Fated Shadow - Kim Rylee - E-Book
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Fated Shadow E-Book

Rylee Kim

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Beschreibung

Hätte mir jemand diese Geschichte aufgetischt, ich hätte mich genauso verhalten – ich schwör‘s!
Beginnen wir doch einfach am Anfang.

Mein Name ist Aveline. Ich komme aus Inverness, der kleinen Stadt in Schottland, die durch das Monster von Loch Ness Berühmtheit erlangte.
Ich hatte angenommen, mit meinem Freund David würde sich mein Leben zum Positiven verändern. Und das wäre auch wohl so gekommen …


… wenn da nicht Samael und Azrael gewesen wären. Mit denen geriet meine Welt aus den Fugen.

Denn diese beiden Herren waren nicht das, was sie vorgaben zu sein und sie ließen nichts unversucht, mich in Teufels Küche zu bringen. Warum sie es auf mich abgesehen hatten, war mir indes anfangs nicht klar – bis ich erfuhr, dass sie hinter dem her waren, was ich IN mir trug ...

 

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Kim Rylee

Fated Shadow

Die Jagd

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

 

 

 Es sandte mir das Schicksal tiefen Schlaf.

 

Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume.

 

Ich bin in euch, ich geh in eure Träume,

 

da uns, die wir vereint, Verwandlung traf.

 

 

(Michelangelo)

Prolog

Ihr Schädel schmerzte, sie spürte ihre Hände und Arme nicht mehr. Langsam schlug sie die Augen auf, während allmählich das Bewusstsein in ihren Kopf zurück kroch. Die Umgebung um sie herum war in Orange- und Rottöne getaucht.

»Na? Aufgewacht?«

Eine Hand ergriff ihr Kinn und hob sanft den Kopf nach oben. Sie verspürte einen wahnsinnigen Durst. Langsam lichtete sich der Schleier, während sie in das schönste Gesicht sah, das ihre Augen je erblickt hatten. Er hatte weiche Gesichtszüge und einladend blaue Augen. Doch etwas passte hier ganz und gar nicht zusammen.

»Samael, gib ihr etwas Wasser. Sie soll uns doch nicht verdursten«, befahl er seinem Gefährten. Trotz des Befehls schwang ein sanfter Unterton mit.

Seine Hand löste sich. Plötzlich sackte ihr Kopf wieder herunter. Sie spürte, wie ihre Lippen sanft befeuchtet wurden. Automatisch öffnete sie ihren Mund. Ein Schlauch mit Wasser wurde ihr von Samael an die Lippen geführt. Gierig versuchte ihre Zunge, das köstliche Nass in den Mund zu befördern. Nur wenige Tropfen erreichten ihre Kehle, sodass die Freude nicht lang währte.

»Das ist genug«, befahl die Stimme.

Samael entzog ihr den Schlauch.

Erst jetzt registrierte sie, dass dies doch kein Traum war. Man hatte ihre Hände in Ketten über dem Kopf gefesselt. Erschöpft lehnte sie die Stirn gegen den rechten Arm. Wo hatte man sie hingebracht? Alles war nur schemenhaft zu sehen. Es sah aus, als würden sie sich tief unten in einem Gewölbe befinden. Es war heiß. Sie hörte kein Knistern. Die Hitze schien von den Wänden zu strahlen, denn ein Feuer konnte sie nirgends entdecken. War sie in der Hölle gelandet?

Samael begann um die Gefangene herumzutänzeln und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Wasserschlauch. Er schmatzte, nachdem er den Schlauch abgesetzt hatte.

»Wann willst du es tun, Azrael?« Ein Rinnsal von Wasser lief über sein Kinn. Genüsslich wischte er ihn sich mit dem Handrücken weg.

Sie hob leicht den Blick. Wie die regelmäßigen Wellen, die ein Wassertropfen auslöst, wenn er auf die Oberfläche eines Sees auftrifft, strömten die Erinnerungen in ihr Gedächtnis zurück. Sie sah zu dem hochgewachsenen Mann herüber. Sein langes, blondes Haar hatte er hinten zu einem Zopf gebunden. Die Fragmente setzten sich zusammen. Alles wurde klarer. Langsam begann alles einen Sinn zu ergeben.

Azrael.

Der Todesengel.

Der Mann, den sie einst geliebt hatte. Und Azrael hatte sie geliebt. Sie verehrt. Doch das lag bereits eine lange Zeit zurück.

»Jetzt.«

Im fahlen Licht blitzte die Klinge eines Gladius auf, das der Todesengel in der Hand hielt. Niemand konnte ihm das Wasser reichen, wenn es darum ging, das römische Kurzschwert zu führen. Er war der unbestrittene Meister darin, obwohl er diese Waffe seit vielen Jahrhunderten nicht mehr geführt hatte.

»So, Nagual.«

Plötzlich spürte sie seinen Atem. Nur wenige Zentimeter trennten ihre beiden Gesichter.

»Nun wirst auch du erleben, wie es ist, erdgebunden zu sein.« Seine Augen blitzten vor Boshaftigkeit kurz auf.

Unweigerlich musste sie schlucken. Ihre Kehle und Mundhöhle waren erneut ausgetrocknet, sodass sie nicht in der Lage war, auch nur ein Wort herauszubringen. Schwach blinzelnd schaute Nagual in seine Augen. Sie wollte ihm signalisieren, dass sie noch immer etwas für ihn empfand. Der Plan, den sie verfolgte, schien nicht aufzugehen. Diesen Ausgang hatte sie nicht angestrebt.

Azrael konnte ihrem Blick nicht standhalten.

Während er hinter ihrem Rücken verschwand, trat wieder Samael vor sie und legte seinen runden Kopf schief. In seiner Miene trat ein seltsamer Ausdruck. Der Dämon legte die Stirn in Falten.

»Sie scheint keine Angst zu haben!« Unterschwellige Enttäuschung begleitete die Worte.Nagual spürte, wie etwas Spitzes entlang ihrer Wirbelsäule langsam von unten nach oben glitt. Instinktiv bog sich ihr Rücken in ein Hohlkreuz, wollte der drohenden Gefahr entfliehen, auch wenn ihr geschundener Körper kaum noch die Kraft besaß, sodass sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Die Erkenntnis kam prompt. Es war zwecklos. Die Fesseln ließen Nagual keine Bewegungsfreiheit. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Azrael das Kurzschwert hob. Ein fieses Lachen bohrte sich in ihren Ohren, gepaart mit einem Zischen, als das Gladius hinab sauste.Plötzlich erschauderte ihr Körper. Nagual verspürte einen brennenden Schmerz.

»Aaaaaahhhhh!«

 

Markerschütternd rasselten die Ketten, als die Hände krampfhaft nach Halt suchten und ins Leere griffen. Ein unerträgliches Brennen überzog ihre Schultern. Kalter Schweiß rann an ihrem Gesicht herunter, vermischt mit Tränen. Lautes, heftiges Keuchen schüttelte sie zusätzlich durch, raubte ihr den Atem. Ihr Körper bäumte sich vor quälender Pein auf. Der Schmerz, der Nagual fast ohnmächtig werden ließ, fraß sich durch jede Faser ihrer Muskeln bis zum Gehirn hoch und drohte, sie in den Wahnsinn zu treiben.Schließlich gab ihr Geist auf. Kraftlos hing sie an den Ketten.

Azrael trat vor die Frau. Kein Mitleid war in seiner Miene zu entdecken.

Blinzelnd bemerkte sie das purpurfarbene Blut, das an dem Gladius herunterlief. Zwei Tropfen versickerten im Sand. Er nahm seinen Umhang, um damit langsam das restliche Blut abzuwischen, als ihr klar wurde, was so eben geschehen war.

 

Er hatte ihr die Flügel abgeschlagen.

Reise ins Ungewisse

Heute war Sonntag und Avelines großer Tag.

Sie würde Inverness verlassen. Ob für länger oder nicht, darüber hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Sie mochte Inverness. Schließlich wurde sie hier geboren. Es war ihre Heimatstadt. Hier kannte sie sich bestens aus, hatte einige Touristen um ein paar Pfund erleichtert, ohne jemals geschnappt zu werden. Nessie, besser bekannt als das Ungeheuer von Loch Ness, war ihr hier zwar noch nicht begegnet, doch dafür Jessy, deren Frohnatur es Aveline angetan hatte. Aveline störte es nicht, dass ihre Freundin einige Pfunde zu viel auf den Rippen hatte.

 

Jessy wirkte sehr jung, was ihrer Größe von einen Meter zweiundfünfzig anzurechnen war. Ihre lustig umher wippenden Korkenzieherlocken, die kleinen dicken Finger und rosige Wangen, rundeten das Bild eines naiven Kleinkinds ab. Ihr wahres Alter hatte sie Aveline nie verraten. Jessy half ihr auf die Beine, stand immer zu ihr, egal, in welcher Lebenslage sie sich befand. Die quirlige junge Frau hatte Aveline bei sich aufgenommen, als diese ganz unten angekommen war, und hatte nie nach dem Warum gefragt. Nun schien ein neuer Lebensabschnitt für Aveline zu beginnen.

 

»Jessy, du bist immer mein Schutzengel in der Not gewesen. Das werde ich dir nie vergessen.« Aveline spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.

Jessys meerblaue Augen wurden groß wie Ozeane und ebenso feucht. Die beiden Frauen fielen sich in die Arme. Dabei musste Jessy sich auf die Zehenspitzen stellen, damit ihre Hände um Avelines Hals greifen konnten. Dicke Tränen liefen an ihren Wangen hinunter. Eigentlich wollte Aveline Jessy nicht wieder loslassen. Wer konnte wissen, wann sie sich wiedersehen würden?

»Du musst einsteigen, Ava. Sonst fährt der Zug ohne dich ab«, schniefte ihr die beste Freundin ins Ohr.Aveline drückte sie noch einmal fest an sich, bis Jessy sie von sich wegschob und vor die Einstiegsstufen des Zuges dirigierte. Es gab nur einen Grund für Aveline, Inverness und ihre beste Freundin zu verlassen. Dieser Grund hieß David.

Langsam drehte sie sich ein letztes Mal zu Jessy um. Ihre rechte Hand führte sie zur Kette, die sie um den Hals trug. Vorsichtig umschlossen ihre Finger den kleinen Anhänger. Sie nahm die Reisetasche, die nur wenige Kleidungsstücke barg auf, um den Rat ihrer Freundin zu folgen, um in den Zug einzusteigen, der sie nach London bringen sollte. Ein letztes Mal nickte Aveline ihrer besten Freundin zu.

»Danke für das Abschiedsgeschenk. Es ist sehr hübsch. Ich werde es immer tragen und nie abnehmen!« Ihr Blick wanderte zum Anhänger in ihrer Handfläche, der am Ende der langen silbernen Kette baumelte. Gerade mal so groß wie der kleine Fingernagel, war in seinem milchig weißen Kristall eine knorrige Eiche filigran eingearbeitet.

»Ich werde dich vermissen.« Nur mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen.

»Du rufst mich einmal pro Woche an. Verstanden? Ich will immer wissen, wie es dir geht. Gib Bescheid, wenn du die Adresse kennst. Du tendierst dazu, in Schwierigkeiten zu kommen. Und wenn das geschehen sollte ...« Jessy versuchte eine ernste Miene aufzusetzen, doch in ihren blauen Augen bildete sich bereits wieder ein See. Sie schluckte ihre Tränen herunter.

»Du weißt, du kannst immer auf mich zählen!« Jessy seufzte schwer, als sie ein weiteres Taschentuch zückte, um ihre Augen zu trocknen, bevor sie laut in das Tuch schnäuzte.

»Du siehst aus wie eine Schildkröte, wenn du weinst. Das ist dir doch klar, oder?« Kam es schluchzend aus Jessy heraus.

Sie brachen beide in ein erlösendes Lachen aus.

»Glaubst du denn, du siehst besser aus?« Wieder rann eine Träne an Avelines Wange hinunter. Sofort wischte sie sie mit dem Arm weg, hoffend, dass ihr Make-up nicht verschmierte.

»Vergiss mich nicht«, krächzte Jessy, der fast die Stimme versagte, was Aveline einen Kloß im Hals bescherte.

Sie hielt dieses Gefühl nicht mehr aus, rückte den Riemen ihrer Tasche über der Schulter zurecht, verschwand durch die Tür und begann im Großraumwaggon nach ihrem Platz zu suchen. Ihr neues Ziel London lag noch fast acht Stunden Zugfahrt entfernt.

 

Aveline hatte einen Fensterplatz reserviert. Jessy fand sie sofort. Beide sahen sich durch die leicht verschmutzte Scheibe an. Die Freundin legte ihre Hand an das Glas. Aveline tat es ihr gleich.

»Gute Reise, Ava! Und lass bald etwas von dir hören!« Hörte sie die glockenhelle Stimme, die sich dumpf an die geschlossene Scheibe zu heften versuchte. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Langsam verschwand Jessys Statur in der Ferne.

Nachdem ihre Freundin und der Bahnhof aus dem Sichtfeld verschwunden waren, verstaute Aveline ihre Tasche im Gepäckfach über dem Sitz. Ihr Blick schweifte durch den Waggon. Das Großraumabteil schien fast ausgebucht zu sein. Nur der Platz neben ihr am Gang sowie die Reihe vor ihr, waren nicht belegt. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich in den Sitz fallen und starrte aus dem Fenster.Während die malerische Landschaft Schottlands mit ihren saftigen grünen Hügeln an ihr vorbeizog, lachte draußen die Sonne. Doch sie konnte kein Lächeln auf das Gesicht der jungen Frau zaubern.

»Ist hier noch frei?« Eine tiefe, fast heiser klingende Stimme riss Aveline plötzlich aus ihren Gedanken.

 

Ein junger Mann, mit dunklem, schulterlangen Haar, das oben kurz geschnitten war, sah sie fragend an. Sie schätzte das Alter des Mannes um die Zwanzig. Er schaute sie aus schwarzen Augen an, die gut zu seinem leicht mongolisch angehauchten Aussehen passten. Er trug eine beige-farbene Workerjeans. Dazu ein verschlissenes Unterhemd, das vermutlich einmal weiß gewesen war. Es hatte schon seit Längerem keine Waschmaschine mehr von innen gesehen.

Sie nickte knapp.

Er schmiss seine Tasche auf den Boden. Wortlos fläzte er sich in den Sitz neben ihr. Eine dichte Wolke aus kaltem Zigarettenrauch und Alkohol hüllte sie ein. Aveline drückte ihren Rücken tiefer in das harte Polster des Sitzplatzes, hoffend, so, dem Geruch entgehen zu können. Zu ihrem Bedauern konnte sie dem nicht ausweichen.

»Hallo. Ich bin Samael, und du bist ...?« Er reichte ihr seine Hand, die sie kurz musterte.

Ihr fielen sofort die gelben Fingerkuppen auf. Sie vermutete, dass es vom vielen Rauchen herrührte.

»Nicht interessiert«, rümpfte sie die Nase. Dann starrte sie schweigend aus dem Fenster, um ihre Botschaft noch zu unterstreichen. Innerlich betete sie, dass er sie in Ruhe lassen würde.

»Na gut. Dann eben nicht. Doch wir werden bestimmt noch viel Spaß auf dieser Reise haben.«

Avelines Augen weiteten sich. Jetzt hatte er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie starrte ihn verwundert an.

›Was meinte er damit, wir würden Spaß haben?‹ Überlegte sie und spürte, wie das Blut in immer schneller werdenden Tempo durch ihre Adern rauschte.

»Ach ja? Wie das?« Die Frage kam arroganter herüber, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.

»Wohin fährst du?« Er ließ sich nicht beirren.

»London.« Schoss sie ihm knapp entgegen.

Er grinste. »Ah. London. Eine wunderschöne Stadt. Ich fahre nach Edinburgh.«

Innerlich atmete sie erleichtert auf. Er würde also früher aus dem Zug steigen.Samael stützte den Arm auf die Lehne zwischen ihnen, um seinen Oberkörper näher zu ihr zu beugen. Langsam hob er die rechte Hand, dabei streckte er den Zeigefinger vor, der sich gemächlich Avelines Oberarm näherte.

Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Gleichzeitig begann ihr Puls sich zu beschleunigen.

»Was machst du in London?« Nun berührte der gelbe Finger bereits ihren nackten Oberarm. Langsam strich sein Zeigefinger darüber. Es fühlte sich rau an, gleichzeitig kratzte es auf ihrer Haut, wie grobes Schmirgelpapier. Schwielen und Hornhaut bedeckten seine Fingerkuppen.

›Zärtliche Liebhaberhände fühlen sich anders an‹, dachte Aveline. Sie erschauderte. Jedoch mehr vor Ekel, als vor Entzückung. Sein Annäherungsversuch war ihr so unangenehm, dass sie ihren Oberkörper immer mehr gegen das Fenster drängte. Viel Raum ließ sich zwischen ihnen jedoch nicht gewinnen.

»Ich ziehe zu meinem Freund«, entgegnete sie schnippisch.

Abrupt zog Samael die Hand zurück.

Ein überhebliches Grinsen legte sich über Avelines Gesicht. Erleichtert bemerkte sie, wie es ihm unangenehm war, als sie David erwähnte, sodass ihre Körperhaltung sich ein wenig entspannte.

»Dein Freund lässt dich den ganzen Weg allein fahren?« Sichtlich darüber erfreut, dass sie sich nicht weiter von ihm zurückziehen konnte, rückte er mit seinem Oberkörper wieder näher zu ihr herüber.

»Ich hätte es nie zugelassen, dass du alleine reist.« Er grinste sie spitzbübisch an.

Erneut presste Aveline ihren Rücken in Richtung Fenster, doch die Holzklasse war gnadenlos und wollte einfach nicht nachgeben. Sie spürte einen Würgereiz, während sein unangenehmer Geruch sie in Gänze einzuhüllen schien und ihr jeglichen Sauerstoff zum Atmen nahm. Aveline musste unweigerlich schlucken, als sie versuchte, den Reiz zu unterdrücken.

»Glaubst du etwa, ich bin zu blöd, um allein zu reisen?« Entgegnete sie forsch.

Er richtete den Oberkörper auf, wie ein Kaninchen, das nach dem Feind Ausschau hielt. Schließlich winkte er ab.

»Wo denkst du hin? Natürlich nicht. Doch schöne Mädchen sollten nie ohne Begleitung unterwegs sein. Wer weiß, was da passiert?«

Skeptisch sah sie ihn an.

»Wie meinst du das?«

»Na, wer weiß, an was für Typen du unterwegs geraten könntest?«

»Du meinst ... Typen wie dich?« Sofort presste sie die Lippen zusammen. In diesem Moment wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Eigentlich wollte sie ihn nicht herausfordern. Was war nur in sie gefahren? Er sollte sie doch nur in Ruhe lassen.

Samael lachte laut auf, während er sich breitbeinig in seinen Sitz zurücklehnte.

»Nein. Vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten«, erwiderte er mit verschwörerischer Miene. »Ich werde gut auf dich aufpassen.«

Als er ihr zuzwinkerte, beschleunigte sich ihr Puls für einen kurzen Moment. Sie sah, wie er seine Hand hob und befürchtete einen weiteren Annäherungsversuch.Kurz hielt sie den Atem an. Dabei beobachtete Aveline, wie seine Hand umständlich zur Seite glitt, um in der Hosentasche nach etwas zu suchen. Schließlich zog er eine kleine Packung Tabak hervor, öffnete sie und drehte sich eine Zigarette. Als er ihren Blick bemerkte, bot er Aveline die Zigarette an. Den Nasenrücken kräuselnd, schüttelte sie den Kopf. Samael zuckte nur mit den Achseln. An Selbstbewusstsein schien es diesem Kerl jedenfalls nicht zu mangeln.

 

Plötzlich wurde es laut, als weitere Passagiere, zwei Männer sowie eine junge Frau, grölend den Waggon betraten. Ein älteres Ehepaar störte sich an dem Benehmen der Gruppe. Als die Frau versuchte, ihrem Ärger lautstark Luft zu machen, beugte sich der Große zu ihnen hinunter. Sofort verstummte die alte Dame. Dabei rutsche sie fast vom Sitz herunter. Beschwichtigen hob ihr Ehemann die Hände. Es war offensichtlich, dass die beiden Männer bereits einiges an Alkohol getankt hatten. Sie würden sich nicht den Spaß nehmen lassen, mit den aufmüpfigen Fahrgästen eine kleine Auseinandersetzung auszufechten.

Aveline seufzte leise. Ihre erste Zugreise hatte sie sich anders vorgestellt.

»Hey Sami! Da bist du ja«, lallte der Größere von beiden lautstark, als er sich ihnen näherte. Mit einem Handschlag grüßte er ihren Sitznachbarn. Als er sich zu seinem Freund herunter beugte, umhüllte sie ein weiterer Schwall von Alkohol zusammen mit anderen Ausdünstungen. Entsetzt wedelte Aveline mit der Hand vor dem Gesicht, um den ekeligen Geruch zu vertreiben.

 

Der Neuankömmling war hoch gewachsen. Aveline schätzte ihn auf stattliche ein Meter neunzig. Sofort stachen ihr sein sportlicher Körperbau, zusammen mit dem naturblonden Haar, ins Auge. Für einen groben Kerl besaß er eher weiche Gesichtszüge, aus denen wunderschöne blaue Augen, fast liebevoll, herausschauten. Hätte er sich gewaschen und würde statt einem mit Löchern unter den Achseln gespickten T-Shirt anständige Klamotten tragen, wäre er bestimmt eine positive Erscheinung und ihr aufgefallen.

 

»Hallo Azrael! Schön, dass du es doch noch rechtzeitig geschafft hast.« Samael stand auf. Brüderlich drückte er den Mann, der ihn um gut vierzig Zentimeter überragte, an seine Brust.Aveline musste innerlich schmunzeln, als sie die ungleichen Männer beobachtete.

»Du weißt, dass du mich nicht so nennen sollst«, schalt er seinen Freund und boxte ihn in die Seite, sodass Samael die Augen verdrehte, als ihm kurz die Luft wegblieb.Azrael schob den Freund mit einer lässigen Bewegung zur Seite und schaute zu Aveline, die auf dem Sitz kauerte, herüber. Während seine Augen ihren gesamten Körper abtasteten, fuhr ihr ein Schauer den Rücken herunter.

»Wer ist denn die Süße neben dir?« Seine stechend blauen Augen durchbohrten sie, sodass Aveline den Blick von ihm abwenden musste. Unsicher schaute sie aus dem Fenster. Dennoch konnte sie nicht vermeiden, immer wieder einen Seitenblick auf Azrael zu erhaschen. Sie spürte, wie ihre Wangen erröteten.

»Hey! Finger weg von ihr! Sie gehört zu der schüchternen Gattung. Setzt euch in die Reihen vor uns. Da ist noch genügend Platz«, forderte Samael seine Freunde scherzend auf.

 

Das Mädchen hatte ihr langes, glattes Haar bunt wie ein Regenbogen gefärbt. Dasselbe hatte sie auch mit ihren Augenbrauen gemacht, sodass ihr Gesicht fast wie das eines Clowns wirkte. Im kalten Licht des Waggons schienen die Farben zu leuchten. Sie war von dünner Statur. Ihre schwarze Jeans hatte unter der rechten Pobacke einen zehn Zentimeter langen Riss und ermöglichte einen freien Blick auf ein Tattoo. Doch der Riss förderte nicht alles zu Tage, was das Körperbild darstellte, da ein Teil von dem Jeansstoff verdeckt wurde. Nur ein paar Dornen, es konnte aber auch ein Stück Stacheldraht sein, war zu erkennen. Das Mädchen machte es sich am Fensterplatz bequem, während der andere Mann in der nächsten Reihe den freien Platz am Gang besetzte. Er war kleiner als Azrael, aber größer als Samael, dennoch schien er der Älteste in der Gruppe zu sein. Tiefe Furchen und Aknenarben zeichneten dessen Gesicht und ließen ihn auf manchen Mitreisenden abstoßend wirken. Er trug eine weite Hose, dazu ein schlabberiges, bereits stark ausgeblichenes T-Shirt von Iron Maiden, das einmal schwarz gewesen war und nun sein Dasein in einem verwaschenen Grauton fristete.

 

Azrael schwankte einige Schritte, um schließlich mit einem lauten Rülpser auf den Sitz vor Samael zu plumpsen.

»Kann er sich nicht mal benehmen?« Entfuhr es Aveline ärgerlich, was Samael zu amüsieren schien.

»Azrael ist harmlos. Schenke ihm einfach keine Beachtung.«

›Bei diesem Geruch wird das kaum möglich sein‹, dachte sie sich, wagte es aber nicht, es laut auszusprechen.

»Dein Freund heißt Azrael? Wie der dämliche Kater vom Zauberer Gargamel bei den Schlümpfen?« Überrascht fuhren ihre Augenbrauen nach oben. Nur mit größter Mühe konnte sie ein Glucksen unterdrücken.

»Ja. Aber er mag es lieber, wenn wir ihn Ace nennen. Richtig, Ace?« Er stand auf. Dabei schlug er Azrael kurz auf die Schulter.

»Genau. Wer meinen richtigen Namen ausspricht, ist des Todes«, lallte er zurück.

Kaum hatten die drei ihre Sitzplätze eingenommen, begann das Mädchen ihre Reisetasche durchzuwühlen.

»Hab was zum Erfrischen dabei. Das Zeugs, was man im Zug kriegt, davon rollen sich einem ja die Fußnägel auf. Will jemand was zu trinken?« Sie lispelte stark, doch das schien die anderen nicht zu stören. Alle stimmten freudig nickend zu. Schließlich zog sie drei Bierdosen daraus hervor. Eine davon reichte sie an das Narbengesicht in der Sitzreihe vor ihnen sowie zwei an Azrael weiter.Azrael gab Samael ein Bier über die Rückenlehne des Sitzes. Danach gönnte sie sich ebenfalls eine Dose. Die drei Neuankömmlinge öffneten fast gleichzeitig ihre Bierdosen, was von einem lauten Zischen begleitet wurde.

Aveline konnte nicht anders und verdrehte die Augen. Die Nächte hinter der Bar, haben ihr Lehrgeld gegeben. Wer so früh bereits mit Alkohol anfing, der war später kaum noch zu kontrollieren. Viele ihrer Gäste flogen nach überhöhtem Alkoholkonsum aus der Bar.

»Meint ihr nicht, dass ihr schon genug getrunken habt?«

Samael bemerkte ihr Unwohlsein.

»Das ist erst mein Drittes.« Mit zufriedener Miene musterte er die Dose, während er sie öffnete. Es zischte erneut, als der Schaum wie ein Geysir heraus schoss. Dabei ergoss sich die Fontäne über seine Hose. Wie ein Floh sprang Samael abrupt vom Sitz hoch.

»Mist!« Fluchend stellte er die Dose auf dem Boden ab. Hektisch klopfte er die Flüssigkeit aus den Klamotten. Dann leckte er jede seiner gelben Fingerkuppen einzeln ab, rieb die Hände an dem Hemd trocken, nahm die Bierdose und setzte sich wieder.

Avelines Magen befand sich kurz vor einer Rebellion. Es war zum Verrückt werden. Sie stand auf, um das Platzangebot zu überfliegen, doch es schien nicht einen freien Sitzplatz mehr zu geben. Zumindest keinen, der sich weit genug weg von dieser mobilen Kneipe entfernt befand. Enttäuscht sank sie in den Sitz zurück. Sie fühlte sich gefangen, da sie keine Möglichkeit sah, diesen Kerlen zu entkommen.

»Die Fahrkarten bitte«, rief eine Stimme vom anderen Ende des Waggons. Ein Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf.

›Dieser ekelige Kerl sieht aus, als hätte er weder Fahrkarte noch Geld bei sich. Der Schaffner wird ihn gleich im hohen Bogen nach draußen befördern.‹ Es war mehr ein Strohhalm, an dem sie sich klammerte. Doch die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

Samael stand auf. Er begann, in seiner Reisetasche herumzukramen. Dabei zog er einen Gegenstand heraus, den er lässig in die Hosentasche rutschen ließ.

Leider konnte Aveline nicht erkennen, was es war. Es ging einfach zu schnell, und das Teil war zu klein.

Er suchte weiter, während Aveline dem Kontrolleur ihre Karte gab.

»Sagen Sie. Gibt es noch irgendwo in diesem Zug einen freien Platz?« Sie ließ sich von Samaels grimmiger Miene nicht einschüchtern. Verschmitzt lächelte sie den Schaffner an.Samael setzte unbeeindruckt die Suche nach dem Fahrschein fort.

Der Kontrolleur kratzte sich mit der Hand am Hinterkopf. Dabei rutsche ihm die Mütze in die Stirn. Während er überlegte, drehte er den Kopf erst in Richtung der einen Durchgangstür, dann zur anderen, dabei schob er die Mütze mit dem Zeigefinger zurecht, sodass sie wieder gut saß.

»Es sind Ferien. In einigen Abteilen gibt es noch nicht einmal mehr Stehplätze. Tut mir leid. Zudem ist Ihre Sitzplatzreservierung nur für diesen Waggon gültig.« Er gab ihr mit einem mitleidigen Blick das Ticket zurück. Schließlich widmete er sich den anderen Fahrgästen.

Aveline sank in den Sitz.

Samael zog ein Papier hervor, das seine Fahrkarte darstellte, die er über das Internet gekauft hatte.

»Die Fahrkarten ... «

Der Schaffner hatte den Satz noch nicht beendet, da drückte Azrael ihm das Ticket klatschend in die Hand. Der Barcode wurde mit einem kaum hörbaren Piepton eingescannt. Dasselbe Schicksal ereilte nun auch Samaels Kartenausdruck.Sie hatte so gehofft, dass der Schaffner dem Alkoholkonsum ein Ende machen würde, doch als sie seinen unsicheren Blick bemerkte, wusste sie, dass er es sich verkniff. Er schien anzunehmen, dass mit Azrael nicht gut Kirschen essen war.

 

Die ersten zwei Stunden redete Samael unentwegt auf Aveline ein. Er ließ keine Gelegenheit verstreichen, sie zu einem Gespräch zu bewegen. Die linke Hand parkte er auf dem Oberschenkel. Immer wieder berührten seine Finger ihr Knie und streichelten darüber. Zusammengekauert und die Beine ineinander verschlungen, verharrte Aveline in ihrem Sitz. Hoffte, dass diese Anzüglichkeiten bald vorübergingen. Ihre Muskeln begannen zu verkrampfen, doch sie ließ sich nichts anmerken. Gelegentlich hatte sie ein Lächeln sowie eine Antwort für ihn übrig. Dabei beließ sie es auch. Aveline hatte genug damit zu tun, die kontinuierlichen Annäherungsversuche abzuwehren.

Während Samael sie weiterhin mit Geschichten über Nessie überhäufte, kam ihr jede Minute wie eine Ewigkeit vor. Ein Gefühl von Furcht stieg in ihr empor. Ungeduldig wartete sie auf die Ansage, dass sie bald Edinburgh erreichen würden. Die Minuten quälten sie, während sie so zäh wie Honig dahin flossen. Die Vermutung, dass der Lautsprecher kaputt war, beschlich sie.

 

Eine halbe Stunde später wurde es ihr zu viel. Sie brauchte Luft. Musste weg von diesem Alkoholgestank.

Während Samael mit seinen Freunden plauschte, nutzte Aveline die Gelegenheit und ging zur Toilette, um sich etwas frisch zu machen. Zuvor kramte sie ihre Geldbörse aus der Tasche heraus. Sofort ließ sie sie in die Hosentasche rutschen. Dabei entging ihr nicht, dass Samael sie aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie waren bereits seit drei Stunden unterwegs. Aveline fühlte sich, als hätte sie einen Kopfsprung in eine Badewanne voll Bier gemacht, und hinterher einen Schwimmwettbewerb darin ausgefochten.

Das beengte WC war nicht sehr sauber. Doch sie genoss die Ruhe. Künstlicher Zitronenduft wurde von einem bis zu zwei Drittel verbrauchten WC-Steins verströmt. Nun hatte sie wenigstens etwas Zeit für sich. Die ätzende Gruppe und deren Gesellschaft behagten ihr nicht. Die ewigen Annäherungsversuche von Samael, der Gestank nach Zigarettenrauch sowie starken Alkohol machte ihr zu schaffen. Allein der Gedanke daran sorgte dafür, dass ihr wieder übel wurde. Als würde sie in einer miesen Bar in Inverness das Klo putzen.Aveline atmete tief durch, als sie in den Spiegel sah.Plötzlich klopfte es an der Tür. Erschrocken fuhr sie zusammen.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«

Sie erkannte Samaels Stimme.

»Verdammt! Wieso rennt er mir nach?« Zischte sie ihrem Spiegelbild entgegen. Eine leichte Panik begann von ihr Besitz zu ergreifen.

»Ja. Es ist alles okay«, rief sie verärgert durch die geschlossene Tür. Sie zog die Toilettenspülung, wusch sich die Hände, bevor sich auf den Weg zurück zu ihrem Sitzplatz machte.

 

Samael saß mit gespreizten Beinen auf dem Sitz. Dabei grinste er Aveline breit an. Sie überlegte, ob sie vielleicht im Gang stehen bleiben sollte. Sie benötigten noch über eine Stunde bis Edinburgh. Da er sie sogar vor dem WC aufgesucht hatte, glaubte sie nicht, dass er sie so ohne weiteres in Ruhe lassen würde. Aveline verschaffte sich erneut einen Überblick, doch der Waggon war bis auf den letzten Platz belegt. Einige der Reisenden hatten sich in der Zwischenzeit aus dem überfüllten Nachbarwaggon in diesen breit gemacht. Nun versperrten ihre Koffer auf der einen Seite den Durchgang. Resigniert stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

»Lässt du mich mal durch?«

Ihre forsche Aufforderung stachelte Samael nur noch mehr an. Er schlug mit beiden Händen auf seine Schenkel.

»Du kannst gern über meinen Schoß hinweg steigen.«

Aveline verdrehte die Augen. Sie zögerte, doch nur kurz. Sie hatte keine Wahl. Sie ergab sich dem Schicksal. So elegant wie nur möglich versucht sie, über seine Beine zu krabbeln. Ein Unterfangen, das sich mit ihrer Bondagehose als schwierig erwies. Eines der Bänder verhakte sich an der Lehne des Sitzes. Plötzlich legte sich eine Hand an ihrem Hinterteil und begann darüber zu streicheln.

»Hey! Lass das gefälligst!« Der Protest waberte laut durch den Waggon. Ohne Vorwarnung schlug sie die Hand weg.

»Ich wollte dir nur behilflich sein«, feixte er.

Voller Entsetzen versuchte Aveline schnell auf ihren Sitz zu rutschen.

Noch immer war ihr rechtes Bein gefangen, sodass sie nun mit dem Oberkörper auf dem Sitzplatz lag, während ihre Beine Samaels Schoß belegten. Sie sah, wie Samael gerade ausholen wollte, um ihr einen Klaps auf den Hintern zu verpassen.

»Indem du mir an den Po fasst?« Seine Hand hielt in der Luft inne, während er zugleich eine Unschuldsmiene aufsetzte. Rasch kratzte er sich am Nacken.

Entrüstet schwenkte sie den Kopf hin und her, während sie sich hektisch umschaute. Aus ihrer Perspektive war niemand sonst zu sehen. Entsetzt stellte sie fest, dass keiner der anderen Fahrgäste Anstalten machte, ihr zu helfen.

Eifrig schüttelte sie das gefangene Bein. Schließlich hatte sie genug, zog das Bein an, als sie einen Widerstand spürte. Das Geräusch von reißenden Stoff war zu hören. Zwar war sie nun frei, doch zwei der Bänder waren gerissen. Dennoch war Aveline froh, als sie sich endlich auf ihrem Platz setzen konnte. Verärgert begann sie die gerissenen Bänder miteinander zu verknoten.

»Sei nicht so prüde! Wir haben doch nur Spaß!«

Voller Entrüstung blieb Aveline der Mund offen stehen. Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Du vielleicht. Ich nicht!«

Die Erlösung kam krächzend aus dem Lautsprecher.

 

»Nächster Halt Edinburgh Waverley!«

 

Eine Containerladung voll mit Steinen rollte ihr vom Herzen direkt vor die Füße. Endlich würde sie ihn loswerden. Und mit ihm das Biergeschwader. Erleichterung breitet sich in ihr aus, als sie in der Ferne den Bahnhof erblickte.

Die Gruppe packte ihre Sachen zusammen. Einige leere Bierdosen rollten hin und her, während Azrael eine halb volle Dose quer durch den Gang schoss. Dabei prallte sie gegen einen Sitz, der sich fünf Reihen vor ihnen befand. Das schallende Gelächter der vier Freunde füllte den Waggon aus. Der Mann im Anzug und Krawatte wurde wütend, als einige Biertropfen auf seine Hose trafen. Er zog ein gebügeltes Stofftaschentuch aus der Hosentasche. Vor sich her fluchend rieb er damit die Feuchtigkeit aus dem Stoff. Schließlich schälte er sich aus dem Sitz. Gerade wollte er Azrael Manieren beibringen, als die Frau, die neben ihm saß, den Mann an seinem Handgelenk packte, um ihn von sein Vorhaben abzuhalten.

Samael gähnte kurz, reckte sich ohne Aveline dabei aus den Augen zu lassen.

»Wenn du mal in Edinburgh bist, komm doch vorbei. Kannst auch bei mir pennen. Ich wohne ganz in der Nähe der Burg.« Seine Augen funkelten diabolisch.

»Dein Typ scheint nicht wirklich auf dich zu stehen, sonst hätte er sich bestimmt mal bei dir gemeldet. Oder ist er so alt, dass er nicht weiß, was ein Telefon ist. Vielleicht kann er damit ja auch nicht umgehen?«

Sie wusste, er wollte sie provozieren, doch Aveline ließ sich nicht darauf ein.

»Er kann schon, doch ich besitze kein Handy. Und erst recht kein Smartphone.«

»Wie das?« Seine Augen wurden riesengroß.

»In der heutigen Zeit besitzt jedes Kind eins?«

»Tja, die haben auch Eltern, die ihnen eines kaufen. Ich kann es mir nicht leisten. Somit brauchst du mich also auch nicht nach meiner Nummer zu fragen, denn es gibt keine.« Ein Gefühl des Triumphs stieg in ihr empor.

»Schade.« Er beugte sich zu Aveline vor. Seine Lippen begannen sich zu einem Kuss zu formen. Dabei kam er ihrem Gesicht immer näher.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wohin konnte sie flüchten? Als sie begriff, dass sie keine Ausweichmöglichkeit hatte, holte sie aus, um ihn eine Ohrfeige zu verpassen.Samael zog ruckartig den Kopf zurück, sodass ihr Schlag ins Leere ging. Überrascht öffnete sie den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.

»Na. Na. Du bist ja eine richtige Furie.« Ein heiseres Lachen ertönte. Es dauerte eine Minute, bis er sich beruhigt hatte. Erneut spitzte er die Lippen und kam ihrem Mund so nah, dass sie seinen nach abgestandenem Bier stinkenden Atem vernahm.

»Für diese Dreistigkeit habe ich mir aber einen Kuss verdient.« Samael ließ sich nicht so ohne Weiteres abwimmeln.

Aveline gab nach. Sie biss in den sauren Apfel, drehte den Kopf zur Seite, sodass er nur ihre Wange küssen konnte.

In der Bewegung hielt Samael plötzlich inne.

»Was denn? Kein Kuss auf den Mund?« Enttäuscht sah er Aveline an, während diese energisch den Kopf schüttelte.

»Kommt nicht infrage. Bin in festen Händen.«

»Na dann schönes Kind ... Wir sehen uns bestimmt bald wieder.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Aveline zuckte zusammen, als sie eine Spannung, wie bei einen Stromschlag, zwischen seinen Lippen und ihrer Wange spürte.

Azrael beobachtete die beiden die ganze Zeit über mit interessierter Miene. Lässig thronte sein rechter Arm auf der Rückenlehne des Sitzes, während er Aveline durchdringend ansah.Schließlich löste Samael sich von ihr, packte den Arm des Freundes und zog ihn hinter sich her.

»Komm Ace. Wir haben was zu erledigen«, befahl er dem Freund in einem eiskalten Ton, der Aveline fast das Blut in den Adern gefrieren ließ.

 

Der Zug hielt. Genauso plötzlich wie die Meute bei Beginn der Reise aufgetaucht war, war sie nun verschwunden. Wie ein Poltergeist, der seine zerstörerische Arbeit vollbracht hatte, kehrte nun endlich Ruhe ein.

Ein tiefer Atemzug, gefolgt von einem lauten Seufzer der Erleichterung entfuhr Aveline.

Ein spitzer Schrei entfleuchte ihr. Wie aus heiterem Himmel tauchte Samael auf, sprang neben ihr in den Sitz, sodass Aveline vor Schreck zusammen zuckte.

»Hey, da fällt mir ein, ich kann dir ja meine Telefonnummer geben!« Er griff nach Avelines Handgelenk. Sie versteifte sich.

»Nein!« Aveline protestierte heftig, doch Samael hielt sie unnachgiebig fest und zog ihren Arm zu sich.

Sie startete erneut einen Versuch, sich von ihm loszureißen. Die Kraft, die der schmächtige Kerl an den Tag legte, hatte sie ihm nicht zugetraut. Sein fester Griff machte ihr klar, dass sie keine Chance hatte, sich daraus zu befreien.

Er zauberte einen Kugelschreiber aus der aufgesetzten Hosentasche hervor. Dann begann er eine Nummer auf ihren Unterarm zu kritzeln, sodass es ihr schon wehtat. Sie presste die Lippen aufeinander, bis der Schmerz langsam abklang, nachdem er ihre Haut verschandelt hatte.

»Hier. Für alle Fälle«, zwinkerte er Aveline zu und war sogleich wieder verschwunden.

Geschockt saß sie da und spürte, wie ihr das Atmen schwer fiel.

Noch immer vor Schreck erstarrt, schaute Aveline ihm nach. Sie konnte alles, was da eben geschehen war, nicht fassen. Verblüfft musterte sie ihren Arm, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte.

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie sich sicher war, dass Samael nicht mehr in ihrer Umgebung weilte. Dann erst traute sie sich, auf die Toilette zu gehen, um den Unterarm von der Kritzelei zu befreien. Auf dem Weg dorthin ergriff der Mann im Anzug ihren Arm und hielt sie fest.

»Ich dachte, Sie gehören auch zu diesen Wüstlingen. Daher hatte ich vorhin nicht eingegriffen.«

»K ... kein Problem.« Seine Entschuldigung verwirrte sie. 

»Ich bin auch so zurechtgekommen«, brachte Aveline stotternd hervor.

Er lächelte vorsichtig. »Hat der Kerl Sie unsittlich angefasst?«

»Nicht wirklich.« Aveline schüttelte den Kopf. »Ich weiß mich zu wehren.« Sie riss sich aus seiner Umklammerung. Mit schnellen Schritten steuerte sie auf die Toilette zu.

Der Kugelschreiber war schwieriger zu entfernen, als sie es angenommen hatte. Der Unterarm wechselte die Farbe von der vornehmen Blässe zu krebsrot. Dort wo die Tinte am hartnäckigsten war, begann es ein wenig zu bluten. Sie wollte sicher sein, dass sie auch alles entfernt hatte. Es durfte nicht der kleinste Tintenfleck auf ihrem Arm zurückbleiben. David sollte nichts davon wissen. Sie konnte ihm nichts über dieses Ereignis erzählen. Schließlich kannten sich die beiden noch nicht lange genug. Aveline hatte Angst, er könnte es falsch verstehen. Die Telefonnummer eines Fremden auf ihrem Arm. Wie sollte sie ihm das erklären?

Langsam machte sich der Hunger in ihr bemerkbar. Ob sie in den Speisewagen gehen sollte, um dort eine Kleinigkeit zu essen? Sie stand auf, zog ihre Tasche aus der Gepäckablage über ihrem Sitz und kramte eine Plastikbox von der Größe einer Butterdose hervor. Dezent schaute sie zu den Seiten. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen, soweit sie es aus dem Augenwinkel beurteilen konnte. Also riskierte sie einen Blick in die Box. Sie hatte nicht viel Geld sparen können. Sie wusste, das Essen im Speisewagen war überteuert. Zudem bestanden die Bedienungen darauf, dass man dort eine Mahlzeit bestellte, sofern man dort verweilen wollte. Sie entnahm daraus eine zusammengefaltete Fünf-Pfund-Note und zog ihre Geldbörse aus der Hosentasche hervor. Als sie diese öffnete, klaffte ihr aus dem Geldscheinfach gähnende Leere entgegen. In dem anderen Fach befanden sich nur wenige Münzen drin. Es war einer ihrer Tricks.

Aveline hatte nie ihr Geld in einem Portemonnaie. Aus Vorsicht, da Geldbörsen meisten Taschendieben in die Hände fielen. Nun verschwand die Banknote zügig in ihrem Portemonnaie. Wenn sich hier ein Taschendieb herumtreiben würde, er hätte kaum eine Chance unerkannt zu entkommen. Aveline kannte die Tricks. Die Plastikbox versteckte sie wieder zwischen ihren Klamotten. Zur Sicherheit schaute sie sich ein weiteres Mal um. Nachdem ihr nichts auffällig vorkam, ging sie zum Speisewagen.Dort bestellte sie sich erst einmal ein Wasser, bevor sie die Speisekarte studierte. Während sie überlegte, schaute sie aus dem Fenster.

›Vielleicht sollte ich Samaels Angebot annehmen und ihn besuchen, um mir Schottland einmal näher anzusehen?‹ Träumte sie vor sich hin. Sofort schüttelte sie den Kopf, um den absurden Gedanken aus ihrem Hirn zu vertreiben.

›Keine zehn Pferde könnten mich dazu bringen, bei diesem Kerl in der Bude zu übernachten. Vermutlich würde er eine Art Bezahlung von mir verlangen, die ich ganz bestimmt nicht leisten will.‹

Die Kellnerin kam, um Avelines Bestellung aufzunehmen. Sie war froh über diese Unterbrechung, die ihr half, den unangenehmen Gedanken zu vertreiben. Aveline bestellte ein Stück Apfelkuchen sowie eine Tasse Tee mit Milch. Damit war ihr Geld auch fast aufgebraucht.Eigentlich, so fand sie, war das Essen gar nicht so übel. Sie hatte schon schlechteren Kuchen gegessen. Nachdem sie bezahlt hatte, ging sie zurück zum Platz. Der Sitz neben ihr war noch immer leer. Sie kontrollierte ihre Tasche. Es schien nichts zu fehlen. Erleichtert ließ sie sich in den Sitz sinken. Es lagen noch fast drei Stunden Fahrt vor ihr. Aveline wurde müde. Sie beschloss, sich ein wenig auszuruhen.Das regelmäßige Klappern der Räder wiegte sie schnell in den Schlaf. Aveline begann zu träumen.

 

Sie saß auf einem Pferd. Einem Apfelschimmel mit glänzender schwarzweißer Mähne. Sie ritt im Galopp. Immer wieder schaute sie sich hektisch um. Sie war auf der Flucht. Aber vor wem flüchtete sie?

»Kerberus! Phoberos! Bringt sie mir!« Befahl eine Stimme in der Ferne. Ihr Pferd war der endgültigen Erschöpfung nahe. Schaum bedeckte das Maul ihres Hengstes. Zudem trieften seine Flanken vor Nässe.

Ein unheimliches Brüllen durchschnitt plötzlich die Dämmerung. Sie vermutete, dass ein wild gewordener Bär ihr auf den Fersen war. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie dessen Schlag bis zum Hals spürte. Ein Funke der Hoffnung glomm in ihr auf, als sie einen weißen Fleck in der Ferne entdeckte. Sie wischte sich den Schweiß von Stirn und Augen, um es besser erkennen zu können. Sie ritt auf ein Licht zu. War es ein Haus? Oder gar eine Stadt? Sie trieb das Pferd an, noch schneller zu galoppieren. Dabei trat es ihm in die Flanken. Es wieherte und beschleunigte seinen Galopp. Ängstlich schaute sie nach hinten. Sie sah, wie sich zwei Bestien ihr langsam, aber stetig näherten. Deren tiefschwarze Farbe vermischte sich mit der Dämmerung. Ihre Schatten sahen aus, wie die von übergroßen Hunden. Auf den Rücken der Bestien ragte etwas heraus. Zwei Reihen dreieckiger, grünlich schimmernder Hornplatten verliefen an jeder Seite der Wirbelsäule entlang. Sie endeten dort, wo ein dicker Schwanz begann, dessen Ende sich zu einem Stachel verjüngte. Die Schultern leuchteten, als trügen sie einen bronzefarbenen Panzer aus runden Platten. Ihre orangefarbenen Augen glühten in der Dunkelheit, während gleichzeitig heißer Atem aus ihren Mäulern dampfte. Darin befanden sich drei nebeneinander gereihte scharfe Zahnreihen. Die Bestien waren schnell. Zu schnell für ihr Pferd, das bereits an den Rand seiner Grenze kam.

Hinter den Bestien tauchten zwei Reiter auf. Die Dämmerung war kurz davor in eine tiefschwarze Nacht überzugehen.

»Wenn ihr sie habt, lasst sie am Leben! Ihr rührt sie nicht an!« Ein weiterer Befehl hallte über sie hinweg. Die rauchige Stimme war gut zu hören, was ihr schlagartig klar machte, dass ihre Verfolger sie fast eingeholt hatten. Ob die Bestien auf ihren Herren hörten? Sie wollte es gar nicht erst so weit kommen lassen. Erneut spornte sie das Pferd an. Das Licht kam näher. Es war eine Burg. Sie wollte erleichtert aufatmen, als ihr Hengst plötzlich scheute und stieg. Verzweifelt versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten.

»Oh nein. Bitte, lass mich jetzt nicht im Stich! Gleich sind wir in Sicherheit. Dort ist die Burg! Bring mich nur noch dort hin«, motivierte sie das Pferd, nicht aufzugeben. Doch es war zu spät. Es stürzte und sie mit ihm. Die silbernen Armreifen flackerten kurz auf. Jeweils eines von ihnen, trug sie an jedem Handgelenk. Beide waren mit einer zwanzig Zentimeter langen Kette verbunden. Nun leuchteten sie weiß silbern in der Dämmerung. So schnell sie konnte, sprang sie auf ihre Beine, raffte den Rock des langen Kleides hoch, damit sie schnell weiter rennen konnte. Immer auf das Licht zu. Die Gewissheit, die Bestien im Nacken zu haben, beflügelte ihr Tempo. Abrupt blieb sie stehen, als sie hinter sich ein Knurren hörte. Dabei verlor sie fast das Gleichgewicht. In letzter Sekunde schaffte sie es, sich zu fangen, um nicht in das schwarze Loch abzustürzen.

Ein breiter Burggraben, gefüllt mit Wasser, tat sich vor ihr auf. Er schnitt Ihr der Weg ab. Die Zugbrücke wurde gerade von den Wachposten hochgezogen. Sie würde sie nicht mehr vor den Bestien erreichen. Sollte sie springen? Sie wusste nicht, ob diese Viecher schwimmen konnten, doch ihr blieb keine andere Wahl. Sie zögerte kurz, drehte sich um, als sie ein Zischen hörte. Zähne fletschend, schritten die Bestien langsam auf sie zu. Heißer Speichel tropfte auf den Boden. Dort wo er aufkam, verbrannte das Gras unter dem ätzenden Geifer. Sie spürte die Erschöpfung. Lange würde sie nicht mehr durchhalten.Dann kamen auch bereits die beiden Reiter in ihr Sichtfeld. Ein großer Blonder sowie ein etwas Kleinerer mit dunklem Haar.

»Beweg dich nicht«, drohte der Blonde, »dann wird dir nichts geschehen.« Elegant schwang er das Bein über den Hals seines Pferdes, sprang herunter und übergab dem Gefährten die Zügel.

»Phoberos! Kerberos! Steht.« Der Befehl kam entschlossen vom anderen Mann. Bei dieser Stimme wäre jeder zu Stein erstarrt. Sie war fest und rau.Die beiden Bestien gehorchten aufs Wort, blieben auf ihren Plätzen und rührten sich nicht von der Stelle.Sie wagte einen erneuten Blick nach unten. Durch die Dämmerung schimmerte das Wasser tief schwarz. Wie ein hinterhältiger Python schlängelte sich der Graben um die Burg, als wollte er das mächtige Bollwerk erdrücken.

»Mach keine Dummheiten«, rief der Dunkelhaarige ihr zu. Immer wieder versuchte er sein Pferd zu beruhigen, indem er es auf den Hals klopfte.Langsam drehte sie ihren Kopf zurück. Ein überlegenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

»Das solltest du nicht tun. Du wirst sterben, wenn du springst! Sei vernünftig!« Beschwichtigend, mit warmer Stimme, versuchte der Blonde, die Frau von ihrem Vorhaben abzuhalten, als er ihr langsam seinen rechten Arm entgegenstreckte. Er reichte ihr die Hand, während er mit einem einnehmenden Lächeln versuchte, sie in Sicherheit zu wiegen.

 

Ein warmer Sommerregen setzte ein, der auf die Gruppe niederfiel.

Sie spürte die ersten Tropfen, wie sie sanft auf ihre Haut trafen.

Sie schloss die Augen und sprang.

 

»Nächster Halt London Kings Cross! Endstation! Bitte alle aussteigen! Die Zugfahrt endet hier!«

 

Aveline wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen. Sie gähnte erst einmal. Solch einen seltsamen Traum hatte sie noch nie zuvor gehabt. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals so geträumt zu haben. In ihrem Traum kamen Bestien vor. Die Fantasie schien mit ihr durchzugehen. Bei der Gesellschaft, die sie zuvor genießen durfte, wunderte es sie nicht.

Als sie in London aus dem Zug stieg, hatte sie das Gefühl, in den eilig umher irrenden Menschenmassen zu ertrinken. Wie eine Woge drohten die Rollkoffer über sie zu schwappen. Kreisten sie ein, wie ein Schwarm Barrakudas, der nur auf den geeigneten Zeitpunkt wartete, damit er seine sichere Beute endlich angreifen konnte. Verzweifelt suchten ihre Augen nach dem gutaussehenden jungen Mann, der sie abholen wollte. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Enttäuschung und Traurigkeit ergriffen von ihr Besitz. Hatte er sie sitzen gelassen? Vergessen, wie ein altes paar Schuhe, dass man im Schrank stehen lässt, weil man es nicht mehr tragen mag? Aveline wollte heulen. Wie konnte sie nur so dumm sein und glauben, er würde mit ihr zusammen ein gemeinsames Leben in London beginnen? Mit ihr! Aveline, der einstigen Prinzessin der Diebe von Inverness?

 

Die beiden hatten sich in einer Bar kennengelernt. Aus diesen Bekanntschaften wurden normalerweise keine Freundschaften oder gar Bindungen fürs Leben. Erst recht nicht eine Liebesbeziehung. Nun ärgerte sie sich über den Umstand, dass sie kein Handy besaß. Eine Träne tiefster Enttäuschung, über ihre eigene Torheit, rollte ihre Wange hinunter.

 

»Hattest du eine gute Reise?«

Wie ein Wirbelwind drehte sie sich um. Aveline sah in freundliche, bernsteinfarbene Augen.

»David!« Rief sie so laut, dass sich gleich mehrere Reisende nach ihnen umdrehten. Sofort ließ Aveline ihre Tasche fallen, als David sie in den Arm nahm und sie fest an sich drückte. Sie roch sein verführerisches Parfüm, und sog den angenehmen Duft ein. Er war frisch geduscht. Das Haar roch nach teurem Kräutershampoo.

»Hast du denn jemand anderes erwartet?« David löste sich von ihr. Verblüfft schaute er in ihre Augen, die feucht wurden.

Als er sie gerade küssen wollte, bemerkte er die Kratzer.

»Was ist mit deinem Arm passiert?« Vorsichtig musterte er die Verletzungen.

Aveline spürte einen Kloß in ihrem Hals anschwellen. Was sollte sie ihm sagen? In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken umher wie aufgescheuchte Hühner.

»Nichts Schlimmes. Ich bin erschöpft. Die Reise war lang und anstrengend. Lass uns zu dir nach Hause fahren«, versuchte sie, der Situation eine belanglose Bedeutung zu geben.

»Gern. Komm. Da vorn steht das Auto. Es ist der schwarze Jeep.« David schulterte die Tasche, dann nahm er Avelines Hand.

»Wir fahren noch ein kleines Weilchen bis nach Soulbury. Dort leben wir.«

»Ich dachte, du wohnst in London?« Sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Ich habe nie gesagt, dass ich in London wohne. Nur, dass ich in London arbeite.«

»Und wer sind dann wir?« Verblüfft starrte sie David an. »Lebst du in einer Wohngemeinschaft?«

»Nicht ganz.« David lachte lauthals. »Wir, damit sind meine Eltern und ich gemeint. In Soulbury haben wir ein kleines Anwesen. Doch es ist nicht sehr weit von London entfernt. Es wird dir dort bestimmt gefallen.« Er zog Aveline an sich. Sein Kuss ließ sie die Welt um sich herum vergessen.

»Bitte, David. Lass uns fahren. Ich bin neugierig auf dein zu Hause«, brachte sie stockend hervor, nachdem sie wieder Luft holen konnte. Sie war aufgeregt. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper spannte sich an.

 

Es war bereits früher Abend. Seit einer Stunde fuhren sie auf der Landstraße, bis sie auf die Brickhill Road stießen. Nach weiteren fünf Minuten Fahrzeit bog der Wagen ab. Als sie die Einfahrt passierten, erblickte Aveline jeweils ein rotes Backsteinhaus auf jeder Seite. Das Linke war etwas kleiner, während das Rechte, wie sie vermutete, das Herrenhaus sein musste. Jedoch fehlte von Nachbarschaft jede Spur. Es war ruhig. Riesige Felder umzingelten das schöne Anwesen. David parkte den Wagen im Hof, dann öffnete er seiner Freundin die Tür.

»Wie galant. Vielen Dank.« Aveline stieg aus und machte einen Knicks.Er grinste breit. »Komm«, forderte er sie freundlich auf.

 

Als er die Haustür öffnete, stockte Aveline der Atem.

Jessy

Jessy stand vor der massiven Eichentür des „Paradise“. Wer genauer hinschaute, konnte erkennen, dass diese Tür viel kleiner war, als die anderen Eingänge in der Umgebung.

Ein Stimmengewirr an Ausgelassenheit empfing sie, als sie mit hängenden Schultern den Pub betrat. Auf dem halben Weg zur Bar blieb sie stehen. Sie sah sich um.

Um sie herum lachten die Besucher, spielten Karten oder warfen Darts.

 

Das „Paradise“ war ein Pub, in dem sich die Engel trafen. Alles schimmerte in Silber, was auf die metallenen Tische und Stühle zurückzuführen war. In der Mitte des Pubs befand sich eine echte Eiche. Ihre Krone bedeckte die gesamte Decke, sodass nicht zu erkennen war, wie es darüber ausschaute. Glühwürmchen spielten freudig und flogen gut gelaunt überall umher. Das Flackern ihrer Lichter tauchte den Raum in ein angenehmes Licht. Es war die einzige Beleuchtung. In den knorrigen Ästen konnte man Vögel beobachten, die ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgingen. Jeder trällerte ein Lied in den schönsten Tönen. Doch auch das Liebesgezwitscher eines Nachtigall Pärchens, hoch oben in dem dichten Blätterwald, konnte Jessys Miene nicht erheitern.

Schnurstracks ging sie auf den Tresen zu. Die Theke bestand aus blank poliertem Aluminium. Nicht ein Getränkerand oder ein anderer Fleck konnte man entdecken. Hinter dem Tresen an der Wand befanden sich vier Regale, die im gleichmäßigen Abstand übereinander angebracht waren. Auf diesen Regalen verteilten sich diverse Flaschen, der Größe nach sortiert. In ihnen standen ausschließlich die besonderen Tröpfchen.