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Das Jubiläum: Fulminant und packend: Der neue zehnte Band in der Kultserie mit Ann Kathrin Klaasen von Spiegel-Bestseller-Autor Klaus-Peter Wolf. Ein abgetrennter Kopf auf Wangerooge und ein Rumpf in Cuxhaven – doch beide Teile gehören nicht zu einer Leiche. Ihr zehnter Fall führt Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen auf die beiden ostfriesischen Inseln Wangerooge und Langeoog. Als der Postbote an diesem Morgen bei Ubbo Heide klingelt, bringt er ein großes Paket. Darin liegt ein abgetrennter Kopf. Es ist der Kopf eines Menschen, den Ubbo Heide kennt. Jahrelang hat er ihn gejagt, doch am Ende musste er ihn laufenlassen. Jetzt hat ein Anderer das Werk für ihn vollendet. Dann findet man einen einen zweiten Kopf. Auch diesem Toten konnte man damals seine Tat nicht nachweisen. Will hier einer die Arbeit der Polizei übernehmen? Ann Kathrin Klaasen hat zunehmend das Gefühl, dass der Täter jeden einzelnen ihrer Schritte kennt. Und ihnen immer voraus ist. Fast scheint es so, als ob er einer der ihren ist. Nach zwei brutalen Morden ahnt Ann Kathrin, wer das nächste Opfer sein wird. Kann sie dem Täter eine Falle stellen? Auch der fulminante zehnte Band der Mega-Bestsellerserie mit Ann Kathrin Klaasen beweist wieder einmal mehr, dass Klaus-Peter Wolf zu den Spitzenautoren in Deutschland gehört.
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Klaus-Peter Wolf
Der zehnte Fall für Ann Kathrin Klaasen
Als der Postbote an diesem Morgen bei Ubbo Heide klingelt, bringt er ein großes Paket. Darin liegt ein abgetrennter Kopf. Es ist der Kopf eines Menschen, den Ubbo Heide kennt. Jahrelang hat er versucht, ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen, doch die Gerichte ließen ihn laufen. Jetzt hat ein anderer das Werk für ihn vollendet. Dann findet man einen zweiten Kopf. Auch diesem Toten konnte man damals die Straftat nicht nachweisen.
Auch der fulminante zehnte Band der Mega-Bestsellerserie mit Ann Kathrin Klaasen beweist wieder einmal mehr, dass Klaus-Peter Wolf zu den Spitzenautoren in Deutschland gehört.
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Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über zwölf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.
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www.klauspeterwolf.de
www.ostfrieslandkrimis.de
»Ein Blick aufs Meer [...]
Ubbo Heide hatte die [...]
Rupert wollte eigentlich Bagger [...]
Büscher registrierte erstaunt, mit [...]
Odysseus fürchtete, die Geister [...]
Die Lagebesprechung in der [...]
Er streute Zimt und [...]
Die junge Frau, die [...]
Eike staunte immer wieder [...]
Der Polizistinnenchor, der an [...]
Weller freute sich durchaus [...]
Seit Sylvia Hoppe die [...]
Die Tür öffnete sich [...]
Sie wollen mehr wissen [...]
Es hatte alles ganz [...]
Leitartikel
»Ein Blick aufs Meer relativiert alles.«
Ubbo Heide, ehemaliger Chef der ostfriesischen Kriminalpolizei
»Was von innen aussieht wie eine tolle Karriereleiter ist von außen betrachtet manchmal nur ein erbärmliches Hamsterrad.«
Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen, Kripo Aurich
»Solange das Beamen nicht erfunden wird, sind wir alle eine benachteiligte Generation.«
Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich
Ubbo Heide hatte die Nacht mit seiner Lieblingsbeschäftigung verbracht: einfach nur dasitzen und aufs Meer schauen.
Dies war der schönste Platz auf Erden für ihn. Hier, mit diesem Blick auf die Naturgewalt der Nordsee, verlor sogar der Rollstuhl seine Macht über ihn.
Ubbos Gedanken flogen. Er fühlte sich frei und gut. Alles war plötzlich in Ordnung. So war er eingeschlafen, während das Teelicht im Stövchen flackernd neben ihm erlosch.
Die frühe Fähre brachte mit den Touristen auch die Post vom Festland zur Insel.
Gegenüber dem Café Pudding wurde die Windstärke mit sieben bis acht gemessen, was offiziell Steife Brise hieß und von den meisten Küstenbewohnern als notwendige Erfrischung angesehen wurde.
Seine Frau Carola kam mit Seelchen vom Inselbäcker zurück, deckte den Tisch und brühte frischen Tee auf, wie Ubbo ihn gern mochte: mit Pfefferminzblättern im Schwarztee.
Er schnarchte leise. Ihr gefiel das vertraute Geräusch. Im Sitzen schnarchte er wie ein asthmatischer Seehund. Im Liegen – besonders in Rückenlage – war er laut wie eine rostige Kreissäge.
Carola Heide hatte das Ostfriesland-Magazin mitgebracht und las im Stehen am Tisch einen Bericht von Holger Bloem.
Der Postbote klingelte. Ubbo schreckte hoch und tat jetzt so, als hätte er gar nicht geschlafen, sondern sei schon lange wach.
Während sie die Tür aufdrückte, sagte sie: »Neuer Kripochef soll ein gewisser Martin Büscher aus Bremerhaven werden. Kennst du den?«
Ubbo Heide lächelte. »O ja, den kenne ich …«
Ubbo rollte zum Frühstückstisch und angelte sich das Ostfriesland-Magazin. Er nannte es liebevoll OMA, und jede neue Ausgabe war wichtiger für ihn als das Essen.
Carola holte Aufschnitt aus dem Kühlschrank und drapierte alles liebevoll auf einem Brettchen.
Holger Bloem schrieb auch über Ubbo Heide und dessen Buch seiner ungelösten Kriminalfälle. Erstaunlicherweise war das Buch inzwischen in der 3. Auflage erschienen. Ubbo wurde zu Lesungen und Diskussionen eingeladen. Er, der ehemalige Chef der ostfriesischen Kripo, litt noch immer daran, einige Verbrechen nicht wirklich aufgeklärt zu haben. Und Mörder oder Kinderschänder gehörten nun einmal hinter Gitter. Es gefiel ihm, auf eine selbstquälerische und gleichzeitig kokettierende Art, über diese Fälle und das Unvermögen der Justiz sowie über sein eigenes Versagen zu reden.
Diese Veranstaltungen gaben ihm das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, indem er seine Erfahrungen weitergab. Er eröffnete stets mit den Worten: »Wenn es stimmt, meine Damen und Herren, dass man aus Fehlern klug wird, sitzt vor Ihnen ein weiser Mann. Wenn nicht, bin ich auch nur einer der üblichen Trottel.«
Holger Bloem zitierte diesen Satz und nannte Ubbo Heide »die sympathische Vaterfigur der ostfriesischen Kriminalpolizei«.
Inzwischen war der Postbote oben angekommen. Carola öffnete ihm die Tür und nahm ein großes Paket in Empfang. Es war an Ubbo Heide adressiert.
»Von wem ist das denn?«, fragte Carola.
Der Absender war mit Füller geschrieben, die Tinte verwischt.
Sie versuchte, etwas zu entziffern.
»Kennst du einen Herrn Ruwsch? Oder Rumsch?«
Ubbo schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«
Das Ganze sah mindestens nach einer doppelstöckigen Torte oder nach sechs Flaschen Wein aus.
Carola Heide säbelte an dem Paket herum, das mit viel Klebeband umwickelt war.
»Hast du etwas bestellt?«, fragte sie.
»Nein, und Geburtstag habe ich auch nicht.«
Da waren eine Menge Styroporkügelchen, und zwischen ein paar Kühlelementen klemmte ein blauer Müllsack fest. Er war mit Kabelbinder zugeschnürt.
Carola hob ihn aus der Kiste und legte ihn auf den Frühstückstisch. Ein paar Styroporkugeln rollten auf die Käsescheiben. Eine fiel in Ubbos Teetasse.
Mit dem Brotmesser stach Carola Heide vorsichtig in den Müllbeutel. Luft entwich zischend. Noch konnte sie nicht sehen, was da drin war.
Ubbo schnitt ein Seelchen auf. Er hatte diese besondere Brötchenart auf Wangerooge lieben gelernt und aß sie am liebsten mit Honig oder Bierwurst.
Dann sah er aus seinem Blickwinkel zunächst die Haare und die Nase. Instinktiv griff er hin, um Carola das Messer abzunehmen, aber da schrie seine Frau auch schon auf. Mitten auf ihrem Frühstückstisch ragte ein abgetrennter Kopf aus einem Müllbeutel mit fettig verwuschelten und blutverklebten Haaren.
Carola fasste hinter sich ins Leere. Das Messer polterte zu Boden.
Nein, sie wurde nicht ohnmächtig, aber sie brauchte so viel Abstand vom Tisch wie möglich und streckte die Hände weit von sich.
»Ist das da echt?«, fragte sie atemlos.
»Ich fürchte, ja«, sagte Ubbo. Er konnte es nicht nur sehen, sondern auch riechen.
Nein, die Sache ließ sich nicht schönreden. Für Büscher war es eine Strafversetzung von Bremerhaven nach Ostfriesland, höhere Gehaltsklasse hin oder her. Er sollte dieses Himmelfahrtskommando übernehmen und Chef der legendären Ann Kathrin Klaasen werden.
Der eine Typ trug eine rote Krawatte, der andere eine blaue. Doch beide Herren waren sich einig. Der eine wollte Büscher nur zu gern loswerden, der andere wollte ihn haben.
Sie waren sich handelseinig, und Büscher kam sich vor wie ein Esel auf dem Jahrmarkt, der an den Meistbietenden versteigert wurde.
»Es gibt«, so hatte der mit der blauen Krawatte gesagt, »eine Autorität, die der Dienstrang verleiht. Die haben Sie ab jetzt, Herr Büscher. Aber es gibt immer auch noch eine andere Form von Autorität, die aus der Person selbst kommt. Die basiert auf der Anerkennung für ihre Taten. Die müssen Sie sich natürlich erst erwerben. Im Moment hat die Ann Kathrin Klaasen. Diese ganze Dienststelle in Ostfriesland wurde uns als eine verschworene Gemeinschaft geschildert. Die wirken von außen vielleicht, als ob sie sich spinnefeind seien, aber in Wirklichkeit halten die zusammen wie Hopfen und Malz … wollte sagen, Pech und Schwefel. Ihre glücklose Vorgängerin, Frau Diekmann, ist genau daran gescheitert.«
Er blätterte in seinen Papieren und schluckte. Er sah für Büscher aus wie einer, der dringend ein Bier brauchte. Mit trockenem Mund fuhr er fort:
»Seit der Pensionierung von Ubbo Heide führt im Grunde Ann Kathrin Klaasen diese Dienststelle – wenn auch ohne jeden offiziellen Auftrag. Aber sie genießt die Anerkennung der Kollegen. Das darf man nicht unterschätzen!«
Er lockerte seine blaue Krawatte.
»Sie hat vier Serienkiller gefasst, und dieser Journalist Bloem hat eine Legende aus ihr gemacht. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass wir im Hause durchaus darüber nachgedacht haben, Frau Klaasen zur Leiterin der Polizeiinspektion Aurich-Wittmund zu machen. Es gab tatsächlich auch Stimmen dafür. Aber es geht letztendlich nicht. Sie ist eine zu schwierige Persönlichkeit. Nicht ernsthaft teamfähig. Ständig im Clinch mit Autoritäten, in höchstem Maße eigenbrötlerisch.«
Er wurde heiser und hüstelte. Aber niemand bot ihm etwas zu trinken an. Er versuchte, es nur noch hinter sich zu bringen.
»Frau Klaasen hat immerhin einen Innenminister das Amt gekostet, und zwei Staatssekretäre wurden geschasst. Niemand, der politische Verantwortung wahrnimmt, fühlt sich in ihrer Nähe wohl, was nicht heißt, dass man sich nicht gern mit ihr fotografieren lässt. Immerhin ist sie in der Öffentlichkeit sehr beliebt.«
Er konnte den Hustenreiz nicht länger unterdrücken und fingerte ein Lutschbonbon aus seiner Hosentasche.
»Wir haben zwei Absolventen, die ihr Studium an der Deutschen Hochschule der Polizei in Hiltrup abgeschlossen haben und sich um die Stelle bewerben.«
Er winkte ab und verzog den Mund. Das Bonbon klebte jetzt an seinem Gaumen fest.
»Hervorragende Leute, ohne jede Frage, aber in dem Fall wäre das so, als würde man Schafe zu den Wölfen treiben.«
Büscher erinnerte sich später daran, dass er in diesem Moment auf seine Schuhe geblickt hatte. Vorne war das Leder abgestoßen, und sie hatten Schuhcreme nötig.
Der mit der roten Krawatte, sein Vorgesetzter aus Bremerhaven, sagte: »Nun gucken Sie doch nicht so bedröppelt. Leiter Zentraler Kriminaldienst, das ist doch was! Und Sie werden vom Kriminalhauptkommissar zum Ersten Kriminalhauptkommissar ernannt.«
Der mit der blauen Krawatte sah auf die Uhr und erwähnte einen wichtigen Termin im Innenministerium. Er stöhnte: »Auch aus der Polizeidirektion Osnabrück gibt es eine Bewerbung. Aber wir wollen hier einen Externen, der mit nichts und niemandem verstrickt und verbandelt ist. Einen durchsetzungsfähigen Kollegen mit viel Lebenserfahrung. Kurz – wir wollen Sie, Herr Büscher.«
Sie hatten ihm beide viel Erfolg gewünscht. Der mit der roten Krawatte hatte ihn so merkwürdig angesehen, als hätte er Mitleid mit ihm.
Die Auricher Dienststelle im Fischteichweg kam Büscher vor wie Draculas Schloss. Ann Kathrin Klaasen und ihr Mann Frank Weller waren noch im Urlaub auf Langeoog. Büscher hatte also drei Tage Zeit, sich auf das erste Treffen vorzubereiten. Vielleicht konnte er es ja schaffen, ein paar Leute für sich zu gewinnen oder wenigstens die Gruppendynamik hier zu verstehen, bevor der eigentliche Hexentanz losging.
Das Wetter war klar, sonnig, mit einem frischen Nordwestwind. Auf seinem Schreibtisch lag ein Zettel, wie zufällig vergessen oder auch wie eine Drohung: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.
Eine Ausgabe des Ostfriesland-Magazins lag auch auf seinem Tisch. Im Flur hing ein Bericht von Holger Bloem über Ann Kathrin Klaasen hinter Glas an der Wand. Anderswo landete so etwas an der Pinnwand oder in einem Postfach und später im Papierkorb. Hier wurde eine Reliquie daraus.
Büscher machte Kniebeugen vor seinem neuen Schreibtisch. Es knirschte unschön.
Ich brauche hier Verbündete, dachte er. Ich muss mir ein Netz knüpfen. Einen Freund finden oder wenigstens ein paar Leute, denen ich einigermaßen vertrauen kann.
Jeden Fisch kann man mit irgendetwas ködern, das hatte er beim Angeln gelernt. Es gab Raubfische, die bissen in blinkendes, schillerndes Blech, wenn es sich nur verführerisch genug im Wasser bewegte. Andere schluckten aasige Fischfetzen oder ein Stück Fleisch. Er wusste: Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Er hörte Schritte auf dem Flur, öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Da war Rupert.
Büscher schlenderte ein paar Schritte in Richtung Kaffeeautomat. Rupert rechnete nicht damit, dem neuen Chef einfach so im Flur zu begegnen. Er hatte sich eine feierliche Amtseinführung vorgestellt, mit irgendeinem Willi Wichtig vom Innenministerium, Reden würden gehalten werden, und es gäbe bestimmt auch einen kleinen Umtrunk. Vielleicht nicht gerade mit Champagner und Kaviarhäppchen, aber doch wenigstens mit Bier und Knackwurst.
Außerdem war Rupert damit beschäftigt, einen Werbetext für die neue Mitgliederkampagne des Schützenvereins zu entwerfen, und das nahm ihn voll und ganz in Anspruch.
Rupert hielt Büscher für den langerwarteten »Fachmann«, der den Kaffeeautomaten reparieren sollte, denn das Teil spuckte zwar Gemüsesuppe aus, wenn man auf Latte Macchiato drückte, und Kakao, wenn jemand einen Caffè Crema wollte, aber niemals und unter gar keinen Umständen Kaffee. Der Automat war schon dreimal ausgewechselt worden, war groß, brummte und stand im Grunde nur im Weg.
»Wird auch Zeit, dass ihr Penner das Ding hier mal zum Laufen bringt!«, bollerte Rupert gleich los und trat gegen die Stelle, an der das Blech schon ganz eingedellt war.
Büscher sah Rupert fragend an.
»Ja, guck nicht so dämlich! Das ist schon der dritte Kasten, der nicht geht! Wie blöd seid ihr eigentlich? Arbeitet bei euch eigentlich auch jemand, der das gelernt hat? Dann schickt den doch mal zur Abwechslung. Idioten waren nämlich schon genug hier.«
»Ich verstehe nichts von Kaffeeautomaten.«
Rupert verzog den Mund und spottete: »Ja, das hab ich mir schon gedacht. Aber diesmal seid ihr an die Falschen geraten, ihr Burschen gehört doch im Grunde alle in den Knast!«
Büscher räusperte sich. »Mein Name ist Büscher.« Er zeigte hinter sich auf die Tür. »Und das da wird mein neues Büro.«
Rupert hatte keine Ahnung, wie dumm er aussehen konnte, wenn sein Mund so fassungslos offen stand, als wolle er sich zum menschlichen Staubsauger ausbilden lassen.
»Sie sind … ich meine, Sie werden …«
Büscher reichte ihm die Hand. »Leiter Zentraler Kriminaldienst.«
Rupert nahm die Hand und schüttelte sie. »Hauptkommissar Rupert. Entschuldigen Sie bitte … Ich dachte, Sie sind …«
»Ein Idiot. Schon klar …«
Um rasch vom Thema abzulenken, sagte Rupert: »Tut mir leid, ich war ganz in Gedanken. Wir wollen nämlich für den Schützenverein eine Werbekampagne für neue Mitglieder machen … ich arbeite an einem einprägsamen Werbeslogan …«
»Sehr interessant«, log Büscher und heuchelte Interesse. Rupert schluckte den Köder dankbar, und Büscher spürte ihn schon an der Angel zucken.
»Wie finden Sie den? – Mitglied werden! Schießen lernen! Freunde treffen!«
Büscher wog den Kopf hin und her. »Schießen lernen! Freunde treffen!? – Ja, nicht schlecht. Das rückt auch die Geselligkeit und die Kameradschaft in den Vordergrund.«
Sylvia Hoppe stürmte die Treppe hoch. Sie sah aus, als hätte sie kaum geschlafen und zu wenig gegessen. Sie war völlig außer Puste.
»Entweder«, hechelte sie, »die haben sich auf Wangerooge den letzten Rest Verstand weggesoffen, oder irgendein Irrer hat Ubbo Heide gerade einen abgetrennten Kopf per Post geschickt.«
Rupert lächelte erleichtert. Er brauchte jetzt genau so eine Katastrophenmeldung, um aus der blöden Situation mit Büscher herauszukommen. Da kam ihm so ein abgeschlagener Kopf gerade recht.
Rupert plusterte sich auf: »Ja, dann brauchen wir jetzt das ganz große Besteck. Spusi! Gerichtsmedizin! Hubschrauber und …« Er sah Büscher an. »Tut mir leid. Nett, Sie kennengelernt zu haben. Hätte mich gerne noch länger mit Ihnen unterhalten, aber jetzt wartet die Arbeit auf uns. Sie haben es ja mitgekriegt.«
Rupert wollte mit Sylvia Hoppe schon loslaufen, als Büscher rief: »Moment noch! Ich bin hier der Chef im Ring! Gehört Wangerooge denn überhaupt zu unserem Einsatzgebiet? Ist das nicht schon Landkreis Jever?«
Sylvia Hoppe verzog die Lippen und machte eine Geste, als hätte sie für solche Kinkerlitzchen jetzt wirklich keine Zeit. »Landkreis Friesland!«
»Eben! Das ist doch die Aufgabe unserer Kollegen …«
Rupert erklärte es ganz langsam und überdeutlich, als sei Büscher begriffsstutzig: »Es geht um Ubbo Heide! Unseren Chef!«
Sylvia Hoppe zog Rupert mit sich. Sie wollte keine Zeit verlieren.
»Aber ich bin Ihr Chef«, sagte Büscher kleinlaut. Er war sich nicht sicher, ob die zwei ihn noch gehört hatten. Sie waren schon auf der Treppe.
Ubbo Heide, dachte er. Ausgerechnet Ubbo Heide. Und dann wurde ihm klar, dass er als Chef nicht, wie befürchtet, immer in der zweiten Reihe hinter Ann Kathrin Klaasen stünde, sondern im Grunde käme er erst an dritter Stelle. Sie nannten Ubbo Heide immer noch ihren Chef. Hier gab es Rangfolgen und Strukturen, die mit den offiziellen Stellenplänen nichts zu tun hatten.
Am liebsten wäre er wieder nach Hause gefahren, um an der Geeste mit dem Blinker Hechte zu jagen statt hier in Ostfriesland Verbrecher.
Es war Ende Juni. Die Schonzeit für Hechte war vorbei. Seine offensichtlich auch.
Ann Kathrin Klaasen stand mit Frank Weller oben auf dem Wasserturm auf Langeoog und genoss den 360°-Rundumblick über die Insel. Das Meer sah aus wie ein heruntergefallener, wolkenloser Himmel. Sie legte ihren Kopf an Franks Schulter. Er hielt sie auf angenehme Weise fest.
Sie atmete tief. Die Nachrichten hatten sie beunruhigt. Raketen auf Israel. Bomben auf Gaza. Selbstmordattentate im Irak.
»Was bin ich froh«, flüsterte Ann Kathrin in Franks Ohr, »in diesem Land zu leben. Ohne Terror … Im Frieden.« Sie zeigte auf die Dünenlandschaft und das Meer. »Wenn ich so etwas sehe, dann bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil es uns so gut geht. Es ist fast zu schön … Wenn das ein Maler einfach so malen würde, wie es ist, wäre das doch viel zu kitschig, oder?«
Weller wusste genau, wo sie gerade innerlich war. Sie empfand Unheil und Unrecht irgendwo auf der Welt manchmal so, als würde es ihr selbst geschehen oder als sei sie daran schuld. Das passierte nicht immer, aber besonders in so beglückenden Momenten wie diesem hier, auf dem Wasserturm mit dem gigantischen Ausblick.
Er war froh, dass sie noch drei Tage auf der Insel hatten.
»Lass uns gleich ein Fischbrötchen essen«, sagte er, »und dann radeln wir zum Flinthörn. Da ist jetzt kein Mensch. Wir gehen am Wasser spazieren und …«
Ann Kathrin hatte ihr Handy auf Lautlos gestellt, aber Wellers spielte jetzt Piraten ahoi! Er zog es rasch aus der Hosentasche und schaute aufs Display.
»Rupert. Was will der Arsch denn jetzt? Der weiß doch, dass wir Urlaub haben …«
»Wahrscheinlich sucht er wieder seinen Haustürschlüssel, oder er hat sein Passwort vergessen …«, spottete Ann Kathrin.
Weller nahm das Gespräch nicht an, aber er wusste, dass ihn jetzt für den Rest des Tages die Frage wurmen würde, was auf der Dienststelle los war. Noch mehr ärgerte er sich darüber, dass Rupert vermutlich ahnte, wie es ihm jetzt ging. Es war ihm also gelungen, sich in diesen herrlichen Urlaubstag zu drängeln.
Ann Kathrin sah Weller an, dass er mit sich haderte, ob er Rupert zurückrufen sollte oder nicht. Sie ließ ihr Handy in der Tasche und sagte: »Wenn du einen digitalen Entzug bekommst, guck ruhig in deine E-Mails und ruf ihn an, und danach fahren wir mit dem Rad los.«
In dem Augenblick kam eine Nachricht über WhatsApp für Weller an. Rupert schrieb: Geh ran. Ist wichtig. Geht um Ubbo. Abgehackter Kopf.
Weller zeigte Ann Kathrin die Nachricht. Dabei hielt er sein Handydisplay vor die Postkartenaussicht, was für Ann Kathrin alles noch verrückter erscheinen ließ.
Weller zischte: »Wenn das ein Scherz sein soll, dann …«
Aber Ann Kathrin war sich sicher: »Das ist kein Scherz.«
Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken.
Während Weller Rupert anrief, hielt sie sich am Treppengeländer fest und sah nach unten. Fast hätte die Schönheit der Landschaft mich darüber hinweggetäuscht, dachte sie, wie böse und unberechenbar Menschen sein können.
Dann schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel: »Nicht Ubbo! Bitte, lieber Gott, nicht Ubbo Heide.«
Weller drängelte sich an den Touristen, die nach oben wollten, vorbei und lief die Wendeltreppe des Wasserturms hinunter. Ann Kathrin stürmte hinter ihm her.
Die Menschen hatten nur wenig Verständnis für die Hektik der beiden. Ein Rentner aus dem Ruhrgebiet rief: »Nun machen Sie doch nicht so einen Stress! Wir sind doch hier im Urlaub und nicht auf der Flucht.«
Weller und Ann Kathrin holten ihr Gepäck gar nicht erst im Dünenhotel Strandeck ab. Sie ließen die Koffer einfach da und fragten am Flugplatz abgehetzt, ob sie eine Maschine nach Wangerooge chartern könnten.
Nach Luft schnappend stand Ann Kathrin neben Weller, während er den Flug buchte.
Jetzt sehen wir wirklich aus, als wären wir auf der Flucht, dachte sie. Oder zumindest wie zwei Menschen in höchster Not, die es verdammt eilig haben.
Die Formalitäten waren ostfriesisch kurz, mit fünf Worten erledigt:
»Wann?«
»Jetzt.«
»Ihr zwei?«
»Jo.«
Weller hielt mutig seine EC-Karte der Sparkasse Aurich-Norden hin und hoffte, dass sein Konto gedeckt war. Ann Kathrin schob ihn zur Seite und gab ihre EC-Karte ab. Sie nickte der Flugplatzmitarbeiterin nur kurz zu. Die lächelte auf eine verständnisvolle Art, als würden sie und Ann Kathrin sich seit vielen Jahren kennen und ein geheimes Wissen über die Männer dieser Welt teilen.
Knappe fünfzehn Minuten später landeten Weller und Ann Kathrin auf Wangerooge.
Das Paket war in Norden in einer Filiale der Deutschen Post im Verbrauchermarkt in der Gewerbestraße 13 aufgegeben worden.
Rupert flog mit einem selbstgemachten, aber gestochen scharfen Handyfoto vom Aufkleber direkt von Wangerooge nach Norden-Norddeich. Er konnte sich an dem Flug aber nicht wirklich erfreuen. Er sah Seehunde, die sich auf einer Sandbank in der Sonne räkelten, und wurde neidisch.
Die können etwas anfangen mit der Gegend, dachte er. Im Grunde haben die ewigen Urlaub, und unsereins muss sich auf ein paar Tage im Jahr beschränken …
Minuten später stand er am Flugplatz herum und suchte das Dienstfahrzeug, mit dem er abgeholt werden sollte, aber da heute Hochbetrieb herrschte und außerdem zwei Wagen in der Werkstatt waren, musste er mit einem geliehenen Fahrrad vorliebnehmen.
»Stell dich nicht so an«, sagte Marion Wolters aus der Einsatzzentrale. Ihre Stimme klang durchs Handy in Ruperts Ohren noch unangenehmer als sonst. Er hielt das Handy weit weg vom Ohr.
»Da kannst du praktisch hinspucken. Ein Taxi braucht länger, um zu dir zu kommen, als du mit dem Rad zum Combi. Außerdem …«
»Außerdem was?« Er drückte sein Handy fest gegen das rechte Ohr, um sie trotz der landenden zweimotorigen Maschine mit vier Touristen an Bord verstehen zu können.
Als hätte sie es bemerkt, keifte Marion Wolters jetzt erst richtig: »Außerdem tut dir das gut.«
Ihre Stimme brachte ihn auf die Palme. Er ließ sich nicht gern anzicken. Er beschloss, ihr Kontra zu geben.
»Was willst du damit sagen, verdammt nochmal?«
»Ich habe gelesen, dass Männer, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, eine wesentlich höhere Lebenserwartung haben als Autofahrer.«
»So ein Blödsinn.«
»Doch! Das ist praktisch jetzt wissenschaftlich bewiesen.«
»Hast du das aus der Rentner-Bravo oder was?«
»Nein, ich lese die Apotheken-Umschau im Gegensatz zu dir nicht. Das stand in einer richtigen Illustrierten!«
»Strickmoden für Frustrierte, oder wie heißt das Blatt?«
»Du hast ja keine Ahnung, Rupert. Der tägliche Sprint am Bahnsteig hinter dem wegfahrenden Anschlusszug her hält einfach fit. Mit der Aktentasche die Treppe rauf und runter, das ist wie im Fitnessstudio … Andere zahlen Geld dafür … Und wenn du jetzt mit dem Fahrrad … Das ist unbezahlbar!«
»Ach, leck mich doch, Bratarsch!«, schimpfte Rupert und knipste das Gespräch weg, so dass sie seinen letzten Satz nicht mehr vollständig hörte, aber sie konnte sich ohnehin denken, was er gesagt hatte. Dazu brauchte sie nicht viel Phantasie.
Rupert spürte Rückenwind, und das Radfahren machte sogar Spaß. Auf der Ostermarscher Straße überholte er eine Autoschlange, und als er über den Parkplatz auf das Einkaufszentrum zufuhr, öffneten sich die großen Glastüren zur Eingangshalle. Er konnte dieser Einladung einfach nicht widerstehen. Er radelte ins Gebäude.
Rechts befand sich eine Bäckerei, links daneben gab es Zeitschriften, Taschenbücher und Tabakwaren. Außerdem eine Lottoannahmestelle, eine Postfiliale und einen Blumenladen.
Rupert fuhr mit dem Rad an den Taschenbuchständern vorbei, direkt zum Schalter der Postfiliale.
Daniela Stöhr-Mongelli sah es nicht gern, wenn der Verkaufsraum mit Einkaufswagen oder Fahrrädern zugestellt wurde. Sie nahm sich vor, ihn höflich, aber bestimmt darauf hinzuweisen, dass dies ein Geschäft und kein Radweg war. Doch dann kam alles ganz anders.
Die zierliche, dunkelhaarige Frau gehörte genau zu der Sorte Frauen, die in Ruperts Gehirn eine völlige Leere auslösten. Er kam sich sofort vor wie ein Computer mit gelöschter Festplatte. Nur noch wenige Funktionen liefen störungsfrei weiter. Er behielt das Gleichgewicht, bekam Luft und konnte Farben voneinander unterscheiden. Aber obwohl er seinen Namen und seine Adresse noch wusste, fühlte er sich wie der letzte Idiot, und genauso sah er auch aus.
Nur stockend kamen die Worte heraus: »Kripo Aurich. Mordkommission. Rupert mein Name.«
Er versuchte zu lächeln, aber seine Gesichtsmuskeln schienen vergessen zu haben, wie das ging.
»Sie sind von der Mordkommission?«, lachte Daniela Stöhr-Mongelli ungläubig. »Ich dachte, die kommen mit Blaulicht und nicht mit einem Hollandrad.«
Rupert wollte zunächst von seinen Problemen berichten, an einen Dienstwagen zu kommen, aber das machte ihn irgendwie klein, fand er, und er wollte vor ihr nicht wie einer dastehen, der nicht mal ein Einsatzfahrzeug zur Verfügung hatte.
»Ich komme gerade von Wangerooge. Ich wollte unauffällig sein.«
»Von Wangerooge? Mit dem Rad?«
»Nein, ich bin erst geflogen und dann … Ach, das ist doch jetzt völlig egal …« Er beugte sich vor. »Niemand darf wissen, dass wir miteinander reden. Möglicherweise sind Sie in Gefahr … in Lebensgefahr!«
Sie schmunzelte, deutete auf die Schlange, die sich hinter Rupert gebildet hatte und fragte: »Wollen Sie die Kunden dann vielleicht erst vorlassen?«
Rupert sah sich um. Vier Personen standen hinter ihm. Einer wedelte mit seinem Lottoschein und grüßte Rupert freundlich. Sie kannten sich aus dem Mittelhaus. Manchmal hatten sie an der Theke gemeinsam eine Runde ausgeknobelt.
»Moin, Rupert.«
»Moin, Manni.«
Mit großzügiger Geste deutete Manni an, alle Zeit der Welt zu haben. Auch die anderen nickten und rückten neugierig auf, um besser mithören zu können.
Rupert hielt der jungen Frau das Handyfoto hin und fragte: »Erinnern Sie sich daran, wer das hier aufgegeben hat? Das ist jetzt wirklich wichtig.«
Sie lächelte ihn entwaffnend an. »Wenn Sie den Absender wissen wollen, der steht genau hier.«
Rupert stöhnte. »Ja, aber man kann das nicht richtig lesen. Was wir entziffern konnten, lässt sich nicht überprüfen. Das heißt Ruwsch oder Rumsch, aus … das heißt wahrscheinlich Hude. 277, den Rest kann man nicht lesen. Hude gehört zum Landkreis Oldenburg, da wohnt kein Rumsch oder Ruwsch oder so.«
»Zeig mal her«, sagte Manni, Ruperts Kumpel aus dem Mittelhaus, und nahm ihm das Handy ab. Es wurde herumgereicht, und in das allgemeine Rätselraten hinein sagte Frau Stöhr-Mongelli: »Es war ein Express Easy National, bis zwanzig Kilo schwer, mit fünfhundert Euro versichert für 29,90. Ich glaube, ich erinnere mich.«
Rupert war begeistert. »Und kennen Sie den Kerl, der das aufgegeben hat?«
»Es war kein Kerl, sondern eine alte Dame mit Rollator. Sie hat das Paket kaum allein tragen können. Ich glaube, sie hatte solche orthopädischen Schuhe an, so, als sei ein Bein kürzer als das andere. Sie stand etwa da, wo Sie jetzt mit dem Rad stehen. Ich bin hinter der Theke hervorgekommen und habe ihr geholfen, es hier auf die Waage zu legen. Sie hat auch noch ein Päckchen Tabak gekauft und Blättchen. Außerdem den Kurier … also, falls sie es war. Hier werden ja viele Pakete abgegeben, und ich erinnere mich nicht an jeden …«
»In dem Fall aber schon?«
»Ja, weil sie nicht aussah, als würde sie selbst Zigaretten drehen. Sie hat so einen aromatisierten Feinschnitt gekauft, fast mehr für die Pfeife geeignet als fürs Zigarettendrehen. Ich glaube, mit Vanille- oder Mangogeschmack, das weiß ich nicht mehr so genau.«
Rupert kratzte sich am Kinn. »Sie sah also nicht so aus, als würde sie selbst Zigaretten drehen? Wonach sah sie denn aus?«
Ohne lange nachzudenken, antwortete Daniela Stöhr-Mongelli: »Mehr wie eine, die Filterzigaretten raucht … Im Grunde sogar eher wie eine Nichtraucherin. Wissen Sie, wenn man hier arbeitet, lernt man, Menschen einzuschätzen. Sie wirkte auch nicht wie jemand, der Systemscheine spielt, sondern eher einfaches Lotto.«
»Sie hat Lotto gespielt?«, fragte Manni, und Rupert machte eine Handbewegung, als wolle er sich diese Frage zu eigen machen.
»Nein. Das nicht. Ich erinnere mich zumindest nicht daran. Aber sie sah so nach Normalschein aus, mit den ständig gleichen Zahlen.«
»Sie haben aber eine sehr gute Beobachtungsgabe«, lobte eine Frau, die eigentlich gekommen war, um sich eine Fernsehzeitung zu kaufen, »und psychologisches Einfühlungsvermögen haben Sie auch!«
Rupert nahm den Satz dankbar auf und machte jetzt ganz einen auf Big Boss: »Wenn Sie mal einen neuen Job suchen, Frau Stöhr-Mongelli, wir brauchen immer gute Leute wie Sie.«
Ruperts alter Trinkfreund Manni interpretierte den Satz falsch. »Ach, bist du jetzt doch der neue Kripochef geworden? Wurde ja auch Zeit.«
Gebauchpinselt blähte Rupert seinen Brustkorb auf: »Na ja, also nicht so direkt …«
Manni nickte komplizenhaft. »Du ziehst mehr so als graue Eminenz im Hintergrund die Fäden und überlässt den anderen das Vorturnen?«
Rupert lächelte und hoffte, auf die junge Frau Eindruck zu machen.
»Wieso«, fragte Daniela Stöhr-Mongelli, »schwebe ich eigentlich in Lebensgefahr?«
Rupert drehte sich zu den anderen um und sagte: »Halten Sie bitte Abstand. Dies hier ist eine polizeiliche Ermittlung. Ich habe der Dame etwas unter vier Augen mitzuteilen.« Dann flüsterte er: »Nun, Sie sind die einzige Person, die den Täter gesehen hat. Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, werde ich ab und zu einen Wagen vorbeischicken und dafür sorgen, dass er abgeschreckt wird.«
Daniela Stöhr-Mongelli schluckte und sah Rupert aus ihren großen, braunen Augen an.
Das Samurai-Schwert hatte sich als herbe Enttäuschung erwiesen. So einen Reinfall wollte er nicht noch einmal erleben, und dabei war es angeblich ein Gifu Katana von Marto. Im Grunde eine edle Waffe aus 420er rostfreiem Stahl. 70 Zentimeter Klingenlänge mit Beimessern. Es lag gut in der Hand, sah wundervoll aus, aber er hatte ihn nicht mit einem Schlag köpfen können. Die Klinge war stecken geblieben, hatte sich verhakt. Er hatte das Schwert herausziehen und einen zweiten Schlag ausführen müssen. Das hatte ihn voll aus dem Flow gebracht.
Ann Kathrin mochte den Lärm der Flugmotoren nicht und hielt sich die Ohren zu. Aber sie sah gern aus dem Fenster. Die Krähen stolzierten auf Wangerooge über die Landebahn, als ob sie ihnen gehören würde. Erst kurz vor dem Aufsetzen der Maschine machten sie Platz. Das alles geschah wie tausendmal eingeübt: mit Gleichmut und Selbstverständlichkeit.
Ann Kathrin lächelte, denn direkt hinter der gelandeten Maschine hüpften die Krähen wieder auf die Rollbahn. Sie fühlten sich von dem Lärm des großen Vogels gestört und schimpften wütend ihr »Krääh!« hinter ihm her, ein Laut, dem sie vermutlich ihren Namen verdankten. Aber sie hielten von den still dastehenden Flugzeugen auf der Wiese gebührenden Abstand. Nur eine Möwe thronte auf dem Flügel einer Islander, als würde sie auf den Piloten warten.
Ann Kathrin stieg aus. Der Wind zerzauste ihre Haare. Sie atmete tief ein.
Raben und Krähen, dachte Ann Kathrin, symbolisieren in der nordischen Mythologie Weisheit. Der Göttervater Odin hatte stets zwei Raben bei sich, die ihn wie Spione über alles unterrichteten, was um ihn herum vorging. Angeblich konnten sich Hexen und Zauberer in Krähen verwandeln … Sie hing diesem Gedanken nach.
Weller schaute auf sein Handy. Er hatte es während des Fluges nicht ausgeschaltet. Er bezweifelte nicht, dass es selbst beim Sichtflug technische Geräte gab, die vom Handy gestört werden konnten, aber er hatte es in der Eile einfach vergessen.
Weller las Ruperts Nachricht auf seinem iPhone:
Wir suchen eine gebrechliche, alte Dame mit Rollator. Die typische Lotto-Normalschein-Spielerin, die entweder ihre Zigaretten selbst dreht oder Nichtraucherin ist.
»Na«, brummte Weller, »dann können wir ja jetzt gleich eine Fahndung rausgeben.«
Ann Kathrin sah ihn an, als sei sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht. »Was hast du gesagt?«
Weller winkte ab. »Nichts.«
Ubbo Heide saß in seinem Rollstuhl und reckte Ann Kathrin Klaasen die Arme entgegen wie ein Ertrinkender, der den Rettungsring sieht. Sie bückte sich zu ihm, und er drückte sie so fest, als wolle er sie nie wieder loslassen, sondern ein Teil von ihr werden. Und ein bisschen empfand sie es genauso. Eine merkwürdige Symbiose. Ihr Ausbilder war nach dem Tod ihres Vaters unausgesprochen eine Art Vaterersatz geworden. Mit allen Sorgen und Problemen hatte sie sich an ihn wenden können. Immer hatte er seine Hand schützend über sie gehalten und sie geduldig auf den richtigen Weg gebracht.
Jetzt war es genau umgekehrt. Sie hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Er brauchte ihren Rat. Die tiefe Erschütterung war ihm anzumerken.
Wangerooge war sein Rückzugsort. Die Insel der kurzen Wege, die auf geradezu unfassbare Weise der Hektik der Welt trotzte und sich die Unschuld bewahrt hatte, war durch dieses Paket entweiht worden. Als hätte der Täter der Insel die Unschuld genommen.
Ubbo Heide fühlte sich dafür verantwortlich. Ann Kathrin sah es ihm an. Er glaubte, dass er das Böse auf die Insel gebracht hatte. Er fühlte sich schuldig, ja, etwas in ihm sprach ihm das Recht ab, weiter auf dieser Insel zu wohnen, da er doch das Böse magisch anzog.
Seine Frau Carola lag halb bewusstlos von den Beruhigungsmitteln auf dem Bett und starrte einen Holzschnitt von Horst-Dieter Gölzenleuchter an. Das Bild hatte Ann Kathrin Ubbo zum fünfundsechzigsten Geburtstag geschenkt. Es stammte aus dem Besitz ihres Vaters, der Gölzenleuchter-Holzschnitte gesammelt hatte. Es zeigte, je nachdem wie der Betrachter es ansah, mal einen Baum, dessen Äste sich hoch in den Himmel reckten, oder eine nackte Frau, die wehklagend ihre Arme erhob.
Heute sah Carola Heide die Frau. Ja, es kam ihr vor, als könne sie sie weinen hören.
Sie hatte all die Jahre neben diesem Mann verbracht, der umgeben vom Schmutz der Welt immer ein guter Familienvater und freundlicher Mensch geblieben war. Sie wusste, dass Bilder von Opfern ihn oft in den Nächten quälten und ihn nicht schlafen ließen. Sie hatte das Grauen manchmal neben ihm gespürt. Hier auf Wangerooge, nach seiner Pensionierung, hatte er gehofft, dass endlich Schluss wäre mit all dem, doch nun, bewegungslos auf dem Bett liegend, erkannte sie, dass es nie vorbei sein würde. Nie.
So wie der Teufel und Gott einander bedingten, so gehörten ihr Mann und das Verbrechen zusammen. Er war die Antithese.
Eine Träne löste sich aus ihrem rechten Auge und lief über ihre Schläfe hin zu ihrer Ohrmuschel wie ein langsam kriechendes, schleimiges Insekt.
Sie hörte Ann Kathrin und Ubbo nebenan sprechen. Die Wand war mehr wie ein Paravent aus einem dünnen Stoff.
»Hast du einen Verdacht, Ubbo? Kennst du den Mann?«
»Nein, ich habe keine Ahnung, wem der Kopf gehört.«
»Irgendjemand versucht, dich da in etwas hineinzuziehen«, fragte Ann Kathrin. »Warum tut jemand so etwas?«
»Irrtum, Ann. Ich bin drin. Vielleicht kann jemand nicht akzeptieren, dass ich nicht mehr Polizeichef bin. Einer will wohl, dass ich wieder ermittle.«
»Wer weiß überhaupt, dass ihr hier eine Ferienwohnung habt und dass ihr euch im Moment hier aufhaltet?«
»Ich kann dir eine Liste machen. Die meisten sind aus unserer eigenen Firma.« Er sagte gern Firma, wenn er die Polizeiinspektion meinte. »Natürlich meine Tochter Insa und ein paar Freunde …« Leicht angesäuert fügte er hinzu: »Ich glaube allerdings nicht, dass Insa echt auf dem Schirm hat, wo genau wir im Moment sind. Wir haben sie vor sechs oder sieben Wochen zum letzten Mal gesprochen. Ja, und dann gibt es noch ein paar Freundinnen meiner Frau, die Bescheid wissen.«
Carola konnte ein lautes Schluchzen nicht unterdrücken. Als Ann Kathrin zu ihr ans Bett kam, spielte Wellers Handy gerade Piraten ahoi!. Er hatte sich bis jetzt ganz im Hintergrund gehalten und dem Gespräch zwischen Ubbo und Ann Kathrin Raum gegeben. Er blickte aus dem Fenster aufs Meer, während er telefonierte.
Ein Fernsehjournalist wollte ein Interview. Er hieß Joachim Faust, und so, wie er seinen eigenen Namen aussprach, war er daran gewöhnt, dass Menschen ihn kannten. Er war leicht pikiert, weil Weller nicht gleich vor Ehrfurcht stotterte.
»Ich gucke nicht viel Fernsehen«, entschuldigte Weller sich für seine Unwissenheit. »Ich lese lieber.«
»Wir wollen Ihre Frau gerne ins Studio einladen, um mit ihr über den abgeschlagenen Kopf zu sprechen. Sie leitet doch die Ermittlungen, oder?«
»Sie haben sich verwählt«, sagte Weller. »Meine Frau heißt nicht Ann Kathrin Klaasen und leitet auch keine Ermittlungen. Sie ist eine ehemalige Kindergärtnerin, die jetzt als Stripteasetänzerin auf St. Pauli arbeitet. Aber nur aushilfsweise.«
Ubbo Heide sah Weller entgeistert an.
»Aber sie ist bestimmt gern bereit, Ihnen ein Interview zu geben.«
Weller lauschte. Der Fernsehjournalist lehnte ab.
Weller verzog den Mund, hob die Schultern, ließ sie wieder runtersausen und sagte in Richtung Ann Kathrin: »Schade. Kein Interesse.«
Dann drückte er das Gespräch weg.
»Seit du eine Geheimnummer hast, Ann, versuchen immer alle Pressefuzzis, über mich an dich ranzukommen.«
»Deshalb«, sagte Ann Kathrin knapp, »haben wir eine Pressesprecherin.« Dann wandte sie sich Ubbo Heide zu: »Ist der Kopf noch auf der Insel? Ich möchte ihn gerne sehen.«
Ubbo Heide zuckte mit den Schultern.
Weller stöhnte. »Ich kann ja so lange mit den örtlichen Kollegen …«
»Nein«, sagte Ann Kathrin hart, »du schaust ihn dir mit mir an.«
»Aber wir kriegen doch einen Bericht, Ann.«
»Wir müssen wissen, wovon wir reden. Es ist ein Unterschied, Frank, ob man ein Kochrezept liest oder ein Essen ausprobiert.«
Er fand den Vergleich ausgesprochen unpassend, gab aber nach.
Marylin grub mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Justin immer tiefer. Wenn sie im Sandloch stand, ging es ihr bis zum Brustansatz, aber es war noch nicht breit genug.
Heute war ein Supertag, fand Marylin. Hier in Cuxhaven-Duhnen hatten ihre Eltern sich vor zehn Jahren im Urlaub kennengelernt. Sie hatte die Geschichte bestimmt schon hundertmal gehört, fand sie aber immer noch toll.
Mama und Papa hatten sich in einem Fischrestaurant zum ersten Mal gesehen. Sie sprachen den Namen immer noch aus wie ein Wunder: Mama war schon dagewesen, saß alleine an einem Tisch und aß. Sie war traurig, weil die Freundin, mit der sie eigentlich hier Urlaub gemacht hatte, nach einem Streit abgereist war. Papa erzählte immer davon, dass Mamas Anblick ihn wie ein Blitz getroffen hätte und ihm ganz schwindlig geworden wäre von ihrer Schönheit.
Dann warf Mama jedes Mal ein, dass sie damals doch gar nicht so gut ausgesehen hätte, sondern sehr traurig, ja verheult gewesen sei und außerdem viel zu dick. Mindestens fünf Kilo mehr als heute hätte sie draufgehabt.
Aber das ließ Papa nicht gelten. Jedenfalls hatte er sich damals zu ihr gesetzt und behauptet: »Sie sind die Frau meines Lebens. Wir werden heiraten und gemeinsam Kinder in die Welt setzen.«
Mama war das zunächst gar nicht geheuer gewesen, und sie hatte Papa gebeten, sie in Ruhe zu lassen und sich einen anderen Tisch zu suchen.
Heute Abend nun wollten sie zu zweit in dem Fischrestaurant noch einmal essen gehen. Ganz romantisch. Und Marylin und Justin hatten versprochen, ganz alleine in der Ferienwohnung zu bleiben und fernzusehen.
Dafür durften sie Papa heute einmal vollständig eingraben. Natürlich so, dass der Kopf noch oben rausguckte und er Luft bekam.
Das hatten sie in jedem Urlaub mindestens einmal mit ihm gemacht, und jedes Mal gab es dann ein Foto mit Papas Kopf, der aus dem Sand ragte, und mit Marylin und Justin. Meist hielten sie ein Eis in der Hand, und Papa hatte Schweißperlen auf dem Glatzenansatz.
Marylin fand, das Loch war längst tief genug, aber Justin wollte noch weitergraben. Er fühlte sich als Maulwurf wohl. Sandburgen waren seine große Leidenschaft.
Er benutzte eine blaue Blechschaufel mit Holzstiel. Marylin ein rotes Schippchen, mit dem alles viel länger dauerte.
Marylin stieß auf etwas. Es hörte sich komisch an. Quietschend. Das Schippchen verbog sich.
»Hier ist was, Justin«, sagte sie.
»Ja«, lachte er, »hier ist früher einmal ein Piratenschiff untergegangen. Wenn wir es finden, sind wir reich. Die hatten einen geraubten Goldschatz an Bord.«
Marylin wusste immer, wann ihr großer Bruder die Wahrheit sagte und wann er versuchte, seine kleine Schwester an der Nase herumzuführen oder ihr Angst zu machen. Seine Stimme veränderte sich dann, wurde so betont erwachsen, und seine Augenbrauen verloren ihren Schwung und wurden zu geraden Strichen.
Aber da war wirklich etwas, wie ein nacktes Tier, ganz ohne Fell. Ein dicker, toter, weißer Wurm oder … nein … Würmer trugen keine Ringe. Und das da sah aus wie ein dreckiger Fingernagel …
»Ich habe«, kreischte Marylin, »eine Hand gefunden!«
»Mädchen!«, grinste Justin und sah sich dann die Sache doch etwas genauer an.
Dann schrie er: »Papa! Mama!«
Marylin ahnte, dass aus dem romantischen Abendessen der Eltern nichts werden würde. Und sie hatte plötzlich auch keine Lust mehr, heute Abend mit ihrem Bruder alleine in der fremden Ferienwohnung fernzusehen.
Eine dicke Fliege brummte über den Köpfen wie eine Minidrohne, mit der eine fremde Macht die Personen im Raum belauschen, beobachten und vielleicht sogar einschüchtern wollte.
Die erste Dienstbesprechung, die Büscher zu leiten hatte, fand gleich unter Hochdruck statt. Keine Chance auf ein langsames Kennenlernen, ein Hineinwachsen in die Truppe. Er musste von null auf hundert starten. Sogar eine Vorstellungsrunde konnte er vergessen.
Er saß am Tisch neben der hochnervösen Rieke Gersema, die ständig mit ihrer Brille spielte, die überhaupt nicht zu ihr passte, wie Büscher fand. Sie wollte einen Termin für eine Pressekonferenz, weil ihr angeblich schon zig Journalisten auf den Füßen standen. Die ersten Gerüchte über Dschihadisten in Ostfriesland machten die Runde.
Rieke Gersema, Büscher und Sylvia Hoppe hatten ihre Minicomputer vor sich aufgebaut. Sylvia nutzte einen Bildschirm mit Touchscreen, Büscher und Rieke tippten noch auf einer Tastatur herum.
Rupert referierte auf Büschers Signal hin: »Die Jungs aus der Gerichtsmedizin haben diesmal den reinsten Quickie hingelegt. Es handelt sich um einen etwa sechzig Jahre alten Mann. Blutgruppe A, Rhesus positiv. Er hatte noch volles Haar. Mittelblond. Inzwischen aber an den meisten Stellen weiß. Das Ganze lässt auf einen Mitteleuropäer schließen. Als Ubbo ihn ausgepackt hat, war er bereits seit mindestens sechzig Stunden tot. Er wurde mit zwei Schwerthieben enthauptet, also müssen das Stümper gewesen sein. Anfänger sozusagen.«
Ann Kathrin hielt Ruperts Rede kaum aus. Sie stützte ihren Kopf mit der Hand so ab, dass die anderen ihre Augen nicht sehen konnten.
»Wir haben das Gebiss«, fuhr Rupert fort, »und können ihn darüber über kurz oder lang identifizieren … Aber das dauert natürlich.«
Sylvia Hoppe schlug nach der Fliege und warf ein: »Wir gehen gerade die Liste aller vermissten Personen durch, sind aber noch nicht fündig geworden. Hundertzweiundfünfzig Männer, auf die die Beschreibung zutrifft, sind allein im letzten Jahr von der Bildfläche verschwunden. Das sind ebenso Steuerflüchtlinge wie Typen, die lieber untertauchen, als Unterhaltszahlungen zu leisten …«
Rupert ließ seine Unterlagen auf den Schreibtisch platschen: »Mehr wissen wir jedenfalls nicht über ihn …«
»Zu Ubbo Heides Zeiten gab es zu solchen Besprechungen immer Tee und Krintstuut oder wenigstens ein paar Kekse«, maulte Weller. Sein Magen knurrte.
Ann Kathrin räusperte sich. »Wir wissen schon einiges mehr, als du berichtet hast, Rupert.«
»So?« Pikiert verschränkte Rupert die Arme vor der Brust.
»Er war«, sagte Ann Kathrin, »vermutlich Taxifahrer oder Lkw-Fahrer.«
Alle Beteiligten sahen Ann Kathrin an. Büscher setzte sich anders hin. Seine Körperhaltung signalisierte höchste Aufmerksamkeit.
Rupert fühlte sich von Ann Kathrin verspottet. Woher wollte sie denn bitteschön diese Behauptung ableiten? Er versuchte, sie lächerlich zu machen: »Klar. Und er isst gerne Buttercremetorte und liest Jerry-Cotton-Heftchen.«
Während die Fliege um Ruperts Kopf brummte, fuhr Ann Kathrin unbeeindruckt fort: »Er hatte links eine deutlich gebräuntere Gesichtshaut als rechts. Der linke Nasenflügel hatte Spuren eines Sonnenbrandes. Oben am Haaransatz könnten die Hautveränderungen auf weißen Hautkrebs hindeuten, möglicherweise sogar bereits behandelt. Menschen, die viel hinterm Lenkrad sitzen, bekommen links mehr Sonne ab als rechts. Das sieht man im Gesicht und auf dem linken Unterarm.«
Ann Kathrins Ausführungen beeindruckten fast alle Anwesenden. Rupert gönnte ihr den Triumph nicht und konterte: »Es sei denn, er wäre Taxifahrer in England. Da ist dann nämlich alles umgekehrt. Die haben Linksverkehr, und da sitzt der Fahrer rechts.«
Büscher kapierte schnell, wie hier der Hase lief. Die Gruppendynamik erklärte sich ihm wie von selbst. Die Frauen hielten mit Ann Kathrin Klaasen als Kraftzentrum zusammen. Hier war kein Zickenkrieg angesagt. Zwischen Sylvia Hoppe, Rieke Gersema und Ann Kathrin Klaasen bekam man nur schwer ein Blatt Papier, und als Mann schon mal gar nicht.
Weller war so etwas wie Ann Kathrin Klaasens Erster Offizier und wurde auch von den beiden anderen Frauen akzeptiert. Rupert dagegen hatte denkbar schlechte Karten, war aber vermutlich längst nicht so blöd, wie alle dachten.
Sylvia Hoppe, die Rupert nicht ausstehen konnte, weil er sie an ihren ersten Mann erinnerte, verdrehte die Augen, als ob ihr von so viel Dummheit schlecht werden würde.
Ann Kathrin ging nicht auf Rupert ein, sondern sagte: »Der Täter hat eine Adresse aus Hude als Absender gewählt und das Paket in Norden in der Postfiliale im Combi aufgegeben. Er kannte Ubbos Aufenthaltsort. Schon komisch, als ob er einer von uns ist.«
»Von uns Ostfriesen oder von uns Polizisten?«, fragte Weller.
»Er hat auf jeden Fall eine Nähe zu uns«, sagte Ann Kathrin. »Das ist nicht zu leugnen.«
Büschers Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Er ging nicht ran, aber er las irritiert zum zweiten Mal eine Nachricht, die auf seinem Bildschirm erschienen war.
Rupert beobachtete die Fliege. Sie brummte heran, als wolle sie auf seiner Nase landen. Sie flog langsam, provozierend selbstsicher. Ruperts Rechte schoss nach vorn, aber nicht als Faust, wie bei einer rechten Geraden, sondern offen wie ein Greifarm. Er schnappte nach der Fliege, ja glaubte, sie erwischt und zerquetscht zu haben, aber als er seine Hand öffnete, war darin nur Luft, und die Fliege krabbelte in den Locken seiner Minipli herum.
»Verflucht«, schimpfte Rupert, durchaus beeindruckt von Ann Kathrins Gedanken. »Wieso weißt du immer viel mehr als wir, wenn du einen Tatort siehst oder ein Opfer?«
Sie schaute Rupert gerade in die Augen. »Rupert, kaum jemand ist so gut darin, das Offensichtliche zu ignorieren wie du. Du machst das einfach perfekt.«
Rupert fragte sich, ob das jetzt ein Kompliment gewesen war. Immerhin hatte sie in seine Richtung Worte gesagt wie »so gut darin« und »du machst das einfach perfekt«.
Sylvia Hoppe zeigte Rupert den erhobenen Daumen und nickte, als hätten Ann Kathrins Worte sie echt beeindruckt und Rupert könne stolz darauf sein.
Büscher setzte sich mit lauter Stimme durch. »Wir haben den Körper zum Kopf. In Cuxhaven-Duhnen haben Kinder eine männliche Leiche ausgegraben. Alles dran. Nur der Kopf fehlt.«
Ann Kathrin erhob sich. Weller und Sylvia Hoppe standen ebenfalls auf.
»Ja, äh … wollt ihr etwa jetzt noch nach Cuxhaven?«, fragte Büscher.
»Wir würden auch alle lieber zum Weihnachtsmarkt nach Leer«, spottete Weller, »aber im Juni ist da meist noch nix los.«
Büscher wunderte sich, wie schnell und widerspruchslos Ann Kathrin Klaasen einen Hubschrauber bekam. In Bremerhaven hätte er dafür einen so langen Dienstweg einhalten müssen, dass er mit Bus und Bahn schneller an Ort und Stelle gewesen wäre. Hier in Ostfriesland schienen die bürokratischen Hindernisse, zumindest für Ann Kathrin, nicht sehr hoch zu sein. Man kannte sich, und mit einem Griff zum Telefon war alles erledigt.
Er hörte noch einen Satz von ihr, der ihn sehr nachdenklich stimmte: »Danke, Hauke. Du hast jetzt bei mir einen gut.«
Büscher wusste noch nicht, ob er das alles gut finden sollte oder nicht. Er hatte zwar mit den eigentlichen Ermittlungen nichts zu tun, flog aber mit.
Die Kollegen in Cuxhaven staunten nicht schlecht, als Ann Kathrin, Weller, Sylvia Hoppe und Büscher aufkreuzten. Ein paar Nettigkeiten wurden ausgetauscht, jeder bekräftigte, den jeweils anderen unterstützen zu wollen, die Chefs zwinkerten sich sogar komplizenhaft zu.
Ann Kathrin drängte zur Eile und wollte den Rumpf sehen.
Der Leichnam lag nackt auf einer Bahre und wurde bereits von zwei Gerichtsmedizinern begutachtet. Der eine sah aus, als sei er gerade aus der Sommerfrische gekommen, mit leichter Segelbräune, der andere, als bräuchte er dringend eine Kur.
Es war kalt im Raum. Ann Kathrin fröstelte.
An Hand- und Fußgelenken des Toten waren deutliche Fesselspuren zu sehen. Aus dem Bauchnabel ragte ein Sandberg. Auf seinem rechten Knie krabbelte eine Ameise herum.
»Für die Art der Tötung«, sagte der ältere Gerichtsmediziner mit dem Spitzbauch, »haben wir sehr wenig Blut gefunden. Er ist seit gut zweiundsiebzig Stunden tot, vielleicht länger.«
Ann Kathrin sah Weller an: »Der Mann wurde also nicht hier getötet, sondern nur hier vergraben. Was will der Täter uns damit sagen? Hude als Absendeadresse des Päckchens. In Norden aufgegeben. Nach Wangerooge geschickt.«
Weller malte die Orte wie auf einer imaginären Landkarte in die Luft und zog Verbindungslinien. »Cuxhaven-Duhnen. Hude. Norden. Wangerooge.«
»Enthauptungen«, sagte Ann Kathrin, »sind nichts Neues. Es gibt Enthauptungen schon in der Bibel.« Sie zählte auf: »Johannes der Täufer wurde geköpft. Paulus von Tarsus und Holofernes ebenfalls. Aber schon früher, bei den Kelten, wurden Kopfjagden als mystische Rituale gefeiert. Der Kopf war für sie der Wohnort der gesamten spirituellen Persönlichkeit. So wie für uns heute in der Vorstellung vieler Menschen das Herz der Sitz der Seele ist. Die Köpfe der Feinde wurden oft einbalsamiert und in Schatztruhen aufbewahrt. So sollte auch im Jenseits ihre böse Kraft gebannt sein. Manchmal glaubten die Besitzer der abgeschlagenen Köpfe auch, die Kraft würde auf sie übergehen.«
Weller schaute Büscher an und ahnte, was der Mann dachte. Woher wusste Ann Kathrin all dieses Zeug?
Weller kannte die Antwort zwar, nahm Büscher aber die Frage ab, denn wenn Menschen Ann Kathrin kennenlernten, musste ihr Wissen geradezu verstörend auf sie wirken.
»Woher weißt du das alles, Ann?«, fragte Weller.
»Es ist unsere Aufgabe«, sagte sie. »Was sich uns als Erscheinung der Neuzeit präsentiert, ist meist sehr alt. Die Guillotine der Französischen Revolution, so schrecklich es klingt, war ein Fortschritt, nämlich, einen Menschen zu töten, ohne ihn vorher lange quälen und leiden lassen zu müssen.«
»Na, danke«, grunzte Sylvia Hoppe.
Die Kollegen aus Cuxhaven hörten Ann Kathrin interessiert zu. Sie empfanden es durchaus als Ehre, die berühmte Kommissarin vor Ort zu haben. Der kleinere der beiden sah allerdings aus, als müsse er sich jeden Moment übergeben, und Weller hätte ein Monatsgehalt darauf gewettet, dass er sich in den nächsten Stunden krankmelden würde.
»Enthauptungen«, fuhr Ann Kathrin fort, »galten als ehrenhafter Tod, ganz im Gegensatz zum Erhängen. Im Mittelalter war das Enthaupten den Adligen vorbehalten. Die anderen wurden aufgeknüpft. Ich glaube, 2004 wurde die erste Enthauptung zu Propagandazwecken ins Internet gestellt, um Angst und Schrecken zu verbreiten …«
Büscher fasste sich an den Kopf. »Das könnte bedeuten, es gibt diese schreckliche Tat bereits im Internet?«
Ann Kathrin verneinte die Idee. »Die Sache hier läuft ganz anders«, sagte sie. »Es geht dem Täter nicht darum, eine anonyme Öffentlichkeit aufzuschrecken. Er hat sich gezielt an Ubbo Heide gewandt, unseren Chef.«
Ich bin hier der Chef, wollte Büscher sagen, ließ es aber, weil es ihm kleinlich vorkam, jetzt um solche Posten zu ringen.
»Und das bedeutet«, schlussfolgerte Sylvia Hoppe, »Ubbo Heide kennt den Täter.«
Weller konnte dem so nicht zustimmen. »Es bedeutet auf jeden Fall, der Täter kennt Ubbo Heide.«
Ann Kathrin nickte kurz.
Weller, der Liebhaber von Kriminalromanen, zitierte jetzt Sherlock Holmes aus dem Kopf: »Wenn man alles Falsche ausschließt, bleibt am Ende nur das Richtige übrig.«
Es klang, als sei er gerade selbst drauf gekommen, wodurch er bei Büscher Eindruck schindete.
Ann Kathrin betrachtete den linken Unterarm des Toten. »Hm«, sagte sie, und dieses »Hm« war für Weller ein deutliches Zeichen, dass hier etwas nicht stimmte. Sie konnte auf unzählige Arten »Hm« sagen. An der oberen Skala bedeutete »Hm«, dass ihr etwas sehr gut schmeckte, und an der unteren, dass es ungenießbar war. Manchmal bedeutete dieser Laut aber auch: Nicht mit mir, oder: Ich habe diese Sache längst durchschaut.
»Er ist gleichmäßig gebräunt beziehungsweise weiß wie ein Sack Mehl. In den letzten Tagen war das Wetter hier hervorragend. Er hat keine Anzeichen von Sonneneinwirkung.«
»Also doch kein Taxifahrer?«, fragte Büscher.
»Vermutlich nicht«, antwortete Ann Kathrin. Sie stand am Fußende und betastete die Zehen des Toten. Sie sah sie sich sehr genau an.
Büscher fragte sich, wie wahrscheinlich die meisten Anwesenden, warum.
Ann Kathrin ließ sich Zeit. Das machte den jungen Gerichtsmediziner ärgerlich. Der ältere blieb gelassen. »Stimmt etwas nicht?«, wollte er wissen.
»Er hat«, sagte Ann Kathrin bedächtig, »sehr gepflegte Fußnägel. Auch die Hornhaut wurde an den Hacken und den Fußballen sorgfältig abgerieben. Das Hühnerauge hier wurde erst vor kurzem behandelt.«
Die Kollegen aus Cuxhaven sahen sich an und musterten dann die Mediziner kritisch. Der Jüngere guckte, als hätte ihm gerade jemand eine Ohrfeige verpasst. Er wirkte jetzt wie ein Schuljunge.
»Falls der Mann in Cuxhaven Urlaub gemacht hat, gab es vermutlich für ihn hier in einem Hotel einen Pediküre-Termin«, fuhr Ann Kathrin fort. Mit einem schrägen Blick auf die Cuxhavener Kollegen ergänzte sie: »Das lässt sich doch sicher rasch feststellen.«
Beide nickten. Der Ältere zog den Bauch ein.
Er war froh, nun alles anders machen zu können.
Es war leichter, Menschen zu köpfen, als sie auf ewig einzusperren. Jetzt hatte er den Knast endlich fertig. Er hatte nach dem Tod seiner Eltern zuerst die eine Doppelhaushälfte selbst renoviert, dann die andere. Das war weniger Arbeit gewesen, als dieses Gefängnis zu bauen.
Fast alles, was er brauchte, gab es in den Baumärkten der Umgebung, aber er konnte keine Handwerker hinzuziehen. Er durfte sich auch bei schwierigsten Arbeiten keine Helfer leisten. Er konnte keinem trauen. Jeder Mitwisser war eine Gefahr.
Am Ende hatte ihn das alles weitergebracht. Früher hatte er von sich behauptet, zwei linke Hände zu haben. Jetzt war er als Handwerker geradezu Fachmann für alles. Ein Allroundtalent.
Das Gefühl, alles selbst reparieren zu können und nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, stimmte ihn fröhlich. Der Gedanke hatte etwas Göttliches an sich. Allmacht.
Ja, er war stolz auf dieses Gefängnis mit den schalldicht isolierten Wänden und den furchteinflößenden Gitterstäben, die jeden Gedanken an Ausbruch im Keim ersticken sollten. Er hatte sie blank gewienert. Sie glänzten jetzt wie früher die Chromteile seines ersten Motorrads.
Er hatte zwei nebeneinanderliegende Zellen gebaut. Er konnte alles hier drin von außen steuern. Das Licht ein- und ausschalten und das Fernsehprogramm bestimmen. Es gab zwei vollautomatische Feuermelder, die bei Qualm selbständig die Sprinkleranlage auslösten.
Das gute Bett hatte eine frische Federkernmatratze. Es gab ein Waschbecken und eine Toilette. Drei Kameras überwachten jede Bewegung der Häftlinge innerhalb der Zellen. Zwei waren zusätzlich außen angebracht, also unerreichbar für die Delinquenten jenseits der Gitterstäbe.
Mit einem Lautsprecher konnte er von wo immer er war Durchsagen machen. Alles ließ sich bequem mit seinem iPhone steuern und überwachen. Sogar die Zimmertemperatur konnte er per Handy hoch- und runterfahren.
Er hatte Vorräte für mindestens zwei Wochen in der Speisekammer. Wasser. Bier. Pizza und Rumpsteaks für sich. Grünkohl, Bohnen, Linsen und Erbsensuppe als Gefangenenkost.
Er fuhr nach Emden und parkte an der Berufsschule. Er hatte vor, sie sich noch heute zu schnappen. Es wäre schade, noch mehr Zeit zu verlieren. Sie besuchte dreimal wöchentlich einen Kurs an der VHS.
Pilates – Ein Glück für den Rücken und Fünf Kilo abnehmen in fünf Wochen, Koch-/Sportkurs mit Ernährungsplan und neuerdings auch noch Killer-Bauchtraining.
Er nahm ebenfalls am Koch-/Sportkurs teil. Das war die einfachste Gelegenheit, sich Svenja Moers zu nähern.
Er musste sich ein bisschen vor dieser Agneta Meyerhoff in Acht nehmen. Sie fuhr tierisch auf ihn ab und suchte offensichtlich Anschluss oder zumindest ein Abenteuer. Immer wieder berührte sie ihn im Kurs wie zufällig. Eigentlich kam ihm das ganz gelegen. Nicht nur, weil es sein Ego streichelte, sondern weil dann nicht auffiel, dass er nur wegen Svenja Moers hier war. Sie war ihm gegenüber ohne Argwohn und auch ohne Interesse.
Ihr Fahrrad hatte sie wie immer unzureichend gesichert neben den Fahrradständern abgestellt. Die leuchtend bunten Farben waren wie eine Aufforderung an Fahrraddiebe, und er nahm die Gelegenheit wahr. Er brauchte nicht mal einen Dietrich, um das Speichenschloss zu knacken. Das rote Spiralkabel mit Zahlenschloss wirkte wie ein Geschenkband für Diebe auf ihn.
Er brauchte für beide Schlösser zusammen keine zehn Sekunden. Er hatte es auf YouTube gelernt, wie so vieles. Er wunderte sich zwar, dass der Staat Anleitungen zum Schlösserknacken im Internet genauso tolerierte wie alle anderen Lehrvideos für Heimwerker, aber wir lebten eben in einer irren Welt.
Er fuhr auf dem Rad um die Ecke, überquerte die Straße und warf es bei der Kunsthalle in den Emder Stadtgraben. Dann ging er zurück zur VHS.
Wenn der Kurs vorbei ist, dachte er, und sie ihr Rad sucht, dann werde ich, ganz Kavalier, ihr anbieten, sie nach Hause zu fahren …
»Wir haben einen Rumpf in Cuxhaven«, sagte Ann Kathrin, »und einen Kopf auf Wangerooge. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass beide zusammengehören.«
Büscher schüttelte sich. »Also, Frau Klaasen, jetzt übertreiben Sie aber wirklich … Sie wollen doch nicht behaupten, dass …«
Sie hob abwehrend die Hände. Der jüngere Cuxhavener Kollege notierte etwas. Ann Kathrin trat vom Tisch zurück, auf dem der Rumpf lag. »Ich behaupte nichts. Ich möchte nur einen Sachverhalt überprüfen. Das Ganze ist ja objektivierbar.« Dann trat sie wieder an den Tisch.
Büscher hielt das zwar für Zeitverschwendung, gab ihr aber recht, um keinen Streit zu provozieren.
Sekunden später konnte der Mediziner mit der Urlaubsbräune verlautbaren, der Tote habe die Blutgruppe Null Rhesus positiv.
Büscher lächelte. »Sie müssen sich irren. A Rhesus positiv ist die Blutgruppe.«
Der Doktor sah nicht aus, als sei er Widerspruch gewöhnt. Er verzog leicht überheblich die Lippen und reckte sein Kinn vor. »Ganz sicher nicht, Herr Kommissar. A positiv ist zwar eine recht häufig vorkommende Blutgruppe, aber dieser bemitleidenswerte Mensch hier hat sie nicht, sondern Null Rhesus positiv.«
Sylvia Hoppe wirkte erschrocken.
»Warum sollte er auch die Leiche so weit fahren oder den Kopf …«, fragte Weller.
»Er hat ihn in Norden aufgegeben. Er hätte unterwegs verunglücken können oder in eine Polizeikontrolle geraten. Mit Leichenteilen im Kofferraum gurkt man doch nicht unnötig lange herum.«
»Das heißt«, sagte Ann Kathrin, »irgendwo gibt es noch einen Kopf und noch einen Rumpf, der …«
Von seinem eigenen Gedanken geradezu elektrisiert, rief Weller: »Ich wette, er hat den zweiten Rumpf in Norddeich vergraben!«
Sylvia Hoppe zuckte zusammen und empörte sich: »Mensch, wie kommst du denn da drauf? Wieso ausgerechnet in Norddeich?«
»Na, da ist der Strand vergleichbar mit diesem hier. Und bis zum Combi ist es auch nicht weit.« Weller hob den Zeigefinger und dozierte plötzlich: »Täter verhalten sich in Mustern. Wir müssen sie erkennen, dann …«
Ann Kathrin legte eine Hand auf seinen rechten Arm. »Ja, Frank. Ja, schon gut.«
»Wir sollten zurück«, schlug Büscher mit einem Blick auf die Uhr vor und fügte dann leise, aber entschlossen hinzu: »Urlaubssperre. Wir brauchen jetzt jeden Mann!«
Spitz fragte Sylvia Hoppe: »Und die Frauen können zu einem Kurztrip in die Karibik, oder wie darf ich das verstehen?«
»Nein, natürlich nicht«, stöhnte Büscher und wusste, dass er sich vor ihr in Acht nehmen musste.
»Ja, wollen wir jetzt in Norddeich den Strand umgraben, oder was?«, fragte Weller im Rausgehen.
Der jüngere Cuxhavener Kommissar lief hinter ihnen her und versuchte, Ann Kathrin aufzuhalten: »Soll das jetzt etwa heißen, dass der Rumpf nicht zu Ihrer Leiche passt und hier irgendwo noch ein Kopf sein muss?«
Ann Kathrin ging weiter. Weller drehte sich zu dem Kollegen um und lächelte ihn an. »Genau das wollte sie damit sagen.«
Im VHS-Kurs hielt er sich bewusst fern von Svenja Moers. Er lächelte sie nur zweimal freundlich an, einmal zur Begrüßung und ein anderes Mal, als ihr Schälmesser durch eine ungeschickte Handbewegung geradlinig in seine Richtung flog wie ein Wurfmesser. Es traf seinen Oberarm, allerdings nicht mit der Spitze, sondern mit dem Griff. Er gab es ihr lachend zurück, und sie entschuldigte sich wortreich.
Den Rest des Abends beachtete er sie bewusst nicht, sondern ließ sich von Agneta Meyerhoff beflirten, die schon zum dritten Mal erzählte, dass ihr Mann ja auf Montage sei und ihr zu Hause manchmal die Decke auf den Kopf fiele. Dabei sei sie früher so ein lebenslustiges Mädchen gewesen und hätte echt Hummeln im Hintern gehabt.
Sie ging zwischendurch zweimal raus, um draußen eine zu rauchen. Sie forderte ihn jedes Mal auf mitzukommen, und wenn er sich nicht täuschte, zwinkerte sie ihm dabei sogar zu. Aber es hätte auch sein können, dass nur ein Staubkörnchen in ihr linkes Auge geflogen war. Sie hielt sich bei aller Eindeutigkeit immer ein Hintertürchen offen.
Ich darf nicht mit Svenja Moers gesehen werden, wenn sie rausgeht, dachte er. Ich muss dann schon weg sein, und wenn sie ihr Rad sucht, komme ich zurück, um mich als Retter anzubieten. Die Polizei wird später versuchen, jeden ihrer letzten Schritte nachzuvollziehen. Natürlich werden sie alle Kursteilnehmer befragen, denn vermutlich waren wir die Letzten, die sie gesehen haben.
Er lächelte in sich hinein. Sie würden ihn als freundlichen Hippie beschreiben. Er freute sich jetzt schon darauf. Er machte hier auf Achtundsechziger, gab so eine rothaarige Mischung aus Rainer Langhans und Fritz Teufel.
Er spürte wieder dieses Kribbeln. Er war ganz im Flow. Dieses Gefühl war besser als alles, was er kannte. Das völlige Aufgehen in der augenblicklichen Tätigkeit.