Fauler Zauber - Diana Wynne Jones - E-Book
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Fauler Zauber E-Book

Diana Wynne Jones

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Beschreibung

In ihrem humorvollen High-Fantasy-Roman erzählt die preisgekrönte britische Autorin Diana Wynne Jones, wie sich eine magische Welt als lukrative Geschäftsidee entpuppt. Ausnahmslos alle – die Zauberer, Soldaten, Bauern, Drachen und Elfen – haben die Nase voll von Mr. Chesneys "Pilgerfahrten". Jahr für Jahr fallen Touristengruppen aus der benachbarten Welt ein, um ein klassisches Fantasy-Abenteuer zu erleben – mit allem, was dazu gehört: bösen Magierinnen, gefährlichen Drachen und dem furchteinflößenden Dunklen Fürsten. Stets werden andere Bewohner des Reiches dazu auserwählt, diese Rollen zu übernehmen. Aber dieses Jahr reicht es den Leuten. Mr. Chesney mag einen mächtigen Dämon an seiner Seite haben, doch ein Orakel weiß Rat. Nun ist es an Zauberer Derk und seiner Familie aus Menschen und Greifen, den Verwüstungen Einhalt zu gebieten und ihre Welt zu retten. "Niemand erzählt so magische Geschichten wie Diana Wynne Jones." Neil Gaiman

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Diana Wynne Jones

Fauler Zauber

Roman

Ins Deutsche übertragen von Eva Bauche-Eppers

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ausnahmslos alle – die Zauberer, Soldaten, Bauern, Drachen und Elfen – haben die Nase voll von Mr Chesneys »Pilgerfahrten«. Jahr für Jahr fallen Touristengruppen aus der benachbarten Welt ein, um ein klassisches Fantasy-Abenteuer zu erleben – mit allem, was dazu gehört.

Aber dieses Jahr reicht es den Leuten. Mr Chesney mag einen mächtigen Dämon an seiner Seite haben, doch ein Orakel weiß Rat. Nun ist es an Zauberer Derk und seiner Familie aus Menschen und Greifen, den Verwüstungen Einhalt zu gebieten und ihre Welt zu retten.

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Leseprobe »Die verborgene Geschichte des Tom Lynn«

Kapitel 1

Würdet Ihr bitte alle den Mund halten!«, zischte Hochkanzlerin Querida. Sie kniff die geschwollenen Lider zusammen und schaute aus schmalen Augenschlitzen böse in die Runde.

»Ich wollte nur sagen …«, huben ein König, ein Kaiser und mehrere Hexenmeister gleichzeitig an.

»Auf der Stelle, oder der Nächste, der sich bemüßigt fühlt, einen Kommentar abzugeben, verbringt den Rest seines Lebens auf dem Bauche kriechend, in Gestalt einer Schlange!«

Das verschloss der überwiegenden Zahl der Mitglieder des Krisenkomitees der Universität den Mund. Querida galt als die mächtigste Zauberin dieser Welt, und Schlangen waren ihre Spezialität. Sie selbst, klein, mit glänzender, grünlicher Haut und sehr, sehr alt, hatte etwas von einer Viper. Niemand bezweifelte, dass sie es ernst meinte, aber zwei der Anwesenden ließen sich davon nicht einschüchtern. König Luther, von Trübsinn umwittert, hörte man murmeln: »Eine Schlange zu sein wäre möglicherweise eine Erleichterung.«

Als Queridas Augen in seine Richtung schnellten und ihn tückisch fixierten, erwiderte er trotzig ihren Blick, als wollte er sie herausfordern, ihre Drohung wahr zu machen.

Und Hexenmeister Barnabas, Vizekanzler der Universität, vollendete unbeirrt seinen angefangenen Satz: »… wollte nur sagen, Querida, dass Ihr nicht versteht, wie das ist. Ihr seid eine Frau, Ihr braucht nur die Glamouröse Zauberin zu spielen. Mr. Chesney duldet keine Frau in der Rolle des Dunklen Fürsten.« Queridas Basiliskenblick glitt wirkungslos an ihm ab, er lächelte nur heiter und blies die Backen auf. Sein Gesicht, umrahmt von den grauen Locken von Haar und Bart, war das eines Lebenskünstlers und Genießers. Er zwinkerte versöhnlich mit seinen blauen, von roten Äderchen durchzogenen Augen und fügte hinzu: »Wir sind ausgelaugt, alle miteinander.«

»Wie wahr, wie wahr!«, bekundeten einige der um den Tisch Sitzenden schüchtern ihre Zustimmung.

»Dessen bin ich mir bewusst!«, schnappte Querida. »Wenn Ihr zuhören würdet, statt sofort ein Klagegeschrei anzustimmen, wäre Euch aufgefallen, dass ich diese Versammlung einberufen habe, damit wir besprechen, wie man Mr. Chesneys Pilgerfahrten ein Ende setzen kann.«

Ihren Worten folgte ein erstauntes Schweigen.

Ein bitteres kleines Lächeln kerbte Falten in Queridas Wangen. »Ja«, sagte sie, »ich weiß sehr wohl, dass ich meine Wahl zum Kanzler der Tatsache verdanke, dass Ihr glaubtet, ich hätte als Einzige den Mumm, Mr. Chesney Paroli zu bieten, und dann wart Ihr schwer enttäuscht, als ich ihm nicht gleich an die Gurgel gesprungen bin. Natürlich habe ich mir erst einmal ein Bild von der Situation gemacht. Es ist keine Kleinigkeit, eine Kampagne gegen einen Mann zu planen, der seine Basis in einer anderen Welt hat und von dort seine Touren organisiert.« Ihre kleinen grünlich weißen Hände wanderten zu den vor ihr aufgestapelten Schriftstücken aus Papier, Rinde und Pergament und ordneten sie mit raschelnden Bewegungen neu. »Aber mir ist klar, dass die Lage sich von schlecht über unerträglich zu katastrophal entwickelt hat und dass etwas unternommen werden muss. Hier habe ich sechsundvierzig Petitionen von den Hexenmeistern der Universität und zweiundzwanzig von anderen Zauberkundigen männlichen Geschlechts, die sich alle wegen chronischer Überarbeitung beschweren. Hier eine Unterschriftenaktion von mehr als hundert Zauberinnen, die Gleichberechtigung fordern. Zu recht. Mr. Chesney ist der Ansicht, Frauen könnten keine Magier sein.« Sie legte die Hand auf einen hohen Stapel Pergamente mit lang herabhängenden roten Siegeln. »Das«, erklärte sie, »sind förmliche Beschwerden der regierenden Monarchen. Jeder Herrscher in dieser Welt hat wenigstens einmal an mich geschrieben und mir berichtet, welchen Schaden die Pilgerfahrten in seinem Land anrichten. Es dürfte genügen, aus einem Brief zu zitieren. König Luther, vielleicht habt Ihr die Güte, den Inhalt des Cahiers zusammenzufassen, das ich monatlich von Euch erhalte?«

»Ich habe die Güte.« König Luther beugte sich vor, seine kräftigen Hände umklammerten den Rand der Tischplatte so fest, dass die Knöchel weiß wurden. »Mein Königreich ist dem Untergang nahe. In den letzten zwanzig Jahren hat man mich fünfzehn Mal zum Unholden König bestimmt, mit dem Ergebnis, dass mein Reich jede Woche von einer Reisegruppe heimgesucht wird, man in meine Burg eindringt und versucht, mich oder meine Höflinge zu ermorden. Meine Gemahlin hat mich verlassen und die Kinder mitgenommen, um sie in Sicherheit zu bringen. Dörfer, Äcker, Wiesen und Wälder werden verwüstet. Wenn nicht das Heer des Dunklen Fürsten einmarschiert und meine Hauptstadt plündert, tun es beim nächsten Mal die Mächte des Guten. Ich gebe zu, ich werde für die Unannehmlichkeit gut bezahlt, aber das Geld, das einkommt, wird jedes Mal dringend benötigt, um die Hauptstadt für die nächste Tour instand zu setzen, sodass kaum etwas übrig bleibt, um die Bauern für ihre Verluste zu entschädigen. Es lohnt sich für sie kaum, die Felder zu bestellen. Ihr müsst begreifen, Hochkanzlerin …«

Queridas Hand griff nach dem nächsten Stapel, buntgemischt aus Schriftstücken in verschiedenen Formen und Größen. »Ich begreife durchaus, vielen Dank, Euer Majestät. Diese Briefe sind eine Auswahl von den unzähligen, in denen Bauern und einfache Bürger mir ihr Leid klagen. Sie sehen sich hilflos den magischen Wetterkapriolen ausgeliefert, den Armeen, die die Felder zertrampeln, den Soldaten, die Vieh stehlen, und den marodierenden Vasallen des Dunklen Fürsten. In naher Zukunft werden sie hungern müssen.« Sie griff nach einem kleineren Stapel Papiere. »Fast die Einzigen, deren Geschäft aufgrund der Pilgerfahrten zu florieren scheint, sind die Wirtshausbesitzer, und sie beklagen, dass der Mangel an Gerste sie daran hindert, ausreichende Mengen Bier zu brauen.«

»Mir blutet das Herz«, bemerkte König Luther sarkastisch. »Wo kämen wir hin, wenn Touristen in der Schenke auf Bier verzichten müssten?«

»Mr. Chesney wäre nicht erfreut«, flüsterte ein Hohepriester. »Mögen die Götter uns schützen, Anscher bewahre uns!«

»Chesney ist auch nur ein Mensch«, murmelte der Abgeordnete der Diebesgilde.

Barnabas hob warnend die Hand. »Lasst ihn das nicht hören!«

»Selbstverständlich ist er nur ein Mensch!«, schnappte Querida. »Leider ist er zufälligerweise der mächtigste Mensch wenigstens in dieser unserer Welt, aber ich habe Vorsorge getroffen, dass er uns in diesem Konferenzraum nicht belauschen kann. Darf ich jetzt weitersprechen? Sehr verbunden. Gleich mehrere Organisationen drängen uns, eine Lösung zu finden. Zum Beispiel« – sie zeigte ein großes Pergament mit kunstvoller Schrift und Marginalilluminationen – »zum Beispiel habe ich hier ein Ultimatum der Akademie der Barden. Sie beklagen, dass Mr. Chesney und seine Agenten die Barden bei den Reisegruppen als entbehrlich anzusehen scheinen. Um nicht noch mehr vielversprechende musikalische Talente zu verlieren, schreiben sie hier, wird man in diesem Jahr keine Barden mehr für die Touren abstellen, es sei denn, wir garantieren für die Sicherheit von …«

»Aber das können wir nicht!«, rief ein Hexenmeister zwei Plätze neben Barnabas.

»Stimmt.« Querida nickte. »Ich fürchte, die Barden werden sich vor Mr. Chesney rechtfertigen müssen. Ich habe hier ähnliche, wenn auch gemäßigtere Schreiben von den Sehern und den Heilerinnen. Die Seher beschweren sich, dass man sie zwingt, imaginäre Ereignisse vorauszusagen, was gegen die Statuten der Gilde verstößt. Die Heilerinnen beklagen sich wie die Hexenmeister wegen chronischer Überlastung. Wenigstens drohen sie nur mit Streik. Und hier –« Sie hielt ein dünnes Bündel zerknitterter Blätter in die Höhe, »hier sind Briefe von den Söldnerführern. Die meisten ärgern sich darüber, dass die Ausgaben, die notwendig sind, um die Verluste an Männern, Ausrüstung und Bewaffnung zu ersetzen, ihre Einnahmen aus den Pilgerfahrten auffressen und einer – Schwarze Eisenhand heißt er wohl, wenn ich das richtig entziffern kann –, er beklagt sich also, dass er geplant hätte, sich auf seine alten Tage auf ein kleines Gut zurückzuziehen, aber in zwanzig Jahren hat er nicht genug sparen können für eine Quh …«

»Quh?«, fragte König Luther.

»Eine Kuh«, erklärte Barnabas. »Rechtschreibung mangelhaft.«

»… selbst wenn sich ein Anwesen finden ließe, wo man nicht von den Touristen überrannt wird«, schloss Querida. Sie blätterte und sortierte und erläuterte dabei: »Lamentos von Nonnen, Mönchen, Werwölfen. Wo sind …? Ach ja, hier.« Sie suchte ein weißes, glänzendes Blatt heraus und eine große, hauchdünn geschliffene Scheibe, die aussah wie Perlmutt und mit feinen Schriftzeichen bedeckt war. »Wahrscheinlich eine ihrer abgeworfenen Schuppen«, meinte sie. »Dies sind Proteste der Elfen und der Drachen.«

»Worüber haben die sich denn zu beschweren?«, fragte ein anderer Hexenmeister spitz.

»Beide drücken sich ziemlich geheimnisvoll aus. Wenn ich es recht interpretiere, redet der Elfenkönig von Erpressung, und die Drachen scheinen das Schrumpfen ihrer Horte zu bejammern, aber beide spielen auch auf ihre Geburtenrate an, also weiß man nicht genau. Geduld, dann könnt Ihr es selber nachlesen und Euch, wenn Ihr Lust habt, durch sämtliche Stapel hindurcharbeiten. Doch vorerst – habe ich mich verständlich gemacht?« Die Augen bewegten sich ruckartig von einem Gesicht zum anderen. »Ich habe alle, die mir eingefallen sind, gebeten, mir zu berichten, in welcher Weise sie durch die Touren geschädigt werden. Ich habe über eine Million Antworten bekommen. Mein Arbeitszimmer quillt über, Ihr könnt es Euch gern ansehen; was hier auf dem Tisch liegt, ist nur eine repräsentative Auswahl. Und sie sagen alle auf verschiedene Weise das Gleiche: Man wünscht ein Ende von Mr. Chesneys Pilgerfahrten.«

»Und ist Euch ein Mittel eingefallen, uns von dieser Geißel zu erlösen?«, fragte Barnabas begierig.

»Nein.« Querida schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Mittel.«

»Wie?«, ertönte es im Chor rund um den Tisch.

»Es gibt kein Mittel«, wiederholte Querida. »Jedenfalls ist mir keins eingefallen. Vielleicht sollte ich der werten Versammlung ins Gedächtnis rufen, dass Mr. Chesneys Wünschen von einem außerordentlich mächtigen Dämon Nachdruck verliehen wird. Alles deutet darauf hin, dass er mit ihm einen Pakt geschlossen hat, als er anfing, diese Touren zu organisieren.«

»Schon, aber das ist vierzig Jahre her«, wandte der junge Kaiser des Südens ein, »manche von uns waren damals noch gar nicht geboren. Weshalb muss ich fortfahren zu tun, was jener Dämon meinen Großvater zu tun gezwungen hat?«

»Seid nicht albern«, fuhr Querida ihn an. »Dämonen sind unsterblich.«

»Aber Mr. Chesney nicht«, konterte der junge Kaiser.

»Wahrscheinlich nicht, aber mir ist zu Ohren gekommen, dass er Kinder hat, die sein Geschäft übernehmen werden.« Barnabas zuckte bedauernd die Achseln.

Querida wies den rebellischen Jüngling mit einem ihrer kalten Schlangenblicke in die Schranken. »Behaltet außerhalb dieses Raums Eure Ansichten für Euch. Mr. Chesney schätzt keine Kritik an seinen Pilgern, und den Dämon pflegen wir nicht zu erwähnen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« Der junge Kaiser schluckte und lehnte sich zurück. »Gut«, sagte Querida. »Nun in medias res. Mr. Chesneys Beauftragte halten sich bereits seit über einem Monat in unserer Welt auf, und die Arrangements für diese Saison sind fast komplett. Morgen wird Mr. Chesney persönlich erwartet, um dem Dunklen Fürsten und den Tourmagiern letzte Instruktionen zu geben. Der Zweck unserer Versammlung ist offiziell die Wahl des diesjährigen Dunklen Fürsten.«

Schwere Seufzer rund um den Tisch. »Also gut«, raffte einer der Hexenmeister sich auf zu sagen. »Wer soll es sein? Nicht ich. Ich war letztes Jahr an der Reihe.«

Querida lächelte ihr perfides kleines Lächeln, faltete die Hände und lehnte sich zurück. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß ebenso wenig, wer Dunkler Fürst sein wird, wie ich weiß, wie man den Pilgerfahrten ein Ende machen kann. Ich schlage vor, dass wir die Orakel befragen.«

Ein langes, gedankenvolles Schweigen senkte sich herab. Nach einer Weile jedoch erkannten selbst die Begriffsstutzigsten unter den Anwesenden, dass Querida trotz allem bemüht war, eine Lösung des Problems zu finden. Der Hohepriester meinte zweifelnd: »Ehrwürdige Frau Kanzlerin, verhält es sich nicht so, dass die Orakel von Hexenmeistern der Universität auf Mr. Chesneys Wunsch geschaffen worden sind …?«

»Mit der Hilfe eines ehemaligen Hohepriesters, der die Götter bat, durch die Orakel zu sprechen«, ergänzte Querida. »Meint Ihr, dass sie deshalb wertlos sein müssten, Sère Umru?«

»Nun ja, hm, könnte man unter den gegebenen Umständen nicht vielleicht annehmen, dass die Orakel – äh – parteiisch sind?«

»Könnte man. Aus diesem Grund schlage ich vor, sowohl das Weiße als auch das Schwarze Orakel zu befragen. Sie werden zwei verschiedene Antworten geben, und wir werden uns nach beiden richten.«

»Ähem«, machte Hohepriester Umru. »Zwei Dunkle Fürsten?«

»Alles, was der Sache dient.« Querida schob den Stuhl zurück und stand auf. Wegen ihrer geringen Größe blieb ihr Kopf auf genau derselben Höhe wie vorher. Das kleine, eidechsenähnliche Kinn vorgereckt, schaute sie in die Runde. »Es wäre zu umständlich, wenn wir alle zusammen die Orakel aufsuchten, außerdem sehen mir einige von Euch bereits ziemlich erschöpft aus. Verständigen wir uns auf eine Abordnung. König Luther, denke ich, und Barnabas, Ihr begleitet mich. Und Ihr, Umru …«

Umru erhob sich und neigte ehrerbietig den Kopf, die Hände hielt er über dem stattlichen Bauch verschränkt. »Ehrwürdige Frau Kanzlerin, es wäre eine Belastung für mein Gewissen, unter falschen Voraussetzungen ausgewählt zu werden. Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen hier, die nichts gegen die Pilgerfahrten einzuwenden haben. Mein Tempel hat im Lauf der Jahre sehr gut daran verdient.«

»Ich weiß«, sagte Querida. »Ihr alle scheint mich für dumm zu halten. Natürlich will ich Euch als Repräsentanten der Gegenseite dabeihaben. Und Euch nehme ich aus demselben Grund mit.« Ihre Hand schnellte vor wie der zustoßende Kopf einer Schlange und deutete auf den Abgeordneten der Diebesgilde.

Es handelte sich um einen jungen Mann, dünn, blond, hellhäutig, mit einem klugen Gesicht, das jetzt höchste Überraschung verriet. »Mich?«, fragte er. »Seid Ihr sicher?«

»Was für eine alberne Frage! Für Eure Gilde müssen die Touristen auf die eine oder andere Art eine wahre Goldgrube sein.«

Ein seltsamer Ausdruck flog über das Gesicht des jungen Mannes, doch er erhob sich ohne weiteren Einwand. Seine Kleidung war ebenso kostbar wie die des Hohepriesters. Lange Seidenärmel wehten, als er mit geschmeidigen Schritten um den Tisch herum kam. »Sind die Orakel nicht in der Fernen Wüste gelegen?«, meinte er. »Wie kommen wir dort hin?«

»Per Weitwünschen, und ich habe bereits alles vorbereitet«, erklärte Querida. »Kommt hier herüber, alle vier.« Sie ging vor ihnen her in den leeren Teil des Raums, zu einer der großen Steinplatten im Boden, die an den Rändern mit feinen Markierungen versehen war. »Ihr Übrigen könnt während unserer Abwesenheit in den Briefen schmökern«, meinte sie und wandte sich dann an den jungen Dieb. »Und für Euch brauche ich einen Namen.«

»Oh – Regin wäre genehm.«

»Stellt Euch hierhin, Regin.« Querida schob ihn zu einer Ecke der Platte. König Luther, Barnabas und Hohepriester Umru platzierte sie nacheinander auf die drei anderen Eckpunkte, schlängelte sich dann zwischen Luther und Umru hindurch und stellte sich in die Mitte der Platte. Für die am Tisch Sitzenden verschwand sie völlig hinter Umrus fülligem Körper. Still und ohne Vorwarnung schienen sich alle fünf in Luft aufzulösen, und die Steinplatte war leer.

Queridas vier Begleiter fühlten sich, als wären sie in das Innere eines Backofens versetzt worden. Eines Backofens, unter dem gerade jemand das Feuer geschürt hatte, dachte König Luther und beschattete die Augen mit dem Ärmel aus dickem Wollstoff. Barnabas lief der Schweiß aus den grauen Locken über das Gesicht. Umru ächzte und taumelte wie unter einem Schlag. Dann bemühte er sich verzweifelt, Sand aus seinen bestickten Pantoffeln zu schütteln und gleichzeitig seine Gewänder zu lockern.

Nur Querida schien sich ganz in ihrem Element zu fühlen. Sie sagte: »Ah!«, und reckte sich, das Gesicht mit einem seligen Lächeln der prallen Sonne entgegengehoben. Ihre Augen, bemerkte der junge Dieb, schauten weit offen in die gleißende Helligkeit. Zauberer!, dachte er. Er fühlte sich ebenso unwohl wie die anderen, doch im Rahmen seiner Ausbildung hatte er gelernt, stets gelassen zu erscheinen und seinen Verstand zu gebrauchen. Er schaute sich um. Die Orakel waren nur ein paar Meter entfernt, zwei kleine, kuppelförmige Gebäude, das linke so schwarz, dass es aussah wie ein Loch im Universum, das rechte ein so grelles Weiß, dass er geblendet den Blick abwenden musste.

Während sie darauf warteten, dass die anderen drei sich akklimatisierten, griff Querida nach Regins Arm und zog ihn in Richtung der weißen Kuppel. »Weshalb diese seltsame Miene, als ich sagte, Eure Gilde müsste sich an den Touristen eine goldene Nase verdient haben?«, fragte sie zischelnd. »Kann ich daraus schließen, auch Ihr wollt, dass die Pilgerfahrten aufhören?«

Natürlich hatte sie es bemerkt!, dachte Regin selbstkritisch. »Eigentlich nicht, Ehrwürdige Frau Kanzlerin. Bedenkt unsere Situation, und Euch wird zu Bewusstsein kommen, dass nach vierzig Jahren Mr. Chesney in unserer Welt nicht mehr viel übrig ist, das zu stehlen lohnt. Wir erwägen schon, uns gegenseitig zu bestehlen – aber selbst wenn wir es täten, könnten wir mit unserer Beute kaum noch irgendetwas anfangen. Um die Wahrheit zu sagen, man hat mich geschickt, um zu fragen, ob es erlaubt ist, unsere Fingerfertigkeit an den Touristen zu üben.«

»Ihr bestehlt keine Touristen?« Als Regin den Kopf schüttelte, breitete sich wieder ein stillvergnügt maliziöses Lächeln über Queridas kleines Eidechsengesicht. »Wisst Ihr, ich glaube fast, das ist ein Punkt, den Mr. Chesney in seine Regeln aufzunehmen vergessen hat. Bitte, lasst Euch keinesfalls davon abhalten, Touristen zu bestehlen.« Sie wandte ruckartig den Kopf und schaute zu Umru, der sich mit seinem bestickten Pluviale über den Kopf wischte. »Kommt schon, Mann, steht nicht da herum! Kommt her, alle, bevor ihr gebraten seid. Wir machen den Anfang mit dem Weißen Orakel.«

Sie ging voran, Regin folgte ihr, leichtfüßig in seinen weichen Stiefeln, obwohl ihm der Schweiß von den Schläfen tropfte. König Luther und Barnabas stapften mürrisch hinter ihnen her; als Letzter kam Umru, schnaufend und hochrot im Gesicht. Er konnte sich nur mit Mühe hinter den anderen her durch den schmalen Eingang des Kuppelbaus zwängen.

Drinnen war es dunkel und herrlich kühl. Sie standen Schulter an Schulter und starrten in eine undurchdringliche Schwärze, die viel mehr Raum auszufüllen schien, als in diesem kleinen Gewölbe vorhanden sein konnte.

»Was tun wir?«, wollte König Luther wissen.

»Warten«, antwortete Querida. »Warten und schauen.«

Sie warteten. Nach einer Weile glaubten sie alle, Punkte, Flecke und wirbelnde Funkenmuster zu sehen – eine übliche Erscheinung, wenn man in völlige Dunkelheit schaut. Nachwirkungen des grellen Sonnenlichts, dachte König Luther. Optische Täuschungen, dachte Regin. Nicht darauf achten. Hat nichts zu bedeuten.

Doch plötzlich ordnete sich das scheinbare Chaos, die Schwärme strebten aufeinander zu, und im Nu entstanden die Umrisse einer annähernd menschenähnlichen Gestalt, riesengroß und zusammengesetzt aus düsteren Rottönen, dunklem Blau und kleinen grünen Funken. Eine weiche, hohle Stimme, von Echos umraunt, sagte: Sterbliche, sprecht, wie lautet eure Frage?

Querida räusperte sich geschäftsmäßig. »Vielen Dank. Unsere Frage lautet: Was können wir tun, um den Pilgerfahrten ein Ende zu machen und Mr. Chesney loszuwerden?«

Die pointilistische Gestalt reckte sich turmhoch empor und schrumpfte dann auf Queridas Größe zusammen, dabei schwankte sie wie vor Erregung hin und her. Doch als die hohle Stimme wieder ertönte, klang sie genauso wie vorher. Den ersten Menschen, auf den draußen euer Blick fällt, bestimmt zum Dunklen Fürsten.

»Sehr verbunden«, sagte Querida.

Schlagartig war die Dunkelheit verschwunden. Sie konnten sehen, dass sie in einem sehr kleinen, gewölbten Raum standen, kaum groß genug für sie alle, mit nackten weißen Wänden und einem Boden aus angewehtem Sand, darin eingebettet viele kleine Gegenstände, weggeworfen oder verloren von anderen Ratsuchenden: Papierfetzen, ein Kinderschuh, Schnallen, Riemen und Pflaumenkerne. Etwas schimmerte, halb im Sand begraben, vor Regins Stiefelspitzen.

Während die anderen sich zum Gehen wandten, bückte er sich und hob es auf; als er ihnen dann folgte, bemerkte auch er zu seinem Erstaunen, dass die Türöffnung nicht mehr der schmale Durchschlupf war wie bei ihrem Eintritt. Im Gegenteil, sie war jetzt so breit, dass sie alle fünf nebeneinander hindurchpassten. Sie traten in die Backofenglut hinaus und schauten blinzelnd über die leere, hitzeflimmernde Wüste.

»Keine Menschenseele weit und breit«, bemerkte Querida.

»Dann meint der Spruch wahrscheinlich die erste Person, die uns nach unserer Rückkehr begegnet«, sagte Barnabas.

Regin schaute sich an, was er vom Boden aufgehoben hatte. Es war ein Stück Stoff, bedruckt mit schwarzen Lettern, die den Satz ergaben: Bedenke wohl, welchen Wunsch du äußerst, er könnte sich erfüllen. Kommentarlos reichte er den Fund an König Luther weiter, der neben ihm stand.

König Luther las und gab das Stoffstück Umru. »Das Orakel warnt uns.«

»Das Gleiche predige ich oft meiner Herde«, bemerkte dieser, nachdem er die Worte entziffert hatte.

»Wir Hexenmeister kennen diesen Spruch ebenfalls.« Barnabas nahm den Stoff und gab ihn Querida. »Wir sind gewarnt worden. Wollt Ihr trotzdem auch noch das Schwarze Orakel befragen?«

»Selbstverständlich will ich das. Und ich überlege immer äußerst gründlich, worum ich bitte!« Querida marschierte die wenigen Meter zu dem schwarzen Bau hinüber. Die anderen schauten sich gegenseitig an, zuckten die Achseln und folgten ihr.

Die schwarze Oberfläche der Kuppel verströmte Kälte. Umru seufzte vor Erleichterung über den frischen Hauch, doch als er endlich an der Reihe war, sich durch den schmalen Eingang zu zwängen, klapperte er bereits mit den Zähnen. Dafür war die Hitze im Innern ebenso erstickend wie draußen. Schnaufend und stöhnend stand Umru in der Finsternis, während, genau wie im Weißen Orakel, Punkte und Flecken vor ihren Augen tanzten.

Wir warten darauf, dass sie sich verdichten, dachte Regin klug. Diesmal jedoch, statt sich zu sammeln, strebten die Funken auseinander, zu den Seiten hin, und ihr Leuchten wurde stärker. Die Zuschauer brauchten eine volle Minute, um zu erkennen, dass die absolute Dunkelheit in der Mitte nun die Umrisse einer riesenhaften, menschenähnlichen Gestalt angenommen hatte.

»Oh, ich verstehe!«, murmelte Querida.

»Wahrhaftig?«, antwortete eine tönende, hohle Stimme. Sie war tiefer als ein Brunnenschacht. »Dann stell deine Frage.«

»Vielen Dank«, sagte Querida, und genau wie vorher fragte sie: »Was tun wir, um den Pilgerfahrten ein Ende zu machen und uns Mr. Chesney vom Hals zu schaffen?«

Nachdem ihre Worte verklungen waren, entstand ein langes, langes Schweigen. Solange es währte, rührte sich nichts in der Schwärze. Dann plötzlich durchlief sie ein Beben, und von beiden Seiten zuckten Lichtblitze hindurch. Als die tiefe Stimme sich wieder vernehmen ließ, schwankte sie ein wenig.

Die zweite Person, die ihr nach dem Verlassen des Tempels erblickt, soll euer Wegweiser sein.

Und wieder standen sie von einem Lidschlag zum anderen in einem beengten Raum und auf einem sandigen, von Unrat übersäten Boden. Die Hitze hatte etwas nachgelassen.

»Ich könnte schwören, das Ding hat gelacht!«, sagte Barnabas, als sie sich geschlossen zum Gehen wandten und feststellten, dass auch hier die Türöffnung jetzt breit genug war, um zu fünft nebeneinander hindurchzugehen.

Etwas glänzte neben Regins Stiefel im Sand. Diesmal hob er es nicht auf, sondern bohrte die Stiefelspitze unter den Gegenstand und befreite ihn so weit, bis er erkennen konnte, dass es ein Stück Papier mit goldenem Rand war. Und was sonst stand darauf geschrieben als: Bedenke wohl, welchen Wunsch du äußerst, er könnte sich erfüllen. Er beschloss, den anderen gegenüber nichts davon zu erwähnen.

»Nun, immer noch kein Mensch zu sehen«, meinte König Luther. »Oh!«

Ein Mann trat aus dem Bau des Weißen Orakels. Er war groß und dick und hatte ein gutmütiges Gesicht, seine Kleidung war die eines Landmanns. Er zwängte sich seitlich aus der schmalen Öffnung, einen Arm erhoben, um die Augen zu beschatten, aber man konnte seine Züge deutlich erkennen.

Barnabas stöhnte: »O nein!«, und König Luther sagte: »Ich will verdammt sein!« Umru schüttelte den Kopf. »Bedenkt wohl, welchen Wunsch ihr äußert«, seufzte er. Querida sog zischend den Atem zwischen den Zähnen hindurch.

»Was denn?«, fragte Regin. »Wer ist das? Oder vielmehr, wer sind die beiden?«, berichtigte er sich, als hinter dem Dicken noch jemand zum Vorschein kam.

Bei dieser zweiten Person handelte es sich um einen Knaben von ungefähr vierzehn Jahren, dem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten, allerdings besaß er nichts von dessen Leibesfülle, sondern war im Gegenteil eher mager. Kaum standen beide draußen, als der Mann sich zu dem Jungen herumdrehte.

»Also«, sagte er in strengem Ton, »du hast deine Antwort bekommen. Bist du nun zufrieden?«

»Nein, bin ich nicht!«, antwortete der Junge. »Ich habe noch nie von dieser Person gehört. Wer soll das sein?«

»Weiß der Himmel! Jedenfalls hat er nichts mit der Universität zu tun, und deshalb steht fest, dass du nicht hingehen wirst, um deine Gramarye zu studieren. Ich hatte recht.«

Der Junge reckte angriffslustig das Kinn vor. »Es gibt keinen Grund, so selbstzufrieden auszusehen. Bei allem, was ich tun möchte, versuchst du, mir Steine in den Weg zu legen!«

Beide standen sich in der Hitze gegenüber wie zornige Kampfhähne mit gesträubtem Gefieder.

»Wer sind die beiden?«, wiederholte Regin.

»Den Jungen kenne ich nicht«, antwortete Querida, »aber den Mann umso besser. Er heißt Derk und hat vor Jahren an der Universität das Examen als Hexenmeister abgelegt. Ohne Zweifel würde Mr. Chesney ihn als Dunklen Fürsten akzeptieren.«

»Der Junge ist sein Sohn«, ergänzte Barnabas. »Blade heißt er. Querida, ich fühle mich nicht wohl bei dieser Angelegenheit. Derk ist ein netter Kerl und ein Freund von mir. Überdies hat er eine bemerkenswert große magische Begabung …«

Querida schnaubte abfällig. »Darüber kann man entschieden geteilter Meinung sein. Was ist mit dem Jungen? Hat er magisches Talent?«

»En masse.« Barnabas nickte bedrückt. »Kommt nach seiner Mutter.«

»Ach ja – Mara, ich erinnere mich. Ich werde mit ihr reden. Also wäre das geregelt. Dank der Orakel haben wir unseren Dunklen Fürsten und einen Tourmagier.«

»Wir können immer noch so tun, als hätten wir sie nicht gesehen, und die nächsten beiden Leute nehmen, die uns über den Weg laufen«, schlug König Luther vor.

»Da seien die Götter vor!« Umru verdrehte die Augen und trocknete sich mit einem Zipfel seines Unterpluviale das Gesicht.

Querida streifte König Luther mit einem ihrer garstigsten Blicke und marschierte zu den Streitenden hinüber. Gerade beugte Derk sich vor und schrie seinem Sprössling ins Gesicht – ohne eine Spur von Zorn oder Erregung, sondern als ob er versuchte, sich einem Schwerhörigen verständlich zu machen: »Ich sage dir, die Universität ist heutzutage keine Stätte mehr, um etwas zu lernen. Sie haben dort seit dreißig Jahren keine neue Idee mehr gehabt. Das Einzige, was sie noch tun, ist vor Mr. Chesney katzbuckeln.«

Querida konnte sich glücklicherweise einreden, das nicht gehört zu haben, weil Blade seinen Vater überschrie: »Blablabla! Alles nur Ausreden, damit ich klein beigebe! Du hast Shona erlaubt, die Bardenakademie zu besuchen, weshalb darf ich nicht die Ars magicae studieren?«

»Ä-HEM!«, machte Querida mit magischem Nachdruck auf sich aufmerksam.

Derk und Blade fuhren herum. »Tyrann!«, schleuderte Blade ihr entgegen und verbeugte sich dann in namenloser Bestürzung bis zum Boden.

Derk musterte die kleine Frau mit der grünlich angehauchten, glänzenden Haut in der Robe eines Hochkanzlers. Von ihr wanderte sein Blick zu der imposanten Gestalt und verdrossenen Miene König Luthers und weiter zu Umru, auf dessen feisten, rotfleckigen Wangen sich Hitzepusteln bildeten. Er grüßte die drei mit einem Nicken und lächelte Barnabas zu, dessen Gesicht noch röter war als Umrus und schweißüberströmt. Zuletzt betrachtete er den jungen Mann im Hintergrund, der ihm unbekannt war und sich nach Kräften den Anschein gab, als machte ihm die Hitze nichts aus. »Hallo, hallo«, sagte er schließlich, »was führt Euch hierher? Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass Ihr auf einen Frostzauber verzichtet?«

»Verflixt, ist mir gar nicht eingefallen!«, sagte Querida. »Ich fühle mich je heißer, desto wohler.«

Derk versetzte seinem Sohn einen Rippenstoß. Blade überwand seine Beschämung und schrieb mit der Hand ein Zeichen in die Luft. Unglaubliche, gesegnete Kühle umfing die vier Männer. »Talent en masse, in der Tat«, murmelte Regin vor sich hin.

»Vielen Dank, junger Mann«, sagte Umru erleichtert.

Blade wollte offenbar gern beweisen, dass es normalerweise nicht seine Gepflogenheit war, anderen Leuten Beleidigungen entgegenzuschreien. Er verneigte sich. »Gern zu Euren Diensten, Sère«, sagte er höflich. »Entschuldigt die Frage, aber kennt vielleicht Ihr – oder einer Eurer Begleiter – einen Hexenmeister mit Namen Deukalion?« Er schaute erwartungsvoll von einem zum anderen, doch mit jedem Schulterzucken und Kopfschütteln wurde seine Miene betrübter. »Den Zauberkundigen Deukalion vielleicht?«, fragte er ohne viel Hoffnung.

»Keiner von uns hat je diesen Namen gehört«, erklärte Barnabas. »Was ist mit ihm?«

»Das Weiße Orakel sagt, er ist derjenige, der mich zum Hexenmeister ausbilden wird«, antwortete Blade. Er seufzte. »Paps weiß auch nicht, wer er ist.«

Querida wischte die Störung beiseite. »Wie der Zufall es will, haben auch wir die Orakel befragt. Sie haben Euch, Hexenmeister Derk, zum Dunklen Fürsten dieses Jahres bestimmt und dich, Blade, zum Magier für die letzte Tour.«

»Immer halblang mit …«, begann Derk.

Barnabas hob die Hand. »Keine Einwände gegen den Spruch der Orakel.«

»Aber …«, sagte Blade.

»Das gilt auch für dich, junger Mann«, schnitt Querida ihm das Wort ab. »Ihr beide werdet in den kommenden sechs Monaten sehr beschäftigt sein.«

Derk straffte sich, würdevoll, aber mit einem Anflug von Unsicherheit, und schaute auf Querida hinunter. »Ich glaube nicht, dass Ihr das tun könnt«, sagte er.

»O doch, ich kann. Geht nach Hause und trefft Eure Vorbereitungen. Morgen um Punkt zwölf werden Mr. Chesney, die Tourmagier und ich Euch aufsuchen, um Euch über die Pläne für diese Saison ins Bild zu setzen.« Als Derk sich nicht rührte, fixierte sie ihn mit dem Blick einer gereizten Kobra und fügte hinzu: »Falls Ihr vorhaben solltet, morgen verreist zu sein, mache ich Euch hiermit darauf aufmerksam, dass Ihr Euch in einer sehr ungünstigen Lage befindet, Hexenmeister Derk. Ihr seid seit fünfzehn Jahren mit dem Tribut an die Universität im Rückstand, und es liegt bei mir, über die angemessenen Konsequenzen zu befinden.«

»Ich habe Euch ein Greifenei geschickt!«, verteidigte sich Derk.

»Es war schlecht«, konterte Querida. »Und ich bin sicher, Ihr habt es gewusst.«

»Aber ich kann der Universität nichts anderes überlassen! Sämtliche Ergebnisse meiner magischen Experimente sind lebendig, es wäre ein Verbrechen, sie im Tresor einzuschließen. Man müsste sie vorher töten und präparieren. Davon abgesehen, meine Frau hat genug Abgaben für uns beide entrichtet.«

»Maras Miniaturuniversen sind für Mr. Chesney vollkommen uninteressant. Seid gewarnt, Hexenmeister Derk. Entweder nehmt Ihr Vernunft an und empfangt morgen Mr. Chesney und das Kollegium in Derkholm, oder jeder Zauberkundige in dieser Welt wird nach Euch suchen, und man wird Euch zwingen, die Rolle des Dunklen Fürsten zu übernehmen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Blade zupfte seinen Vater am Ärmel. »Tu lieber, was sie sagt, Paps.«

»Und du, junger Mann«, Querida richtete den Blick auf ihn, »wirst ebenfalls anwesend sein.«

Blade gelang es schiebend und zerrend, seinen Vater halb herumzudrehen, aber Derk schaute über die Schulter zu Querida zurück. »Niemand sollte derart große Macht haben«, sagte er.

»Wen speziell meint Ihr damit, Hexenmeister?«, fragte sie, mehr denn je einer gereizten Schlange ähnlich.

Derk zuckte zurück.

»Mr. Chesney natürlich.«

Blade zog energischer an seinem Arm, und beide verschwanden in einer heißen Wolke aus aufgewirbeltem Sand.

»Puh!« Barnabas schüttelte sich ein wenig. »Armer alter Derk!«

»Für uns wird es auch Zeit«, meinte Querida. »Aber kein Weitwünschen oder andere Fisimatenten. Ich fühle mich etwas müde.«

Folglich war der Rückweg mehr ein gemütlicher Spaziergang, einmal durch heißen Sand, dann über dürres, totes Gras, dann über Steine oder Moos. Regin gesellte sich zu Querida. »Wer ist dieser Hexenmeister Derk?«, fragte er.

Querida seufzte. »Eine traurige Gestalt. Der Welt schlechtester Zauberer, meiner Ansicht nach.«

»Oder der am meisten unterschätzte«, warf Barnabas ein. »Er ist ungemein tüchtig auf seinem Gebiet, nur ein wenig unkonventionell. Während unserer gemeinsamen Studienzeit hatte ich stets das Gefühl, er wäre mir turmhoch überlegen.«

Querida schauderte. »Unkonventionell ist eine höfliche Umschreibung, mein Lieber. Ich war damals Lehrkraft in der Abschlussklasse. Von allen Katastrophen, die auf seine Rechnung gehen, ist mir am unvergesslichsten geblieben, wie ich mitten in der Nacht wegen dieses riesigen blauen Dämons aus dem Bett geholt wurde, den Derk heraufbeschworen hatte und nicht mehr loswerden konnte. Erinnert Ihr Euch?«

Barnabas nickte und musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen. »Niemand kannte seinen Namen, deshalb blieben die üblichen Exorzismen wirkungslos. Erst mit den vereinten Kräften des gesamten Kollegiums gelang es, ihn zurückzuschicken, und es dauerte die ganze Nacht. Ich gebe zu, was konventionelle Magie angeht, war Derk nie eine Leuchte. Aber Ihr nehmt häufig seine Dienste in Anspruch, nicht wahr, Sère?«

Umru lächelte jovial; er war wieder ganz sein wohlbeleibtes, unerschütterliches Selbst. »Fast jedes Mal, wenn eine Reisegruppe meinen Tempel beehrt. Niemand beherrscht so gut wie Hexenmeister Derk die Kunst, einem toten Esel den Anschein eines menschlichen Leichnams zu geben.« Regin starrte ihn an. Umrus Lächeln wurde noch leutseliger. »Oder einem Schaf. Wir werden immer zu religiösen Fanatikern bestimmt, und die Pilger erwarten von uns, dass wir ein auf grausame Weise gefoltertes Opfer unseres religiösen Wahns vorzuweisen haben. Dank Hexenmeister Derk bleibt es uns erspart, Menschen dafür nehmen zu müssen.«

»Aha.« Regin schaute sich zu König Luther um, der verdrossen hinterdreinstapfte. »Und Ihr, Euer Majestät? Ihr unterhaltet ebenfalls geschäftliche Beziehungen zu diesem Hexenmeister?«

»Wir nehmen gelegentlich seine Dienste in Anspruch, für Hinrichtungen und Köpfe auf Lanzen«, gab König Luther zur Antwort. »Doch meistens dingen wir ihn für das Freudenfest, wenn die verdammten Pilger abgezogen sind. Er hat dressierte Tiere. Hauptsächlich Schweine.«

»Schweine?«

»Ja, Schweine. Mit Flügeln.«

»Aha«, sagte Regin wieder, und gleich darauf standen sie im Konferenzraum und auf der Steinplatte, von der aus Querida sie in die Wüste versetzt hatte. Regins Zähne klapperten, Barnabas zitterte, Umru bibberte am ganzen Leib. Nur Querida schien nicht zu frieren, auch König Luther nicht, der aus seiner nördlich gelegenen Heimat an Kälte gewöhnt war.

»Was hat das zu bedeuten?«, jammerte Umru. Die Komiteemitglieder, die auf ihre Rückkehr gewartet hatten, schauten von den Briefen und Petitionen auf und starrten ihn an. Er streckte kläglich beide Hände aus. »Seht doch! Blaugefroren!«

»Oha!«, sagte Barnabas. »Auweia, das hat der Junge verbockt. Knaben in diesem Alter wissen nichts von ihrer eigenen Kraft. Ich will tun, was ich kann, aber ihr werdet noch etwas frieren müssen.«

Kapitel 2

Derkholm befand sich in hellem Aufruhr. Blades Schwester Shona war gerade bei den Ställen und sattelte zwei Pferde, damit Derk sie zur Bardenakademie begleiten konnte, sobald er von den Orakeln zurückkehrte, als Elda angestürmt kam. Sie ruderte beim Laufen noch zusätzlich mit den Flügeln und schrie, Derk wäre zum Dunklen Fürsten bestimmt worden. Don, der Elda gefolgt war, um als beruhigendes Element zu wirken, behauptete später, Elda hätte vor Aufregung geschnattert, und im ersten Moment verstand Shona kein Wort oder glaubte vielmehr, sich verhört zu haben. Dann aber zäumte sie die Pferde flugs wieder ab und schickte sie zurück auf die Koppel.

Wieder Don zufolge, warf Shona sich dann bühnenreif in Positur (ihre neueste Masche, seit sie die Aufnahmeprüfung bestanden hatte; ›das Getue‹ brachte besonders Don auf die Palme und Kit kaum weniger) und verkündete: »Ich werde meine Ausbildung so lange aufschieben, wie Paps mich braucht. Wir müssen in dieser Situation Familiensinn beweisen.«

Pose hin oder her, die Nachricht hatte Shona in große Aufregung versetzt. Als sie mit Satteltaschen und Geigenkasten zum Haus zurücklief, hinter Don und Elda her, wurden alle Tiere davon angesteckt, sogar die Freundlichen Kühe, und der Rest des Tages war akustisch untermalt von Muhen, Quaken, Grunzen und dem Trappeln unterschiedlich beschaffener Füße.

Davon abgesehen, dachte Blade verdrossen, war von Familiensinn nicht viel zu merken. Als Shona ins Haus platzte, wunderhübsch in ihrer Atemlosigkeit und mit den geröteten Wangen, störte sie ihre Eltern mitten im besten Streit. Derk brüllte: »Es muss eine Möglichkeit geben, aus dieser Sache herauszukommen! Ich weigere mich, von diesem Chesney Geld anzunehmen!« Obwohl er kein Freund von Effekthascherei war, versprühte Derk magisches Feuer in alle Richtungen. Einer der Teppiche im Flur stand bereits in Flammen.

»Paps!«, rief Shona. »Du wirst das ganze Haus in Brand setzen!«

Keiner der beiden Elternteile ging darauf ein, nur Mara warf ihrer Tochter einen ungehaltenen Blick zu. Mara war von dem stahlblauen Flimmern eines magischen Schildes umhüllt, und sie schien nicht weniger erregt zu sein als Shona. »Red keinen Unsinn, Derk!«, schrie sie. »Wenn das Orakel sagt, du wirst Dunkler Fürst, dann kannst du nichts dagegen tun!«

Feuerschlangen liefen zischend über Maras Schild, als Derk zurückschrie: »Zum Henker mit dem Orakel! Ich denke nicht daran, zu kuschen! Und du solltest mir helfen, einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden, statt das ganze verrottete System auch noch zu verteidigen!«

»Das tue ich doch gar nicht! Ich versuche nur, dir klarzumachen, dass es keinen Ausweg gibt! Du wüsstest das auch, wenn du nicht so in Rage wärst!«

Blade versuchte, die Flammen auf den Teppichen auszutreten, als die riesige Greifin Callette zur Haustür hereinkam und seelenruhig den Inhalt der Regentonne auf den Läufer entleerte. Es zischte und dampfte und stank erbärmlich.

Shona brachte hastig ihr Gepäck in Sicherheit. »Paps, beruhige dich doch. Wir alle werden dich unterstützen. Wir sorgen dafür, dass du es heil überstehst. Denk nach! Du hast fünf Greife, zwei Hexenmeister und eine Bardin, die alle auf dich aufpassen werden, während du deinen Pflichten nachkommst. Ich wette, kein anderer Dunkler Fürst hatte je so viele Helfer.«

Das musste man Shona lassen, dachte Blade. Sie verstand sich erheblich besser als er darauf, mit Vater umzugehen. Schon bald hatte Derk sich so weit gefasst, dass er nur noch mit verstörtem, sorgenvollem Gesicht durch das Haus wanderte und wieder und wieder vor sich hin sagte: »Es muss einen Ausweg geben!« Shona folgte ihm und redete beschwichtigend auf ihn ein. Elda tat das Ihre, indem sie sich ihnen anschloss und süß und golden und knuddelig aussah.

Endlich ergab sich für Blade eine Gelegenheit, mit seiner Mutter zu sprechen.

Sie saß in der Küche am Tisch, blass, aber sichtlich erleichtert, während Lydda das Abendessen zubereitete. Lydda war die Einzige von den Greifen, die gekochte Nahrung wirklich schätzte. Kochen war geradezu ihre Leidenschaft, ständig erfand sie neue Gerichte. Blade fand ihre Einstellung schwer nachvollziehbar. Er an ihrer Stelle wäre sich vorgekommen wie Aschenputtel, doch ganz offensichtlich fühlte Lydda sich keineswegs ausgebeutet oder erniedrigt. Sie sagte, indem sie den Schnabel und ein großes Auge in Blades Richtung wandte: »Muss das sein, dass du herkommst und mir im Weg herumstehst?«

Mara schaute ihrem Sohn ins Gesicht. »Ja«, sagte sie, »es muss sein.«

Lyddas Schweif wischte hin und her, aber sie enthielt sich eines Kommentars. Die leicht gesträubten goldenen Federn ihrer Schwingen und ihres Kamms verkündeten unübersehbar: Dann sage ich eben gar nichts mehr.

»Was hat das Orakel geantwortet?«, fragte Mara Blade.

»Deukalion wird dich die Zauberkunst lehren«, zitierte Blade verdrossen. Er sah, wie seine Mutter die fein gezeichneten hellen Brauen runzelte.

»Sag nur nicht, du hast auch noch nie von ihm gehört.«

»Nein, obwohl … Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber es ist ganz bestimmt kein Hexenmeister. Vielleicht ein anderer Zauberkundiger. Fasse dich in Geduld. Er – oder sie – wird auftauchen, bestimmt. Die Prophezeiungen des Weißen Orakels treffen immer ein.«

Blade seufzte.

»Was noch?«

»Warum kann Paps mich nicht verstehen?«, brach es aus ihm heraus. »Er hat zugestimmt, als Shona auf die Bardenakademie wollte. Weshalb ist er so dagegen, dass ich zur Universität gehe? Ich habe ihm erklärt, dass ich mich jetzt immatrikulieren muss, um eine solide Grundausbildung zu erhalten, auf der ich aufbauen kann, und er sagt nur, er selbst wird mich unterrichten. Aber das kann er nicht, Mams! Und du kannst es auch nicht. Meine Begabung liegt auf einem ganz anderen Gebiet als deine oder die von Paps. Also, weshalb ist er so strikt dagegen?«

»Nun, aus zwei Gründen. Dein Vater war auf der Universität ein Außenseiter, weil man ihn nicht verstanden hat. Ich war zur gleichen Zeit dort und weiß, wie deprimiert er sich oft gefühlt hat. Er hatte den Kopf voller neuer Ideen – wie das Erschaffen von Greifen zum Beispiel – und wünschte sich nichts mehr, als dass man ihm half, Wege zu finden, diese Visionen zu verwirklichen. Doch statt ihn zu fördern, zwangen sie ihn, sich nach ihren Regeln zu richten. Es kümmerte sie nicht, dass er auf seine Art brillant war. Sie predigten ihm, Zauberei heutzutage müsse darauf abzielen, neue Effekte für die Pilgerfahrten zu schaffen, und erklärten herablassend, zweckfreie Forschung hätte keinen Wert. Ich habe ihn mehr als einmal dabei ertappt, dass er weinte.«

»Schon, aber das war er«, wandte Blade ein. »Ich bin anders. Ich habe auch eine Menge Ideen, aber ausprobieren will ich sie vorläufig noch nicht. Ich will erst ein solides Rüstzeug haben.«

Seine Mutter nickte. »Sehr vernünftig. Auch ich bin seinerzeit nicht mit meinen Gedanken über Mikrouniversen hausieren gegangen. Aber den zweiten Grund, weshalb dein Vater nicht möchte, dass du auf die Universität gehst, den solltest du begreifen können. Man tut dort wirklich nichts, außer neue Attraktionen für die Touren zu entwickeln. Damit sind sie so beschäftigt, dass sie gar keine Zeit haben, über diesen Bereich hinauszuschauen. Oder es nicht wagen. Und dein Vater fürchtet, zu Recht oder Unrecht, dass du dich ebenso verraten fühlen könntest wie er. Oder, dass du dich schließlich nur noch um die Touren kümmerst, genau wie sie. Und das würde ihm das Herz brechen, Kind.«

Blade drängten alle möglichen Erwiderungen auf die Zunge, von ›Das kann ich verstehen‹ bis zu ›Aber es geht nicht um sein Leben, sondern um meins!‹, doch er sagte nur verdrießlich: »Wie es aussieht, müssen wir nun doch für die Touren arbeiten, wohl oder übel und trotz allem.«

Bevor Mara antworten konnte, warf Lydda ein: »Dieser Mr. Chesney – nimmt er die gleiche Nahrung zu sich wie wir? Er kommt aus einer anderen Welt, nicht wahr?«

Mara sprang auf. »Liebe Güte, darüber habe ich noch gar nicht … Ja, ich glaube schon. Dabei fällt mir ein …«

»Gut«, sagte Lydda. »Ich plane himmlische Häppchen.«

»Und ich muss die Vorbereitungen organisieren«, sagte Mara. »Lass mich sehen – ungefähr achtzig Hexenmeister, dazu Mr. Chesney mit zwei Begleitern und wir. Blade, komm mit und hilf mir festzustellen, ob sich das Esszimmer zu einem Speisesaal vergrößern lässt. Und dein Vater braucht angemessene Gewänder.«

Von da an beherrschte Chaos die Szene. Nur Derk beteiligte sich nicht an der allgemeinen Geschäftigkeit. Er wanderte über das Anwesen, führte Selbstgespräche: »Es muss einen Ausweg geben!«, und verrichtete seine gewöhnliche Arbeit, wie Tiere füttern und bewegen, bei seinen Kaffeebüschen die Bewässerungsanlage anstellen, die Freundlichen Kühe melken und den Fortgang seiner Experimente kontrollieren, während alle anderen wie aufgescheucht umherliefen. Blade fand, dass Paps Shonas Angebot, zu helfen, entschieden zu wörtlich nahm. Derk kam nicht in die Nähe des Hauses, bis Blade und Mara anfingen, den Garten umzugestalten.

Bis dahin war es dunkel geworden. Früher am Nachmittag hatten Mara und Blade versucht, das Haus zu strecken, um in der Mitte Platz für einen großen Speisesaal zu schaffen. Shona befand, dass dazu – wenn schon, denn schon – eine stilvolle Marmortreppe gehörte, setzte sich auf die vorläufig noch hölzernen Stufen und zeichnete Entwürfe für geschwungene Baluster sowie für die Gewänder, die Derk tragen sollte. Doch bevor das Haus auch nur halbwegs lang genug war, protestierte es mit alarmierendem Knarren und Knacken in Gebälk und Mauerwerk. Kit röhrte eine Warnung, und Don und Elda kamen hereingestürzt, um zu berichten, dass der Mittelteil des Daches sich senkte und die Schindeln sich spreizten wie die Schuppen eines Kiefernzapfens. Gleichzeitig ein Aufschrei von Lydda: »Die Küche stürzt ein!«, und Shona hörte man rufen, dass die neue Marmortreppe wackelte.

Blade und Mara blieb nichts anderes übrig, als das Haus zu stabilisieren und sich etwas anderes zu überlegen.

»Sorgt für gutes Wetter und setzt die Gäste auf die Terrasse«, schlug Kit vor. »Dann könnten wir Greife auch helfen, die Speisen herumzureichen.«

Das war so ziemlich Kits einziger Beitrag, dachte Blade mürrisch, zumal er wusste, dass Kit diesen Vorschlag nur deshalb gemacht hatte, weil er sich wegen seiner Größe im Haus nicht mehr wohlfühlte. Wenigstens Don und Elda drückten sich nicht und halfen in der Küche. Ach verflixt, Blade wusste, in Wirklichkeit war er Kit gegenüber ungerecht. Nachdem Blade und Mara die Terrasse zu einer weitläufigen Plattform ausgedehnt hatten, die halbwegs bis zum großen Tor reichte, schleppte Kit sämtliche Sitzgelegenheiten aus dem Haus nach draußen. Blades Ärger rührte daher, dass er wusste, die Greife führten etwas im Schilde. Er hatte gesehen, wie alle fünf – sogar Callette war dabei, die sonst aus Prinzip nichts tat, was Kit sagte – die Köpfe zusammensteckten. Blade fühlte sich gekränkt und ausgeschlossen, immerhin waren die Greife seine Brüder und Schwestern. Meistens hielten sie auch zusammen wie Geschwister, doch es gab Zeiten – wie jetzt zum Beispiel, und fast immer war Kit der Anführer –, zu denen die Greife sich gegen den Rest der Familie verbündeten, und das ging Blade jedes Mal gewaltig gegen den Strich.

So viel zum Thema Familiensinn!, dachte er und half seiner Mutter, das Buschwerk und die Blumenrabatten möglichst vorteilhaft um die neue, erheblich größere Terrasse anzuordnen. »Wenn wir das Boskett an diese Ecke verlegen …« Mara überlegte. »Nein, auch dann kommen wir nicht darum herum, den Hauptweg zu begradigen. Ich weiß, dein Vater verabscheut gerade Linien in einem Garten, aber wir haben einfach keinen Platz.«

In diesem Moment kam Don rückwärts gehend aus der Tür; er trug ein Ende der Klavierbank, am anderen Ende hing Shona und schrie aus Leibeskräften: »Ich habe gesagt, gib sie wieder her! Ich brauche sie zum Üben!«

Kit stellte den Küchentisch hin, dass es krachte, und sagte mit einer Stimme wie sechs verstimmte Posaunen: »GIB SIE IHM. WIR BRAUCHEN SIE. DU KANNST IN DER AKADEMIE ÜBEN!«

»Nein, kann ich nicht! Ich gehe nicht zur Akademie, bis das hier überstanden ist! Das habe ich Paps versprochen!«

»Trotzdem gibst du sie her.« Kit näherte sich Shona mit peitschendem Schweif, selbst auf allen vieren überragte er sie um etliches.

»Du ungehobelter Rüpel!« Shona war nicht im Geringsten beeindruckt. »Willst du ein paar auf die Nase?«

Mara seufzte. »Ich glaube, ich gehe wohl besser dazwischen.«

Doch bevor sie den Vorsatz ausführen konnte, kam Derk angelaufen und starrte entsetzt auf den im Dämmerlicht liegenden Garten. »Was um Himmels willen tust du da, Weib?«

»Ich versuche, ihn den neuen Gegebenheiten anzupassen, was denn sonst«, antwortete Mara, während Kit und Shona hastig vorgaben, eine freundschaftliche Unterhaltung zu führen.

»Lass gut sein, ich übernehme das«, sagte Derk. »Wie kommt es nur, dass in dieser Familie außer mir keiner einen Sinn für Ästhetik und Gartenbau besitzt?«

Viel, viel später begaben sich alle erschöpft zu Bett.

Kapitel 3

Gegen elf Uhr am nächsten Vormittag trafen nach und nach die Gäste ein. Querida und Barnabas sahen sich bei ihrer Ankunft zwei schweigenden Greifen gegenüber, die als stumme Wächter links und rechts neben dem Tor saßen. Es waren Don und Lydda; Kit hatte gemeint, dass ein aufeinander abgestimmtes Paar mehr Eindruck machte. Die beiden waren gleichaltrig – dreizehn –, gleichfarbig – alle Schattierungen zwischen Gold und Braun – und in etwa gleich groß, von der Tatsache abgesehen, dass man Lydda nur als vollschlank bezeichnen konnte, bei Don hingegen ließen sich, wenn er die Schwingen hob, die Rippen zählen, für Mara ein steter Quell mütterlicher Sorge.

Beide schritten vor Querida und Barnabas den schnurgeraden Hauptweg entlang (obwohl er bis nach Mitternacht gearbeitet hatte, war es Derk nicht gelungen, auf dem kurzen Stück zwischen Tor und Haus ein gefälliges Schlängeln zu erreichen) bis zu der festlich hergerichteten Terrasse, wo sie die beiden Hexenmeister mit einer höflichen Verneigung aufforderten, die Treppe hinaufzusteigen. Unglücklicherweise war bei der Neuordnung des Gartens ausgerechnet der Busch menschenfressender Orchideen neben diese Treppe geraten, und die paar Dutzend gelbe Blüten schnappten alle auf einmal nach Querida, als sie die Stufen hinaufging. Querida wandte den Kopf und schaute sie an. Die Orchideen zuckten hastig zurück.

Auf der Terrasse hatte man die verschiedenen Tische zu einer langen Tafel verschmolzen und eine weiße Decke darübergebreitet, entstanden aus zwei Dutzend Küchenhandtüchern; aus dem Sammelsurium der Sitzgelegenheiten waren identische, elegante goldene Armsessel geworden. Mara war stolz auf die Wirkung, als sie in einem kostbaren Brokatgewand – die Grundlage bildeten zwei von Shona zusammengenähte Schürzen und ein Tischtuch – aus dem Haus trat, um die Neuankömmlinge zu ihren Plätzen zu führen.

Derk befand sich an ihrer Seite, er trug das Gewand, an dem Shona und Mara bis tief in die Nacht gearbeitet hatten: indigoblauer Samt – Callettes Idee –, darüber ein Umhang mit einem sternenübersäten Nachthimmel als Innenfutter. Es war ein echter Himmel mit echten Sternen, klein, wie aus großer Entfernung gesehen. Querida war es sich nach ihrer eigenen Meinung natürlich schuldig, dieses extravagante Futter zu ignorieren. »Ich bin froh, dass Ihr Vernunft angenommen habt, Hexenmeister Derk«, sagte sie zur Begrüßung.

»Das ist keine Vernunft, sondern Resignation«, gab er zur Antwort. Während der Arbeit an der Umgestaltung des Gartens hatte Derk mit sich selbst eine Abmachung getroffen: Er würde gute Miene zum bösen Spiel machen, sich aber dafür selbst belohnen und sofort nachdem wieder Normalität eingekehrt war, mit der Erschaffung einer völlig neuen Tierart beginnen.

Barnabas zeigte sich, wie alle geladenen Hexenmeister, höchst beeindruckt von dem außergewöhnlichen Umhangfutter. »Ist das echter Himmel?«, fragte er. »Wie wird das bewerkstelligt?«

Derk kränkte Mara, indem er, wie schon auf die gleiche Frage der Hexenmeister vorher, den Umhang ein wenig öffnete, um das Stück Kosmos zu betrachten, das sie mit so viel Mühe dort eingefügt hatte, und antwortete: »Ach, das ist nur eins von Maras raffinierten kleinen Universen.« Er sah, wie Mara sich verärgert abwandte und Querida zu dem für sie reservierten Platz geleitete. Er verwünschte das Orakel. Nicht nur, weil er Querida nicht leiden konnte, dieser Unfug mit dem Dunklen Fürsten bewirkte schon jetzt Differenzen zwischen ihm und Mara, und ein ungutes Gefühl warnte ihn, dass die unweigerlich auftauchenden Probleme schlimmstenfalls sogar eine Trennung zur Folge haben könnten. Lustlos sagte er zu Barnabas: »Wir haben dich und Querida an das Kopfende gesetzt, wo Mr. Chesneys Platz ist.«

Als Barnabas sich auf dem vergoldeten Sessel niederließ, der in Wirklichkeit Shonas Klavierbank war, kam Callette schweren Schrittes die Stufen herauf und stellte polternd schon das zweite Fass Bier ab. Barnabas beäugte es erfreut. »Oha!«, sagte er. »Ist das Derks eigenes Gebräu?« Callette inspizierte ihn mit einem großen, runden braunen Auge und nickte kurz, bevor sie sich entfernte.

Weshalb reden sie nicht?, wunderte sich Blade, als er mit der größten Kaffeekanne des Hauses auf die Terrasse hinaustrat. Elda ging vor ihm her, sie schob einen Servierwagen mit Wein, Gläsern und Bechern. Eine halbe Stunde hatten sie in der Küche gemeinsam gewerkelt, und während der ganzen Zeit war ihr nicht ein einziges Wort zu entlocken gewesen. Er nahm an, diese Schweigsamkeit hing irgendwie mit Kits Plan zusammen. Albern. Er war übernächtigt und fühlte ein nervöses Kribbeln im Bauch. Am Morgen war er viel zu früh aufgewacht, das Ächzen und Knarren des überlasteten Dachgebälks hatte ihn nicht schlafen lassen. Keiner hatte Zeit gefunden, sich darum zu kümmern, und jetzt war es zu spät.

Von seiner Mutter hatte er den Auftrag bekommen, dafür zu sorgen, dass jedem der ungefähr achtzig Hexenmeister an der Tafel sein Lieblingsgetränk kredenzt wurde. Sie sahen müde aus, dachte er, während er mit Kaffeekanne und Servierwagen die Runde machte. Über den offiziellen Gewändern in Rot oder Weiß oder Schwarz wirkten ihre Gesichter erst recht blass und verhärmt. Die Bärte machten es nicht besser. Hexenmeister, die er bisher nur glatt rasiert kannte, trugen plötzlich Bart.

»Vorschriften«, erklärte ihm einer der Jüngeren, Finn. »Für Mr. Chesney hat ein Zauberer als Führer einer Tour einen Vollbart zu haben. Kaffee, bitte. Woher bezieht ihr euren Kaffee? Ich bekomme nur welchen über die Touren. Letztes Jahr habe ich darum gebeten, in Kaffee entlohnt zu werden, ich bin regelrecht süchtig danach.«

»Mein Vater baut ihn an.«

»Wirklich? Ob er mir welchen verkauft?«

»Ich denke schon. Sagt – heißt das, auch ich werde einen Bart tragen müssen? Ich bin als Tourmagier eingeteilt.«

Finn musterte ihn mit einem erstaunten Blick. »Nun ja, du würdest etwas merkwürdig aussehen. Warte ab, was Mr. Chesney sagt.«

Ich kann nicht warten!, dachte Blade. Man könnte glauben, Mr. Chesney wäre der Herr des Universums.

Sobald jeder Hexenmeister auf seinem Platz saß und mit einem Getränk versehen war, trat Shona im grünen Gewand des Barden und mit der Geige in der Hand durch die Fenstertür am Ende der Terrasse. Sie sah wunderschön aus. Ihr Haar war dunkler als das von Mara, fast schwarz, wellig und glänzend, davon abgesehen hatte sie das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt. Mehrere Hexenmeister gaben anerkennende Geräusche von sich, als sie die Violine zum Kinn hob. Zarte Rosen erblühten auf ihren Wangen. Sie stellte sich in Positur und begann – im Bewusstsein der bewundernden Blicke – zu spielen.

»Kannst du nicht dafür sorgen, dass sie aufhört, sich bei jeder Gelegenheit zu produzieren?«, flüsterte Derk Mara zu, während er mit einer Flasche Wein die Runde machte.

»Das ist nur so eine Phase in ihrer Entwicklung«, flüsterte Mara zurück.

»Sie ist siebzehn! Höchste Zeit, dass sie aus dieser Phase herauswächst!«, zischte Derk wütend.

Mara zischte ebenso wütend zurück: »Sie ist schön. Sie spielt großartig. Es ist ihr gutes Recht, sich bewundern zu lassen!«

»Pah!«, machte Derk. Schon wieder ein Zerwürfnis. Was für eine Art von Tier sollte er kreieren, wenn das hier ausgestanden war? Mit Insekten hatte er sich bisher noch nicht eingehend befasst.

Während er über Insekten nachdachte, spürte er, wie die magische Essenz von Derkholm auf einen fremden Einfluss reagierte. Barnabas? Er warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Schon gut.« Barnabas winkte ab. »Ich habe Mr. Chesney vor Jahren eine pferdelose Kutsche erschaffen, ein Vehikel mit einer Art Motor vorn. Er benutzt es, um damit in der Gegend herumzufahren. Wahrscheinlich ist er soeben eingetroffen.«

Schicksal, nimm deinen Lauf, sagte Derk zu sich selbst. Wie alle anderen schaute er erwartungsvoll in Richtung des Tores. Zwar sah man von der Terrasse aus nur den Himmel hinter der Umfriedung, doch er fühlte die fremde Magie durch das Tal in Richtung Derkholm strömen und dann anhalten. Gleich darauf kamen Lydda und Don mit gravitätisch schwingendem Löwenschweif den Weg heraufgeschritten. Ihnen folgten im Gänsemarsch vier zielstrebig wirkende Personen in strenger schwarzer Geschäftskleidung. Vier! Derk schaute besorgt zu Mara, und Mara erhob sich hastig von ihrem Platz, wodurch ein weiterer Sessel frei wurde. Sie trat mit einer Flasche Wein zu Blade an den Servierwagen.

»Geh jetzt und hol die Häppchen«, sagte sie leise zu ihm.

»Gleich.« Blade war fasziniert von den ungewöhnlichen Besuchern. Alle vier hatten raspelkurz geschnittenes Haar, sogar die Frau, die in einem engen gestreiften Rock ganz hinten ging. Der kleinste Mann marschierte vorneweg, mit leeren Händen, während die beiden großen, bulligen Männer hinter ihm jeder einen kleinen Koffer trugen. Die Frau hatte sowohl ein Köfferchen als auch ein Brett, auf dem Papiere festgeklemmt waren. Alle schauten beim Gehen weder rechts noch links und sahen ungemein tüchtig aus. Zu seiner eigenen Überraschung verübelte Blade ihnen, dass sie keinen Blick für den Garten hatten, in dem sein Vater bis spät in die Nacht tätig gewesen war. Und das Ergebnis war wirklich des Anschauens wert. Sie schenkten auch Don und Lydda keine Beachtung, dabei waren auch diese beiden eine Augenweide. Ihr Fell war auf Hochglanz gebürstet, und der goldene Schimmer ihres Gefieders adelte das Rot und Grün und Blau der Rabatten, die den Weg säumten.

Vielleicht habe ich ja doch etwas Familiensinn!, dachte Blade und hoffte, die Orchideen würden sich einen tüchtigen Bissen aus einem der Ignoranten nehmen. Er merkte, dass Shona genauso empfand wie er. Sie spielte einen klirrenden Marsch als Begleitung zu dem abgezirkelten Gleichschritt der Viererkolonne.

Sie kamen die Treppe herauf. Blade sah enttäuscht, dass die Orchideen aus irgendeinem Grund nicht den rechten Enthusiasmus aufbrachten. Sie schnappten halbherzig nach der Frau, aber diese bemerkte es nicht einmal, sondern folgte stur den vor ihr Gehenden.

Der Mann an der Spitze benahm sich, als wären achtzig Hexenmeister, die um eine festliche Tafel versammelt seiner harrten, etwas ganz Alltägliches. Er marschierte geradewegs zu dem freien Sessel am Kopfende und nahm mit der größten Selbstverständlichkeit darauf Platz. Seine beiden männlichen Begleiter ließen sich links und rechts von ihm nieder, die Frau nahm Maras Sessel und schob ihn zurück, bis sie schräg hinter dem ersten Mann saß. Er streckte die Hand aus, und sie gab ihm, ohne hinzusehen, den kleinen Koffer. Der Mann legte ihn vor sich auf den Tisch und ließ mit einem aggressiven Klicken die beiden Schlösser aufspringen.

»Guten Tag«, sagte er dann mit einer farblosen, kalten Stimme.

»Guten Tag, Mr. Chesney«, antworteten bis auf wenige Ausnahmen die anwesenden Hexenmeister im Chor.

Shona leitete über zu einer sentimentalen Ballade mit viel jubilierendem Pathos.

Mr. Chesney hatte grau meliertes, fahles Haar, penibel über die beginnende Glatze gekämmt. Sein Gesicht war klein und weiß und auf den ersten Blick gewöhnlich, bis man seinen Mund bemerkte. Er saß in einer abwärtsgebogenen Linie zwischen der spitzen Nase und dem kleinen Pfirsichkernkinn wie der Bügel einer Fußangel. Sobald einem das aufgefallen war, registrierte man auch, dass er Augen hatte wie kalte, graue Murmeln.

Schwarze Witwen, dachte Derk fieberhaft. Vielleicht mit transparenten grünen Flügeln?

Lydda trabte an dem gaffenden Blade vorbei und maß ihn mit einem strengen Blick. Er und Elda zuckten schuldbewusst zusammen und verfügten sich eilends in die Küche. Als sie zurückkamen, beladen mit großen Tabletts, auf denen sich Lyddas himmlische Häppchen türmten, hörten sie Mr. Chesneys tonlose Stimme sagen: »Jemand möge bitte dieses Sklavenmädchen mit der Fiedel zum Schweigen bringen.«

Pling!, riss eine der Geigensaiten. Shonas Gesicht wurde erst kreidebleich und dann brennend rot.

Ameisen, dachte Derk verzweifelt, mit allen möglichen interessanten neuen Gewohnheiten. »Sie sprechen von meiner Tochter, Mr. Chesney?«, fragte er höflich.

»Ist sie das? Dann sollten Sie sie besser unter Kontrolle haben. Ich wünsche keine störende Geräuschuntermalung bei einer geschäftlichen Besprechung. Da wir gerade von Kontrolle sprechen – dieses Dorf am Eingang Ihres Tales gefällt mir ganz und gar nicht. Es prosperiert. Wie es scheint, haben einige der Behausungen sogar elektrisches Licht. Geben Sie Befehl, dass es abgerissen wird.«

»Aber …« Derk schluckte und stattete die Ameisen versuchsweise mit enormen Stacheln aus. Er verkniff sich den Einwand, dass er kein Recht hatte, das Dorf abzureißen, oder dass er mit sämtlichen Einwohnern gut Freund war. Auf Mr. Chesney machte so etwas keinen Eindruck. »Würde eine Illusion nicht den gleichen Zweck erfüllen?«

»Die Methode bleibt Ihnen überlassen. Denken Sie nur immer daran, wenn die Touristen hier eintreffen, erwarten sie baufällige Hütten zu sehen, bitterste Armut, erschreckendes Elend, und ich erwarte, dass sie zufriedengestellt werden. Übrigens entspricht auch Ihr Haus nicht den Vorschriften. Die Zwingburg eines Dunklen Fürsten hat ein gespenstisches Gemäuer zu sein mit einem Labyrinth von Gängen und düsterrotem Fackelschein – Sie finden unsere Spezifikationen in dem Handbuch, das Sie von Mr. Addis bekommen werden –, und ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie das Szenario um einige ausgemergelte Kerkerinsassen bereichern könnten sowie einige Furcht einflößende Dienstboten, um dem Plüschtiereffekt dieser Ihrer Monster entgegenzuwirken.«

Vielleicht könnten die Stacheln der Ameisen Krankheiten verbreiten, überlegte Derk. »Ihr meint die Greife?«

»Wenn das die Bezeichnung für diese Geschöpfe ist. Man erwartet außerdem von Ihnen, eine Hundemeute zu präsentieren, schwarz mit glutroten Augen, einige menschenfressende Pferde, fliegendes Getier mit Fledermausflügeln et cetera – auch was das angeht, finden Sie Genaueres in unserem Handbuch. Unsere Pilger zahlen für den größtmöglichen Nervenkitzel, Hexenmeister und sie dürfen keinesfalls enttäuscht werden. Aus demselben Grund müssen Sie diese Gärten umpflügen und stattdessen einen düsteren Vorhof und Feuergruben anlegen. Überdies sollte die Anlage von einem passenden Dämon bewacht werden.«

»Ich sorge für den Dämon«, warf Querida rasch ein.

Derk erinnerte sich ebenso gut an den blauen Dämon wie sie. Er wandte den Kopf, um ihr mit einem Blick zu danken, und sah dabei hinter Querida seine Frau stehen, die eine höchst zufriedene Miene zur Schau trug. Was hat das nun wieder zu bedeuten?, wunderte er sich. Sie weiß, ich kann keine Dämonen beschwören, weshalb ist sie so vergnügt deswegen? Er dachte angestrengt an sechs verschiedene Krankheiten, die die Ameisen übertragen könnten, und fragte Mr. Chesney: »Sonst noch etwas?«

»Allerdings. Sie selbst. Ihr Äußeres ist bei Weitem zu angenehm und menschlich. Sie werden das Nötige tun, um als ein drei Meter großer schwarzer Schatten zu erscheinen. Da unsere Pilger erst gegen Ende der Tour damit rechnen, Ihnen zu begegnen, werden sich Ihre Auftritte auf wenige Male beschränken, bei diesen Gelegenheiten jedoch müssen sie rechtschaffen in Angst und Schrecken versetzt werden. Ihr gegenwärtiges Aussehen ist absolut inadäquat.«

Seuchen!, dachte Derk, doch er konnte sich nicht enthalten zu bemerken: »Gibt es nicht auch die alternative Vorstellung von einem Dunklen Fürsten als Wesen von überirdischer, verderbter Schönheit?«

»Nicht«, erwiderte Mr. Chesney streng, »bei unseren Pilgern. Außerdem wäre es unvereinbar mit unserer diesjährigen Attraktion, welche darin besteht, dass einer der hiesigen Götter jeder Gruppe mindestens einmal erscheint.«

Ein aufgeregtes Rascheln lief um den ganzen Tisch.

Mr. Chesney hob den Kopf, sein Mund schnappte zu wie eine Schlagfalle um jemandes Bein. »Gibt es ein Problem?«