Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
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DER AUTOR
Klaus-Peter Wolf, geboren 1954, lebt als freier Schriftsteller und Drehbuchautor in Norden. Er hat bereits zahlreiche Romane für Erwachsene, Jugendliche und Kinder verfasst, darunter auch bekannte Serien wie »Jens-Peter und der Unsichtbare« und »Felix und die Kunst des Lügens«. Er ist Drehbuchautor für den »Tatort« und »Polizeiruf 110«, sein Fernsehspielfilm »Svens Geheimnis« wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.
1
Jedes Kind konnte in diesen Tagen das TLF 16/24 vom TLF 24/50 unterscheiden. Die Tanklöschfahrzeuge beherrschten das Stadtbild. Die Ichtenhagener Jungen beteten ihre Daten herunter wie noch vor Kurzem die Bundesliga-Ergebnisse. 2400 Liter Pumpenleistung pro Minute. 5000 Liter Wasser im Tank. 750 Liter Schaummittel.
Schon von Weitem erkannten sie Löschgruppenfahrzeuge, kurz LF genannt. Großtanklöschfahrzeuge, die TLFs, kündigten eine heikle Situation an.
Die Kinder sammelten inzwischen Autogramme von Feuerwehrleuten und änderten ihre Berufswünsche von Fußballer, Popstar oder Kapitän kurz in Feuerwehrmann.
Ein Zeitungsausschnitt vom Feuer im Schulzentrum, versehen mit der Unterschrift vom Stadtbrandinspektor oder noch besser vom Kreisbrandinspektor, brachte mehr als ein Autogramm vom Bundesligatorwart Hartmut Businski, und der war in Ichtenhagen ein Held.
Vor der Kathedrale nickten die Feuerwehrleute den Gläubigen zu. Sie wollten ihnen das Gefühl geben, in Sicherheit zu sein. Überall, wo sich in diesen nervösen Tagen größere Menschenmengen versammelten, waren die uniformierten Brandbekämpfer dabei.
Noch nie waren sich die Feuerwehrleute so wichtig vorgekommen, so geachtet und doch so hilflos. Niemand redete mehr davon, ihnen die Zuschüsse zu streichen. Ihre Ausrüstungen waren in den letzten Wochen auf den modernsten Stand gebracht worden. Geld spielte plötzlich keine Rolle mehr. Niemand hielt an dem Glauben fest, bei der Feuerwehr säßen nur dickärschige Wichtigtuer den ganzen Tag herum und spielten Karten.
Jens Roth scheute vor der Kathedrale zurück. Er wäre am liebsten umgekehrt. Doch wie magisch zog ihn das TLF 24/50 an. Den Gruppenleiter kannte er aus der Zeitung. Der war als Erster auf das Dach des brennenden Arbeitsamtes geklettert. Mit der Axt hatte er die Bahn freigemacht für das Löschwasser.
Jens erinnerte sich gut an ihn. Der Mann hatte der Presse ein wütendes Interview gegeben. Das Dach sei mehrfach mit Teerpappe belegt worden. An einigen Stellen zählte man später acht Schichten. Dadurch sei die Dachhaut dermaßen widerstandsfähig gewesen, dass Hitze und Rauch nur an Stellen austreten konnten, an denen das Dach bereits durchgebrannt war. Dies machte einen Innenangriff trotz schwerer Atemschutzgeräte praktisch unmöglich. Eine vernünftigere Verlegung der Teerpappe hätte so einen Großbrand erst gar nicht entstehen lassen.
Jens verehrte diesen Mann. Er war für ihn der Inbegriff von Mut und Sachverstand.
Stefanie warf die langen blonden Haare zurück und zerrte Jens weiter.
»Komm. Glotz nicht so. Hier kann nichts passieren. Du siehst ja, sie passen auf uns auf. Außerdem … wer zündet denn eine Kirche an …«
Mit Sicherheit würde sie heute den kürzesten Rock in der Kathedrale tragen. Sie war zwar nicht übermäßig gläubig, aber sie ging gern zur Kirche. Hier fiel sie in ihrem Outfit eher auf als in der Disco. Die kirschroten Lippen passten farblich exakt zum superkurzen Rock. Das Pickelgesicht neben ihr konnte unmöglich ihr Freund sein.
Die Feuerwehrleute sahen ihr nach, als sie mit ihrem Bruder Jens zum Eingangsportal hinausschritt. Jeder von ihnen war bereit, sie zuerst zu retten und auf den Armen aus der Kirche zu tragen. Fast wünschten sie sich einen Brand. Sie gaben sich solche Gedanken nicht gern zu und sie schämten sich dafür. Aber sie hatten sie trotzdem.
Jens sah nach oben. Das mächtige Gewölbe wurde von Rippen getragen, die seinen Druck zu den Pfeilern hinleiteten. Die Pfeiler schwankten auf einmal. Stürzte die Kathedrale ein? Merkten die Gläubigen nicht, in welcher Gefahr sie sich befanden? Die großen bunten Scheiben würden brechen. Er sah die Fensterrosen und Kriechblumen bereits nach innen splittern, in die Gesichter der singenden Gemeinde.
Er wollte schreien, doch etwas hielt ihm von hinten den Mund zu. Er spürte den festen Griff einer strengen Hand. Er konnte die Lippen nicht bewegen. Er fürchtete, seine Zähne könnten dem Druck nicht länger standhalten.
Neben ihm reckte Stefanie den Hals und bemerkte nichts. Sie leckte sich Lippenstiftspuren von den Zähnen. Er starrte sie an. Unbekümmert, ohne große innere Beteiligung, sang sie einen Psalm. Jens konnte die Bewegung ihrer Lippen sehen, doch er hörte sie nicht. Das Krachen und Mahlen im Gebälk war ohrenbetäubend für ihn. Es klang wie … Zähne, die aufeinander rieben. Es war ein gigantisches Kauen. Ein Schmatzen.
Er befand sich nicht mehr in einer spätgotischen Kirche, sondern im Rachen eines menschenfressenden Monsters. Der Boden unter ihm bewegte sich. Die langen, geschnitzten Bänke waren die Zahnreihen. Vorn am Altar lockte ein mit lächerlichen Gewändern verkleideter Dämon die Gläubigen tiefer in den Schlund.
Jens krampfte sich in den nackten Oberarm seiner Schwester. Sie zog ihn barsch weg. »Lass das.«
Jens spürte die quälende Ohnmacht. Er bekam keinen Ton heraus. Er befürchtete, sich in die Hose zu machen. Das Kribbeln in den Eingeweiden wurde stechend. Die Schließmuskeln wollten ihm nicht länger gehorchen.
Er packte Stefanies Hand. Sie schüttelte ihn ab.
Komm mit, Stefanie! Um Himmels Willen, komm mit! Wir sind in Lebensgefahr!, wollte er brüllen, doch die eiserne Hand, die seinen Mund zudrückte, ließ es nicht zu.
Er zerrte an Stefanie. Sie stieß ihn verständnislos zurück. »Lass mich. Spinn nicht rum.«
Sie sah sich um und lächelte verlegen. Es war ihr peinlich. Jens spürte es genau. Sie schämte sich für ihren Bruder.
Von seinem Hals hatte sich ein Pflaster gelöst. Sie drückte es über der kleinen Wunde wieder fest.
Als sich die geöffneten Flügel vom großen Eingangsportal knarrend aufeinander zu bewegten, rannte Jens los. Er rempelte eine alte Dame an. Ihr Gebetbuch fiel auf den schwankenden Boden. In den letzten Reihen drehten sich die Menschen nach ihm um. Er stürzte ins Freie. Das gierige Maul schloss sich hinter ihm.
Jens stolperte und krachte auf die Steinstufen. Er rollte hinunter. Seine Knie schlugen auf. Er griff sich an den Kopf. Über dem rechten Auge klaffte eine blutende Wunde. Aber das interessierte Jens nicht. Hinter ihm öffnete sich das Maul erneut.
Er raffte sich auf und rannte weiter. Floh in Richtung Straße. Das Hupen hörte er nicht.
Nur der schnellen Reaktion des jungen Mannes am Renaultsteuer verdankte Jens sein Leben.
Gert Klein, der Fahrer, schleuderte mit seinem Auto gegen einen parkenden Passat. Gert stieg aus. In Sekunden hatte er sein Hemd durchgeschwitzt. Er war knapp achtzehn und hatte erst vor drei Tagen seinen Führerschein gemacht.
»Scheiße! Scheiße!«, schrie er. »Das ist der Wagen von meinem Vater! Kannst du dir vorstellen, was der mit mir macht? Bleib stehen! Hau jetzt bloß nicht ab!«
Jens schenkte dem aufgeregten Typen keine Beachtung. Er versteckte sich in einem Häusereingang. Von hier aus konnte er die gotische Kathedrale aus sicherer Entfernung beobachten. Sie wuchs. Ja. Er war sich ganz sicher. Das Ding wuchs! Die aufstrebenden Türme wurden länger.
Jetzt erkannte Jens alles. Der Kopf des Satans ragte aus dem Asphalt. Seine Hörner hatte er mit Ornamenten getarnt. Seine Augen leuchteten böse hinter Brillengläsern, die mit bunten Heiligenbildchen beklebt waren. Er streckte den Gläubigen höhnisch lachend die lange Zunge heraus, auf der sie wie idiotische Schlachttiere in seinen Schlund spazierten. Schön ordentlich in Reih und Glied. Einer hinter dem anderen.
Das Maul schloss sich zum Schlucken. Schon öffnete es sich wieder, um weitere Menschen zu fressen. Die Feuerwehrleute saßen stolz in ihrem Tanklöschfahrzeug und sahen zu.
Jens wurde gepackt und gegen die Häuserwand gedrückt. Er spürte den Rauputz durch sein Hemd stechen, bevor er mit dem Hinterkopf dagegen schlug.
»Hoffentlich bist du gut versichert, du Idiot!«, brüllte Gert Klein. Er hatte Lust, Jens das Gesicht zu zermatschen. Gegen ihn wirkte Jens klein, zierlich, ja, irgendwie sogar klapprig. Doch obwohl Gert zwei Köpfe größer war, schien der Junge sich nicht vor ihm zu fürchten. Er war leichenblass. Seine schwarzumrandeten Augen lagen tief in den Höhlen, so als wollten sie sich zurückziehen. Die Augäpfel vibrierten. Der Junge zitterte. Gert sah es nun deutlich, er war es nicht, der diesen Jungen so sehr erschreckte. Es gab etwas anderes, das ihn fast um den Verstand brachte. Während Gert ihm drohte, zeigte Jens in Richtung Kirche.
»Da! Da! Der Satan kommt aus dem Innern der Erde hoch!« Gert Klein sah sich um. Er entdeckte nichts Besonderes.
Er ließ Jens los. Strich sogar seine Kleidung wieder glatt und wunderte sich dabei über sich selbst. Etwas an diesem schmalbrüstigen Kerlchen stimmte Gert milde. Als sei der Renault plötzlich unwichtig geworden angesichts des Grauens in den Augen des Jungen vor ihm.
Gert wunderte sich über die vielen frischen Narben in Jens’ Gesicht. Entweder war die Haut des Jungen zu dünn und riss einfach ein oder er verletzte sich dauernd selbst.
»Du bist ganz schön durchgeknallt, weißt du das? Bist du auf Droge?«
Jens schüttelte den Kopf. »Nein. Ich … ich …«
Mehr bekam er nicht heraus, dann wurde ihm wieder der Mund zugedrückt. Es war, als ob der Asphalt unter ihm weich werden würde. Er drohte zu versinken. Knietief stand er schon im Sumpf. Er wollte einen Schritt gehen, aber er kam nicht vorwärts. Der warme Asphalt hielt ihn fest.
»Versuch bloß nicht, abzuhauen. Du bleibst hier, bis die Bullen alles aufgenommen haben. Nimm’s mir nicht übel, aber mein Alter reißt mir sonst den Kopf ab.«
Stefanie kam nach Luft ringend bei den beiden an. »Äi! Lass meinen Bruder in Ruhe! Er hat dir nichts getan, du blöder Wichser!« Gert Klein war von ihren Worten wenig beeindruckt. Doch ihr Anblick traf ihn wie ein Kopfschuss. Er staunte sie an. Gert stand auf Blondinen. Sie bevölkerten seine Träume. Ihr würde er kaum etwas abschlagen können.
Langsam fing er sich wieder.
»Das ist also dein Bruder, häh? Der Spinner ist mir voll vor die Kiste gelaufen.«
»Du hast doch deinen Führerschein im Lotto gewonnen!« keifte sie.
Gert schluckte. »Ich brauch eure Adresse!« Er zeigte auf den Schaden.
Für Jens’ Ohren war der Streit der beiden ein undefinierbares Sprachgewirr. Laute. Grunzen.
Er versank.
Wie konnten die anderen auf diesem Asphaltsumpf stehen? Merkten sie nicht, was los war, oder war es nicht wirklich? Erlebte nur er diese Situation so?
Es kam ihm vor, als würde er heiße Luft einatmen. Gleichzeitig griff schneidende Kälte nach seinen Händen und Füßen. Dann wurde der Sumpf unter ihm wieder zu festem Boden. Vorsichtig trat Jens auf, um ihn zu testen. Er stellte sich vor, dass die Haut der Erde sehr dünn war, wie brüchiges Eis, und jeden Moment einbrechen oder einfach nachgeben könnte. Darunter waberte es. Doch die Haut hielt. Sie hielt erstaunlich gut.
Er sah zum Teufelskopf. Jetzt stand dort nur noch die alte, taubenumflatterte Kathedrale, an der er schon so oft vorbeigegangen war. Sie hatte nichts Furchterregendes mehr an sich. Sie war alt, wurde ständig renoviert und die Baugerüste gehörten zu ihr wie die Vogelscheiße.
Stefanie gab dem Typen die gewünschte Adresse und fügte spitz hinzu: »Vielleicht solltest du es mal mit Fahrstunden versuchen.« Dann nahm sie Jens bei der Hand. »Komm. Wir gehen.«
Gert Klein fand das eigentlich nicht okay. Man wartet nach einem Unfall auf das Eintreffen der Polizei. Aber er hielt sie nicht auf. Er hoffte nur, dass die Adresse nicht falsch war.
Er sah ihnen nach. Sie ging sehr liebevoll mit ihrem verrückten Bruder um, fand Gert. Sie kämpfte wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt.
So wie sie aussah, war sie es gewöhnt, angebaggert zu werden. Bestimmt verteilte sie Körbe so locker wie Reklamesendungen.
Hinter der Straßenkreuzung, außerhalb seiner Sichtweite machte Stefanie ihrem Bruder eine Szene. »Es wird immer schlimmer mit dir! Du hättest dabei draufgehen können! Wenn Ma das erfährt, flippt sie aus.«
»Wir müssen es ihr ja nicht sagen. Sie hat schon Sorgen genug«, schlug Jens vor. Er klang jetzt plötzlich sehr klar. Stefanie musterte ihn. Sie bildete sich ein, sie könne schon an seiner Körperhaltung sehen, ob er wieder weg war oder nicht.
Doch das stimmte nicht immer. Manchmal ging sie seinen Einbildungen auf den Leim. Dann erschrak sie vor sich selbst.
»Von wegen«, konterte Stefanie. »Er hat doch unsere Adresse.«
2
Es gab Tage, da hasste Jens die Stunden bei Frau Dr. Sylvia Jansen. Dann wieder spürte er, dass sie ihm halfen. Ihr konnte er wenigstens alles erzählen. Sie hörte geduldig zu und nickte auch bei den ungeheuerlichsten Sachen, als seien sie ganz normal.
Sie war eine alte, weise Frau. Mindestens so alt wie seine Mutter. Manchmal sah sie sportlich durchtrainiert aus, topfit und gut drauf. Dann wieder, als hätte sie gerade knapp einen Hungerstreik überlebt oder als wäre sie aus einem Strafgefangenenlager entflohen. Sie hatte ein verstehendes Lächeln, das ohne Worte auskam. Seit dem tragischen Unglücksfall, bei dem Jens’ Vater ums Leben gekommen war, hatten schon einige Psychologen und Ärzte versucht, an ihm herumzudoktern. Frau Dr. Sylvia Jansen war die erste, die Jens zum Sprechen brachte. Es war kein Trick dabei. Wenn jemand versuchte, ihn auszutricksen, merkte Jens das sofort und schaltete auf stur. Es war ihre Ausstrahlung. Sylvia Jansen war so präsent, so wirklich da und interessiert. Sie ließ Jens vergessen, dass sie Geld für diese Sitzungen bekam, Abrechnungen schrieb und Berichte über seine Fortschritte an die Krankenkasse schickte. Eigentlich hatte die Kasse nur fünfundzwanzig Therapiestunden bezahlen wollen. Heute war für Jens die einhundertste Sitzung.
Jens’ Mutter, Christina Roth, hatte öfter mit Sylvia Jansen zu tun. Beruflich. Einige von Mutters Klienten gingen auch zu ihr in die Sprechstunde. Die beiden waren nicht gerade Freundinnen, aber sie schätzten sich. So bekam Jens einen der begehrten Therapieplätze, ohne auf eine Warteliste zu müssen.
Zum Glück kannten die beiden Frauen sich nicht so gut, um sich gegenseitig zu besuchen. Jens fand den Gedanken furchtbar, Sylvia Jansen zu Hause im Kreis seiner Familie zu sehen. Sie wusste zu viel über ihn. Sie konnte ihn unabsichtlich tief kränken oder verletzen. So vieles, was er ihr erzählt hatte, sollte nie jemand anders erfahren. Schon gar nicht seine Mutter oder Stefanie. »Das Schlimmste ist«, sagte er und sah dabei auf seine ausgestreckten Beine, »das Schlimmste ist, dass ich mir selbst nicht mehr über den Weg traue. Ich meine …«, er tippte sich gegen die Stirn, »hier oben weiß ich natürlich, dass der Satan nicht aus der Hölle hochkommt und sich als Kirche verkleidet. Aber ich habe es trotzdem gesehen. Ständig sehe ich Katastrophen. Ganz schreckliche Sachen. Und die Menschen um mich herum kriegen nichts mit. Vielleicht sind das ja alles Vorahnungen …vielleicht …«
Sylvia schüttelte den Kopf. »Nein, Jens. Vorahnungen sind das nicht. Du weißt genau, woher es kommt.«
Sein Körper versteifte sich. Es war, als würde er zu Stein werden. »Bitte atme, Jens. Du hältst alles hier fest.« Sie zeigte auf den oberen Bauchbereich und stellvertretend für ihn atmete sie lang und wohltuend aus. Ihre Atmung hatte etwas Magisches an sich. Sie half ihm damit, ebenfalls auszuatmen. Die Verkrampfung in seiner Magengegend lockerte sich. Knatternd löste sich ein Furz.
»Das ist gut«, sagte sie. »Ein Zeichen von Entspannung.«
»Wenn es nun aber doch Vorahnungen sind?« fragte Jens und im Ton seiner Stimme lag die Furcht vor der grausamen Wahrheit. »Bevor das Auto von meinem Vater …« - er bekam es immer noch nicht leicht heraus - »in die Luft flog, wusste ich es auch. Ich habe mich umgedreht. Ich wollte schreien, aber es ging nicht. Papa, steig aus, schnell!, wollte ich schreien. Doch da …«
Er deutete die Explosion mit den Händen an. »Was, wenn ich nun doch nicht in irgendwelche Wirklichkeitslöcher falle oder Tagträume habe oder Halluzinationen, wie Sie das nennen, sondern wenn ich einfach in die Zukunft sehe …?«
Wieder atmete sie ganz bewusst aus. Er vollzog das nach.
Sie sprach die Worte aus, von denen er sich Erlösung erhoffte. Er hatte sie schon oft gehört, von allen Therapeuten, doch sein Körper weigerte sich, die Wahrheit zu akzeptieren. So bog er sich im Sessel. Seine Glieder wurden steif. Innerlich vibrierte alles, äußerlich erstarrte er.
Sie beugte sich zu ihm vor. »Es sind keine Zukunftsbilder, Jens. Es ist die Vergangenheit.«
Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht verzerrte sich und spiegelte den Kampf wider, der in ihm stattfand. Die Haut unter den Pflastern begann zu jucken.
»Du hast etwas ganz Furchtbares erlebt, Jens. In einer glücklichen, behüteten Situation … du kamst mit deinem Vater vom Fischen … geschah etwas Ungeheuerliches. Die reale Welt hörte auf und explodierte. Seitdem geschieht das für dich immer wieder. Scheinbar harmlose, schöne Dinge strahlen plötzlich tödliche Gefahr aus. Wie das Auto von deinem Vater. Alles könnte anders sein, als es aussieht, und deshalb traust du den Dingen nicht. Auch nicht der alten Kathedrale. Nicht einmal mehr dir selbst. Du willst auf der Hut sein, um beim nächsten Mal nicht vom Unheil überrascht zu werden. Aber es gibt kein nächstes Mal, Jens. Es ist vorbei!«
»Ein Teil von mir glaubt Ihnen«, nickte Jens und tippte sich wieder gegen die Stirn. »Aber der Rest« - er griff sich an den Bauch, »der Rest weiß es besser und ist - wie mein letzter Seelenklempner meinte - keiner Logik zugänglich.«
»Welcher Teil glaubt mir?«, hakte sie nach.
»Der Kopf.«
Sie nickte. »Welcher ist misstrauisch?«
»Der Körper.«
»Der ganze Körper?«
Da spürte er die Rebellion in sich. Die Gedärme schienen zu wachsen. Der Magen dehnte sich aus. Drückte die anderen Organe weg, wollte die Alleinherrschaft im Körper übernehmen.
»Der Bauch. Der Bauch ist es. Hier.«
Er hielt ihn fest. Er kam sich irgendwie schwanger vor, als würde er gleich etwas gebären. In ihm wuchs etwas. Es war zornig. Böse und gemein. Er musste versuchen, es drin zu halten. Eingesperrt in seinem Körper könnte es am wenigsten Schaden anrichten. Es konnte nur ihn zerstören.
»Jens? Wo bist du?«, fragte Sylvia.
Ihre Stimme holte ihn aus seinen Gefühlen wieder ins Zimmer zurück. Er drohte schon zu versinken.
»Kannst du mich hören, Jens?«
»Ja. Ja. Ich bin da. Alles klar.«
Der Krampf im Körper ließ etwas nach. Er setzte sich bequemer hin.
»Hast du Kontakt zu beiden Teilen? Oder herrscht im Moment einer von beiden?«
»Nein.« Er griff sich an den Kopf
»Es ist alles da. Alles gleichzeitig.«
»Gut.«
»Ich habe das Gefühl, ein Teil von mir lehnt sich gegen den anderen auf. Als ob sie Krieg gegeneinander führen. Sie kämpfen um die Macht über mich.«
Sylvia konnte die seelische Not, in der Jens sich befand, körperlich spüren. Sie war seiner Hölle sehr nahe. Sie fürchtete, sich selbst daran zu verbrennen. Wie so oft stiegen Bilder ihrer eigenen Kindheit in ihr auf.
Sie bemühte sich um eine sichere Stimme. »Kann der eine Teil mit dem anderen reden, Jens?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Was will der Kopf dem Bauch sagen?«
»Puh, Sie können Fragen stellen.«
Sie lächelte. »Also, was?«
»Der Kopf sagt: Hör auf mit dem Mist. Das ist alles gar nicht wahr. Es gibt eine Wirklichkeit. Die ist eindeutig und klar erkennbar Alle können sie sehen. Teufel und Dämonen spielen darin nicht mit.«
»Und, hört dein Bauch die Botschaft?«
»Ja.«
»Und wie reagiert er darauf?«
»Er lacht«, antwortete Jens rasch. »Er fragt: Und wer hält dir dann den Mund zu, wenn es keine Dämonen gibt?«
»Und? Weiß der Kopf darauf eine Antwort?«
»Er sagt: Es ist die Angst, die dich lähmt. Genau wie damals, als dein Pa …«
Jens schluckte. Er schwitzte hier in dem großen Ledersessel sein Hemd durch. Seine Hand knibbelte den dicken rotblauen Pickel am Kinn auf. Jens bemerkte es nicht. Die Hand tat es eigenmächtig. Komische Ärztin, dachte er. Jetzt unterhält sich schon mein Kopf mit meinem Magen. Das soll dann gesund machen. Ich könnte eine Menge Leute aufzählen, die würden das für total bescheuert halten.
Er sagte es ihr nicht. Alles brauchte sie auch nicht zu wissen.
»So weiß also der eine Teil eine Menge über den anderen und beide können miteinander reden. Das ist doch schon mal etwas. Kann ich auch mit deinem Bauch reden?«
Jens lachte. »Ja. Meinetwegen. Was wollen Sie ihm sagen?«
Das hier darf nie jemand erfahren, dachte Jens. Nie. Ich würde mich zum Gespött der ganzen Stadt machen.
»Ich möchte dem Bauch sagen, dass ich spüre, welche Angst er hat. Er kann mit der Angst jederzeit hierher kommen. Hier in diesem geschützten Raum können wir uns genau ansehen, woher sie kommt. Ich möchte deinem Bauch also sagen, dass er hier mit seiner Angst willkommen ist. Möchte dein Bauch mir vielleicht antworten?«
»Blöde Möse, ich glaub dir kein Wort!«
Jens hörte sich das sagen und konnte es nicht glauben. Er hoffte, das nicht wirklich ausgesprochen zu haben. Am liebsten wäre er im Sessel verschwunden. Zu einem Sitzkissen geworden oder zu einer Zimmerpflanze.
Der Pickel am Kinn platzte. Blut und Eiter klebten an Jens’ Fingerspitzen.
Von seinem Magen breitete sich Eiseskälte im ganzen Körper aus. Als wären seine innere Organe schockgefroren worden und würden nun zwischen scharfen Eisschollen zerrieben.
Sie reagierte nicht sauer. Nicht tadelnd. Sie fragte den Bauch: »Du bist böse auf mich, Bauch. Warum? Habe ich dich verletzt?«
»Weil du Scheiße erzählst.«
Jens hatte wirklich das Gefühl, sein Bauch oder wer immer es war, würde aus ihm sprechen.
Er ließ es geschehen.
»Wirklichkeit ist mehr als die dumme Vereinbarung‚ die ihr darüber getroffen habt, was wahr ist.«
»Bist du es«, fragte sie vorsichtig, der die Fantasiebilder in Jens entstehen lässt? Warum tust du das?«
»Fantasiebilder! Von wegen. Du willst nur nicht wahrhaben, was passiert.«
Sie geriet in eine Verteidigungsrolle. Jens bekam es genau mit.
»Nun«, sagte sie, »es … es ist nicht wahr. Nicht wirklich. Es ist eine Fantasie.«
»Aber«, fauchte der Bauch, »der Vater ist wirklic h tot. Und sein Geschäft ist auch wirklich abgebrannt. Und es brennen wirklich Gebäude in der Stadt.« Der Bauch zählte es fast genüsslich auf und benutzte dabei Jens’ Finger. »Die Schule. Das Arbeitsamt. Das Versicherungshochhaus. Wie viele Menschen sind dabei draufgegangen? Zehn? Zwölf? Oder war alles nur Illusion?«
»Ach, dein Bauch kommt mir plötzlich mit Logik!«
Jens krümmte sich im Ledersessel zusammen vor Magenschmerzen. Er rutschte herunter auf den Boden wie ein Sack, der zu voll gestopft ist. Das Blut von seinen Fingerspitzen hinterließ Spuren auf seinem Hals und auf dem Hemd.
Schon kniete sie neben ihm. Sie legte die rechte Hand auf seine Stirn und die linke knapp unterhalb seines Bauchnabels auf die vibrierende Haut.
Jens übergab sich. Ein säuerlicher Schwall presste sich unaufhaltsam in ihm hoch und ergoss sich über den wuscheligen Langhaarteppich.
Sylvia tadelte Jens nicht. Sie schien beeindruckt von seinen Reaktionen und der Ernsthaftigkeit, mit der er sich auf die Therapie einließ. »Es ist, wie es ist«, sagte sie. Und: »Alles wird gut.«
Ein Teil von ihm misstraute ihr, schwieg jetzt aber lieber und versteckte sich.
Jens wischte, so gut es ging, die Kotzspuren weg. Natürlich ging nicht alles raus. Das würde man immer sehen. Putzmittel, die damit fertig wurden, gab es nur im Werbefernsehen.
Sylvia ging in die kleine Küche neben dem Therapieraum und brühte einen Kamillentee für Jens auf. Er saß kraftlos auf dem Boden und sah ihr durch die offene Tür zu. Jetzt wirkte sie auf ihn wie eine kleine, runzlige Hexe, die einen Zaubertrank mischte. Eine gute Hexe. Eine, die seinem Dämon trotzen könnte. Falls es dem Dämon nicht gelang, sie vorher umzubringen.
Jens schlürfte den heißen Tee mit spitzen Lippen. Er hatte das Gefühl, wieder eins zu werden, als würden versprengte Teile wieder zusammengefügt, geklebt mit Kräutertee.
Sie sah ihn an und fragte: »Als du, kurz bevor dein Vater starb, spürtest, dass es passieren würde, wo hast du es gefühlt?«
Die Antwort auf die Frage kam wie ein Messerstich in die Eingeweide.
Er griff hin. »Im Bauch.«
In der Mitte seines Körpers damals war es plötzlich heiß geworden. Ein Kribbeln hatte ihn von dort durchschossen, als ob eine Energiequelle in ihm freigesetzt worden wäre. Er hatte beide Hände darauf gedrückt, sich zu seinem Vater umgedreht, ihn im Auto sitzen sehen, und Sekunden später war das Leben seines Vaters ausgelöscht gewesen. Und sein eigenes Leben war zutiefst erschüttert. Nichts war nach diesen Sekunden mehr wie früher.
Sylvia ging zum Fenster. »Unsere Zeit ist für heute leider um, Jens.«
Jens wollte ihr danken, wollte die schmale Frau drücken, aber die Therapiestunde war seit zehn Minuten abgelaufen. Der Nächste wartete schon und sie wollte das Zimmer noch kurz lüften.
Dr. Sylvia Jansen wurde dem nächsten Patienten nicht gerecht. Sie saß da wie immer, schrieb mit ihrem Bleistift die Kernaussagen mit und stellte ab und zu Fragen wie: »Und wie fühlen Sie sich jetzt, wenn Sie das sagen?« Doch sie war nicht voll dabei, ging emotional nicht mit. Zu sehr war sie mit Jens Roth beschäftigt. In ihr wuchs ein Verdacht. Er war so ungeheuerlich, dass sie es sich nicht erlauben wollte, solche Gedanken zu denken. Doch je mehr sie sich verbot, in eine bestimmte Richtung zu fantasieren, um so mehr bahnten sich ihre Vorstellungen den Weg genau dorthin. Sie kannte sich gut genug. Denkverbote funktionierten bei ihr nicht. Sie musste mit jemandem darüber sprechen.
Sie konnte es nicht mit sich herumschleppen. Sie überlegte, ob sie mit Christina Roth, Jens’ Mutter, darüber reden sollte. Die war eine vernünftige Frau. Etwas überlastet seit dem Tod ihres Mannes, aber tapfer und treusorgend. Als Bewährungshelferin kannte sie die Abgründe der menschlichen Seele und kaum eine dunkle Seite war ihr fremd. Doch trotzdem entschied Sylvia Jansen sich dagegen. Was, wenn sie sich irrte? Christina Roth hatte in letzter Zeit viel Schlimmes durchgemacht, mit dem sie fertig werden musste. Sylvia Jansen wollte ihr nicht mehr Kummer zufügen als nötig. Schließlich konnte sie mit ihrer Vermutung völlig falsch liegen. Ja, sie hoffte es, denn sie mochte Jens. Sie mochte ihn wirklich.
3
Jens setzte bewusst einen Fuß vor den anderen. Der Boden unter ihm blieb fest. Eine schwüle Hitze lag über der Stadt, aber er genoss die warmen Sonnenstrahlen. Aus den Kanaldeckeln kroch ein fauliger Geruch in die Straßen hoch. Jens nahm ihn wahr. Es stank, und Jens freute sich darüber, denn er wusste:
Das alles war echt! Das wirkliche Leben. Die Frau dort, die auf der anderen Straßenseite ihren kleinen Sohn anschrie, weil er sich mit Eis bekleckert hatte. Der Lkw-Fahrer, der wütend hupte, weil vor ihm an der Ampel jemand seinen Golf abgewürgt hatte und jetzt den Verkehr behinderte. Die Schlagzeilen dort am Zeitungskiosk.
FEUERTEUFEL IMMER NOCH FREI. STADT IN ANGST. WANN WIRD DAS NÄCHSTE FEUER AUSBRECHEN?
Jens sog alles in sich auf, wie ein trockener Schwamm die Feuchtigkeit. Es musste Erkennungsmerkmale in der Wirklichkeit geben, die klar sagten: Dies ist die Wirklichkeit. Er hoffte sie zu finden, bevor der nächste Absturz kam. Für ihn gab es schwarze Löcher. Er fiel plötzlich ohne Vorwarnung hinein. Wenn er einmal drin war, wurde das schwarze Loch zur Wirklichkeit. Er brauchte Rettungsbojen, an denen er sich festhalten konnte. Darüber war er sich völlig im Klaren. Jetzt. Er hoffte, diese Gewissheit nicht zu verlieren.
Da durchströmte ihn ein Glücksgefühl. Das war es! Die Wirklichkeit roch. Sie stank sogar. Er hatte sich bisher zu sehr auf Augen und Ohren verlassen, als hätte er nur diese zwei Sinne. Aber die Nase, das war es. Konnte die Lösung seiner Probleme so einfach sein? Forsch schritt er aus. Alles würde gut werden. Vieles, was ihn bisher bedrückte, schien wie weggewischt.
Direkt nach Vaters schrecklichem Tod hatte alles hoffnungslos ausgesehen. Die Versicherungen weigerten sich zunächst, zu zahlen. Es sah ja auch merkwürdig aus: Zuerst hatte die Buchhandlung gebrannt, sie lief schlecht seit Langem, war aber gut versichert. Die Gesellschaft hatte versucht, dem Vater Brandstiftung anzuhängen und verzögerte die Zahlung. Und das obwohl er für diesen Abend ein unerschütterliches Alibi hatte. Es war sein vierzigster Geburtstag gewesen. Er wurde in einer Gaststätte gefeiert, mit vielen geladenen Gästen. Dann - knapp drei Monate später - verbrannte er in seinem Auto. Nun also weigerte sich die Lebensversicherung, zu zahlen. Es sei Selbstmord gewesen, behaupteten ihre Anwälte. Die Roths standen vor dem Nichts.
Selbstmord! Als ob einer wie sein Vater so etwas machen würde. Einer, der so gern lebte.
Jens hatte gesehen, wie er starb. Daher wusste er genau, die Behauptung war völlig blödsinnig. Sein Vater hatte versucht, aus dem brennenden Auto herauszukommen, doch die Türen ließen sich nicht öffnen. Jens sah ihn noch immer an die Scheiben schlagen, mit bereits brennendem Haar. Er hörte das Trommeln der Fäuste. Den erbärmlichen Schrei.
Jens hielt sich mitten auf der Straße die Ohren zu, aber es nützte nichts. Der Schrei war in seinem Gehirn gespeichert. Er hallte in seinem Schädel wider.
Das war kein Wirklichkeitsloch. Das war einfach nur die Vergangenheit, die sich manchmal meldete. Vergiss mich nicht! So war es, Jens! So! Und du hast deinem Vater nicht geholfen!
Sylvia nannte es Flashback, wenn die Ereignisse für Jens blitzartig zurückkamen. Jetzt gerade geschah es wieder. Als Jens den linken Fuß vom Boden abhob. Aber noch bevor die Sohle den Weg wieder berührte, war es vorbei.
Jens atmete tief ein. Der Geruch von heißem Fett und verbranntem Fleisch erinnerte ihn daran, dass er hungrig war. Diese Imbissstube gehörte zu den drei schlechtesten der Stadt. Sie kämpfte auf der Hitliste hart um Platz Eins. Der aber wurde noch von der Bude am Bahnhof mit dem gammeligen Kartoffelsalat sicher gehalten.
Der Typ hinter der Theke sah aus wie Dick und Doof in einer Person. Er hatte tollen Senf, aber seine Würstchen waren wabbelig. Seine Schnitzel schmeckten wie altes, vertrocknetes Kaugummi. Jens kannte alle Imbissbuden in der Stadt. Als seine Mutter angefangen hatte, in Vollzeit als Bewährungshelferin zu arbeiten, aß er so oft er konnte außer Haus. Er hasste es, selbst zu kochen. Schlimmer war nur, Stefanies Küchenexperimente zu ertragen. Er mochte nichts, was sie mochte.
Mutter gegenüber taten die zwei, als sei alles kein Problem und liefe reibungslos. Sie wollten ihr kein schlechtes Gewissen machen. Schließlich konnte sie nicht gut ihren Knackis beim Weg ins Leben behilflich sein und gleichzeitig für ihre Kinder kochen und waschen. Eine Weile hatte sie es versucht. Sie wurde immer mieslauniger dabei. Reagierte zum Schluss nur noch gereizt und heulte abends oft, wenn am Ende doch nicht alles so lief, wie sie wollte. Schlechte Schulnoten ihrer Kinder empfand sie als Vorwurf gegen sich selbst, als würde sie sich nicht genug um sie kümmern.
Dann kam Werner. Seit er da war, ging alles besser. Zunächst war Jens skeptisch gewesen, ja, empört: Wollte sich da ein neuer Vater einnisten? Aber Werner war nicht so einer. Er versuchte erst gar nicht, an Vaters Stelle zu treten. Er entlastete Mutter, wo es nur ging, machte die Wäsche, kochte das Abendessen und reparierte im Haus sogar Sachen, die schon kaputt waren, als Vater noch lebte. Den tropfenden Duschkopf. Die viel zu laute Waschmaschine. Alle Uhren im Haus. Plötzlich kriegten sie sogar wieder acht Fernsehprogramme rein, und das ohne Schüssel und unverkabelt. Werner hatte halt ein bisschen an der Antenne rumgespielt und sie »verstärkt«. Er liebte Fernbedienungen. Jetzt hatte sogar
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