ich ging ins Bad, wusch mich und befühlte meinen Unterleib. Hätte ich Eierstöcke gehabt, dann würden sie jetzt schmerzen. Ich zog mich an und aß unten im Frühstückszimmer einen ausgezeichneten Porridge und rief dann Tom an, und wir verabredeten uns vor dem Hyatt.

Es war wieder ein sonniger, warmer Morgen. Tom sah ebenfalls etwas lädiert aus. Ich setzte mich hinten auf die Harley, und Hunderte von Kindern kreischten vor Freude, als Tom den Motor hochschraubte. Die Miliz sah ihm kopfschüttelnd hinterher – da er ja auch einen glänzenden Stahlhelm trug –, er winkte links und rechts und lächelte alle an, und überhaupt schien er stadtbekannt zu sein. Ein paar zusammengekauerte Gestalten hockten am Straßenrand, schnüffelten Klebstoff aus Papiertüten und kratzten sich beschämt mit Glasscherben die Arme auf.

Wir hielten vor einem Schönheitsinstitut an und stiegen die Treppen hoch, und dann lernte ich Soby kennen, Toms Frau. Ihr gehörte der einzige Kontaktlinsen-Beautysalon Bakus. Sie trug ebenfalls schwarzes Leder. Sie war sehr charmant, und ich kaufte ihr ein paar neongelb gefärbte Kontaktlinsen ab, die Rave hießen, und wir verabredeten uns später zum Essen. Davor wollten sie mich auf den Basar von Baku führen, auf dem man graublauen Kaviar kiloweise kaufen konnte, aserbaidschanischen Kaviar, den besten der Welt, riesige Humpen blauschwarz schimmernden Stör und natürlich aserbaidschanische Tomaten, die ebenfalls zu den besten der Welt gehören.

Auf dem Basar sah ich dann die versprochenen Kaviarverkäufer, aber auch mehrere Jugendstände, an denen Bob-Marley-Handtücher, alte MTV-Aufkleber und Supermax-T-Shirts in allen Größen verkauft wurden. Es war aber trotzdem ein sehr eindrucksvoller Basar.

Tom und Soby, so erzählten sie mir, während wir mit schöpfkellengroßen Plastiklöffeln Kaviar im Freien aßen, hatten gerade einen der ersten Werbefilme gedreht, die je in Aserbaidschan gemacht wurden, für eine Bakuer Mobiltelefongesellschaft, in dem auf einem großen Menschenschachbrett Aseris ohne Mobiltelefone hin und her geschoben wurden, und die Dame, also die Königin, besaß natürlich ein Mobiltelefon und schlug dadurch alle anderen Figuren. Tom und Soby wollen später einen aserbaidschanischen Dichter mitbringen und einen Bildhauer, den ich unbedingt kennenlernen müßte. Es war erst ein Uhr nachmittags, und, glauben Sie mir, ich war erschöpft.