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So magisch wie Merlin, so weise wie Sokrates, so friedlich wie Buddha ein alter Mann namens Baba gibt einem Jungen eine Unterweisung, ein viertägiges
Seelentraining. Er bekommt Antwort auf die Fragen, die vielen Menschen wichtig sind:
Habe ich eine Seele?
Was ist die stärkste Macht des Universums?
Wie werden Wünsche wahr?
Wie kann ich die Welt verändern?"
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Seitenzahl: 205
Deepak Chopra
Feuer im Herzen
Eine spirituelle Reise
Aus dem Amerikanischen von Ingrid Fischer-Schreiber
Diogenes
Für alle jungen Erwachsenen
von heute und morgen,
denn von ihnen hängt das Schicksal
der Welt ab
{5}Jedes Kind, das geboren wird,
ist der Beweis dafür, dass Gott
die menschlichen Wesen noch
nicht aufgegeben hat.
Rabindranath Tagore
Ein fünfzehnjähriger Junge steht hoch oben auf einem grünen Hügel, und sein Blick schweift über das Tal, das noch weitaus grüner und üppiger ist. Es erstreckt sich in Wellen, so weit das Auge reicht; der Junge hat den Eindruck, es würde nie enden.
»Siehst du?«, sagt eine Stimme.
Der Junge dreht sich um: Neben ihm steht ein alter Mann. Er trägt einen langen weißen Bart, und seine Augen leuchten.
»Ja, ich sehe«, sagt der Junge, aber sein Herz schlägt so schnell, dass er kaum sprechen kann.
»Ich möchte, dass du mir sagst, was du siehst. Ich muss ganz sicher sein können, dass du deine Lektion gut gelernt hast«, sagt der alte Mann.
Normalerweise hätte der Abschied dem Jungen das Herz gebrochen, denn er war davon ausgegangen, dass der alte Mann mit dem weißen Bart für immer bei ihm bleiben würde.
»Ich sehe, dass all das mein ist«, sagt der Junge. {10}»Ich gehöre dem Universum, und das Universum gehört mir.« Er streckt seine Arme aus, als wollte er alles in Besitz nehmen – die hohen Hügel, das grüne Tal, all die Jahre, die noch vor ihm liegen. Auch wenn es eigenartig klingt: Irgendwie besitzt er das alles ja auch.
»Vergiss das nie«, sagt der alte Mann. Er legt seine Handflächen aneinander und verbeugt sich voller Respekt. Der Junge tut es ihm gleich und verbeugt sich noch tiefer.
Das war das Letzte, was ich von ihm sah. Denn der Junge auf dem Hügel war ich, und innerhalb von vier kurzen Tagen – denn mehr Zeit verbrachten wir nicht gemeinsam – hatte der alte Mann mein Leben verändert. Jeden Tag beantwortete er eine Frage, und das ist es, was ich in diesem Buch beschreiben werde.
Habe ich eine Seele?
Wie gehen Wünsche in Erfüllung?
Was ist die höchste Kraft im Universum?
Wie kann ich die Welt verändern?
Das sind große Fragen, und als ich jung war und vor Idealismus strotzte, waren es für mich brennende Fragen. Ich wollte nicht nur einfach die {11}Antwort wissen – ich musste sie wissen. Es wird immer im Leben solch brennende Fragen geben, aber diese vier sind besondere Fragen, denn sie können in einem einen Funken entzünden. Und dieser Funke kann ein Feuer im Herzen entfachen, das dich dein Leben mit Begeisterung und Leidenschaft leben lässt.
Der alte Mann mit dem weißen Bart offenbarte mir die spirituelle Seite des Lebens, in der wahre Leidenschaft und Begeisterung wurzeln. Ich möchte von unseren gemeinsam verbrachten Tagen erzählen, bis ins kleinste Detail, damit auch ihr das bekommt, was ich bekam. Das vermag jeden zu verwandeln, egal, wo er sich befindet. Bevor ihr zu lesen anfangt, holt tief Luft. Es könnte sich herausstellen, dass diese Geschichte auch eure eigene Geschichte wird.
Die Schule, die ich besuchte, als ich fünfzehn war, lag auf einem grünen Hügel, hoch über einem noch grüneren, üppigeren Tal. Diesen Teil kennt ihr schon. Jeden Tag sah ich diesen herrlichen Anblick, außer an jenen Tagen, an denen dichter Nebel im Tal lag. An solchen Tagen ging ich am Morgen durch weiße Nebelfetzen zur Schule; es war, als würde ich durch Wolken gehen. Während ich an einem solch nebligen Tag die Straße entlangschlenderte, hörte ich die Stimme eines Fremden, die mich rief.
»Komm«, sagte die Stimme. »Ich habe auf dich gewartet.«
Die Stimme schien aus einer anderen Welt zu stammen. Vermutlich seid ihr auch schon einmal durch Nebel marschiert und wisst, was für eine ganz besondere Stille er rund um einen entstehen {14}lässt: Es ist, als wäre man in einen Kokon gehüllt. Ein alter Mann saß unter dem größten, knorrigsten Baum neben der Straße.
»Baba, ich bin auf dem Weg zur Schule«, sagte ich. »Du wartest wahrscheinlich auf jemand anderen.« Ich bin in Indien aufgewachsen, und Baba ist dort eine respektvolle Anrede, mit der man Menschen anspricht, die als besonders weise oder heilig gelten.
»Wir müssen reden«, sagte der Mann kurz angebunden. Ich ging näher. Baba saß auf dem Boden, mit gekreuzten Beinen. Sein Bart war fast so weiß wie die makellosen Baumwollhosen und das Hemd, das er trug.
»Du bist jetzt alt genug, um gewisse Dinge zu erfahren«, sagte er, ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten. »Und wer sonst sollte sie dir beibringen?«
Mir lief ein Schauer über den Rücken. »Was für Dinge?«, fragte ich.
»Unsichtbare Dinge. Geheime Dinge.« Plötzlich lachte Baba. »Wie geheimnisvoll muss ich denn noch klingen, damit du mir zuhörst?«
Schnell hatte ich die Schule vergessen. Alle möglichen Bilder tauchten vor meinem inneren Auge {15}auf. Der alte Mann, der mit gekreuzten Beinen und aufrechtem Rücken dasaß, sah wie der Buddha aus, der Erleuchtung erlangte, als er unter einem Baum saß. Aber mit seinem langen weißen Bart wirkte Baba auch wie ein Zauberer, er erinnerte mich an Merlin, und das Leuchten in seinen Augen sagte mir unmissverständlich, dass er weise sein musste, wie Sokrates.
»Ich verlange nicht viel. Gib mir nur einen Tag Zeit«, versuchte Baba mich zu überreden.
Zögernd setzte ich mich neben ihn unter den knorrigen, schiefen Baum. In der Wärme der Sonne löste sich der Nebel langsam auf. Zwischen den Nebelfetzen konnten wir die grünen Teeplantagen erkennen, die Tal und Hügel in der Umgebung bedeckten.
»Das wird nicht so sein wie in der Schule«, sagte Baba. »Ich werde dich eine neue Art, die Welt zu sehen, lehren, eine neue Art, zu sein.«
Er deutete auf die Landschaft. »Was siehst du? Ich meine, jetzt, in diesem Moment?«
»Ich sehe dich und diesen Baum, und ich sehe den Nebel, der langsam aus dem Tal aufsteigt.«
Baba lehnte sich näher zu mir. »Willst du wissen, was ich sehe? Ich sehe deine Seele.«
{16}Der alte Mann zog mich mehr und mehr in seinen Bann.
»Ich sehe eine Welt, die auch dir zu eigen sein wird. Ich sehe die Ewigkeit.« Baba hielt inne, und ich fühlte wieder, wie mir ein Schauer über den Rücken lief. »Glaubst du mir?«, fragte er.
»Ich möchte dir glauben, aber ich kann nichts von dem sehen, was du da beschreibst«, sagte ich.
»Natürlich nicht. Dazu brauchst du eine neue Art, die Dinge zu sehen, und deswegen musste ich dich finden«, sagte er. »Noch ein paar Jahre, und du wärst vielleicht verloren gewesen. Die alten Gewohnheiten sind schwer zu durchbrechen.«
Ich war damals in einem Alter, in dem man gern tagträumt. In Wirklichkeit hatte ich Baba deswegen nicht bemerkt, weil ich auf dem Schulweg vollkommen in meinen Gedanken versunken war. Nun schien es mir, als hätte ich im Nebel eine Vision heraufbeschworen.
Die Augen des alten Mannes wurden durchdringender. »Ich spreche nicht von Phantasien oder rosaroten Wolken. Du musst verstehen, wie die Wirklichkeit funktioniert. Nur was wirklich ist, hat auch Macht, auch wenn es wie Zauberei aussieht.«
{17}»Okay«, sagte ich. Ich hatte das unangenehme Gefühl, als hätte er gemerkt, dass ich mich insgeheim fragte, ob er nur Einbildung sei.
»In Wirklichkeit ist die Ewigkeit überall«, sagte Baba. »In Wirklichkeit ist deine Seele da, damit du sie erfahren kannst. Ich werde dir zeigen, was ich meine.«
Er beugte sich vor und nahm eine Handvoll Sand neben der Straße auf. »Fühl mal«, sagte er. »Wie ist dieser Sand beschaffen?«
Er ließ ein bisschen Sand in meine Hand rieseln. »Er ist rauh und spitz und körnig«, sagte ich. »Und er ist warm von der Sonne.«
»Würde es dich überraschen, wenn ich dir sagte, dass nichts davon wirklich existiert?«
Ich war verwirrt. »Natürlich ist das wirklich.«
»Aber Sand besteht aus Molekülen«, sagte Baba. »Und Moleküle sind weder rauh noch spitz, noch körnig. Ich könnte Sandmoleküle nehmen und sie in Glas verwandeln, und Glas ist vollkommen glatt. Natürlich existieren auch die Moleküle nicht wirklich.«
»Was heißt, sie existieren nicht wirklich?«
»Weil sie ihrerseits aus Atomen bestehen, und Atome sind nichts als unscharfe Wolken aus {18}Energie. Du kannst sie weder sehen noch berühren. Aber genau auf diese Weise messen wir doch normalerweise wirklich existierende Dinge: indem wir sie sehen und berühren, nicht wahr? Und so gesehen, ist auch Energie nicht wirklich.«
Ich hatte inzwischen nicht mehr das Bedürfnis, etwas zu erwidern; das war einfach eine vollkommen neue Art, Dinge zu sehen, genau, wie er versprochen hatte.
»Energie vibriert überall im Universum«, sagte Baba. »Aber Energie entspringt aus der Leere, und diese Leere ist weit und still. Du wirst nicht wissen, was wirklich ist, solange du nicht dort gewesen bist. Sollen wir uns auf den Weg machen?«
Er ließ den Sand durch seine Finger rieseln, und einen Moment lang war mir, als würde ich jemanden beobachten, der die ganze Welt durch seine Finger rieseln lässt – die Welt, in der ich zu leben glaubte.
»Das ist sehr seltsam«, murmelte ich.
»Die alten Gewohnheiten scheinen also schon nicht mehr ganz so gewiss zu sein«, sagte er und schien erfreut zu sein. »Was wird übrig bleiben, wenn alles Feste vor deinen Augen verschwindet?«
»Nichts«, sagte ich.
{19}»Nichts!«, wiederholte er. »Das stimmt genau. Aber sobald wir durch dieses Nichts hindurchgegangen sind, wird sich dieses Nichts in alles verwandeln – in deine Seele, in Gott, in eine unendliche Welt, die deine Welt sein wird. Machen wir uns jetzt auf den Weg?«, fragte er wieder.
»Ja, gehen wir«, sagte ich.
Was ich gelernt habe: Spiritualität ist eine neue Art und Weise, zu sehen und zu sein. Als Baba mir das sagte, sagte er mir im Grunde alles, was ich zu wissen brauchte. Es war nicht einmal notwendig, das Wort Spiritualität zu verwenden. Worte sind niemals so wichtig wie die Wirklichkeit selbst, und was wirklich ist, ist, dass du und ich auf atomarem Niveau wie wandernde Wolken sind. Atome sind in viel größerem Ausmaß leer, als sie fest sind, was bedeutet, dass auch wir wesentlich mehr leer als fest sind (ein Mensch besteht zu mehr als 99,999999 Prozent aus leerem Raum; der Raum zwischen Erde und Sonne ist im Vergleich dazu wesentlich kleiner).
Auf der Oberfläche wirken zwar alle Dinge ganz beruhigend und fest, aber auf einer Ebene direkt darunter sollten wir uns eigentlich alle {20}auflösen und im Nebel dahinschweben. Dass wir es nicht tun, liegt daran, dass wir nicht wirklich leer sind. Es gibt ein unsichtbares Etwas in uns, das der Entdeckung harrt.
»Eine geheimnisvolle Kraft hält die Dinge zusammen und bildet Muster aus den Energiewolken«, hatte mir Baba gesagt. »Du solltest herausfinden, was diese Kraft ist.«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil sie überall ist. Sie ist feiner als das kleinste Atom. Sie ist subtiler als die subtilste Energie. Sie ist wirklicher als alles, was du je gesehen hast. Sie ist nicht mit einer physikalischen Kraft wie der Schwerkraft oder Elektrizität zu vergleichen«, sagte er. »Ohne dieses unsichtbare Etwas gäbe es kein Universum. Und dich auch nicht.«
So begann also alles: Ein Junge und ein alter Mann begaben sich auf die Jagd nach einem unsichtbaren Etwas, das auch dann noch wirklich ist, wenn alles andere verschwunden ist. Erst Jahre später, als Erwachsener, las ich zufällig ein paar Zeilen, die das, was wir suchten, auf vollkommene Weise beschreiben. Sie stammen von dem Dichter William Blake, und du könntest diese Zeilen als das Motto dieses Buches bezeichnen:
{21}Sieh eine Welt in einem Körnchen Sand
und einen Himmel in der wilden Blume,
greif das Unendliche mit deiner Hand,
und fühle Ewigkeit in einer Stunde.
»Solange wir unseren Augen glauben, werden wir nie etwas Unsichtbares finden können«, sagte Baba. »Die meisten Menschen tun das aber die ganze Zeit. Es ist eine schlechte Gewohnheit.« Er zeigte auf einen Stein, der hinter ihm auf dem Boden lag.
»Auch wenn dieser Stein in Wirklichkeit eine Wolke aus Energie ist, sieht er doch sehr solide und schwer aus, oder nicht?«
»Ja, weil er solide und schwer ist. Eine Wolke würde dich nicht verletzen, wenn sie dir auf die Zehen fällt«, sagte ich.
»Aha, du vertraust also deinen fünf Sinnen«, sagte Baba. »Warum auch nicht? Schließlich ist die Erde ja flach, so wie deine Augen sie wahrnehmen.«
»Nun ja, nicht ganz, diese Behauptung zum {22}Beispiel würde ich nicht unterschreiben«, sagte ich.
»Aber die Sonne bewegt sich doch über den Himmel und geht am Abend im Westen unter, oder etwa nicht?«, sagte Baba.
»Nein, es sieht nur so aus«, gab ich zu.
»Du hast dir also schon angewöhnt, deinen Augen nicht hundertprozentig zu trauen«, sagte Baba mit einem ganz speziellen Lächeln. Irgendwann begann ich, dieses Lächeln sein Ich-habe-ein-Geheimnis-Lächeln zu nennen, und man konnte nie wirklich voraussagen, wann es wieder auftauchen würde.
»Es kann ja sein, dass ich mich nicht immer auf meine Augen verlassen sollte, aber wie kann ich auf etwas vertrauen, was ich überhaupt nicht sehe?«, fragte ich.
»Ich erzähle dir eine Geschichte, um dir auf die Sprünge zu helfen«, sagte Baba. »Eines Nachts, während du schliefst, begann dein Körper zu sich selbst zu sprechen. Das Herz sprach als Erstes: Ich bin es leid, den ganzen Tag Blut für den Magen zu pumpen. Wie komme ich eigentlich dazu? Ich sollte nur für mich selbst arbeiten.
Als der Magen das hörte, antwortete er: Du {23}brauchst dich gar nicht zu beschweren. Ich verdaue die ganze Nahrung für das Gehirn. Es nimmt alles, was ich gebe, und ehrlich gesagt: Ich sollte eigentlich auch nur für mich arbeiten.
Als das Gehirn das hörte, sagte es: Ich denke die ganze Zeit darüber nach, was man dem Magen zuführen könnte. Ist dir klar, wie leicht so ein Magen durcheinanderkommt? Wenn irgendjemand nur für sich selbst arbeiten sollte, dann bin ich es.
Es ist nicht schwer, zu verstehen, warum dieser Streit dumm ist«, sagte Baba. »In Wirklichkeit arbeitet jeder Teil des Körpers für alle anderen. Wie erkennst du das? Mit deinem Geist. Wissen geht über die Sinne hinaus. Ich werde dich lehren, mit deinen geistigen Augen zu sehen. Dann wird es dir nicht schwerfallen, Unsichtbares zu erkennen.«
Was ich gelernt habe: Um ein spirituelles Leben zu führen, muss ich an etwas Unsichtbares glauben. Baba lehrte mich das von Anfang an. Zuerst muss man aufhören, darauf zu vertrauen, dass die fünf Sinne recht haben. Diese Gewohnheit ist schwer zu durchbrechen, weil unser gesunder Menschenverstand uns sagt: Ich will es sehen, ich will es berühren, ich will es schmecken – dann weiß ich, {24}dass es wirklich ist. Aber ich kann dich jetzt sofort etwas schmecken lassen, was vollkommen unsichtbar ist.
Schließe deine Augen, und stell dir einen leuchtendroten Apfel vor. Sieh jetzt ein Messer, das den Apfel in Spalten schneidet, und sieh dich dann selbst, wie du in eine dieser Spalten beißt. Hast du gemerkt, dass dir schon das Wasser im Mund zusammengelaufen ist? Was hier geschieht, ist genau das, was passiert, wenn du tatsächlich in einen Apfel beißt. Was es dazu brauchte, war ein geistiges Bild, das du aus dem Nichts erschaffen hast, und plötzlich trat dein Körper in Aktion. Millionen von Zellen in deinem Gehirn haben das Bild geformt; ein Signal wurde über das Netzwerk aus Nerven in deinem Kopf an deinen Mund weitergeleitet; deine Speicheldrüsen empfingen die Botschaft und begannen Speichel zu produzieren.
Aus diesem einfachen Experiment ergeben sich ein paar erstaunliche Tatsachen:
Es gab zuerst kein Bild eines Apfels in deinem Kopf. Als du an einen Apfel gedacht hast, haben deine Gehirnzellen kein Bild eines Apfels gemalt oder es auf einen Schirm projiziert. Dein Gehirn ist so dunkel wie die finsterste Höhle – da drinnen {25}gibt es weder Licht noch Farbe. Wo kam das Bild dann später her?
Es gab zuerst keinen Apfelgeschmack in deinem Mund. Du hast keinen echten Apfel geschmeckt. Deine Speicheldrüsen, die deiner Meinung nach Nahrung brauchen, um überhaupt eine Reaktion zeigen zu können, brauchten in diesem Fall überhaupt nichts. Woher kam dann das Säuerliche?
Es kam von irgendeinem geheimnisvollen Ort. Von einem Ort, zu dem mich Baba Schritt für Schritt führte.
»Nehmen wir einmal an, du glaubst, es gäbe da wirklich etwas im Universum, was du nicht sehen kannst«, sagte Baba. »Was tut dieses Etwas? Wenn es nichts zu tun hätte, dann könntest du es zwar Gott nennen – unser Leben würde aber trotzdem so bleiben, wie es immer war. Die Menschen würden es wahrscheinlich gar nicht der Mühe wert finden, es zu suchen.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich.
Die Sonne stand schon höher am Himmel, und {26}wir saßen gemütlich im kühlen Schatten des Baumes. Hin und wieder musste ich an die Schule denken, die ich gerade versäumte, aber solange ich Baba zuhörte, waren auch diese Sorgen weit weg.
»Es ist also ein ganz schön kniffliges Rätsel, herauszufinden, was dieses unsichtbare Etwas tun könnte.« Baba tat einen tiefen Atemzug. »Komm schon, mach es mir nach«, sagte er. »Die Antwort ist hier, sie wartet nur darauf, entdeckt zu werden.«
Also atmete auch ich tief ein. »Ich bemerke aber nichts«, sagte ich.
»Liegt da nicht etwas in der Luft?«, fragte Baba. »Es ist der Frühling. Das musst du doch spüren. Wenn die Vögel beginnen zu zwitschern und die Bäume Knospen tragen, wenn das Herz flattert und du Liebende im Park Händchen halten siehst, liegt dann nicht der Frühling in der Luft?«
»Ja, schon, aber…«
»Also, warum ist es Frühling? Es gibt keinen Grund dafür. Die Erde neigt sich ein paar Grad um ihre Achse – na und? Aber im arktischen Schnee weiß der Eisbär, dass es Zeit für ihn ist, aus dem Winterschlaf zu erwachen. Die Blumen wissen, dass es Zeit ist zu sprießen, ohne Angst haben {27}zu müssen, zu erfrieren. Heuschrecken, die sieben Jahre lang in der Erde vergraben waren, wissen, dass es Zeit ist herauszukrabbeln. Wie kann eine kleine Neigung der Erdkugel das alles bewirken?«
Bevor ich überhaupt beginnen konnte zu raten, sagte er: »Ich werde dir etwas zeigen. Stell dir vor, du bist ein Vogel. Du denkst nicht über den Frühling nach. Du denkst überhaupt nicht in Worten. Wie weißt du, dass es Zeit ist, wieder nach Norden zu fliegen und dich zu paaren?«
»Frühlingsfieber?«
»Nicht schlecht«, sagte Baba. »Nennen wir es einen Impuls, der sich nur im Frühling einstellt. Ein Impuls scheint durch jedes Wesen zu gehen. Die Heuschrecke, der Eisbär, die Blume und der Vogel leben weit voneinander entfernt, aber sie fühlen denselben Impuls, jeder auf seine Art und Weise. Selbst in den dunkelsten Tiefen des Meeres, wo nie ein Sonnenstrahl hinkommt, weiß der Pfeilschwanzkrebs, dass es Zeit ist, Hunderte von Meilen ans Ufer zu marschieren, und in einer einzigen mondhellen Nacht tauchen plötzlich Millionen von Pfeilschwanzkrebsen auf. Unglaublich.
Diesen Impuls aussenden – das ist es, was dieses Etwas tut. Es hält das Leben zusammen. Das ist {28}sein Job. Aber wir können jetzt aufhören, es ›Etwas‹ zu nennen«, sagte Baba. »Sobald du weißt, was diese unsichtbare Kraft tut, kannst du sie bei ihrem rechtmäßigen Namen nennen.«
»Und was ist ihr rechtmäßiger Name?«, fragte ich.
»Die Seele.«
Was ich gelernt habe: Menschen können unendlich viele Dinge über die Seele sagen, aber Baba konzentrierte sich auf einen Aspekt: Die Seele ist der ›Klebstoff‹, der das Universum zusammenhält. Aber sie klebt nicht nur, sondern ist auch intelligent. Das Universum wird auf drei unsichtbare Arten zusammengehalten:
Alles ist miteinander verbunden.
Alles sorgt für alles andere.
Alles befindet sich in Harmonie mit dem Ganzen.
Dein Körper ist ein lebendes Beispiel dafür, wie diese drei Dinge funktionieren. Eine einzige Zelle, die nicht mit den anderen verbunden ist, sondern nur selbstsüchtig auf sich selbst schaut und sich weigert, in Harmonie mit dem Ganzen zu stehen, {29}verwandelt sich in Krebs. Eine aggressive Einzelgängerzelle unter Millionen reicht, um das gesamte Lebensprogramm zu zerstören. Die Intelligenz des Körpers bricht zusammen, und das ist wesentlich verheerender als der primäre körperliche Schaden. Zum Glück sind solche Amok laufenden Zellen sehr selten – weniger als eine von einer Million –, und die große Mehrheit dieser Zellen überlebt erst gar nicht. Die innere Intelligenz des Körpers weiß genau, wie das Leben reguliert sein sollte, um das Überleben bestmöglich zu sichern.
Baba sagte nicht, dass der unsichtbare Klebstoff Seele genannt werden muss. Andere Begriffe haben sich im Lauf der Geschichte dafür gefunden: Geist, Gott, der göttliche Funke, der Atem des Lebens. Ich benutze oft das Wort Essenz. Wenn du etwas auf seine reinste Form reduzierst, kommst du zu seiner Essenz. Ein Arm voll Rosen kann auf eine halbe Unze Rosenöl reduziert werden. Es gibt Millionen von Menschen, die vollkommen verschiedene Formen von Leben führen. Aber die Seele oder der Geist ist Lebendigsein in seiner reinsten Form, egal, wer immer man ist. Es ist die Essenz des Menschseins.
{30}Es ist seltsam, dass diese Essenz so schwer zu finden ist. Wenn wir herumlaufen, in der Hoffnung, sie zu finden, dann sind wir wie Fische, die überall das Wasser suchen, aber es nie zu finden scheinen. Ich stelle mir vor, dass der Fisch, der als Erster das Wasser entdeckte, zufällig aus dem Meer herausgesprungen war. Vielleicht hat ihn ein Hai gejagt, und der Fisch war verzweifelt. Als er ins Meer zurücksprang, hatte er ein aufrüttelndes Aha-Erlebnis: Da ist also das Wasser. Ich bin mein ganzes Leben im Wasser geschwommen und habe es nie gemerkt.
Genau das tat Baba für mich. Wie ein Fisch, der ins Meer zurückspringt, entdeckte ich, dass ich mit dem Geist gelebt hatte, innen und außen, mein ganzes Leben lang. Der Geist ist überall und sorgt dafür, dass alles mit allem verbunden ist. Das Licht von Sternen, die Millionen von Lichtjahren entfernt sind, ist dasselbe Licht, das Pflanzen hier auf der Erde wachsen lässt. Die Pflanzen geben Nahrung; die Nahrung sorgte dafür, dass du dich als Baby im Bauch deiner Mutter entwickeln konntest; und heute betrachtest du die Sterne mit den Augen, die die Sterne dir gegeben haben. Das ist die kosmische Verbundenheit.
Wusstest du, dass du mit jedem Atemzug, den {31}du tust, Millionen von Atomen einatmest, die gestern jemand anders in China ausgeatmet hat? Diese Atome befanden sich in einem anderen Körper, sie zirkulierten im Blut oder bauten eine Zelle oder vielleicht sogar ein Baby. Ohne es zu wissen, bist du mit einem Baby verbunden, das noch nicht geboren ist. Das Wasser in deinem Körper enthält dasselbe Salz und dieselben Mineralien wie der Ozean – du trägst den Ozean in dir. Die Hautzellen, die du heute Morgen nach der Dusche mit einem Handtuch abgerubbelt hast, enthalten Moleküle, die sich einmal im Körper von Jesus und Buddha und einer anderen heiligen Gestalt der Vergangenheit befunden haben.
Genießt also diese kosmische Verbundenheit. Betrachtet euch selbst an einem lauen Frühlingstag. Der strotzt vor neuem Leben und Energie. Der Tag fühlt sich rundherum gut an. In eurem Inneren glüht ein Funke, und plötzlich weiß man mit untrüglicher Sicherheit, dass man in einer Welt lebt, die einem ein Zuhause ist. In diesem Moment ist man in vollkommener Übereinstimmung mit allem. Baba lehrte mich, dieses Gefühl der Verbundenheit mit allem rundherum nie zu vergessen.
Und das war erst der Anfang.
»Auf! Auf! Bewegung!«, rief Baba und sprang auf. Der alte Mann hatte vorher so still im Schneidersitz gesessen, als sei er selbst in die Erde gepflanzt wie der knorrige Baum. Aber nun musste ich rennen, um ihn einzuholen.
»Du kommst schon noch in Form, alles nur Training«, rief er mir über die Schulter zu.
»Was für ein Training?«, fragte ich. Er rannte mit mir auf eine grüne Wiese, die an den Wald angrenzte.
»Das beste, das du bekommen kannst«, sagte er. »Seelentraining. Nicht viele können das lehren, du musst also sehr, sehr viel Glück gehabt haben. Weißt du, dass du ein richtiger Glückspilz bist?«
»Nein, nicht wirklich.« Ich war nicht sicher, ob er sich nicht über mich lustig machte.
Baba fand eine Stelle mitten auf der Wiese und schaute sich um. »Das ist ein guter Platz«, sagte er. »Leg dich einfach hier hin.«
Ich legte mich auf den Rücken ins hohe Gras und war gespannt, was als Nächstes kommen würde.
»Schau jetzt in den Himmel«, sagte Baba. »Siehst du die Sonne?«
{33}»Ja, klar.« Jetzt, wo der Morgennebel sich gehoben hatte, stand die Sonne direkt über mir am Himmel.
Baba legte seine Hände über meine Augen.
»Kannst du jetzt die Sonne sehen?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht.«
»Ende der Sitzung«, sagte er und schien sich zu freuen, als hätte ich etwas Besonderes getan.
Ich protestierte. »Was für eine Art von Training soll das denn sein? Es ist ja gar nichts passiert.«