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Joan Weng

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Beschreibung

Mord in bester Gesellschaft.

Berlin im Sommer 1925: Dass Bernice ihren schwerreichen Gatten von ihrem Liebhaber hat umbringen lassen, ist eine Tatsache – zumindest für die feine Gesellschaft. Kriminalkommissar Paul Genzer ist davon jedoch nicht überzeugt, insbesondere nachdem die Witwe plötzlich an einer Überdosis Morphium gestorben ist. Während der Tod der Witwe neue Fragen aufwirft, folgen weitere Bluttaten, und so ist der proletarische Kommissar bald froh, bei seinen Ermittlungen durch den hochadligen Filmstar Carl von Bäumer ungewöhnliche Unterstützung zu bekommen. Der Leinwanddetektiv mit der Leidenschaft für Kokain kennt sich zwar bestens aus in der Welt der Reichen und Schönen, er verfolgt jedoch ganz eigene Motive ...

Ein Kriminalfall vor besonderer Kulisse: die Goldenen Zwanziger Jahre und ihre feine Gesellschaft.

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Über Joan Weng

Joan Weng, Jahrgang 1984, erhielt bisher den Hattinger Literaturförderpreis, den Wiener Werkstattpreis sowie den Goldstaubpreis. Sie lebt in Stuttgart.

Informationen zum Buch

Die Roaring Twenties

Berlin im Sommer 1925. Dass Bernice ihren Gatten, den reichen Unternehmer Gottlieb Straumann, hat umbringen lassen, ist eine Tatsache - zumindest für die feine Gesellschaft von Berlin. Kriminalkommissar Paul Genzer ist davon jedoch nicht so überzeugt, insbesondere nachdem die Witwe plötzlich tot ist, gestorben an einer Überdosis Morphium. An seiner Seite hat Genzer einen ungewöhnlichen Helfer: den Schauspieler und Ufa-Star Carl von Bäumer, der sich unter den Reichen und Schönen bestens auskennt – und seine ganz eigenen Vorlieben hat.

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Joan Weng

Feine Leute

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Joan Weng

Informationen zum Buch

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Freitag, 24.April 1925

Samstag, 2.Mai 1925

Sonntag, 3.Mai 1925

Montag, 4.Mai 1925

Dienstag, 5.Mai 1925

Mittwoch, 6.Mai 1925

Donnerstag, 7.Mai 1925

Freitag, 8.Mai 1925

Samstag, 9.Mai 1925

Danksagung

Impressum

Für meine Männer

Freitag, 24.April 1925

»Carl von Bäumer war mein Liebhaber – exklusive Details über die Premierenaffäre des schönsten Manns der UFA.«

Die Flamme leckt über den Schmollmund, über die halb gesenkten Lider, verschlingt das zerknüllte Filmstargesicht, verschlingt auch den gestrigen Börsenbericht, »Skandal bei Tanztee« und »Das Geheimnis saftiger Streusel«, knabbert schließlich an Bernice Straumanns Briefen, den ungezählten Briefen.

Jetzt brennen sie endlich, doch nur einen kurzen Augenblick, schon werden sie gelöscht, seine Hand schüttelt sie aus, bald nur noch graue Flocken, eingefasst in rotes Glühen, so fallen sie hinter den Rost des Kamins. Da wird sie weiterglimmen, diese billige Liebe auf Büttenpapier. Sie wird vielleicht noch glimmen, wenn Frau Straumann bereits die Witwe Straumann ist, wenn das Blut des Gatten bereits im Teppich zu Flecken trocknet.

Gottlieb Straumann fühlt den Revolverlauf, kühl und rund, an seinem kahlen Schädel. Für Angst ist es zu spät.

Es schlägt sechs Uhr, Zeit läuft.

Der Finger am Abzug zuckt.

Samstag, 2.Mai 1925

Im Leben eines jeden Menschen gibt es Dinge, von denen er glaubt, dass sie sich niemals ändern, Felsen im anbrandenden Meer aus Zeit. Den Besuch bei seiner Schwester hatte Carl immer für einen solchen Brandungsfels gehalten. Mochte die Welt einen Filmstar aus ihm machen, ihn vergöttern oder verdammen, es blieb dabei: jeden ersten Samstag im Monat, stets um siebzehn Uhr.

Und im ersten Moment hatte er auch tatsächlich geglaubt, nichts habe sich verändert. Der Wintergarten war noch derselbe, weiß, weitläufig, mit einem künstlichen, in den angrenzenden Garten führenden Bächlein, ganzer Stolz seines Schwagers. Der Geruch war derselbe geblieben, feuchte Erde, frisch gebrühter Bohnenkaffee, eine leichte Ahnung vom französischen Parfum seiner Schwester. Die Geräusche waren dieselben, die in ihrem Käfig zankenden Aras, das Plätschern des Wassers, Urtes melodisches Geplauder. Selbstverständlich hatten sich die Möbel nicht geändert, die weißen Korbstühle, die blauen Kissen, der verschnörkelte Metalltisch. Unverändert das chinesische Porzellan, blaue Lilien auf weißem Grund, unverändert die Rosen auf dem Tisch, weiß wie gewöhnlich, unverändert das Hausmädchen, nichtssagend in Schürze, Häubchen und schwarzer Bluse. Auch Urte war dieselbe geblieben, plappernd, blond und blass, die Lippen rot, die Nägel perlmuttfarben lackiert. Auch ihr Tea Gown war das altbekannte. Das mitternachtsblaue Crêpe-Georgette-Kleid, die überlangen Schalärmel mit den Blumenstickereien, Carl kannte es schon.

Neu war nur eines: Seine Schwester stahl ihm nicht länger die Zeit. Die verplauderten Stunden waren nicht länger verloren, denn niemand erwartete ihn voll Ungeduld zu Hause.

Es gab niemanden mehr.

Er war der Filmstar Carl von Bäumer, er war der schönste Mann der UFA, er war der Traum aller Backfische, aber niemand erwartete ihn zu Hause.

Das Penthouse am Pariser Platz 13 war nicht länger sein Zuhause.

Er wohnte dort nur, wohnte in diesem üppigen Traum aus Glas, Stahl und modischer Leere, und es kam ihm jetzt oft vor, als hallten seine Schritte in den weitläufigen Fluchten. Früher hatten sie nie gehallt.

»Du solltest auf unsere Frau Mutter hören und auf die Kurische Nehrung fahren. Dich ein wenig erholen, gewissermaßen eine verfrühte Sommerfrische. Die Luftveränderung würde dir so guttun. Ganz blass siehst du aus.« Urtes blauer Blick maß sein Gesicht, kritisch und missvergnügt. Die Nachmittagssonne fiel wohl gnadenlos auf seine Augenringe, auf seine zerbissenen Lippen. »Und außerdem könntest du mehr auf dein Äußeres achten. In Pullunder und Sakko zum Five o’Clock Tea, ich bitte dich! Du weißt, ich liebe diese moderne Neigung zur Lässigkeit nicht sehr!«

»Das muss mir bisher entgangen sein.« Der Pullunder war ein Geschenk von Paul gewesen. Carl lebte aktuell in diesem Pullunder. »Entschuldige, aber könnte ich noch ein Stück Kuchen haben?«

»Hast du nicht zu Mittag gegessen? Wie viel möchtest du denn noch in dich reinstopfen?«

Carl lebte aktuell von Schlagsahne und Kuchen.

»Und deine Nase ist ganz wund. Hast du wieder Heuschnupfen?«

Schlagsahne und Kuchen und Kokain.

»Nein.«

»Ach, Carl.« Sie seufzte gut vernehmbar, rührte in ihrem Tässchen, erklärte: »Wir machen uns alle große Sorgen um dich. Unsere Frau Mutter meinte, sie habe dich letzten Sonntag angerufen und du hättest einen berauschten Eindruck gemacht. Am heiligen Sonntag, um drei Uhr nachmittags. Ich habe ihr aber gesagt, sie müsse sich getäuscht haben. Ich habe behauptet, du hättest bestimmt nur wegen der Leitung so schlecht geklungen …« Einen Moment stockte sie. »Du kannst doch unmöglich sonntagnachmittags schon betrunken gewesen sein?«

Er blickte durch die geöffneten bodentiefen Fenster in den angrenzenden Garten, betrachtete interessiert den akkurat gestutzten Rasen, den ewig blendend weißen Kies des Weges. Irgendwo zirpte etwas, und von jenseits der mannshohen Buchsbaumhecke war das Lachen einer Gruppe von Spaziergängern zu hören. Wenn er nur lange genug schwieg, wenn diese Spaziergänger vielleicht noch begännen, ein Wanderlied oder besser noch eine Seemannsweise zu singen, vielleicht hatte er dann Glück und Schwester Urte kam auf eines ihrer Lieblingsthemen – proletarische Ausflügler in ihrem geliebten Grunewald – zu sprechen?

»Du warst also tatsächlich an einem Sonntag um drei Uhr nachmittags bereits betrunken? Ich fass es nicht, das ist so geschmacklos.« Und mit einem kleinen Schluchzer ließ sie den sorgsam ondulierten Kopf in die Hände sinken.

Er kannte das schon. Dieses Theater.

Die schmalen Schultern unter dem engen Stoff zitterten, Urte wimmerte erbärmlich, schniefte unterdrückt.

»Unsinn, Urti.« Er klopfte die Taschen seines Jacketts nach dem Taschentuch ab, von dem er schon wusste, dass er es nicht haben würde, blickte sich suchend nach dem Dienstmädchen um, sollte das seiner Gnädigen doch zu Hilfe eilen, aber natürlich war es verschwunden. »Urti, nicht weinen. Ich versprech dir, ich war wirklich nicht schon betrunken. Indianerehrenwort, ohne Kreuz.«

Er war es immer noch, aber das sagte er nicht.

Ihre blauen Augen musterten ihn skeptisch, sie taten es durch ihre schmalen Finger, vorbei am 1,4-karätigen Verlobungsring, vorbei am seit Generationen vererbten Ehering der Familie ihres Gatten, und erst als Urte sich von der Wahrheit seiner Lüge überzeugt hatte, ließ sie ihre Hände sinken, schluchzte ein letztes Mal, begann dann, mit einem aus ihrem Ärmel gezauberten Taschentuch etwas an ihren Wimpern herumzutupfen.

Und ganz, als wäre nichts gewesen, fuhr seine Schwester nun fort: »Also, warum möchtest du nicht auf die Kurische Nehrung? Jahrelang war Pillau für dich das Höchste – warum denn jetzt plötzlich nicht mehr?«

Er kaute auf seinem Streuselkuchen herum.

»Gefällt dir das Haus nach dem Umbau nicht? Ist es dir plötzlich zu einsam gelegen? Ist dir allein langweilig? Dann frag eben Herrn Genzer, ob er nicht wieder mitkommen will. Er hat sich dort doch letztes Jahr sehr wohl gefühlt.«

»Herr Genzer hatte gerade Urlaub. Er ist erst vor einer Woche aus München gekommen.« Das war zwar die Wahrheit, allerdings sicher nicht der Grund, der einer gemeinsamen Reise entgegenstand. Aber selbst wenn die Schwester über die Art seiner Beziehung zu Paul, Herrn Genzer, Bescheid gewusst und selbst wenn die Schwester Beziehungen solcher Art nicht für krankhafte Verirrungen und bedauerliche Neigungen gehalten hätte, selbst dann hätte er keine Lust gehabt, ihr die Situation auseinanderzusetzen. Nicht Urte, der man mit sechzehn Jahren den wesentlich älteren Baron Otto von Withmansthal vorgestellt hatte, den hochdekorierten Generaladjutanten des kaiserlichen Hauptquartiers und Besitzer des größten Gutes von ganz Ostpreußen, in den sie sich, wie man es von einer anständigen Junkertochter wohl erwarten konnte, auch auf der Stelle verliebte.

Zwei Monate nach dem ersten Walzer folgte die Hochzeit und nach weiteren zehn Monaten, termingerecht an Urtes achtzehntem Geburtstag, der Stammhalter. Zum Kriegsende dann ein Friedrich, nur elf Monate darauf ein Siegfried, dann ein wenigstens sehr entzückendes Mädchen und im Jahre 23, der allgemeinen Inflation gehorchend, die Zwillinge Christian und Johannes. Aber damit war die Orgelpfeifenproduktion noch längst nicht abgeschlossen, für Mitte Oktober durfte man sich auf den nächsten Spross derer von Withmansthal freuen. Urte betete wohl inbrünstig um einen weiteren Jungen, denn der kommende Krieg würde Soldaten brauchen, und die von Withmansthals rühmten sich, eine sehr anständige Familie zu sein, bei der seit dem alten Fritz kein männlicher Nachkomme mehr im Bett gestorben war. Sie fielen ausnahmslos alle, im Feld oder bei der Jagd vom Pferd. Darauf war seine Schwester sehr stolz.

Niemals würde diese Frau, diese Fremde im Nachmittagskleid, ihn verstehen. Was sollte er hier im Salon des schwesterlichen Grunewaldhauses?

Was sollte er in Pillau?

Ohne Paul.

Was sollte er überhaupt irgendwo?

Ohne Paul.

Wenn seine Armbanduhr richtig ging, waren es in sechs Minuten genau einhunderteinundsechzig Stunden, seit er Paul das letzte Mal gesprochen hatte. Den ganzen Samstag hatte er versucht, ihn zu erreichen. Gleich nach dem Aufwachen vom Pariser Platz aus, dann aus seiner Garderobe, bevor und nachdem der Vertragsarzt der UFA seine zerschnittenen Hände gerettet hatte, dann wieder vom Pariser Platz aus, aber immer war nur Pauls Zimmerwirtin am Apparat gewesen. Schon beim ersten Anruf hatte sie ihm geraten, es auf dem Revier zu versuchen, aber Carl wusste genau, dass es Pauls dienstfreier Samstag war. Dennoch hatte er es schließlich, auch auf Drängen der mittlerweile genervten Wirtin, gegen Abend probiert.

Aber natürlich war Paul auch dort nicht. Wie sich später herausstellte, war Paul nämlich am Wannsee planschen und danach noch gemütlich im Biergarten.

Und selbstverständlich nicht allein!

Nein, in Begleitung von Kriminaloberwachtmeister Kapp – allseits bekannt als der hübsche Kapp! – und zwei Tippfräuleins aus dem Falschgelddezernat hatten sie wohl auch noch im Schlepptau. Und als er ihn dann endlich in der Leitung hatte, da hatte Paul nur gemeint: Ich wüsste nicht, was es zwischen uns noch zu besprechen gäbe.

Urtes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Das ist aber schade, dass Herr Genzer nicht kann. Ihm täte Urlaub bestimmt auch gut. Ich habe ihn kürzlich gesehen, und er machte einen etwas abgespannten Eindruck.«

»Wo hast du ihn getroffen? Und du sagst, er sah schlecht aus?«

»Otto hat einen Klingenberg gekauft. Einen ganz bunten. Er soll im Salon über die Kaminkonsole. Herr Klingenberg ist aktuell sehr en vogue …«

Das war ja nicht auszuhalten! Er brauchte jetzt eine Zigarette, ganz egal, was Urte vom Rauchen im Wintergarten und während des Tees hielt.

»Schön, schön. Das interessiert mich alles kein bisschen. Aber ich hab dich was gefragt. Wo zur Hölle hast du Paul gesehen?«

»Mon Dieu, Carl. Was sind denn das für Manieren?« Pikiert kniff seine Schwester ihre rotbemalten Lippen zusammen. »Und wenn du fluchen willst, dann geh dazu bitte auf die Straße. Du weißt, ich dulde es nicht, dass in meinem Haus …«

»Ja, ja, es tut mir leid. Aber wo hast du Herrn Genzer denn nun gesehen?«

»Bei Herrn Klingenberg, sagte ich doch. Auf der Vernissage vorgestern.«

Viktor Klingenberg.

Viktor Klingenberg, der Maler, der Salonkommunist, der Mann, dem die Schreiber der Gesellschaftsbeilage gern Glutaugen sowie eine rabenschwarze Mähne nachsagten. Viktor Klingenberg, der Mann, der Paul letztes Jahr unbedingt hatte porträtieren wollen!

»Ich glaube, die beiden verstehen sich ganz gut? Herr Genzer ist doch sonst immer so ein Ernster, und am Anfang wirkte er auch ein bisschen unglücklich, so ein bisschen müde und abgespannt eben. Ich habe noch zu Otto gesagt, dass er gar nicht recht herpasst, aber dann war Herr Klingenberg so reizend zu ihm, hat ihn rumgeführt, ihm alles gezeigt. Herr Klingenberg ist einfach ein herrlicher Gastgeber. Und unerhört charmant obendrein.«

O ja, unerhört charmant war der! Der mit seinen für den Alltagsgebrauch eindeutig zu lang geratenen Beinen und diesem affektierten Bärtchen. Carl hätte eben doch auf die Scheißvernissage gehen sollen, aber er hatte gedacht, da hätte Paul noch Dienst. Aber natürlich, wenn der charmante Viktor und seine langen Beine riefen, dann war Paul keine Mühe zu groß, dann wurde da eben ein bisschen früher Schluss gemacht, dann war das plötzlich möglich! »Was wollte Herr Klingenberg denn von Herrn Genzer?«

»Er hat ihm wohl ein paar seiner Werke erklärt, und dann haben sie über Herrn Genzers Arbeit geredet. Herr Genzer ermittelt im Mordfall Straumann. Habe ich dir erzählt, dass wir die Straumanns kannten?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort.

»Stell dir doch mal vor, wir waren gewissermaßen Nachbarn von den Straumanns. Ihr Gut ist gar nicht weit von unserem gelegen. Vielleicht vier Stunden mit dem Landauer. Auf mich haben die beiden immer vollkommen normal gewirkt. Also, es gab zwar Gerede, dass es um ihre Ehe nicht zum Besten stand, aber niemals hätte ich gedacht, dass Frau Straumann zu so einer Tat fähig ist.«

»Na ja, sie hat den Mord auch nicht selbst begangen, sie hat ja nur den Verwalter angestiftet, für sie ihren Gatten loszuwerden.« Er zernagte seine Lippe. Paul ermittelt also in dem Fall.

Er hatte Grund zu der Annahme, dass Paul heute Abend wie er ins Wintergarten Varieté gehen würde. Friedel Scheller und Lou Wieauchimmer, beide aktuelle Freundinnen von Pauls Bruder, traten dort diesen Samstag mit einer Tanznummer auf. Es war ein ziemlich großes Ereignis, und bekanntlich trifft man sich bei solchen Ereignissen gern einmal zufällig. So etwas passiert ständig. Und wenn man sich dann so zufällig über den Weg läuft, dann muss man auch ein paar Worte wechseln, alles andere wäre unhöflich. Ein paar freundliche, beiläufige Worte, am besten Worte zu einem neutralen Thema, einem Thema wie der Arbeit.

»Und du kanntest Frau Straumann persönlich? Jetzt erzähl doch mal, Urti. Was war sie für ein Mensch? War sie tatsächlich so eine geldgierige Femme fatale, wie man jetzt überall liest? Warum hat sie ihren Gatten so sehr gehasst? Mensch, Urte, jetzt erzähl doch endlich!«

Für einen Moment schien sie überrascht von seinem plötzlichen Interesse, aber seine Schwester wäre nicht seine Schwester gewesen, wenn sie sich die Gelegenheit zum Tratschen hätte entgehen lassen. Sofort beugte sie sich über das verschnörkelte Metall des Tischchens und flüsterte: »Also, zunächst: Bernice Straumann war schon Herrn Straumanns zweite Gattin. Seine erste Frau war nur vier Jahre älter als ich, sie haben auch während des Krieges geheiratet. Sie war unglaublich lieb, einer der freundlichsten, warmherzigsten Menschen, denen ich je begegnen durfte. Wirklich, sie war ganz reizend. Es war auch so nett, weil wir beide fast gleichzeitig in andere Umstände kamen, ihr Hans ist nur vier Tage jünger als mein Hildchen, das muss man sich mal vorstellen. Wir haben immer gewitzelt, dass die beiden eines Tages heiraten. Das wäre auch so geschickt, weil nämlich die Withmann bei Straumanns direkt an den Feldern vorbeifließt, die haben dieses Problem mit der Bewässerung nicht … Aber das tut jetzt nichts zur Sache, kurz vor Weihnachten 22, da hat sie jedenfalls die Grippe gekriegt, Frau Straumann meine ich, und es ist auf die Lunge gegangen, und während der Raunächte, da ist sie gestorben. Wir konnten es alle gar nicht fassen. Herr Straumann und der Herr Doktor haben getan, was sie konnten, aber der Körper war wohl noch zu schwach, wegen der erst kurz vorher stattgefundenen Geburt. Es war furchtbar.« Urte schüttelte den Kopf. Sie tat es sehr vorsichtig, fast zögerlich – vermutlich, da sie sich gestern, wie jeden Freitag, neue Wasserwellen hatte legen lassen. »Herr Straumann war untröstlich, vollkommen am Boden zerstört. Der Herr Pastor riet ihm dann, doch nach Travemünde zu reisen. Es gibt ja wenig Besseres als eine Luftveränderung.«

Für die Gesundung des Staates glaubte seine Schwester fest an die Monarchie, für die Gesundung des Leibes an die Luftveränderung.

»Aber stell dir vor, was dann passierte: In Travemünde lernte er die gleichfalls verwitwete Bernice Wolfsburg kennen, Tochter eines Münchner Buttergroßhändlers, und diese Buttergroßhändlerstochter, die hat er dann geheiratet. Einfach so, er hat nicht einmal das Trauerjahr verstreichen lassen! Er hat sie noch in Travemünde geehelicht, in einer wildfremden Kirche. Dabei hat Herr Straumann sogar einen Halbbruder, der Pastor ist. Der hätte ihn bestimmt getraut, auch in dieser unpassenden Eile. Aber er hatte vollkommen den Verstand verloren.«

»Na ja, wenn man jemanden wirklich liebt, da hat man es manchmal eilig. Da macht man eben manchmal dumme Sachen.«

»Ach, Carl, sprich nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst. Es war schlicht geschmacklos. Wir konnten es erst gar nicht recht fassen. Sie war nicht einmal besonders hübsch. So gewöhnlich, mit Brillanten am Frühstückstisch, aber dann Krokodilleder nach fünf Uhr. Und keinerlei Zucht beim Personal. Wenn man bei Straumanns zum Essen eingeladen war, da konnte man davon ausgehen, dass die eine Hälfte kalt und die andere unpünktlich auf den Tisch kamen. Man muss ja dann auch noch immer höflich bleiben, ständig absagen gehört sich auch nicht. Es war wirklich ein Jammer. Uns allen war rasch klar, dass sie den unglücklichen Herrn Straumann nur des Geldes wegen geehelicht hatte. Nur er selbst war vollkommen vernarrt in dieses Persönchen. Nicht, dass sie ihm das gedankt hätte! Letztes Jahr im Frühjahr, da gab es das erste Mal Gerede. Es war auf dem Verlobungsball meiner Freundin Gretchen von Keller, die damals aber noch von Stein hieß, als der mittlere der von-Stein-Söhne, der ansonsten wirklich ein sehr anständiger junger Mensch ist, mit Frau Straumann für mindestens eine Stunde in die Bibliothek verschwand, angeblich um ihr einen seltenen Folianten zu zeigen. Damit fing es an, dann kam der Heinrich Siedler, dann der jüngste der von-Stein-Söhne, und dann stellte Herr Straumann diesen neuen Verwalter ein. Max Bayer, ein Westpreuße und wirklich ein Bild von einem Mann. Blond und breit und mit einem prächtigen Schnurrbart, konnte reiten wie der Teufel. Natürlich entstand unter den Mädchen und Mägden erst einmal eine ungesunde Aufregung, und ich habe noch zu meiner Freundin Gretchen von Keller gesagt: So ein Mann, der hat im Personal nichts verloren. Das gibt nur Scherereien. Aber er hielt sich überraschend gut, zumindest dachten wir das, bis dann im Herbst das wahre Ausmaß der Katastrophe bekannt wurde. Es war nämlich während des Erntedankgottesdienstes, als Frau von Stein mir erzählte, ihre Zofe habe ihr erzählt, Frau Straumann selbst würde mit dem Verwalter …« Seine Schwester schnurrte geradezu vor Vergnügen. »Aber das war ja noch nicht alles. Sie ließ sich Pariser Wäsche kommen, das hat mir der Postbote selbst erzählt, und einmal, als Herr Straumann in Berlin im Krankenhaus war, da blieb Bayer die ganze Nacht. Sie haben gemeinsam im Bett gefrühstückt! Der Bayer war ihr schon genauso verfallen wie der unglückliche Herr Straumann. Deshalb hat er es auch gemacht. Ich meine, Herrn Straumann getötet. Ich kann mir nicht erklären, was die Männer an dieser Person finden – sie ist nicht einmal blond!«

»Es war bestimmt das Frühstück im Bett.«

Einmal, ganz am Anfang noch, er hatte gerade an der Schauspielschule angefangen, da hatte Paul ihm warmen Kaba ans Bett gebracht. Er brauchte nur die Augen zu schließen, und schon war der Geschmack wieder da. Nicht nur das zuckrige Kabapulver, am Rand der Tasse hatte er einen Hauch von bitterer Spülseife geschmeckt, und vermutlich war Paul die Milch etwas angebrannt. Das Porzellan hatte warm in seinen Händen gelegen, und Paul hatte getan, als sei das alles nichts, hatte rauchend am Fenster gestanden, betont lässig, ganz gleichgültig gegenüber diesem blonden Jungen auf dem Bett, und Carl hatte kleine Schlucke genommen. Und bei jedem Schluck hatte er sich wieder geschworen, niemals würde er Paul gehen lassen. Niemals!

Dieses ewig schlecht rasierte Kinn, die Sommersprossen, das schüchterne Grübchen, vor allem das schüchterne Grübchen, diese schwarzen Augen, Schlupflider, blonde Wimpern und unsichtbare Brauen, das im Nacken zu einem M auslaufende Karottenhaar, die Granatsplitternarben an Schultern und Rücken, die Hammer-und-Sichel-Tätowierung auf dem linken Oberarm, die O-Beine, all das sollte ihm gehören!

Und er würde nicht teilen.

Nein, sie teilten nicht!

Warum nur konnte Paul ihm denn nicht vertrauen?

Er hatte ihm doch nie Grund zu Misstrauen gegeben – also gut, letzte Woche Freitag, diese Geschichte mit dem Champagner und diesem Bubikopffräulein im Kunstseidenrock, die war unglücklich gewesen, und überhaupt diese ganze Premierenaffäre –, welcher Journalist hatte sich nur dieses bekloppte Wort einfallen lassen? Aber wenn Paul ihn nur hätte ausreden lassen, er hätte es doch erklärt.

Was konnte er tun, um Paul zurückzubekommen?

Er musste ihn so dringend wiederhaben.

»Ich bin ganz sicher, es war das Frühstück im Bett. So etwas ist tückisch.«

»Meinst du?« Seine Schwester schien wenig überzeugt, aber die verstand auch von der Liebe jenseits von Pflichterfüllung mal rein gar nichts, stattdessen fing die wieder mit den Straumanns an: »Wir haben uns alle gefragt, ob Herr Straumann tatsächlich so naiv war und nichts merkte oder ob er einfach nichts merken wollte? Ich glaube ja, er war zu schwach, um sich den Konsequenzen zu stellen. Weißt du, Herr Straumann war krebskrank. Er hatte das mütterlicherseits im Blut. Er muss furchtbare Schmerzen ertragen haben. Sie haben ihm Morphium gegeben, aber es half kaum mehr als Kopfwehmittel. Das ist mir manchmal ein Trost, ich meine, dass er auf diesem Weg wenigstens schnell gestorben ist. Weihnachten hätte er bestimmt auch so nicht mehr erlebt. Carl, was grinst du derart unerzogen? Was soll dieses exaltierte Benehmen?«

Carl aber war schon wieder in Gedanken versunken.

Ha, Paul würde verblüfft sein ob seines kriminalistischen Spürsinns – und der Klingenberg und seine lächerlich langen Beine wären abgemeldet! Schließlich spielte er nicht umsonst schon seit zwei unerträglich ähnlichen Filmen den Comte LeJuste, den erfolgreichsten Ermittler von ganz Paris.

Er wusste nun, was er zu tun hatte.

Der Mann war wieder da.

Er lehnte am Zaun zu Jelitscheks Garten und tat nichts. Er starrte einfach nur zu ihr hinüber, genau wie er es gestern, genau wie er es vorgestern getan hatte.

Isabella Leiser hörte nicht auf zu singen, aber sie wurde etwas lauter. Obwohl es bereits auf sieben Uhr zuging, sang sie »Danke für diesen guten Morgen«, denn das war das einzige Lied, das sie mochte und das ihr für eine Pastorengattin in der Öffentlichkeit zu singen schicklich erschien.

Mit sicheren, weitausholenden Schritten, ganz als hätte sie den Fremden nicht bemerkt oder als wäre er ihr egal, ging sie zu den Erdbeerbeeten, verschob mit dem Fuß etwas das die Pflänzchen umgebende Stroh, kontrollierte den Reifegrad der Sauerkirschen, die Fortschritte der Johannisbeeren.

Die Pfingstrosen waren schon sehr weit.

Normalerweise wäre sie nun zum Fliederbusch gegangen, hätte sich dort einen Moment auf die Bank gesetzt, die letzte Abendsonne genossen, aber dafür hätte sie dem Fremden den Rücken zukehren müssen.

Der schlafende Hans, den sie halb auf dem Arm, halb auf ihrem geschwollenen Bauch trug, wurde ihr schwer. So ein Dreijähriger hat ein ganz ordentliches Gewicht, vor allem, wenn einem nicht die Zeit gegeben wird, sich langsam an dieses Gewicht zu gewöhnen. Aber er war so ein liebes Kind und trotz all seines Unglücks fröhlich!

Was verstand ein Dreijähriger auch vom Tod?

Und jetzt war er ja bei ihnen, jetzt würde er nicht darunter zu leiden haben, der Sohn eines Mordopfers und der Stiefsohn einer Mörderin zu sein.

Sie würde schon gut auf ihn aufpassen.

Der Mann stand einfach da.

Er trug einen umgearbeiteten Armeemantel und starrte sie an.

Aus der Küche konnte sie Thomas’ Schreibmaschine hören, er schrieb die morgige Predigt ins Reine.

Am Anfang hatte sie geglaubt, der Mann würde einfach verschwinden, wenn sie ihn nur nicht beachtete, und die letzten zwei Nächte hatte sie Gott auch voll Inbrunst darum gebeten. Und sie hatte darum gebeten, dass Thomas dem Mann nicht begegnen würde. Davor hatte sie fast am meisten Angst, denn was würde dieser Fremde ihm erzählen?

Warum konnte Jakob sie nicht einfach in Ruhe lassen?

Warum musste er gerade jetzt auftauchen?

Und warum schickte er diesen Fremden?

Noch immer war die Schreibmaschine zu hören. In der Ferne bellten Hunde, Jelitscheks Kanarie jubilierte vor Einsamkeit und Langeweile, der Kies unter ihren Füßen knirschte.

Sie fröstelte.

Der Mann stierte unbewegt. Wie zu einer Salzsäule erstarrt, stand er da.

Vielleicht war es aber auch ganz harmlos? Sonntags kamen oft unerwartet Geschwister, Eltern oder auch Frauen und ehemalige Bräute von Thomas’ Schäfchen, denen kochte sie dann Malzkaffee, bot Rosinenteilchen an, und Thomas sprach mit ihnen, mit dieser wunderbar sanften Stimme. Und manchmal führte sie Thomas noch zur Anstalt, aber das kam eher selten vor. Die Gäste wollten es gar nicht so genau wissen.

Man muss die Toten begraben, hatte neulich einer gesagt, wohl als Begründung, in Zukunft nicht mehr kommen zu müssen, denn ein Verrückter ist ja fast ein Toter.

Thomas mochte das Wort »Verrückte« nicht, auch »Irre« missfiel ihm. Wenn sie über seine Anstaltsschäfchen sprachen, dann nannten sie sie fast immer beim Namen, beim Vornamen, denn so spricht man von guten Freunden.

Jetzt schwieg auch die Schreibmaschine, vermutlich trank Thomas einen tapferen Schluck von der Karlsbader Kaffeegewürzbrühe und klaute sich eins der Abendessenradieschen? So früh im Jahr waren die Radieschen noch abgezählt, er würde es nachher auf die Katze schieben. Ein Herr Pastor, der Radieschen stibitzt, hat man so was schon gehört?

Warmer Kinderspeichel durchweichte den Kragen ihrer Bluse.

Sie würde nicht zulassen, dass Jakob ihr Leben zerstörte.

Ihr war schon klar, warum er gerade jetzt auftauchte!

Aber vielleicht war der Mann ja gar kein Bote Jakobs, vielleicht war er nur der sehr schüchterne Bruder eines von Thomas’ Schäfchen?

Entschieden drückte sie Hans fester an sich, sehr aufrecht schritt sie dem fremden Mann entgegen.

Das Messer sah sie zu spät.

Ausnahmsweise war Paul ziemlich dankbar, dass das Orchester so unerträglich laut lärmte, dass jede Unterhaltung von vorneherein weitgehend unmöglich gemacht wurde. Wenn es etwas gab, das er hasste, dann war es Konversation! Da ertrug er lieber die halbe Nacht ein Klingeln im Ohr. Das hasste er zwar auch, aber es war nicht ganz so schlimm.

Aber dieses nervige Klingeln im Ohr war einer der Gründe, warum er es unter normalen Umständen vermied, das Wintergarten Varieté zu besuchen. Die Tischchen standen ihm außerdem zu eng. Er hatte keine Lust, immer halb auf dem Schenkel irgendeines Fremden zu kleben, ständig in Sorge vor Verbrennungen durch unachtsam gehaltene Zigaretten, und schwofen, schwofen tat er auch nicht gern. Er tat es darüber hinaus – wie ihm Lou, das offensichtlich nicht mehr ganz aktuelle Mädchen seines Bruders, gerade bestätigt hatte – ausnehmend schlecht.

»Janz anders als der Willi!«, hatte sie geseufzt, und während er hinter ihr her zurück zu ihrem Tischchen geschlappt war, hatte er sich gefragt, was die Welt nur an diesem ganzen Amüsemang fand, an diesem ganzen Rumgehopse bis nachts um drei.

»War’s nett? Hat er mir Ehre gemacht?« Willi war aufgesprungen, rückte Lou sehr geschäftig und sehr zum Missfallen seiner hochaktuellen Friedel den Stuhl zurecht. Carl hatte einmal gesagt, Willi sähe aus wie ein gealtertes Milchferkel. Und obwohl Paul diese Unterstellung damals heftig zurückgewiesen hatte, wie der Bruder jetzt so im stramm gefüllten Smoking um dieses kleine blonde Fräulein Lou herumtänzelte, eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich wirklich nicht leugnen – besonders das rote Borstenhaar.

»Willi, Darling, er war janz furchtbar! Er hat mich die Schuhe verdorben.« Ein strassfunkelnder Finger deutete sehr anklagend auf Paul. Sie war schon im Bühnenkostüm, in einem Maße glitzernd und glänzend; es tat in den Augen weh. »Er hat mir jetreten. Er kann nich mal einen Charleston!«

Empörte Augenpaare richteten sich auf ihn, und er wünschte sich einmal mehr, er wäre einfach zu Hause geblieben, hätte in der stillen Küche seiner Zimmerwirtin gesessen, sich von ihr Schmalzbrote streichen lassen und zugehört, wie sie von ihrem bei Verdun gefallenen Sohn erzählte. Dort, im Kohl- und Speckgeruch dieser Küche, verlangte wenigstens niemand, dass er seine Beine irgendwie rhythmisch verknotete, herumflirtete und dabei noch so tat, als mache ihm die ganze Chose Spaß.

Es war sowieso vollkommen idiotisch gewesen herzukommen, genauso idiotisch wie sein Besuch der langweiligen Klingenbergvernissage. Da war Carl noch nicht einmal erschienen, und er, Vollidiot, der er war, er hatte extra Dienst getauscht, um nur ja pünktlich zu kommen, nur damit Viktor ihn dann mit Fragen über seine Arbeit langweilte. Carls Schwester war auch auf der Ausstellung gewesen, er hätte eigentlich gern mit ihr gesprochen, gefragt, wie es Carl ginge, nur der lästige Viktor ließ ihn mal wieder keine Sekunde in Ruhe.

Wenigstens war Carl heute erschienen. Ganz der Filmstar, lümmelte er am besten Tisch, umgeben von nackten Frauenschultern, das Maßjackett hatte er schon vor einer Stunde abgelegt, teilte sich gerade mit einer mit Diamantenstirnband eine Opiumzigarette, wartete aber demonstrativ nur darauf, dass das Orchester die Pause beendete und er erneut mit so einem tizianrot gefärbten Bubikopf das Tanzparkett würde stürmen dürfen.

Carl amüsierte sich ganz offensichtlich blendend.

Er hatte Paul bisher nicht einmal bemerkt. Paul Genzer war 1,87m groß, hatte ein Schwimmerkreuz und besaß feuerrotes Haar, man musste sich sehr gut amüsieren, um ihn komplett zu übersehen.

Es war nicht so, dass Carl ihm in der Öffentlichkeit jemals viel Beachtung hätte zukommen lassen, das wäre zu gefährlich gewesen. Über 600 nach dem Unzuchtparagraphen abgeurteilte Männer gab es allein im Vorjahr, aber früher, früher hatte Carl stets einen winzigen Moment für ein heimliches Lächeln gefunden, war Carl manchmal wie zufällig an ihm vorbeigeschlendert.

Carl hatte gewollt, dass Paul mit zur Premiere von »Comte LeJuste – Geborgen im Mantel der Nacht« kam, natürlich nicht mit ihm auf dem roten Teppich, aber doch wie bei der Premiere letzten Herbst, im Publikum, in Blickweite Carls. Sogar ziemlich gebettelt hatte er, weil Carl Premieren hasste. Wenn Paul nicht zum Geburtstag seines Vaters nach München gefahren wäre, wenn er Carl nicht allein zur Premiere hätte gehen lassen, wäre dann alles anders gekommen?

Oder hätte er nur länger gebraucht, um zu begreifen, dass Carl ihn betrog?

Er hatte es ja noch nicht einmal glauben wollen, als er es schwarz auf weiß gedruckt sah – Donnerstag letzter Woche im Zug war das, auf der Heimreise, und seine Finger hatten feuchte Flecken auf dem Zeitungspapier hinterlassen.

Warum hatte Carl ihn betrogen?

Derselbe Carl, der zu kindischen und in ihrer hilflosen Verzweiflung rührenden Eifersuchtsanfällen neigte? Derselbe Carl, der noch am Donnerstagmorgen, am Morgen nach der Premiere, angerufen und halb gelangweilt, halb amüsiert über den Erfolg des Films berichtet, dann aber mit atemloser Primanerstimme gebeten hatte: Nimm doch wenigstens zurück das Flugzeug. Da bist du viel früher wieder zu Hause.

Da hatte er ihn schon betrogen gehabt.

Paul schüttelte den Kopf, was der Ober, der vor ihm stand und gerade nachschenken wollte, falsch verstand und ihn vor seinem leeren Glas hocken ließ.

»Wat hat der eijentlich?« Lous Stimme klang unangenehm schrill, aber vielleicht kam es Paul auch nur so vor, angesichts des Umstandes, dass man nun schon in seinem Beisein laut über ihn sprach. Noch ein paar Stunden, und jemand würde ein Sakko auf ihm ablegen.

»Er hat Liebeskummer. Das ist wegen seinen altmodischen Moralvorstellungen.« Willi machte eine vage Geste. Er war nicht ganz bei der Sache, weil seine Friedel ihm gleichzeitig mit der Zunge an den Ohren rummachte. »Musst ihn eben ein bisschen auf andere Gedanken bringen. Ich weiß doch, Baby, wie gut du das kannst. Auaa! Verdammt, was soll die Scheiße?« Friedel hatte ihn gebissen.

Geschah diesem verfetteten Milchschwein recht.

»Ich glaub, ich muss jetzt heim.« Es war so sinnlos, und außerdem hatte Paul sich gerade überlegt, dass der Inhalt seines Portemonnaies keinen weiteren Gin erlaubte, sonst konnte er seinen Mantel an der Garderobe nicht mehr auslösen.

»Ach, bleib doch noch einen Augenblick. Du musst doch Lous und meine Tanznummer ansehen. Bitte, Paul, bitte!« Friedel riss die schwer getuschten Wimpern in die Höhe und formte den rotbepinselten Mund zu einer Schmollschnute. »Was hast du denn? Komm, mir kannst du’s doch erzählen. Ist es die Kleene, die sich gerade so an den Bäumer ranschmeißt? War das dein Mädchen? Die Haare sind gefärbt. Kein Mensch hat von Natur aus so rotes Haar. Schau, deine Haare, die sind naturrot, und das, was von Willis Haaren übrig ist, das auch, aber der ihre, die sind gefärbt.« Sie beugte sich zu ihm, lächelte verführerisch, legte eine etwas feuchte Hand auf seine Wange, drehte sein Gesicht zu sich: »Nicht immer so in ihre Richtung starren, der Bäumer wundert sich, glaub ich, schon. Und jetzt lachen. Du amüsierst dich nämlich blendend. Guck mal, du sitzt mit den beiden heißesten Girls des ganzen Lokals am Tisch, und in nicht ganz dreißig Minuten werden diese hier eine Tanznummer hinlegen, die hat sich gewaschen, das versprech ich dir. Komm, du darfst mir eine Zigarette anmachen.«

»Übertreib’s nicht, und lass ihn in Ruhe, Friedel.« Willi ließ sein Zigarettenetui aufschnappen. »Türkisch, wie immer?«

»Nein, ich möchte eine von Pauls.«

»Ich hab nur Bulgaria Stern.« Und etwas unglücklich fügte Paul hinzu: »Ich würde eine von seinen nehmen. Meine schmecken wirklich scheiße.«

Im selben Moment begann das Orchester erneut zu lärmen. Friedel winkte ab, sie hatte sich gegen die Zigarette entschlossen. Sehr entschieden zerrte sie stattdessen an Pauls Schulter, schubste ihn halb von seinem Stuhl, flüsterte: »Das Nächste ist ein Foxtrott, das kannst du doch, oder?«

Er nickte, fügte sich in sein Schicksal. Die Tizianrote, die Friedel so hartnäckig für seine Verflossene halten wollte, hing gerade um Carls Hals, presste so ziemlich alles, was man pressen konnte, an Carls Brust.

»Nun red doch was, Paulken. Das ist ja furchtbar mit dir.« Aber sie sagte es nett und wich auch klaglos seinen Füßen aus. »Erzähl mir was. Du ermittelst in der Straumanngeschichte?«

»Ja.«

Er hatte keine Lust auf eine gebrüllte Unterhaltung, und außerdem: Da gab es nicht viel zu erzählen. Bernice Straumann war schuldig, davon war er überzeugt. Sie hatte natürlich nicht selbst geschossen, was schon allein deshalb nicht ging, weil sie sich zur Tatzeit in Ostpreußen aufhielt, aber sie war es gewesen, die den armen Max Bayer zum Mord an ihrem Gatten angestiftet hatte.

Armer Gottlieb Straumann.

Und armer Max Bayer, der vollkommen die Nerven verloren haben musste – anders jedenfalls konnte Paul sich die Tat nicht erklären. Warum beging man sonst ein so vollkommen dilettantisches Verbrechen? Oh, natürlich kannte Kommissar Paul Genzer mehr als genug ungeschickte Mörder. Sie begingen Morde, die im Affekt, die unter Rauschmitteleinfluss begangen wurden, bei ihnen auf dem Revier gab es sogar ein extra Aktenkürzel dafür: Mlb, das hieß Mörder liegt bei. Aber der Straumannmord war anders, Max Bayer war nicht dieser Proletarier, der im Brustton rechtschaffener Empörung einmal zu ihm gesagt hatte: Herr Kommissar, ick kann wirklich nüscht für. Ick hab se jeden Zahltag verkloppt, dat die jetzt hops is, dat is doch nicht meene Schuld!

Es ergab alles Sinn und dann wieder gar nicht. Zum Beispiel die Liebesbriefe, die Frau Straumann an den Verwalter geschickt hatte. Es war durchaus sinnvoll, dass dieser sie zu verbrennen versucht hatte. Aber warum nur zur Hälfte, warum in Herrn Straumanns Hotelzimmer statt später in aller Ruhe? Und woher hatte Max Bayer überhaupt gewusst, dass Gottlieb Straumann die Briefe mit nach Berlin genommen hatte? Woher, wo Straumann sie verbarg? Und wie war es dem Verwalter gelungen, die Briefe an sich zu nehmen, ohne dabei Fingerabdrücke an Straumanns Koffer, an Straumanns Sekretär zu hinterlassen, wo sie doch sonst überall im Hotelzimmer waren, wo er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sie von der Waffe zu wischen? Und da war schon das nächste Sorgenkind: Die Waffe! Warum eine Duellpistole? Und warum hatte Max Bayer sie aufgehoben? Jeder vernünftige Mörder warf seine Waffe in die Spree. Er hätte doch alle Gelegenheit dazu gehabt, den ganzen Freitagabend über hätte er das Ding loswerden können, statt sich daran abzuschleppen.

Wenigstens war sie klein und leicht, Bayer hatte nicht schwer getragen. Ein ungewöhnliches Stück, ziselierter Lauf und Perlmuttgriff. So ein Perlmuttgriff ist für die Spurensicherung was ganz Feines.

Warum verdammt eine Duellpistole?

Wenn er nur mit Carl über den Fall sprechen könnte! Nicht dass an Carl ein Kriminologe oder so verlorengegangen wäre, das nun ganz gewiss nicht. Aber Carl konnte gut zuhören, er saß dann sehr still auf der Lehne ihres Plüschsofas, schlang die Arme um die Beine und legte die Stirn in konzentrierte Linien. Das hatte immer furchtbar niedlich ausgesehen, wie ein Primaner bei einer komplizierten Rechenaufgabe. Und manchmal hatte Carl mit seiner etwas verqueren Weltsicht auch wirklich gute Ideen, das durfte man nicht vergessen.

Im Übrigen hing dieses Flittchen noch immer an Carl, strich ihm an den blonden Haaren herum. Da wünschte er ihr aber viel Vergnügen – seit Carl nämlich das Gesicht von Hörmann-Haarpomade war, nahm der immer viel zu viel von dem Zeug, da konnte man hinterher allein mit dem, was man an den Händen hatte, Tapete kleben.

»Paulken? Kann es sein, dass du stumm bist und nur vergessen hast, es jemandem zu sagen?«

Er zuckte die Schultern, führte sie an ihren Tisch zurück. Dort saß Willi sehr aufrecht, in sehr demonstrativer Entfernung von einem etwas angesäuert dreinblickenden Fräulein Lou, nippte mit Konfirmandenmiene an einem Whiskey on the rocks.

»Los, Lou. Wir müssen. Und Paulken? Paulken, du tanzt wunderbar. Ganz individualistisch. Also, wenn ich nicht vergeben wäre, dann könnte ich für nichts garantieren.« Friedel konnte es wohl trotzdem nicht, ihm keine Möglichkeit zur Flucht lassend, hatte sie sich schon zu ihm hochgestreckt, ihm einen Kuss auf den Mund gepresst, war mit einem »Sorry, Großer, dein Bruder ist einfach zu sexy« und Lou an der Hand hinter der Bühne verschwunden.

»Siehst du?« Willi blickte triumphierend. »Siehst du! Darum, aus genau diesem Grund fängt der schlaue Mann mit solchen leichtblütigen Geschöpfen nichts Dauerhaftes an. Habe ich dir von Anfang an gesagt.«

»Carl ist nicht leichtblütig.« Paul wusste selbst um die Schwäche seiner Behauptung. »Und selbst wenn Carl vielleicht manchmal etwas nervös oder flatterhaft erscheint, er ist eben erst zweiundzwanzig. Und ich finde, das gibt ihm etwas Charmantes.«

Eigentlich wusste er überhaupt keinen vernünftigen Grund, Carl zu verteidigen, aber Willi brauchte sich auch nicht so aufzuspielen.

»Ich sag ja nur, ich sag ja nur.« Selbstgefällig ließ Willi die Eiswürfel in seinem Glas klackern. »Wenn man sich für so was Charmantes entscheidet, dann darf man sich eben auch nicht wundern, wenn man mal jemanden im Schlafzimmer findet, der da nicht hingehört. Aber du, mein Brüderchen …« Ein speckiger Finger wackelte belehrend in der Luft. »Du, mein Brüderchen, bist dafür einfach nicht gemacht. Ich übrigens auch nicht. Darum habe ich meine Gusta geheiratet und keines dieser Girls.«

»Und ich dachte immer, du hättest deine Gusta geheiratet, weil Konrad unterwegs war.« Von Willi musste er sich nun wirklich keine Beziehungsratschläge geben lassen. »Oder weil ihr Vater schwarz schlachtet, was damals im vierten Kriegswinter auch seinen Reiz hatte.«

»Meine Gusta besitzt eben viele Vorzüge.« Vor Stolz schien das feiste Gesicht seines Bruders regelrecht zu glänzen, und entschieden knallte er sein geleertes Glas auf das Tischchen, erklärte: »Da drüben ist Muskel-Adolf, da muss ich guten Tag sagen. Du bleibst aber brav sitzen, weil wir haben auch Geschäftliches zu besprechen, und da störst du prinzipientreuer Vertreter der Polizei nur. By the way, er ist schlecht auf dich zu sprechen wegen der Arthur-Grönland-Verhaftung. Arthur und er kannten sich noch aus der Schule.«

»Das bricht einem ja das Herz. Richte ihm doch bitte aus, wenn ihm die Sehnsucht zu groß wird, darf er sich jederzeit vertrauensvoll an mich wenden. In Tegel ist immer ein Plätzchen für ihn frei. Und sag ihm, Baby Bert fährt auch bald ein. Da bin ich dran.«

»Du bist wohl lebensmüde? Wenn Baby Bert mit dir fertig ist, kannst du dir deinen Schwanz an den Eiern um den Hals hängen.« Willi machte eine obszöne Geste, lachte im Gehen rau über die Schulter. »Aber so wie du dich aufführst, brauchst du deine edelsten Teile eh so schnell nicht wieder. Ich glaub übrigens, dein blondes Gift hat Ersatz gefunden. Vielleicht kümmerst du dich erst mal darum?«

Tatsächlich.

Carl war plötzlich nicht mehr auf dem Tanzparkett!