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Mord an der Nordseeküste Was geschah damals wirklich bei dem Banküberfall, bei dem Ann Kathrins Vater ums Leben kam? Bis heute konnte dieser Fall nicht geklärt werden. Doch jetzt verfolgt Ann Kathrin eine neue Spur. Es sind Fotos ihres Vaters aufgetaucht, die nicht zu dem Bild passen, das Ann Kathrin von ihrem Vater hat. Aber als Ann Kathrin die Frau aufsucht, der die Fotos gehören, liegt diese tot im Wohnzimmer. Ein Zufall? ** Der neue Film: "OstfriesenSühne": Mit Julia Jentsch in der Hauptrolle. Nach Motiven des Buches "OstfriesenSünde".
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Seitenzahl: 533
Klaus-Peter Wolf
Kriminalroman
Roman
Mord an der Nordseeküste
Was geschah damals wirklich bei dem Banküberfall, bei dem Ann Kathrins Vater ums Leben kam? Bis heute konnte dieser Fall nicht geklärt werden. Doch jetzt verfolgt Ann Kathrin eine neue Spur. Es sind Fotos ihres Vaters aufgetaucht, die nicht zu dem Bild passen, das Ann Kathrin von ihrem Vater hat. Aber als Ann Kathrin die Frau aufsucht, der die Fotos gehören, liegt diese tot im Wohnzimmer. Ein Zufall?
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Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über dreizehn Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.
Die Polizeiinspektion Aurich, das [...]
BETRETEN DER SANDBANK VERBOTEN. [...]
Der Nebel kroch wie [...]
Ansgar Kröger wusste, dass [...]
Weller und Huberkran hatten [...]
Ann Kathrin Klaasen hatte [...]
Als Udo Kröger nach [...]
Blut geleckt?
Wenn Sie mehr von [...]
Kritikerstimmen zu … »Ostfriesenkiller«
Kritikerstimmen zu … »Ostfriesenblut«
Kritikerstimmen zu … »Ostfriesengrab«
Die Polizeiinspektion Aurich, das Hotel Inselfriede auf Spiekeroog, die Störtebeker-Teestube in Marienhafe, das Restaurant Minna am Markt in Norden und das Café ten Cate, die Landschaft, Fähren und Häuser gibt es in Ostfriesland wirklich. Die Internetseite Gelsenkirchener Geschichten existiert tatsächlich, und im Schwarzen Bock in Wiesbaden habe ich oft übernachtet. Doch auch wenn dieser Roman ganz in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und die Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
BETRETEN DER SANDBANK VERBOTEN. LEBENSGEFAHR! BEI AUFLAUFENDEM WASSER WIRD DER RÜCKWEG DURCHEINEN PRIEL MIT REISSENDER STRÖMUNG ABGESCHNITTEN! JEDERZEIT KANN PLÖTZLICH SEENEBEL AUFTRETEN
Kurverwaltung Spiekeroog
Der Nebel kroch wie ein Tier über den Deich und zog sich, als Ann Kathrin Klaasen näher kam, zurück, als hätte er Angst vor ihr. Sie blieb stehen. Sie hielt den Atem an und staunte nur. Der Nebel verharrte jetzt ebenfalls in seiner Position. Sie kam sich belauert vor.
Das glaubt mir kein Mensch, dachte sie, atmete aus und machte einen Schritt vorwärts auf das hüfthohe weiße Gebilde zu.
Feuchte warme Luft, die über dem Boden abkühlt, mehr ist das nicht. Nebel hat keine Augen. Keinen Verstand. Keinen Plan. Er ist nicht wie deine verfluchten Mörder, sagte sie sich. Der Nebel hat nichts Menschliches an sich.
Trotzdem wich er vor ihr zurück. Sie begann an ihrem Verstand zu zweifeln. War sie kurz davor, durchzudrehen? Hatte der ständige Umgang mit den Abgründen der menschlichen Seele sie endgültig geschafft?
Den Job kann keiner unbeschadet lange machen, Ann, hatte Weller zu ihr gesagt, und dabei den Rest vom Satz nur gedacht und nicht gesprochen: Eine Frau erst recht nicht. Sie hatte es ihm angesehen.
Sie breitete jetzt trotzig die Arme aus und rannte dann auf den Nebel zu. Vor ihr bildete sich eine Gasse. Der Nebel wich nach links und rechts aus.
Ann Kathrin lachte. So ähnlich musste Moses sich gefühlt haben, als sich vor ihm das Meer teilte.
Das Gewitter über dem Meer war so weit weg, dass Ann Kathrin den Donner nicht hören konnte. Die Blitze über Norderney wurden von den Wolken reflektiert. Sie nahm sie als weiches warmes Licht wahr. Ein fernes Wetterleuchten. Trotzdem verlieh all das diesem verlassenen Küstenstreifen, an dem vor kurzem noch friedliche Touristen Wattwanderungen mit Kurt Knittel unternommen hatten, etwas Gespenstisches.
Ein Paar Turnschuhe von der letzten organisierten Wattführung waren liegen geblieben. Ann Kathrin stolperte darüber.
Sie blieb in ihrer Nebelschneise auf der Deichwiese stehen und rieb sich die Arme. Ob Frank schon zu Hause war? Sie stellte sich vor, dass er gerade seine berühmte Fischsuppe kochte.
Jetzt in der Küche zu sitzen und eine heiße Suppe zu löffeln war schon eine Verlockung, doch etwas hielt sie hier an dieser einsamen Stelle in Norddeich fest. Es war nicht nur das Naturschauspiel, sondern eine merkwürdige Vorahnung, als sei dies hier die Ankündigung einer großen Veränderung.
Aber zu Hause im Distelkamp 13 wartete Frank Weller nicht auf sie. Ann Kathrin fror. Mitten im August. Sie brauchte ihn jetzt so sehr! Ihn und nicht seine Stimme auf dem Anrufbeantworter. Das Wort »Nachtschicht« hatte plötzlich einen schmerzhaften Klang.
Wie um sich selbst zu bestrafen, aß sie gar nichts, sondern wälzte sich in dem französischen Bett, das ihr noch nie so groß vorgekommen war. Sie drückte sich das Kissen gegen die Ohren, aber die Holzbalken hatten nie lauter geknarrt als in dieser Nacht. Der Wind hämmerte gegen das Garagentor und irgendwo im Haus klapperte eine Tür.
Ann Kathrin stand auf und ging noch einmal herum, prüfte, getrieben von einer inneren Unruhe, jedes Türschloss und ließ die Rollläden herunter.
Es war kurz vor halb vier morgens, als sie endlich einschlief. An Tagen wie diesen neigte Ann Kathrin zu der Annahme, die Dinge hätten ein Eigenleben und würden sich gegen sie verschwören. Der Wecker zum Beispiel, der zwar die ganze Nacht laut tickte, aber ausgerechnet heute Morgen nicht klingelte, musste sich mit dem Vergaser abgesprochen haben. Oder warum war der ausgerechnet jetzt verstopft, wenn sie dringend zwanzig Minuten herausholen musste, um noch pünktlich vor Gericht zu erscheinen? Und wieso hatte ihr Handy, zum Teufel nochmal, hier keinen Empfang, wo sonst alle Balken im Display hell leuchteten?
»Zufall«, hatte ihr Vater gesagt, »ist das Pseudonym, das Gott wählt, wenn er inkognito bleiben möchte.«
Ihr Vater … Sie hatte heute Nacht wieder von ihm geträumt. Er und seine Sprüche. »Der Teufel ist ein Eichhörnchen.« Es kam ihr vor, als würde er sie aus seinem Grab heraus auslachen.
Sie hatte keine Lust, jetzt so weiterzumachen. Es war einfach nicht ihr Tag. Sie würde vor Gericht heute keine gute Nummer abgeben. Sie kannte Heiko Käfer, den Anwalt des Beschuldigten. Ein schmieriger Typ. Er hatte einen Ring kleiner, gelblicher Fettgeschwulste um die Augen und das Weiße in seinen Augen war gelblich verfärbt. Auch die braunen Hautflecken auf seinem Handrücken deuteten darauf hin, dass der Mann eine kranke Leber hatte, eine Fettleber, durch zu gutes Leben und zu viel Alkohol, vermutete Ann Kathrin.
Käfer liebte es, Kripobeamte vorzuführen. Er tat es geradezu genüsslich. Entscheidungen, die sie unter großem Druck in Sekunden fällen mussten, studierte er ruhig bei einem Latte macchiato mit drei Stückchen Zucker und fieselte fein auseinander, was wie warum falsch gelaufen war. Nach Befragungen durch ihn fühlte sie sich jedes Mal als Idiotin, völlig unfähig und hoffnungslos überfordert. Er zögerte nicht, Verfahrensfehler aus anderen Verhaftungen ins Feld zu führen, um den Richter davon zu überzeugen, dass dem Angeklagten Unrecht geschah: »Ich kenne die werte Kommissarin aus anderen Prozessen. Ihre unorthodoxen Methoden haben sich oft am äußersten Rand der Rechtsstaatlichkeit bewegt und wurden schon mehrfach juristisch korrigiert. Die Staatskasse musste sogar schon Schadenersatz zahlen, weil … «
Nein, das würde sie sich heute nicht antun.
Danke, Wecker! Danke, Vergaser! Danke, Handy! Ich habe die Botschaft verstanden. Ich werde zu Hause bleiben. Ich werde zu Dr.Bill gehen und mich krankschreiben lassen.
Sie betrachtete ihr Gesicht im Rückspiegel. Sie hatte nicht geduscht und die Haare einfach mit einer Spange zusammengeklemmt. Ihre Haut war blass und ihre Lippen wirkten blutleer. Sie klatschte sich mit der offenen Hand ins Gesicht, um ein bisschen mehr Farbe zu bekommen. Vergeblich.
Dr.Bills Praxis war wegen einer Fortbildung geschlossen. Ann Kathrin Klaasen sah zum Marktplatz hinüber. An der Fischbude hatte sich eine Schlange gebildet. Sie bekam Hunger auf ein Krabbenbrötchen und hielt ihr Gesicht in die Sonne.
Ein paar freie Tage sind alles, was ich brauche, dachte sie und ging zu Dr.Ekkehart Wolter. Es saßen nur drei Leute im Wartezimmer. Ann Kathrin nahm sich ein Glas Wasser. Neben ihr blätterte eine alte Dame aus dem Seniorenzentrum der AWO in einer Zeitschrift. Das Blatt interessierte sie nicht. Sie wollte ein Gespräch beginnen und stellte sich vor.
Ann Kathrin antwortete freundlich, ohne sich innerlich auf den Dialog einzulassen. Als Frau Klocke aufgerufen wurde, erhob sie sich umständlich und stöhnte. Dabei fiel ihre Handtasche auf den Boden. Der Inhalt kippte aus. Ann Kathrin bückte sich sofort und half Frau Klocke beim Zusammenpacken.
Das Portemonnaie lag offen. Das Foto hinter der Plastikfolie nahm Ann Kathrin die Luft. Das da war ohne jeden Zweifel ihr Vater. Mit seinem unwiderstehlichen Lachen stand er an einem Sandstrand neben einer Bikinischönheit. Er hatte locker einen Arm um ihre Hüfte gelegt.
Ann Kathrin konnte nicht anders. Ohne um Erlaubnis zu fragen, fingerte sie das Bild aus der Hülle, um es genauer betrachten zu können. Hitze- und Kälteschauer liefen ihr in Wellenbewegungen über den Körper.
Hintendrauf stand mit dünner Kugelschreiberschrift: Hotel Inselfriede, Süderloog 12, Spiekeroog.
Frau Klocke registrierte die merkwürdige Reaktion und fragte: »Kennen Sie meine Tochter?«
Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein, aber das da neben ihr ist … « Sie sprach die Worte »mein Vater« nicht aus. Sie öffnete nur tonlos den Mund.
»Das ist das letzte Foto, das ich von meiner Tochter habe. Sie ist vor Spiekeroog ertrunken.«
Das Wartezimmer begann um Ann Kathrin zu trudeln. Sie sackte zusammen.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie das beruhigende Gesicht von Dr.Wolter. Neben ihm seine Frau, die sich an Ann Kathrins Arm zu schaffen machte.
Ann Kathrin sah nicht hin. Sie vermutete, dass man ihr gerade Blut abgenommen hatte. In Wirklichkeit hing sie an einem Tropf. Dr.Wolter hatte ihren Blutdruck gemessen und sah sich Ann Kathrins EKG an.
»Sie sind kollabiert«, sagte er. »Bleiben Sie ruhig noch ein bisschen liegen.« Er zeigte auf den Tropf. »Das da ist nur Kochsalzlösung. Sie brauchen jetzt eine Menge Flüssigkeit.«
Bevor er sie gehen ließ, musste sie ihm versprechen, sich ein paar Tage auszuruhen. Aber sie dachte gar nicht daran, sich jetzt zu Hause hinzulegen. Sie besuchte stattdessen Frau Klocke in ihrer 45-Quadratmeter-Wohnung auf dem AWO-Gelände in der Schulstraße 71.
Draußen vor dem Fenster hoppelten Kaninchen zu einem Stück altem Brot. Sie wurden von einer Möwe vertrieben, die ihnen die Beute mit ihrem spitzen Schnabel abnahm und mit den Flügeln flatterte, als wolle sie die Kaninchen warnen, nicht noch einmal ihr Jagdrevier zu betreten.
Frau Klocke hatte sich gerade einen Ostfriesentee gekocht. Der ganze Raum roch danach. Ann Kathrin mochte eigentlich gar keinen Tee, sie trank viel lieber Kaffee, aber sie wollte sich jetzt nicht mit solchen Nebensächlichkeiten aufhalten.
Schon nach dem ersten Tässchen ging es Ann Kathrin besser. Frau Klocke erzählte von ihrer Tochter Isolde, die Kriminalhauptkommissarin gewesen sei. Der Mann an ihrer Seite sei ein gewisser Ludwig Stein, der Lebensgefährte ihrer Tochter. Die beiden seien sehr glücklich miteinander gewesen.
Frau Klocke hatte noch mehr Fotos von ihm. Ann Kathrin spürte wieder einen Anflug von Schwindel. Dann sah sie ihren Vater mit dieser Frau in Venedig auf dem Markusplatz. Auf dem nächsten Bild stieg er mit ihr in eine Gondel. Dann kamen Fotos aus Rom und Amsterdam. Ihr Vater trug bunte Hemden und lockere, farbige Jacketts, die sie früher nie an ihm gesehen hatte.
Nun wollte Frau Klocke etwas über die Beziehung zwischen Ann Kathrin und ihrer Tochter wissen. Frau Klocke sah Ann Kathrin dabei freudig aufgeregt an, fast als könne eine kleine Anekdote ihre Tochter für eine kurze Zeit wieder lebendig machen.
Ann Kathrin musste die nette Dame enttäuschen. Um freier sprechen zu können, erhob sie sich aus dem plüschigen Sessel und verfiel in ihren Verhörgang. Drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte, eine Kehrtwendung.
»Ich kenne Ihre Tochter gar nicht. Aber das da ist mein Vater. Er war bei der Kripo und wurde bei einem Banküberfall erschossen. Der Täter läuft immer noch frei herum und … «
Frau Klocke schüttelte den Kopf. »Nein, junge Frau. Sie irren sich. Meine Tochter war bei der Kripo! Nicht Herr Stein. Er war Geschäftsmann, hat mit Diamanten gehandelt und mit Antiquitäten.«
Ann Kathrin musste sich setzen. Die Kraft wich aus ihr. Sie bat Frau Klocke um ein Glas Wasser. Dann räusperte Ann Kathrin sich. »Danke, Frau Klocke. Tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache. Es geht mir nicht besonders. Wissen Sie, mein Vater war bis zu seinem Tod mit meiner Mutter verheiratet und … «
Frau Klocke winkte beschwichtigend ab. »Aber liebes Kind, das ist nicht Ihr Vater. Das ist Herr Stein. Bestimmt sieht er Ihrem Vater ein wenig ähnlich. Wahrscheinlich wünschen Sie sich einfach zu sehr, dass er noch lebt. Glauben Sie mir, wenn jemand das versteht, dann ich. Manchmal sehe ich meine Tochter auf der Straße vor mir her laufen. Ich rufe sie dann und bin mir ganz sicher, ja, das ist sie. Das muss sie sein. Aber dann, wenn sie sich umdreht, ist es eine wildfremde Frau.«
Ann Kathrin hörte nicht mehr zu. Sie sagte nur: »Das ist mein Vater. Das sind seine Augen. Seine Haare. Sein Lächeln. Seine Figur und … « Ann Kathrin tippte auf das Strandfoto. »Da, die Narbe am Hals, die stammt von einem Holzsplitter beim Campen. Er hat sich mit einem Beil ungeschickt angestellt. Ich war dabei. Es hat so sehr geblutet, ich hatte Angst um ihn … «
Ann Kathrin wollte noch viel wissen, aber Frau Klocke bat sie, morgen wiederzukommen. Sie sei mit ihren fünfundsiebzig Jahren für solche Aufregungen im Grunde schon zu alt.
Ann Kathrin bat um ein paar Bilder. Frau Klocke überlegte kurz, prüfte mit kritischem Blick Ann Kathrins Vertrauenswürdigkeit und nickte dann großzügig.
Als Ann Kathrin die Wohnung von Frau Klocke verließ, krächzte über ihr eine angriffslustige Möwe.
Im Distelkamp 13 warf Ann Kathrin sich in ihrem Arbeitszimmer im Obergeschoss aufs Sofa und starrte an die Decke. Dann telefonierte sie mit Weller. Er hatte zwar Sorge, Ann Kathrin könne sich da in etwas hineinsteigern, aber er spürte durch ihre Mattigkeit hindurch eine wilde Entschlossenheit, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Er gab die Namen ins System ein und versprach, heute Abend alle Informationen über Isolde Klocke, ihren Tod und Ludwig Stein mitzubringen.
Ann Kathrin fiel erschöpft in einen tiefen, zunächst traumlosen Schlaf. Aber dann wurden die Bilder, die aus ihrer Seele hochstiegen, umso heftiger. Ihr toter Vater stand vor ihr. Die Kugel hatte seinen Hals zerfetzt, aber im Traum sprach er klar und deutlich: »Was weißt du denn schon von mir, mein Mädchen? Ich war nicht nur der Vater, Ehemann und Kommissar. Mein Leben war unendlich viel bunter, als du denkst.«
Während er zu ihr sprach, heilte seine Wunde. Das Blut verschwand von seinem Hals, sein Lächeln wurde milde, als hätte er vor, ihr etwas zu verzeihen, aber seine Stimme wurde leiser, und das Bild von ihm verblasste. Gleichzeitig entfernte es sich. Bevor es mit einem Plopp verschwand, rief Ann Kathrin: »Ich werde deinen Mörder finden, Papa!«
Als sie aufwachte, kniete sie, nur mit einem T-Shirt bekleidet, auf dem Sofa und brüllte den Schrank an: »Du entkommst mir nicht, du Mistkerl!«
Ann Kathrin riss ungestüm ein Fenster auf und fegte dabei eine vertrocknete Orchidee von der Fensterbank.
Die untergehende ostfriesische Sonne versteckte sich hinter einer tiefliegenden Wolke über Juist. Sie ließ sie im warmen Licht erstrahlen wie ein ausgefranster, vom Himmel gefallener Lampion. Doch auch in der Wolke glaubte Ann Kathrin, das Gesicht ihres Vaters zu erkennen.
Sie zog sich kurz entschlossen an. Vielleicht, dachte sie, ist die alte Dame noch wach. Bestimmt setzt ihr die Geschichte genauso zu wie mir, und sie kann nicht schlafen. So wie Ann Kathrins Mutter, die oft schon um achtzehn Uhr ins Bett ging, aber gegen Mitternacht wieder aufstand und dann bis vier, fünf Uhr hellwach war.
Ann Kathrin stieg in ihren froschgrünen Twingo und parkte schon Minuten später auf dem Gelände der AWO Norden.
Hinter dem Graben lag der älteste jüdische Friedhof Ostfrieslands. Bei Rita und Peter Grendel brannte noch Licht, aber vom Distelkamp bis zur Schulstraße war ihr kein einziges Auto begegnet. Norden wirkte merkwürdig ausgestorben auf Ann Kathrin.
Jetzt, kurz nach Sonnenuntergang, kühlte es rasch ab. Sie erinnerte sich an den Nebel, der sie gestern um diese Zeit am Deich umgeben hatte. Der Nordwestwind brachte dunkle Wolken mit sich und schob sie vor die Sterne. Der kleine und große Wagen waren schon nicht mehr zu sehen.
Die Wohnungen neben Frau Klocke waren dunkel, aber bei ihr lief noch der Fernseher. Das Flimmern schnell wechselnder Szenen spiegelte sich im gekippten Küchenfenster. Ann Kathrin freute sich, sie hatte also Glück. Sie wog ab, ob es klüger wäre zu klingeln oder zu klopfen. Auf keinen Fall wollte sie Frau Klocke unnötig erschrecken.
Ann Kathrin klopfte erst zaghaft, dann heftiger. Keine Reaktion.
Vielleicht ist Frau Klocke vor dem Fernseher eingeschlafen, dachte Ann Kathrin. Aber etwas stimmte nicht. Ann Kathrin spürte es an den kleinen Härchen in ihrem Nacken und an den Oberarmen. Sie stellten sich auf.
Saß Frau Klocke wirklich so spät noch vor dem Fernseher und sah sich Madonna auf MTV an? Nun, vielleicht hatte sie Besuch von einem Enkelkind.
Jetzt rappte Bushido. Ann Kathrin klingelte zweimal kurz, dann lauschte sie in die Nacht. Hinter dem Parkplatz, auf dem Friedhof beim jüdischen Mahnmal, machte laut ein Käuzchen auf sich aufmerksam.
In der Wohnung rührte sich niemand. Vielleicht wäre Ann Kathrin unter anderen Umständen nach Hause gefahren und am nächsten Morgen zurückgekehrt. Doch Madonna und Bushido hatten sie verunsichert.
Sie ging einmal um das langgestreckte Gebäude herum. Auf der Wiese huschte etwas vor ihr ins Gestrüpp. Sie zählte die Terrassen ab. Dort, hinter dem dritten großen Fenster, musste Frau Klocke wohnen.
Ann Kathrin trat in einen frischen Maulwurfshügel. Sie beugte sich über das kleine Mäuerchen, hinter dem Frau Klocke auf einem Wäscheständer eine Bluse zum Trocknen aufgehängt hatte. Die Küste hatte einen windigen, sonnenreichen Tag hinter sich. Jedes Wäschestück war in kürzester Zeit getrocknet. Warum holte Frau Klocke ihre Bluse nicht rein, sondern riskierte, dass sie nachts wieder nass wurde? Vor dem Wäscheständer lagen gefaltete weiße Schlüpfer und Hemdchen übereinander in einem blauen Plastikkorb, als sei Frau Klocke beim Reinholen der Wäsche gestört worden.
Die Terrassentür stand handbreit offen. Drinnen lief jetzt Werbung für Handyklingeltöne. Hektische bunte Comicfiguren warfen Licht in Frau Klockes Wohnzimmer. Ann Kathrin rief den Namen der alten Dame: »Frau Klocke?! Frau Klocke?! Ich bin’s, Ann Kathrin Klaasen!«
Aber Frau Klocke antwortete nicht. Ann Kathrin reckte ihren Hals und sah Frau Klocke im Sessel sitzen. Die Fernbedienung lag auf dem Boden.
Ann Kathrin stoppte. Wenn Frau Klocke wirklich beim Fernsehen eingeschlafen war und die Fernbedienung im Runterfallen MTV eingeschaltet hatte, dann würde sie vermutlich einen Schreikrampf bekommen, wenn plötzlich nachts jemand durch ihre Terrassentür ins Wohnzimmer kam.
Noch einmal rief Ann Kathrin Frau Klockes Namen.
Die Beine der alten Dame waren x-förmig verrenkt, so als ob sie jeden Moment vom Sessel auf den Boden rutschen könnte.
Ann Kathrin fingerte nach ihrem Handy. Sie hatte es nicht mit. Es lag ausgeschaltet neben ihrer gesicherten Dienstwaffe in ihrer Handtasche im Distelkamp. Sie wollte nur rasch einer alten Dame einen Besuch im Seniorenzentrum abstatten, wer zu solchen Gelegenheiten eine Pistole einsteckte, mit dem stimmte garantiert etwas nicht.
Ann Kathrin stieg über das Rosenbeet und das Mäuerchen auf die Terrasse und betrat das Wohnzimmer. Sie suchte den Lichtschalter. Sie spürte ihr Herz im Hals klopfen. Ihr Mund war trocken. Ihre Bewegungen fahrig.
Als die drei Energiesparbirnen über dem Wohnzimmertisch ansprangen, sah Ann Kathrin in die schreckensweit aufgerissenen Augen von Frau Klocke. Obwohl Ann Kathrin sofort wusste, dass Frau Klocke tot war, versuchte sie, lebensrettende Maßnahmen einzuleiten. Sie massierte das Herz der alten Frau, gab ihr gleichzeitig eine Mund-zu-Nase-Beatmung und suchte den Raum mit den Augen nach einem Telefon ab.
Im letzten Erste-Hilfe-Kurs in der Polizeiinspektion hatte sie gelernt, dass nach den neuen Regeln dreißig Kompressionen des Brustkorbs pro zwei Atemstöße durch Mund-zu-Nase-Beatmung zu geben waren, statt wie früher fünfzehn.
Sie zählte lautlos mit: »Neunundzwanzig, dreißig … « und blies dann ihren Atem zweimal kräftig in Frau Klockes Nase.
Sie verfluchte sich, weil sie ihr Handy nicht dabeihatte. Die Werbung für Klingeltöne auf MTV kam ihr jetzt wie Spott vor. Sie sah die Station von Frau Klockes Telefon neben dem Fernsehgerät stehen, aber das Handgerät war nicht dabei. Das Telefon lag auf dem Tisch neben der Obstschale. Ann Kathrin griff hin und wählte den Notruf. Ihre Durchsage war knapp und präzise. Dann fuhr sie mit ihren sinnlosen Wiederbelebungsversuchen fort, bis der Notarztwagen vorfuhr.
Es kündigte sich einer jener Sommertage an der Küste an, der Düsseldorfer Boutiquenbesitzer dazu brachte, ihre Fincas auf Mallorca zu verkaufen und an die Nordsee zu ziehen.
So aufgewühlt hatte Ubbo Heide Ann Kathrin Klaasen noch nie erlebt. Er zerkaute zwei Kompensan gegen die Säure, die seinen Magen flutete wie das Meer den verschlickten Norddeicher Hafen.
Heide musste aufstoßen. Es war ihm peinlich, denn er wusste, dass er jetzt unangenehm aus dem Mund roch. Kaffee oder Ostfriesentee vertrug er schon lange nicht mehr. Kripochef in Aurich, das hörte sich für Außenstehende nach einem ruhigen Job an. Nach Falschparkern, Fahrraddiebstählen und höchstens mal einer aufgebrochenen Ferienwohnung. Bei seinem letzten Urlaub in der Fränkischen Schweiz hatte seine Frau einer Urlaubsbekanntschaft stolz erzählt, ihr Mann sei Leiter der Mordkommission. An den ungläubigen Blicken konnte Ubbo Heide unschwer ablesen, dass die gute Dame bezweifelte, dass es in Ostfriesland überhaupt eine Mordkommission gab.
Seine Abteilung war für alle Verbrechen gegen den Körper zuständig. Das machte Sinn. Ein Mord geschah nicht einfach aus heiterem Himmel, es gab meistens ein Vorspiel. Ein Ehemann, der dreimal wegen häuslicher Gewalt festgenommen worden war, galt als Hauptverdächtiger, wenn seine Frau eines Tages erschlagen in der Wohnküche vor der defekten Spülmaschine gefunden wurde.
Seine Klienten zu kennen galt als Ubbo Heides Erfolgsrezept. Seine Abteilung war sehr erfolgreich, und das von Norddeich über Aurich, Wittmund, bis zu den Inseln Norderney, Baltrum, Juist, Langeoog und Spiekeroog.
Es gab bequemere Orte für Gewaltverbrecher in der Republik als Ostfriesland.
Ann Kathrin Klaasen war eine schwierige Kollegin, überengagiert und manchmal eigensinnig bis zur Verbohrtheit, wenig teamfähig, leicht verletzlich und für Heides Geschmack viel zu sensibel.
Man durfte in diesem Beruf die Dinge nicht zu nah an sich herankommen lassen! Heide hatte schon einige junge Frauen erlebt, die zwischen Mitleid, Betroffenheit und Ohnmacht aufgerieben worden waren.
Ann Kathrin Klaasens flackernder Blick signalisierte Ubbo Heide, dass er vorsichtig sein musste. Die Dienstbesprechung geriet mehr zur Therapiestunde.
Er war solche Situationen durchaus gewöhnt. Es ging jetzt erst einmal darum, die emotionale Luft aus den aufgeblasenen Problemen zu lassen. Die Kollegin brauchte Hilfe, um auszusteigen aus dem Hamsterrad, in dem sie sich befand, um Sachargumenten zugänglich zu werden.
Am Ende würde die Professionalität siegen. Allerdings sah das hier nach einem langen Weg aus, und er hatte noch nicht gefrühstückt.
Er seufzte und berührte das Foto seiner Tochter auf seinem Schreibtisch. Sie wollte in London studieren. In London! So weit weg von ihm, sein Augenstern.
Ann Kathrin Klaasens nachblondierte Haare waren schockartig strähnig und fettig geworden, als ob die Ereignisse irgendwelche Talgdrüsen in ihrer Kopfhaut geöffnet hätten.
Sie kam ihm jetzt jünger vor, fast mädchenhaft. Ihre Lippen waren schmal und ungeschminkt. Ihre Augen verschleiert. Vermutlich hatte sie erhöhte Temperatur.
Ubbo Heide nahm einen kleinen Schluck Wasser. Das ostfriesische Leitungswasser war seiner Meinung nach besser als die meisten Mineralwassersorten, die man kaufen konnte.
Ubbo Heide trank täglich mindestens einen Liter in kleinen Schlucken. Dies hier war leider noch zu kalt. Er wärmte das Glas zwischen beiden Händen und hörte Anns Redeschwall zu. Die Wortkaskaden prasselten auf ihn nieder wie ein Wolkenbruch im Herbst und endeten mit der Forderung: »Ich verlange eine Obduktion.«
Dann sah sie ihn lange regungslos an.
Der Nordwestwind blies durch das hinter ihr gekippte Fenster herein und brachte Bewegung in ihre Frisur.
Ubbo Heide hatte sich angewöhnt, schwierige Gespräche so zu führen, dass er zunächst einmal in einer Zusammenfassung wiederholte, was sein Gegenüber gesagt hatte. So versuchte er, nicht nur Missverständnisse auszuschließen, er gab seinen Gesprächspartnern auch die Möglichkeit, die eigenen Ansichten und Darstellungen distanziert anzuhören, um sie vielleicht zu revidieren. Was als kompliziertes Streitgespräch begann, endete durch seine Verfahrensweise oft als harmonischer Meinungsaustausch.
Auch jetzt setzte Ubbo Heide auf diese Karte. Das Problem war, Ann Kathrin kannte seine Gesprächstaktik, und damit war etwas verbunden, das sie heute stinksauer machte. Sie hatte im Laufe der Jahre viel von ihm gelernt, auch wenn sie es nicht gerne zugab, aber sie wollte sich nicht in seiner trainierten Weise behandeln und beeinflussen lassen. Sie kannte diese Art der Gesprächsführung auch von ihrem Exmann Hero. Zu gerne hatte der Herr Psychologe sie so in die Rolle der Patientin gedrängt, statt sie als Ehefrau ernst zu nehmen, deshalb blubberte ihre Magensäure schon, als Ubbo Heide begann.
Er bemühte sich, verbindlich zu lächeln. »Liebe Ann, wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hast du Fotos von deinem Vater gesehen, die ihn an verschiedenen Orten mit einer gewissen Isolde Klocke zeigen. Du folgerst daraus, dass dein Vater eine Geliebte hatte. Er gab sich als Diamantenhändler Ludwig Stein aus. Deine Mutter hat nie etwas davon erfahren oder sie war klug genug, wie die meisten Ehefrauen ihrer Generation, so zu tun, als wüsste sie nichts, und dabei hoffte sie natürlich, dass die Affäre bald vorüber sein würde. Seine Geliebte kam vor Spiekeroog bei einer Wattwanderung ums Leben. Ende der Geschichte. Wieso soll jetzt die Mutter von Isolde Klocke ermordet worden sein?«
Ann Kathrin Klaasen schluckte. Sie war wütend auf Weller, sie fand, Frank hätte jetzt bei ihr sein sollen. Warum stand er ihr in dieser Situation nicht zur Seite? Müdigkeit. Nachtdienst. Das waren alles nette Ausreden, wenn man sein Fehlen bei einer Geburtstagsparty entschuldigen wollte, aber das hier war von elementarer Bedeutung für sie, und Frank wusste das.
Sie fühlte sich, als sei sie gerade noch barfuß und gut gelaunt bei einer geführten Wattwanderung über sicheres Sandwatt gelaufen, und nun sank sie, allein gelassen, bis zur Hüfte in Schlickwatt ein, und scharfkantige Muscheln schnitten in ihre nackten Füße.
»Erstens«, sagte sie, »war Frau Klocke quietschfidel, als ich sie traf. Sie gab mir die Fotos, und wenige Stunden später, bevor sie mir mehr erzählen konnte, war sie tot.«
Ubbo Heide zog die Stirn demonstrativ in Falten. »Quietschfidel. Nettes Wort. Sie war fünfundsiebzig. Du hast sie im Wartezimmer einer Arztpraxis getroffen. Überdenk doch mal deine eigenen Worte, Ann.«
»Ich habe bereits mit Dr.Wolter telefoniert. Frau Klocke litt keineswegs an einer lebensbedrohenden Krankheit.«
Ubbo Heide blätterte in Papieren, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Sie lag im letzten Jahr insgesamt einunddreißig Tage in der Ubbo-Emmius-Klinik in Norden. Sie hatte zu hohen Blutdruck und zwei Schlaganfälle. Ann, du steigerst dich da in etwas hinein. Glaub mir, du vergaloppierst dich gerade. Dein Vater ist tot. Seine Geliebte ist tot. Niemand hat ein Interesse daran, die Beziehung der beiden zu verheimlichen oder auffliegen zu lassen. Das alles ist lange her. Niemand begeht deswegen einen Mord an einer alten Dame.«
Ann Kathrin Klaasen stöhnte und formulierte noch einmal ihren Verdacht, den Ubbo Heide bei seiner Zusammenfassung weggelassen hatte.
»Ich habe Weller gebeten, die Personen für mich zu überprüfen. Er hat sie in unserem System nicht gefunden. Aber kurz darauf war Frau Klocke tot.«
Ubbo Heide griff sich an den Magen. Er brauchte ein anderes Medikament. Kompensan war für solche Situationen nicht säurebindend genug.
»Warum sollten sie in unserer Lichtbild-Datei sein? Das ist doch alles Unsinn. Denk doch mal nach!« Er tippte sich unwillkürlich gegen die Stirn. »Damit verdächtigst du allen Ernstes einen aus unserer Truppe. Wer sonst sollte Wind davon bekommen haben?«
Ubbo Heide musste sich bewegen. Er ging zum Fenster und öffnete es vollständig. Der Wind blähte sein Hemd auf. Von einem Brathähnchenstand wehte Grillduft ins Büro. Er atmete tief ein. Dann drehte er sich wieder zu Ann Kathrin Klaasen um und ereiferte sich: »Glaubst du wirklich, irgendein Kollege bekommt Wind von Wellers Recherche, glaubt jetzt, dass du kurz davor bist herauszubekommen, dass dein Vater ein ganz normaler Mann mit einem ganz normalen Liebesleben war, und um die Ehre deines Vaters zu schützen, bringt der Kollege die letzte lebende Zeugin um, die sich in einem AWO-Wohnheim mit ihrer Rente noch ein paar schöne Jahre macht?«
»Ich verlange eine Obduktion. Nicht hier, sondern an einem neutralen gerichtsmedizinischen Institut. Außerdem eine Liste aller Kollegen, die durch Weller von der Sache erfahren haben. Überhaupt, warum ist er nicht hier?«
Ubbo Heide schloss das Fenster, als müsse er verhindern, dass jemand von draußen mithören konnte.
Er sah blass aus, geschafft, urlaubsreif. »Das wird ja immer schöner! Glaubst du, dass eine Obduktion in Oldenburg getürkt wird? Alle halten zusammen, nur damit der Ruf deines Vaters nicht post mortem beschmutzt wird? Ich hätte dir das gerne erspart, aber ich sage dir jetzt mal, was ich denke! Du hast diese gute alte Dame mit deinen Fragen und Verdächtigungen so sehr aufgeregt, dass sie einen weiteren Schlaganfall bekommen hat oder einen Herzinfarkt. Ich will das nicht vertiefen, aber wenn sie einer umgebracht hat, dann du mit deiner Hysterie. Immer wenn es um deinen Vater geht, drehst du vollständig durch und verlierst jede Professionalität. Darf ich dich daran erinnern, dass du bei einem Banküberfall in Leer auf den Rettungswagen geschossen hast, weil … «
Er winkte ab, er sprach nicht weiter, er merkte, dass er sich in Rage redete, und das war gar nicht gut für seinen nervösen Magen.
Sein Vorwurf saß trotzdem. Er nahm Ann Kathrin Klaasen die Luft. Sie schob die Schultern vor. Es war, als würden ihre Lungenflügel sich verkrampfen. Sie konnte plötzlich nicht mehr richtig ausatmen.
So dachten sie also hier in der Polizeiinspektion heimlich über sie.
In diesem Moment war Ann Kathrin entschlossen zu kündigen. Sie wollte hier nicht länger bleiben, am liebsten wäre sie heulend und schreiend nach draußen gelaufen. Sie wollte weder ihre Kollegen noch dieses Gebäude jemals wiedersehen.
Ihre Lunge pfiff wie der Wind, wenn er durch nasse Fischernetze weht.
Ubbo Heide befahl sich selbst, jetzt runterzukommen. Er musste diesem Gespräch nun die positive Wende geben, die er selbst brauchte, um sich beruhigt seinem Tagesgeschäft widmen zu können.
Wehmütig dachte er an die Zeiten zurück, als er solche Situationen mit dem Satz auflockerte: »So, jetzt rauchen wir erst mal eine.«
Mit der Gesundheitswelle und dem Nichtraucherkult und all den daraus resultierenden Regeln und Gesetzen waren auch entsprechende Rituale verschwunden, und es gab noch nichts Neues.
Er konnte ja schlecht vorschlagen: »So, jetzt schälen wir erst einmal gemeinsam eine Orange – oder trinken einen Blasen-und Nierentee.«
In seiner Schreibtischschublade lag ein halber Marzipan-Seehund von ten Cate auf einem Holzbrettchen. Er konnte jetzt nicht anders. Er brach den Schwanz ab und schob ihn sich in den Mund. Er hatte das Gefühl, seinem wunden Magen würde es gleich bessergehen. Brauchte er statt Medikamente Marzipan?
Er bemühte sich um Blickkontakt zu Ann Kathrin, aber sie wich ihm aus. Er war sich nicht sicher, ob seine Worte sie überhaupt erreichten.
»Weller ist nicht hier, weil ich ihm gesagt habe, ich möchte alleine mit dir reden. Da ist nämlich noch etwas, Ann. Etwas ganz anderes.«
Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit zurück. Wie ein waidwundes Tier sah sie ihn an. Verletzt. Angriffslustig und schutzbedürftig zugleich.
Plötzlich sah er in ihr seine Tochter. Er zog den versteckten Marzipan-Seehund hervor und bot ihr wortlos an, zuzugreifen. Sie tat es fast trotzig. Während er sprach, nahm sie ein zweites, größeres Stück.
Es war gut. Nicht so ein billiges süßes Zeug wie aus dem Supermarkt. Sie schmeckte die fein geriebenen Mandeln und den Hauch Rosenwasser.
»Ich habe hier eine dringende Anfrage vom BKA, Ann. Sie wollen dich in die SOKO Maurer holen.«
»Vergiss es!«, sagte sie bestimmt.
Ubbo Heide konnte sich aus seiner Truppe keinen Mitarbeiter vorstellen, der nicht sofort freudig »ja!« geschrien hätte, ihn selbst vielleicht ausgenommen.
Er suchte einen Zugang zu ihr und versuchte es über den Marzipan-Seehund.
»Früher«, sagte er, »im Mittelalter, hatte nur die Apothekerzunft das Recht, Marzipan herzustellen.« Er brach sich noch ein Stückchen ab und roch daran, bevor er es auf der Zunge zergehen ließ.
»Es wurde auch Herzzucker genannt.« Er griff sich an die Brust. »Möge es seine heilende Kraft entfalten.«
Ann Kathrin nickte, und Ubbo Heide hoffte, sie emotional geöffnet zu haben. Er versuchte, sie umzustimmen:
»Ann, dazu kann man nicht so einfach ›Nein‹ sagen.«
»Warum nicht? Ich verlasse Ostfriesland nicht. Gerade jetzt nicht!«
»Du hast drei Serienmördern das Handwerk gelegt, Ann. Niemand hat mehr Erfahrung damit als du. Sie brauchen dich!«
Sie schüttelte sich, wie Hunde es tun, wenn sie nass geworden sind. »Ich habe meinen Fall hier in Ostfriesland.«
»Das ist kein Fall, Ann Kathrin! Das ist ein Hirngespinst von einem kleinen Mädchen, das nicht wahrhaben will, dass ihr Papi ihre Mami betrogen hat.«
Ubbo Heide schob Bilder vor Ann Kathrin auf den Schreibtisch. Zwei Opfer des Maurers. Unveröffentlichte Fotos in DIN-A 4-Größe.
»Er mauert seine Opfer ein und lässt sie jämmerlich verhungern. Er hat einmal in Luzern zugeschlagen und ein zweites Mal in Bamberg. Es ist nicht auszuschließen, dass noch andere Opfer gefunden werden. Beides waren Zufallsfunde. Es können andere vermisste junge Frauen seit Jahren irgendwo eingemauert sein. Wir müssen international zusammenarbeiten, um … «
Ann Kathrin Klaasen warf nicht einmal einen Blick auf die Fotos.
Ubbo Heide hob ein paar hoch und hielt sie so, dass Ann Kathrin den Kopf abwenden musste, damit sie aus ihrem Gesichtsfeld verschwanden.
»Sie haben versucht, mit ihren Fingernägeln Botschaften in die Steine zu ritzen. Vielleicht Hinweise auf den Maurer. Schau es dir wenigstens an.«
»Ich habe Nein gesagt. Ich bin für Ostfriesland zuständig, das reicht mir.«
»Ann, du kannst hier nicht deinen eigenen kleinen Privatkrieg führen, während dadraußen ein Killer Frauen entführt und … «
Ann Kathrin schlug mit der offenen Handfläche auf den Tisch, so dass die Fotos und Papiere hochflatterten.
»Ihr wollt mich hier loswerden, stimmt’s?«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe denen gesagt, dass wir hier unterbesetzt sind und jeden Kollegen vor Ort brauchen, aber … sie sind ratlos, Ann. Sie stecken in einer Sackgasse, und jeder hat Angst vor dem nächsten Fund. Sie brauchen deine Erfahrung und … «
»Nein!«
»Ich sage es nicht gerne, aber das ist auch ein Karrieresprung. Andere besuchen jahrelang Lehrgänge und Fortbildungen und werden nie gefragt.«
»Ja, siehst du, genau das ist es. Jetzt, da ich mit unbequemen Fragen und Ermittlungen komme, genau jetzt bietest du mir einen Job sehr weit weg von meiner Dienststelle an.«
Ubbo Heide stöhnte: »Ann Kathrin, was willst du?«
»Das habe ich schon zweimal gesagt. Eine Obduktion von Frau Klocke.«
Rupert trank mit den Bamberger Kollegen in der Markthalle Aurich einen Kaffee und aß dabei ein Mettbrötchen. Huberkran lutschte schon die dritte Auster aus. Er war ein Franke, der Meeresfrüchte liebte und jeden Urlaub in Südfrankreich verbrachte. Ein Teller voller zerschlagenem Eis, auf dem Muscheln, Krebse und Garnelen lagen, als ob sie darauf herumkriechen würden, war für ihn der Inbegriff von Entspannung und Hochgenuss.
Er hatte sich gegen Hepatitis impfen lassen, weil seine Frau, eine praktische Ärztin aus Breitengüßbach, darauf bestanden hatte. Wenn es etwas zu lutschen oder zu schlürfen gab, vergaß er jeden Alltagsfrust. Leider wohnte er dafür am falschesten Ort der Welt. Hier an der Küste aber wollte er wenigstens in Ruhe seine Meeresfrüchte genießen. Aurich war zwar nicht Nizza und Ostfriesland nicht die Côte d'Azur, aber einen Hauch davon verspürte er hier schon, zumal bei dem Wetter heute, und die Preise verdarben ihm nicht gleich den Spaß.
Er mochte die Markthalle mit den frischen Angeboten von Meeresfrüchten. Er sah an Rupert vorbei nach draußen auf die Ferkel, die von einer Sau gesäugt wurden. Sie sahen echt aus, fast lebendig, waren es aber nicht.
Bei uns hätten sie ein Reiterdenkmal aufgebaut oder etwas erhaben Christliches, dachte er. Die Ostfriesen stellen merkwürdige Denkmäler auf. Fröhliche Schweine statt Generäle. Oder in Norden eine Riesen-Doornkaatflasche statt eines Heiligen.
Er begann das alles sympathisch zu finden. Sosehr er seine Heimat auch mochte, am liebsten wäre er hier geblieben. Zumindest für einen Sommer.
Jedes Mal, wenn Huberkran mit lauten Schmatzgeräuschen eine Auster ausschlürfte, bekam Rupert eine Gänsehaut und grub seine Zähne tapfer in sein Mettbrötchen mit Zwiebeln.
Es wurmte Rupert, dass sie Ann Kathrin Klaasen gefragt hatten und nicht ihn. Er wäre gerne zur SOKO Maurer gestoßen. Er sah sich schon bei Fortbildungen Vorträge über Serienmörder halten. Das hier konnte der Karriereschub überhaupt werden.
Huberkran schluckte die dritte Auster und lächelte. Eine fast postkoitale Zufriedenheit breitete sich in ihm aus und der Wunsch, jetzt eine Filterzigarette zu rauchen.
»Ich habe bei allen drei Mordserien mit zum Team gehört. Natürlich heimst Prinzessin Klaasen hinterher alle Lorbeeren alleine ein. Als Kriminalistin ist sie kein großes Licht, wenn Sie mich fragen, aber als PR-Frau würde ich sie jederzeit engagieren. Sie hat einen heißen Draht zur Presse und versteht es, alles, was geschieht, so darzustellen, als ob es ihr Verdienst wäre. Aber wehe, es geht etwas schief … «
Rupert machte ein bedeutungsschwangeres Gesicht und griff in seine Hosentasche, um das Gummi von seinem Slip zurechtzuzupfen. Wenn er so unter Druck stand wie jetzt und das Gefühl hatte, die Dinge liefen nicht gut für ihn, dann schmerzten seine Eier, und die Hose wurde ihm zu eng.
»Ich glaube«, sagte Huberkran, »ich genehmige mir noch mal drei.«
Der hört mir gar nicht zu, dachte Rupert, der ist nur gekommen, um Ann Kathrin Klaasen in seine SOKO zu holen. Wenn die eingebildete Ziege wenigstens mitmachen würde, rechnete er sich Chancen aus, mit ihrem Team reisen zu dürfen, obwohl ihre Personaldecke in Aurich sowieso sehr dünn war.
»Ubbo Heide wird höchstens auf einen von uns verzichten können«, murmelte er.
Huberkran stellte sich noch einmal für drei Austern an, und eine Frau neben ihm biss so erotisch in ihr Krabbenbrötchen, dass Huberkran sich zwang wegzusehen, weil er sich vorkam wie ein Voyeur vor dem Schlüsselloch zum Badezimmer.
Er bestellte sich drei Austern und ein Krabbenbrötchen.
»Kluge Entscheidung«, sagte die Frau neben ihm und lächelte ihn vielversprechend an. In Bruchteilen von Sekunden war Huberkran bereit, seine Ehe und alles, was er sich in Franken mühsam aufgebaut hatte und an dem er jetzt ebenso mühsam festhielt, zu verlassen. Doch sie zwinkerte ihm nur noch einmal zu, dann löste sie sich auf in der anonymen Menge des Einkaufszentrums.
Das muss die Meerluft sein, dachte Huberkran, erschrocken über seine heftige Reaktion, oder vielleicht die Austern.
»Sie können sich den Versuch, Ann Kathrin Klaasen umzustimmen, klemmen, die ist genauso stur, wie man es den richtigen Ostfriesen fälschlicherweise nachsagt. Dabei ist sie eine Zugereiste.«
»Ich weiß«, sagte Huberkran, ohne seine Austern aus den Augen zu verlieren.
Der Fischverkäufer zeigte ihm jede einzelne, bevor er sie für ihn aufbrach.
»Und was wollen Sie dann noch hier? Suchen Sie Ersatz für unsere Diva? Jemanden mit weniger Medienpräsenz, aber genauso viel Erfahrung?«
Huberkran nahm die Austern über die Glastheke hinweg in Empfang und trug den Teller zu seinem Stehtisch.
»Ich hoffe, sie wirft wenigstens mal einen Blick auf unsere Akten. Wir haben da ein paar Ungereimtheiten … «
Huberkran träufelte ein paar Tropfen Zitrone auf das Austernfleisch. Es zuckte bei jedem Tropfen zusammen.
»Ja, die sind frisch!«, schwärmte Huberkran und schlürfte die Auster aus ihrer Schale. Dann schob er seinen Mund nah an Ruperts rechtes Ohr. Er konnte Ruperts Zwiebelatem riechen.
»Man sagt, sie hätte die Fähigkeit, sich in diese Täter hineinzudenken oder zu fühlen wie niemand sonst.«
Rupert fiel ihm ein bisschen zu laut ins Wort. »Ach, das ist Unsinn. Es wird alles übertrieben. Das ist mehr moderne Legendenbildung als … «
»Stimmt es, dass sie sich allein an die Tatorte begibt und zunächst nackt in die Rolle der Opfer schlüpft?«, wollte Huberkran wissen.
Rupert wunderte sich schon lange nicht mehr über die Gerüchte, die über Ann Kathrin Klaasens Ermittlungsmethoden im Umlauf waren. Er lachte.
»In den offiziellen Akten steht jedenfalls nichts davon!«
Huberkran konzentrierte sich wieder ganz auf seine Austern. Mit den Fingerspitzen tastete er ihre scharfen Kanten ab.
Rupert spürte, dass das Eis zwischen ihm und Huberkran noch lange nicht geschmolzen war. Er versuchte es mit einem Witz: »Wissen Sie, was man sich über Ann Kathrin Klaasen erzählt?«
Huberkran registrierte Ruperts komplizenhaftes Grinsen und stieg darauf ein. »Nein, was denn?«
»Nun, ganz unter uns, sie hat ja einen Lover, der jünger ist als sie.
Ihre Freundin hat sie gefragt, wie es denn mit dem so wäre … Also Sie wissen schon, im Bett und so … Unsere Starkommissarin geriet gleich ins Schwärmen, und ihre Freundin wurde schon ganz feucht zwischen den Beinen, dann fragte die Freundin: ›Stört denn dein dicker Arsch deinen Lover überhaupt nicht?‹ Und was glauben Sie, was Ann Kathrin Klaasen geantwortet hat?«
Huberkran vermied es, Rupert anzusehen. Er blickte fast starr auf die scharfkantige Schale seiner Austern.
Rupert feixte. »Sie hat kalt lächelnd den Kopf geschüttelt und gesagt: ›Nö. Über meinen Mann reden wir eigentlich nie.‹«
Rupert musste über seinen eigenen Witz so sehr lachen, dass er Bröckchen von seinem Mettbrötchen, die sich zwischen seinen Zahnlücken verfangen hatten, aushustete. Zwei davon blieben an Huberkrans roter Krawatte kleben.
»Haben Sie den Witz Frank Weller auch schon erzählt?«
Rupert zuckte innerlich zusammen. Er wischte sich eine Lachträne aus dem rechten Auge. Kannten Weller und Huberkran sich etwa? Er hatte versucht, mit einem Witz eine Brücke zu Huberkran zu bauen, über die sie gemeinsam ohne Ann Kathrin Klaasen zum Fall Maurer hätten gehen können. Jetzt hatte Rupert das Gefühl, die Brücke sei eingestürzt und er würde im reißenden Fluss untergehen.
Huberkran hatte die nächste Auster schon mit Zitrone bespritzt, auch sie war noch lebendig und zuckte, aber Huberkran zögerte, sie aufzuessen. Er sagte kalt und knapp zu Rupert: »Frank würde Ihnen dafür das Nasenbein brechen. Wenn er gut gelaunt ist. Im Übrigen ist er älter als Ann Kathrin. Er ist gerade vierzig geworden und sie ist achtunddreißig oder neununddreißig.«
Rupert begriff, dass er seine Hoffnungen, in die SOKO Maurer aufgenommen zu werden, endgültig beerdigen konnte.
Er stellte sich gerade hin, schob den Teller, auf dem sein Mettbrötchen gelegen hatte, mit der zerknüllten Serviette von sich weg, als ob er sich davon distanzieren müsste, und fragte: »Sie und Frank Weller kennen sich?«
»Ja«, bestätigte Huberkran. »Wir haben uns bei einem Skiurlaub in Österreich kennengelernt. Seine und meine Kinder haben sich auf Anhieb verstanden und unsere Frauen auch.«
»Er ist jetzt geschieden«, warf Rupert ein.
»Ich weiß. Auch in dem Punkt hat er mir einiges voraus.«
»Ja, ist er Ihr Vorbild, oder was?«, scherzte Rupert und verspielte damit seine letzten Pluspunkte.
»Ja«, sagte Huberkran klar, »das kann man so sagen. Er hat die Trennung von seiner Frau hingekriegt, ohne die Liebe seiner Kinder zu verlieren. Das schafft nicht jeder.«
Huberkran spürte, dass er auf dem besten Weg war, zu viel von sich preiszugeben, und ausgerechnet diesem Schaumschläger Rupert. Plötzlich schmeckten ihm nicht mal mehr die guten Sylter Austern.
Weller fühlte sich von Ubbo Heide in die Ecke gedrängt. Das durfte sein Chef nicht von ihm verlangen. Das war eine unkorrekte Vermischung persönlicher und beruflicher Dinge.
Der Ventilator auf Ubbo Heides Schreibtisch wehte Weller direkt an. Ubbo Heide hatte das Ding von seiner Frau zum Geburtstag bekommen. Leider sorgte das Geschenk bei ihm für einen steifen Nacken, wenn er auch nur kurz in den Luftwirbel geriet, darum hatte er das Gerät festgestellt und auf den Besuchersessel gerichtet.
»Du hast doch Einfluss auf sie, Frank. Also, auf jeden Fall mehr als ich. Rede du mit ihr. Sie ist ein Gemütsmensch, für Gefühle eher zugänglich als für Argumente. Lade sie zu einem Candlelight-Dinner ein oder wie man das heute nennt, wenn man eine Frau bezirzen will … und mach ihr um Gottes willen klar, dass sie nicht Nein sagen kann. Das fällt auf unsere ganze Abteilung zurück. Ich könnte auch eine Dienstanweisung erlassen, aber es wäre mir lieber, wenn sie freiwillig … «
»Das hat alles keinen Sinn. Wenn man Druck auf sie ausübt oder sie spürt, dass sie manipuliert werden soll, dann … «
Weller winkte ab. Er schwitzte. Sein helles Leinensakko zeigte unter den Achseln dunkle Flecken.
»Ann Kathrin tickt anders«, sagte Weller. »Sie hält ihr ostfriesisches Revier sauber und sie glaubt, dass hier ein dicker Hund begraben liegt … «
Ubbo Heide hob die Arme beschwörend zur Decke. »Ja, sollen wir jetzt in der Tagespresse Anzeigen veröffentlichen? ›Lieber Serienkiller, such dir deine Opfer in Süddeutschland oder der Schweiz, nähere dich nicht der Küste. Wenn du bis Oldenburg kommst, bist du erledigt!‹ – Das ist doch absurd.«
Weller lüftete sein Sakko, zog es aber nicht aus, weil es ihm unangenehm war, mit seinem durchgeschwitzten Hemd vor seinem Chef zu stehen. Er musste nicht auf das psychologische Wissen der letzten Fortbildung zurückgreifen, um zu erkennen, dass es Rechtfertigungsschweiß war. Die Zimmertemperatur lag jetzt bei angenehmen einundzwanzig Grad.
Weller fühlte sich mit dem gärenden Konflikt unwohl. Er hatte ein Loyalitätsproblem seiner Partnerin und seinem Chef gegenüber. Er konnte es nicht beiden recht machen.
Er versuchte, aus der Klemme herauszukommen: »Ubbo, was ist dran an dieser Sache mit Frau Klocke?«
Ubbo Heide ging zur Tür, als müsste er überprüfen, ob sein Büro wirklich verschlossen war. Es ging eine Nervosität von ihm aus, die Weller so nicht kannte. Er behielt sonst auch in schlimmen Krisensituationen die Nerven und wirkte beruhigend und mäßigend auf die anderen ein.
»Die gute alte Dame ist an einem Herzinfarkt gestorben«, sagte Ubbo Heide.
»Ich meine ihre Tochter Isolde.«
»Was soll mit der sein, Frank?«
»Das frage ich dich!«
»Es gibt keinerlei Unterlagen über sie, dass sie jemals bei der Kripo war … Und dann noch hier bei uns … Ich müsste das doch wissen. Ich leite den Laden schließlich seit zehn Jahren. Ich … Was guckst du so, Frank? Ich mag es nicht, wenn du so guckst.«
»Ubbo, als du hier angefangen hast, war sie schon tot.«
Ubbo Heide machte fahrige Bewegungen mit den Händen. Er wendete sich ein wenig von Weller ab. »Es gibt jedenfalls keinerlei Unterlagen, dass sie jemals bei der Kripo war. Ich habe das überprüft.«
»Das sehe ich anders«, sagte Frank Weller. »Ich habe einen Kollegen beim Landesamt für Bezüge und Versorgung angerufen. Die werden gerade ins Finanzministerium eingegliedert, aber noch hat das NLBV einen Ableger in Aurich. Und da gibt es Unterlagen über eine Isolde Klocke. Außerdem habe ich mit dem Kollegen Hubert Jüttemeier gesprochen. Der ist seit vierzig Jahren mit in der Truppe. Der hat sie noch erlebt und kann sich gut an sie erinnern.«
Weller zog einen Ausdruck aus der Brusttasche seines Leinenjacketts. Das Papier wies Schwitzflecken auf. Ohne sich das Papier anzusehen, zeigte Ubbo Heide darauf. Dann stand er starr und sah Weller zunächst ungläubig, dann zornig an.
Wie um sich zu entschuldigen, sagte Weller: »Und dann habe ich bei der Sparkasse Aurich-Norden angerufen. Es gibt da jemanden, der mir manchmal ohne richterlichen Beschluss weiterhilft … «
»Ohne richterlichen Beschluss?« Heide schüttelte ungläubig den Kopf. »Du weißt, Frank, dass du damit gleich gegen einen ganzen Stapel Vorschriften verstoßen hast … «
»Ja, aber wir haben so im letzten Jahr drei gesuchte Straftäter einkassieren können, die für uns wie vom Erdboden verschwunden waren, am alten Wohnort nicht ab- und am neuen nicht angemeldet. Aber die Rente haben sie sich von der LVA auf ihr Konto überweisen lassen. Die Bank hatte auch die richtige Adresse. Es geht doch oft einfach nur darum, Informationen zusammenzuführen und auszuwerten. Er hat zumindest bestätigt, dass sie bis zu ihrem Tod ein Konto bei der Sparkasse hatte.«
Ubbo Heides Telefon klingelte, aber er ging nicht ran. Sein wütender Blick öffnete die Schweißdrüsen unter Wellers Achselhöhlen noch weiter.
»Bitte, Ubbo, er hat mir doch nicht den Kontostand gesagt oder so was, sondern nur, dass er sich erinnert, sie sei bei ihm Kundin gewesen. Du liebe Güte, wir sind hier in Ostfriesland, da kennt man sich … Anonyme Verbrechen geschehen hier nicht … «
»Danke für den Vortrag, Frank«, sagte Ubbo Heide zynisch. »Ich mache diesen Job seit dreißig Jahren. Zwanzig Jahre beim BKA und … «, er winkte ab. »Mit wem hast du sonst noch in dieser Sache telefoniert? Ich muss dir ja wohl nicht sagen, dass alle diese Personen für Ann Kathrin unter Mordverdacht stehen.«
Weller begann an den Fingern aufzuzählen: »Ich habe kurz mit Rupert darüber gesprochen, mit dir, meinem Informanten bei … «
Ubbo Heide unterbrach Weller barsch: »Weiß Ann Kathrin das schon?«
Weller schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich kann es nicht lange vor ihr geheim halten. Wie stellt ihr euch das vor? Wir wohnen in einem Haus, schlafen in einem Bett. Ich kann ihr nicht länger aus dem Weg gehen.«
Ubbo Heide zerkaute noch zwei Kompensan. Dann drückte er Weller vor sich in den Sessel. »Jetzt hör mir mal gut zu, Frank. Du wirst ihr verdammt nochmal sagen, dass du vor dem Tod von Frau Klocke mit niemandem darüber geredet hast. Erzähl ihr meinetwegen, du hättest die Namen in die Libi-Datei eingegeben und da nichts gefunden. Du hast da auch eine Verantwortung deinen Kollegen gegenüber, und denk auch an Ann Kathrin! Die Lawine, die sie lostreten will, könnte am Ende sie selbst beerdigen. Stell dir das mal vor, wie will sie hier weiter mit uns Dienst tun als nette Kollegin, wenn sie uns alle und deine Vertrauensleute wegen Mordes verdächtigt? Sie macht sich damit nicht nur lächerlich und unbeliebt. Sie katapultiert sich selbst aus dem Dienst. Das Ende der Fahnenstange ist erreicht, Frank.«
»Ich soll sie also anlügen?«
»Nenn es, wie du willst. Ich würde eher sagen, du beschützt sie vor einer großen Dummheit, die sie später sehr bereuen wird. Überzeuge sie stattdessen, gemeinsam mit dir dabei zu helfen, dieses Monster zu erledigen. Sie gehört in die SOKO Maurer und du auch.«
Eigentlich mochte Weller Ubbo Heide sehr. Er stellte sich im Ernstfall immer vor die Kollegen oder stärkte ihnen den Rücken. Er war nicht der große Fehlersucher, der andere fertigmachte. Er versuchte nur, alles in ordentlichen Bahnen zu halten und nichts aus dem Ruder laufen zu lassen.
Weller war sich nicht ganz sicher, ob Ubbo Heide etwas zu verbergen hatte oder ob er wirklich die Kollegen vor Ann Kathrins Verdächtigungen schützen wollte und Ann Kathrin vor ihrem eigenen Übereifer. Trotzdem erwischte er sich dabei, heimlich auf der Toilette eine Liste mit allen Personen zu machen, mit denen er in dieser Sache gesprochen hatte.
Rupert. Ubbo Heide. Hubert Jüttemeier. Der Kollege von der NLBV. Klaus Zinger von der Sparkasse. Jeder von denen konnte es Freunden und Ehepartnern erzählt haben.
Nein, in dieses Gedankenkarussell wollte er erst gar nicht einsteigen … Er riss sich zusammen und war froh, eine Verabredung mit Huberkran zu haben. Er fragte sich, ob Huberkran immer noch verheiratet war. Irgendetwas sagte ihm, dass er die Trennung noch nicht hingekriegt hatte.
Huberkran war ganz schön aufgestiegen, zum Leiter der Tatort-Abteilung beim BKA. Beruflich nahm er jede Hürde und schaffte alles, privat ging er immer wieder vor seiner Frau in die Knie.
Weller bereitete sich auf ein Gespräch vor, das sicherlich nur zum Teil beruflich werden würde, das möglicherweise Wichtigere fand ja meist auf der privaten Ebene statt.
Er konnte es kaum noch abwarten, sie einzumauern. Er beobachtete sie seit vier Stunden. Er war ihr von Bremen nach Delmenhorst gefolgt.
Sie besuchte ihre Eltern, und er wusste genau, was sie vorhatte. Sie wollte die beiden in ein Pflegeheim abschieben. Natürlich würde sie das Haus in Delmenhorst verkaufen, um endlich ihre eigene miese, kleine Sozialwohnung in Bremen verlassen zu können.
Er malte sich aus, mit welch verführerischen Worten sie versuchte, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass so ein Pflegeheim für sie doch viel besser sei, weil sie sich angeblich inzwischen nicht mehr alleine versorgen konnten.
Ich werde dir einen Strich durch deine Geschäfte machen, dachte er. Deine Eltern werden dich überleben. Du wirst ihr Geld nicht verjuxen. Wenn man dich rechtzeitig findet, werden sie an deinem Grab stehen und Tränen vergießen. Aber vielleicht werden sie auch sterben, bevor irgendjemand die Mauern einreißt und deine Gebeine findet.
Er fand die Todesart für sie genau richtig. Sie musste in völliger Dunkelheit sitzen, wie die anderen. Verzweifelt. Abgeschnitten von allem. Zurückgeworfen auf sich selbst. Ohne einen Funken Hoffnung. Doch es tat ihm leid, dass er sie dabei nicht beobachten konnte. Stunden-, manchmal tagelang saß er auf dem Stuhl und hörte ihr Schreien und Flehen. Doch das meiste fand in seiner Phantasie statt. Er hörte, wie ihre Fingernägel an den Steinen abrissen. Mein Gott, was versprachen sie ihm alles, wenn er sie nur freilassen würde! Doch er antwortete nicht. Aus Prinzip nicht. Da, wo er sie hinverbannte, sollte es keinen Dialog mehr geben.
Er ließ sich auf nichts ein. Auf gar nichts!
Es wäre ein Leichtes gewesen, eine bewegliche Kamera in dem Sterberaum zu installieren. Aber dann hätte er auch eine Beleuchtung gebraucht. Und das durfte nicht sein. Die Finsternis war wichtig.
Er konnte sie durchs Wohnzimmerfenster sehen. Sie trank Tee mit ihren Eltern. Ihr Vater starrte abwesend auf das Fernsehgerät, obwohl es gar nicht an war. Ihre Mutter bemühte sich, Konversation zu machen. Es standen Käsebrote mit kleinen Gürkchen und Kirschtomaten auf dem Tisch.
Er wusste, dass sie es nie lange bei ihren Eltern aushielt. Normalerweise machte sie mindestens alle dreißig Minuten einen kleinen Spaziergang ums Haus und rauchte dabei eine Zigarette. Er hatte beschlossen, sie dabei einfach einzupacken und mitzunehmen.
Er stellte es sich amüsant vor. Wie würden die Eltern reagieren? Die Tochter geht mal raus, eine rauchen, und kommt einfach nicht wieder. Nie wieder …
Sie öffnete die Tür und zündete sich die Zigarette an, ohne die Haustür wirklich vollständig hinter sich zu schließen. Judith Harmsen trat nervös von einem Bein aufs andere. Die Gespräche mit ihren Eltern schienen zu stocken.
Nun komm, Mädchen, dachte er. Komm. Geh ein paar Meter. Nur zehn, zwanzig Meter reichen mir schon.
Aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Sie rauchte, halb im Flur, halb auf der Straße stehend.
Na gut, dachte er. Ich habe Zeit. Ich bin ein geduldiger Mensch. Irgendwann wirst du rauskommen. Und dann hab ich dich.
Judith Harmsen gab vor, sich den Magen verdorben zu haben, um die Käsehappen nicht essen zu müssen. Den im Supermarkt gekauften Kartoffelsalat von Homann, von dem ihre Mutter behauptete, besser könne man ihn gar nicht selbst machen, und die Brühwürstchen lehnte sie erst recht ab. Sie brauchte eine Pause. Sie musste durchatmen.
In Ganderkesee in der Bücherei gab es eine Autorenlesung. Ein Krimiautor las aus seinem neuen Werk vor. Sie kannte ihn nicht, beschloss aber, hinzufahren. Einfach nur, um auf andere Gedanken zu kommen.
Sie hörte im Auto Hit Radio Antenne. Der Schollmayer spielte Hits aus den Achtzigern. Sie drehte voll auf. »Manic Monday« von den Bangles.
Sie bemerkte den Wagen hinter sich nicht. Sie wusste nicht, wie sich jemand fühlt, der verfolgt wird. Sie war ohne Argwohn.
Sie parkte neben der Bücherei Ganderkesee auf dem kleinen Parkplatz und sah rüber zum alten Bahnhof. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen. Der alte Bahnhof war zu einem Lokal umgebaut worden und hieß jetzt Gleis Eins. Für einen Moment zögerte sie, ob sie wirklich in die Bücherei gehen oder lieber im Gleis Eins etwas Vernünftiges essen sollte.
Dann sah sie, dass es in der Bücherei langsam voll wurde. Spontan gesellte sie sich zu den Zuhörern. Es gab Wein, und der Autor überprüfte kurz das Mikrophon, danach entschied er sich, er käme auch ohne klar. Er hatte offensichtlich einige Fans hier, die nicht zum ersten Mal eine Autorenlesung von ihm besuchten.
Sie nahm ein Glas Weißwein, streckte die Beine aus und begann sich zu entspannen.
Sie ließ sich von den Worten mitnehmen in eine ganz andere Welt. Der Autor entführte seine Leser in eine düstere kriminelle Gegend, in der es planvolle Killer gab, böse Machenschaften und Opfer, die nicht merkten, wie sie in die Falle gelockt wurden.
Wie schön, dachte sie mit einem wohligen Gefühl, dass ich bei allen Problemen in so einer friedlichen Gegend wohne. Ihr wurde schon komisch, wenn sie am Bremer Hauptbahnhof von den Junkies angesprochen wurde. Aber die baten unter Entzugsdruck nur um ein paar Euro. Pläne, die über den Tag hinausgingen, hatten die sicherlich nicht.
Draußen ließ jemand die Luft aus den Reifen ihres roten VW Polo.
Nun war alles bestens vorbereitet. Er ging zum Eingang der Bücherei und sah sich das Plakat an. Die Autorenlesung hatte um 20 Uhr begonnen und war bis 22 Uhr angesetzt.
Er überlegte, was dagegen sprach, jetzt noch hineinzugehen, um sich alles mit anzuhören. Es war fast ausverkauft, aber schräg hinter ihr, zwei Reihen weiter, waren noch ein paar Stühle frei. Er befürchtete aber, zu viele Blicke auf sich zu ziehen, wenn er jetzt als Nachzügler hereinkam. Wahrscheinlich würde er als Störenfried empfunden werden. Doch dann hatte er Glück. Zwei junge Frauen und ein koreanisch aussehender Mann, der viel weiblichere Züge hatte als seine Begleiterinnen, kamen mit Fahrrädern aus Bookholzberg. Er war sich sicher, dass er mit ihnen hineinhuschen konnte. Schöne Frauen würden die Blicke der Männer auf sich ziehen und der Asiate die der weiblichen Zuhörer.
Seine Vorsichtsmaßnahme wäre gar nicht nötig gewesen. Die meisten Büchereibesucher achteten nicht mehr auf ihre Umwelt, sondern befanden sich längst im Banne des Thrillers.
Er saß jetzt hinter ihr und konnte ihre Nackenhaare sehen, weil sie den Kopf schräg legte, so dass er fast auf ihre rechte Schulter sank. Während alle Zuhörer dem Krimiautor folgten, blieb der Maurer bei seinen eigenen Phantasien.
Die Zeit verging plötzlich sehr schnell. Sie kaufte sich am Ende der Lesung sogar ein Buch und ließ es sich vom Autor signieren.
»Jetzt will ich ja auch wissen, wer der Mörder ist«, sagte Judith Harmsen.
Der Autor lachte: »Wenn Sie es in den ersten zwei Dritteln des Buches erraten, bekommen Sie Ihr Geld zurück.«
Er spürte Wut in sich aufsteigen. Er hatte Angst, heute doch noch leer auszugehen. Wollte sie diesen Schreiberling jetzt etwa anbaggern? Würden die gleich gemeinsam verschwinden? Er brauchte sie allein.
Die Bibliothekarin und ihr Mann unterhielten sich mit dem Autor und fragten, ob er Lust hätte, noch mit ihnen essen zu gehen.
Judith Harmsen verließ die Bücherei allein. Er folgte ihr, aber sie ging keineswegs zum Parkplatz, sondern überquerte die Gleise und verschwand im Gleis Eins. Dort saß sie, trank ein alkoholfreies Weizenbier und blätterte auf der Suche nach dem Mörder hinten im Roman.
Er nahm sich am Eingang ein Delmenhorster Kreisblatt und versteckte sich hinter der Zeitung. Er trank einen Espresso und staunte, wie schnell sie ihr alkoholfreies Weizenbier hinunterstürzte.
Na, dachte er, treibt dich das schlechte Gewissen zu deinen Eltern zurück? Kannst du es gar nicht mehr abwarten, bis du sie endlich abgeschoben hast? Genieß das hier, meine Kleine. Es wird das Letzte sein in diesem Leben …
Er legte vier Euro auf den Tisch und verließ das Lokal. Er wollte auf jeden Fall vor ihr draußen sein. Er wartete an ihrem Auto.
Knapp zehn Minuten später kam sie mit beschwingtem Schritt auf ihn zu. Die Beleuchtung hier war für seine Pläne günstig. Das mannshohe Gebüsch ebenfalls. Er stand im Dunkeln. Sie kam aus dem Licht.
Er hatte sich das anders vorgestellt. Er dachte, sie würde die platten Reifen bemerken, sich bücken und nach Hilfe umschauen, und er könnte als hilfreicher Samariter auf der Bildfläche erscheinen und ihr in einem günstigen Moment ein mit Chloroform getränktes Tuch auf die Nase drücken.
Doch sie bemerkte die zerstochenen Reifen nicht. Sie stieg in den Polo und ließ den Motor an.
Frauen, dachte er grimmig. So etwas kann auch nur Frauen passieren. Verflucht nochmal!
Er befürchtete, sie könnte jetzt mit platten Reifen bis auf die Bahnhofstraße fahren und dann den ADAC rufen.
Er klopfte einfach an ihre Scheibe.
Sie erschrak nur einen kurzen Moment, dann erkannte sie sein Gesicht. Sie waren sich in der Bibliothek begegnet. Von Menschen, die zu Autorenlesungen gingen, erwartete sie nichts Böses.
Sie ließ die Scheibe herunter und lächelte ihn an. »Ist Ihr Auto kaputt? Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«, fragte sie.
»Meins ist in Ordnung. Aber Sie haben einen Platten.«
»Was?«
Sie öffnete die Fahrertür und sah nach hinten. »Tatsächlich. Ausgerechnet jetzt! Ich muss zu meinen Eltern und ich … «
»Keine Sorge, ich helfe Ihnen. Ich habe früher mal in einer Autowerkstatt gearbeitet. Reifen wechseln ist sozusagen meine Spezialität.«
Sie lehnte sich ans Auto und zündete sich eine Zigarette an, während er in ihrem Kofferraum angeblich das richtige Werkzeug suchte. Stattdessen öffnete er die Flasche und tränkte sein Taschentuch mit dem Chloroform.
»Schmeckt Ihnen die Zigarette?«
»Ja, warum? Gehören Sie auch zu den militanten Nichtrauchern? Oder darf ich Ihnen eine anbieten?«
»Nein, nein, genießen Sie sie nur. Ich fürchte nämlich, es wird Ihre letzte sein.«
Dann drückte er ihr das Tuch über die Nase und hielt ihr den Mund zu.