OstfriesenKiller - Klaus-Peter Wolf - E-Book + Hörbuch

OstfriesenKiller Hörbuch

Klaus-Peter Wolf

4,5

Beschreibung

Der erste Fall für Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen und der Beginn einer beispiellosen Erfolgsserie in Ostfriesland. Eine Serie von Mordfällen erschüttert Ostfriesland. Nach und nach werden mehrere Mitglieder des Vereins ›Regenbogen‹ auf grausame Weise umgebracht. Dieser Verein kümmert sich um die Belange von behinderten Menschen. Gab es Unregelmäßigkeiten bei den Einnahmen? Was geschah mit den Geldern, die die Angehörigen an den Verein zahlten? Wer hasst so sehr, dass er sie alle auslöschen will?  Für Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen wird gleich ihr erster Fall zu einer großen beruflichen wie menschlichen Bewährungsprobe. 

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:3 Std. 54 min

Sprecher:Klaus-Peter Wolf
Bewertungen
4,5 (190 Bewertungen)
128
35
27
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
Anniemaus

Nicht schlecht

Der Autor überzeugt mich als Vorleser nicht. Ich habe keinen Zugang zu den Ermittlern gefunden und die Handlung war auch eher schlecht
00



Klaus-Peter Wolf

Ostfriesenkiller

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Vier Morde erschüttern die Stadt Norden in Ostfriesland. Alle Opfer waren Mitglieder im Regenbogen-Verein, einem Verein, der sich um behinderte Menschen und ihre Angehörigen kümmert. Und der auch die finanziellen Belange dieser Menschen betreut. Gab es Unregelmäßigkeiten bei den Einnahmen? Was passierte mit den Geldern, die die Angehörigen für die Betreuung ihrer Angehörigen an den Verein zahlten? Kommissarin Ann Kathrin Klaasen, Anfang vierzig, gerade frisch von Ehemann und Sohn verlassen, muss all ihr Können aufbieten, um dem Täter auf die Spur zu kommen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach Jahren im Ruhrgebiet an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Bislang sind seine Bücher in 24 Sprachen übersetzt und über elf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«.

Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Online-Bestsellerliste; einige Bücher der Serie werden derzeit prominent für das ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

Inhalt

Widmung

Donnerstag, 28.April, 17.32 Uhr

Donnerstag, 28.April, 21.32 Uhr

Freitag, 29.April, 06.20 Uhr

Freitag, 29.April, 9.43 Uhr

Samstag, 30.April, 6.30 Uhr

Samstag, 30.April, 15.26 Uhr

Sonntag, 01.Mai, 09.15 Uhr

Sonntag, 01.Mai, 14.00 Uhr

Sonntag, 01.Mai, 16.00 Uhr

Montag, 02.Mai, 7.00 Uhr

Die Polizeiinspektion Aurich, die Landschaft, Fähren, Häuser und Restaurants gibt es in Ostfriesland wirklich. Doch auch wenn dieser Roman ganz in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und die Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Sogar das Hans-Bödecker-Gymnasium habe ich erfunden, weil ich der Meinung bin, dass es in Ostfriesland längst ein Hans-Bödecker-Gymnasium geben müsste.

 

Diesem großen Mann widme ich dieses Buch in Dankbarkeit.

Donnerstag, 28.April, 17.32 Uhr

Ulf Speicher wusste nicht, dass er nur noch vier Stunden zu leben hatte.

Es war erst Ende April, doch in der klaren Luft prickelte die Sonne angenehm auf seiner Haut. Die kleinen Wasserlachen im Watt glitzerten, als hätte das Meer bei seinem letzten Besuch einen Teppich aus Diamanten hinterlassen.

Jetzt sah es aus, als ob noch Ebbe wäre, als könnte man vom Festland mühelos nach Juist oder Norderney laufen. Aber die Flut drückte das Wasser bereits zurück in die Priele. In einer knappen Stunde, wenn die Sonne hinter Juist untergegangen war, konnte das Watt zu einer tödlichen Falle für Touristen werden. Erst vor ein paar Wochen hatte sich das Meer einen Familienvater geholt, der ohne Wattführer von Norddeich nach Norderney gehen wollte, um in der »Oase« seine Frau und seine Kinder zu treffen.

Ulf Speicher erzählte gern solche Geschichten. Zum Beispiel von der untergegangenen Stadt unter den Muschelbänken. »An manchen Sonntagen, wenn der Wind günstig steht«, behauptete er, »glaubt man, die versunkenen Kirchturmglocken läuten zu hören.«

Oder von der Frau, die schon bis zum Hals im Schlick eingesackt war und nicht mehr wagte, sich zu bewegen. Sie musste angeblich mit einem Kran herausgezogen werden. Und von der Schulklasse, die mit ihrem Lehrer auf eine Wattwanderung ging und ohne ihn zurückkam.

Er erzählte diese modernen Gruselgeschichten mit einem Augenzwinkern. Großstädter hörten so etwas gerne, wenn sie Urlaub am Meer machten.

Ulf Speicher liebte es, den feuchten Meeresboden unter seinen Füßen zu spüren, wenn der Schlick zwischen seinen Zehen hervorquoll. Er fühlte sich dann gut und lebendig. Er war jetzt 55, hatte einen Kugelbauch und den Ansatz einer Glatze. Und noch nie in seinem Leben hatte er mehr und besseren Sex gehabt als in den letzten Jahren. Er bereute es nicht, von Frankfurt hierher an die Nordsee gezogen zu sein. Seitdem er im hohen Norden wohnte, hatte sich sein Leben von Grund auf verändert. Er war jetzt der Leiter des Vereins Regenbogen, von dem behinderte Menschen und deren Angehörige betreut wurden.

Die meisten Ehen zerbrachen, wenn ein behindertes Kind geboren wurde. Die Belastung für die Beziehung war zu groß. Speichers Verein Regenbogen entlastete die Angehörigen. Die Frauen konnten endlich einmal Urlaub machen, ausspannen und wussten ihre Kinder gut betreut. Manch eine hatte zum ersten Mal seit Jahren endlich wieder so etwas wie Freizeit und bändelte schon aus lauter Dankbarkeit mit ihm an. So wie das Leben jetzt lief, konnte Ulf Speicher nur zufrieden damit sein.

 

Er drehte sich zu den beiden Frauen hinter ihm um. Durch die Meerluft und die Sonne waren ihre Wangen schon rot gefärbt. Sie kamen im Schlick nicht so schnell voran wie er.

Die beiden sahen gar nicht aus wie Schwestern. Alexa Guhl hatte ein behindertes Kind und war eine eher stämmige Frau. Ihre Schwester Liane Rottland dagegen wirkte zart und zerbrechlich. Frustriert von Männern und gescheiterten Zweierbeziehungen, hatten sich die beiden zusammengetan und kümmerten sich rührend um den geistig behinderten Markus.

Alexa, die einen traurigen Zug um die Mundwinkel hatte, gefiel Ulf Speicher am besten. Mit ihr konnte er sich so manches schöne Schäferstündchen vorstellen. Er musste nur noch die dünne Schwester irgendwie loswerden.

Der Wind trug ihr Kreischen zu ihm herüber. Sie steckte im Schlick fest.

Ulf Speicher dachte nur einen kurzen Augenblick an seine Freundin Jutta Breuer. Sie würde ihm nicht in die Quere kommen. Als er sie vor einigen Jahren kennengelernt hatte, hatte er auf seiner Unabhängigkeit bestanden, auf getrennten Wohnungen. Er stellte beim Regenbogen-Verein die Dienstpläne auf und wusste immer, wann sie sich wo befand. Sie hatte eine häusliche Pflege und würde bis mindestens 22 Uhr damit beschäftigt sein. Danach würde sie nicht mehr zu ihm kommen, sondern ihm höchstens noch Gute-Nacht-Grüße per SMS schicken.

 

Alexa Guhl und Liane Rottland bemühten sich, gegen den ablandigen Wind vor der Flut zum Festland zurückzukommen. Panisch waren sie noch nicht, denn sie fühlten sich durch Ulf Speichers Anwesenheit sicher. Aber er drängte sie, sich zu beeilen.

Ihre Stiefel blieben immer öfter im Schlick kleben. Der weiche Meeresboden machte schmatzende Geräusche, wenn die Frauen ihre Füße herauszogen. Es klang fast unanständig. Irgendwie gierig.

Die beiden sahen sich an. Sie wagten nicht, es auszusprechen, doch sie dachten beide dasselbe: Es hörte sich an, als sei das Meer hungrig.

Ulf Speicher forderte die beiden Frauen auf, die Stiefel auszuziehen und wie er barfuß zurückzuwaten. Gerade lief die Frisia V durch die ausgebaggerte Fahrrinne in Norddeich ein. Es sah aus, als würde sie auf Rädern durchs Watt gezogen werden. Irgendwie gespenstisch. Ein Schiff, das auf dem Trockenen fuhr.

Ulf Speicher grinste, als er die riesige Graffiti sah: Nordsee ist Mordsee. Die Schrift, eingerahmt von Totenköpfen, musste über mehrere Meter gehen. Er hatte so einen Graffiti-Künstler unter seinen Zivildienstleistenden.

Vielleicht war Kai das, dachte er nicht ohne Stolz.

Ulf Speicher hob eine Muschel aus dem Wasser, zeigte sie vor und aß sie demonstrativ auf. Er wusste, dass das die beiden Frauen wahrscheinlich ein bisschen ekelte. Dann ließ er seinen üblichen Spruch los: »Frischer kriegt man sie nirgendwo.«

Er schlürfte das Innere der Muschel aus und schluckte es absichtlich laut runter. Über Alexas Rücken lief eine Gänsehaut. Es hatte etwas Animalisches, wie er diese Muschel aussaugte. Und schon bückte er sich nach der nächsten.

Er hielt ihr die Muschel hin. Ihre Schwester wendete sich angewidert ab: »Das wirst du doch wohl nicht essen!«

Alexa nahm die Muschel. Hier ging es nicht um eine kleine Meeresfrucht. Das hier war etwas anderes. Das hier war eine Verabredung, eine Verabredung zum Sex. Sie wusste es, und Ulf Speicher wusste, dass sie es wusste.

Sie nahm die Muschel zwischen ihre Lippen und schluckte sie mit einem leichten Ekelgefühl hinunter.

Ulf Speicher nahm sie in den Arm und lachte. Er beglückwünschte sie und lud beide Frauen zu sich nach Hause zum Muschelessen ein.

Liane kapierte natürlich sofort, dass diese Einladung nicht wirklich für sie galt. Ein bisschen freute sie sich für ihre Schwester, die in den letzten Jahren nun wahrlich kein einfaches Leben gehabt hatte, und gönnte es ihr. Aber ein bisschen war sie auch erstaunt, dass ihre solide Schwester sich auf einen Mann einließ, den sie erst heute Morgen kennengelernt hatte.

Liane lehnte dankend ab, sie wollte in ihre Ferienwohnung zurückgehen, um sich ein bisschen auszuruhen. Sie habe sich wohl bei der Wattwanderung heute etwas übernommen.

Als sie das Festland erreichten, gingen Ulf und Alexa bereits Hand in Hand wie ein frisch verliebtes Pärchen. Liane ging gut zwanzig Meter hinter ihnen, um nicht zu stören.

 

Die Fahrt von Norddeich nach Süderneuland dauerte knapp fünfzehn Minuten. Ulf Speicher gab Gas. Sie sprachen während der Fahrt nicht. Alexa war aufgeregt wie beim ersten Mal. Sie war ihrer Schwester dankbar, dass sie so unkompliziert die Bahn freigemacht hatte für dieses Liebesabenteuer.

Ulf Speicher bewohnte eine Doppelhaushälfte. 127 Quadratmeter. Groß genug für ihn und seine fast viertausend Bücher umfassende Bibliothek.

Das Haus gefiel Alexa. So eins hatte sie sich immer gewünscht. Die roten Backsteinziegel strahlten friesische Heimeligkeit aus.

Das Garagentor funktionierte per Fernbedienung. Überlebensgroß war John Lennons Kopf auf das Tor gemalt.

Alexa lächelte. Jetzt wusste sie wenigstens, welche Musik er mochte.

Im Flur zogen sie sich schon im Stehen aus. Sie konnten ihre Sachen gar nicht schnell genug loswerden.

Sie überlegte, wann sie sich zum letzten Mal vor einem Mann nackt ausgezogen hatte. Es war mindestens vier, fast fünf Jahre her und in einer Beziehungskatastrophe geendet. Danach hatte sie sich irgendwie aufgegeben und war auseinandergegangen wie ein Hefekloß. Ihre Schwester sagte, sie habe einen Schutzpanzer um sich herum geschaffen, einen Panzer aus Fett.

Ulfs Bauch und seine einem Teddybär ähnliche Figur machten es ihr leichter.

Er meinte verschmitzt, dass er mit diesen halb verhungerten Frauen aus den Illustrierten nichts anfangen könne. Er stünde mehr auf Rubensmodelle, auf richtige Frauen, wie sie eine sei. Sie war ihm dankbar dafür.

Während er zärtlich ihre großen Brüste streichelte und liebevoll küsste, wurde die Kugel, die dazu bestimmt war, das Leben von Ulf Speicher auszulöschen, in den Gewehrlauf geschoben.

 

Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen kam sich blöd dabei vor. Aber sie tat es trotzdem. Es war ein günstiger Moment. Sie saß alleine im Büro. Ihre Kollegen Weller und Rupert unterhielten sich im Flur euphorisch über den Aufstieg der Auricher Handballer von der Kreisklasse in die zweite Handballbundesliga.

Ann Kathrin Klaasen musste den Namen zweimal eintippen, denn beim ersten Mal schrieb sie Susanne mit i. Solche Fehler passierten ihr sonst höchst selten. Ihre Finger waren sehr präzise geschulte Werkzeuge. Sie hatte, im Gegensatz zu ihren Kollegen, das Zehn-Finger-System gelernt, sie hackte nicht nach dem Adler-Suchsystem auf der Tastatur herum wie Rupert und Weller. Sie schrieb mühelos 300 Anschläge pro Minute.

Tatsächlich erschien das Bild von Susanne Möninghoff auf dem Bildschirm. Ann Kathrin hatte nicht wirklich damit gerechnet. Sie betrachtete die Frau abschätzig. Das Bild musste ein paar Jahre alt sein. Oder war sie wirklich so jung? Sie hatte gewelltes langes Haar, getöntes Rot, Körbchengröße mindestens 85 B. Kein Wunder. Hero war busenfixiert. Frauen mit weniger ausladender Oberweite nahm er kaum zur Kenntnis.

Ann Kathrin spürte einen Anflug von Übelkeit. Gleichzeitig stieg ein merkwürdiges Triumphgefühl in ihr auf. Das wusste er garantiert nicht: Seine süße kleine Susanne tauchte in ihrer Kundenkartei auf.

Ann Kathrin ließ sich den Text ausdrucken. Sie sah zur Tür. Nur noch ein paar Sekunden, dann …

Zu spät. Rupert betrat das Büro wie jemand, der erwartete, in einen menschenleeren Raum zu kommen. Mit rechts griff er sich in den Schritt. Er trug oft zu enge Unterhosen. Immer wieder korrigierte er ihren Sitz, wenn er vermutete, dass ihm dabei keiner zusah.

Er überspielte die Peinlichkeit mit einem Kopfschütteln: »Erst machst du ein Mordstheater, um endlich deine Überstunden abfeiern zu können, und dann …« Demonstrativ tippte er auf seine Uhr. Es war ein bisschen so, als wollte er damit vergessen machen, wo seine Finger gerade noch herumgefummelt hatten.

Ann Kathrin Klaasen nahm das Papier aus dem Drucker. Sie faltete das Blatt zusammen und ließ es in ihrer schwarzen Esprit-Handtasche verschwinden.

Rupert trat hinter sie, um einen Blick auf den Computerbildschirm werfen zu können. Mit seiner notorischen Neugier hatte er schon so manchen Fall gelöst. Aber Ann Kathrin wollte verhindern, dass er mit seiner viel gepriesenen Kombinationsgabe dahinterkam, was sie hier gerade getan hatte. Was sehr dienstlich aussah, war hoch privat und eigentlich nicht erlaubt.

Schnell schloss sie das Programm. Vielleicht ein bisschen zu schnell, denn Rupert stutzte. »Dein Urlaub hat bereits vor einer Stunde begonnen. Was willst du noch hier?«

Sie korrigierte ihn. »Vor anderthalb Stunden.« Dann stand sie auf und zog ihren Mantel an. Sie musste so schnell wie möglich hier raus.

In der Tür begegnete ihr Weller. Er hielt drei Akten unterm Arm und machte den Versuch, sie an Ann Kathrin loszuwerden. Da sie nicht reagierte, wären die Akten fast auf den Boden gefallen, wenn Weller nicht im letzten Moment beherzt zugegriffen hätte.

Weller hatte hektische rote Flecken im Gesicht. Seine Haut reagierte auf jede Stresssituation. Er roch nach Nikotin und einem viel zu scharfen Rasierwasser.

»Ich schaffe es nicht zum Haftprüfungstermin. Ann, kannst du vielleicht für mich …«

Ann Kathrin Klaasen verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust. Sie wehrte ab. »Nein, nein. Im Grunde bin ich überhaupt nicht mehr da.«

Sie ließ ihn einfach stehen und rauschte durch den Flur nach draußen. Weller sah ein bisschen beleidigt hinter ihr her und winkte resigniert ab, als habe Reden ja doch keinen Sinn. Aus der Tiefe des Büros rief Rupert: »Erhol dich gut, Ann!«

In der Polizeiinspektion fühlte Ann Kathrin Klaasen sich verletzbar. Sie war geflohen wie ein waidwundes Tier. Sie fragte sich, was sie eigentlich fürchtete. Rupert und Weller waren nette Kollegen. Manchmal vielleicht etwas ruppig oder unsensibel im Umgang, aber das war es nicht.

Sie sollten sie nicht so sehen. Sie war kurz davor zu heulen, und das kratzte am Bild der taffen Hauptkommissarin, die immer alles im Griff hatte, egal ob Beruf, Haushalt, Familie oder ihr Körpergewicht.

 

Der Sex mit Alexa Guhl verlief ganz anders, als Ulf Speicher es sich vorgestellt hatte. Als sie verstanden hatte, wie sehr sie ihm gefiel, hatte sie all ihre Hemmungen verloren und die Initiative ergriffen. Sie stellte Ansprüche, verlangte von ihm, sie hier zu streicheln und da zu berühren. Sie übernahm ganz die Regie bei dem Spiel. Bald schon kam er sich vor wie ein Schuljunge, der von seiner Lehrerin Anweisungen entgegennahm.

Sie unterbrachen für eine kleine Pause. Er liebte es, zwischendurch Kaffee zu trinken oder auch ein Glas Sekt und das Spiel über den ganzen Abend auszudehnen.

Die Sonne war gerade hinter Juist versunken. Sie mussten Licht machen. Nackt ging Ulf Speicher in die Küche, um einen Kaffee aufzubrühen. Er wusste nicht, dass er durch ein Zielfernrohr beobachtet wurde und im Fadenkreuz eine wunderbare Zielscheibe abgab.

Das Fadenkreuz wanderte über seinen Körper, vom Bauch über die Brust zum Kopf.

In diesem Moment tänzelte Alexa in die Küche. Auch sie immer noch nackt. Draußen fuhr jemand mit dem Fahrrad vorbei. Um keinen Preis wollte Alexa nackt in Ulfs Küche gesehen werden. Deswegen schaltete sie das Licht aus.

Damit rettete sie Ulf Speicher das Leben.

Für eine Stunde.

 

Ann Kathrin Klaasen war nach Neßmersiel gefahren, um dem Sonnenuntergang im Meer zuzusehen. Sie brauchte Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen und aufs Meer gestarrt hatte. Jedenfalls begann sie jetzt zu frösteln.

Sie hatte ihren Twingo vor Aggis Huus geparkt. Hierhin fuhr sie gerne, wenn sie ihren Gedanken nachhängen wollte und ein bisschen Zeit für sich selbst brauchte.

Im Geschäft nebenan konnte sie nie an den Kinderbüchern vorbeigehen. Als ihr Sohn klein war, hatte sie immer eine gute Ausrede, mit neuen Bilderbüchern und Geschichten für Erstleser nach Hause zu kommen. Jetzt wurde es schwieriger. Sie gestand sich ihre Leidenschaft ein. Ja, sie liebte Kinderbücher. Jugendbücher interessierten sie schon nicht mehr. Hero hatte natürlich sofort eine psychologische Erklärung dafür parat: Sie lebte dann seiner Meinung nach das kleine Kind in sich aus. Er behauptete, sie würde manchmal davon dominiert, wie eine Marionette von ihrem Spieler.

Sie hasste es, wenn er so sprach, und wusste doch, dass er recht hatte.

Sie wählte die »Zaubergeschichten« von Ulli Maske. Das Titelbild sprach sie an. Ihr Vater hatte Geschichten von Zauberern, Hexen und Elfen geliebt. Mit dem Buch setzte sie sich in Aggis Huus. Sie mochte die Wohnzimmeratmosphäre hier. Selbst die Anwesenheit einer Touristengruppe konnte nichts daran ändern, dass dies hier kein normales Café war. Ein wenig fühlte sich hier jeder Gast zu Hause.

Sie bestellte sich ein alkoholfreies Jever und den Tageseintopf mit Wurst. Genau das gehörte hierhin. Es gab wenige solcher Plätze. Ann Kathrin fand, hier sollte kein Sushi serviert werden und keine ausgefallenen Spezialitäten, sondern deftige Eintöpfe und selbstgemachter Kuchen.

Ann Kathrin konnte die Füße ausstrecken und sich für einen Moment sicher fühlen. Hier war die Welt einfach und schön. Das Böse, die komplizierte Zivilisation, blieb draußen.

Ann Kathrin wartete auf den Eintopf und blätterte in ihrem neuen Kinderbuch, aber sie las sich nicht wirklich im Text fest. Sie wusste, dass ihr noch etwas bevorstand. Etwas, vor dem sie am liebsten weggelaufen wäre.

Als dann die junge Bedienung den Brotkorb und den Eintopf vor sie hinstellte, ahnte Ann Kathrin sofort, sie würde keinen Bissen herunterbringen. Es war ihr peinlich, jetzt nichts essen zu können. Sie wollte die Küche nicht beleidigen. Eine Weile saß sie so vor ihrem Teller und starrte hinein. Sie tippte die Wurst mit der Gabel an, schnitt sie in kleine Stücke, tauchte sie in den Kartoffeleintopf, aber am Ende zahlte sie doch, ohne auch nur von der Suppe probiert zu haben.

Im Blick der Kellnerin lag die Frage: Stimmt etwas nicht mit unserem Essen? Soll ich Ihnen etwas anderes bringen?

Ann Kathrin Klaasen verließ Aggis Huus mit vielen Beteuerungen, wie toll der Eintopf sei, aber sie müsse sich wohl einen Virus gefangen haben.

Sie stieg in ihren grünen Twingo. Das Auto war wie ein Schutzraum für sie. Ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten drückte sie die Sicherung für alle Türen runter. Es war wie eine Abgrenzung nach außen. Sinnlos, aber wohltuend. Hier sollte sie jetzt niemand stören.

 

Sie betrachtete ihr Gesicht im Rückspiegel, bevor sie den Motor anließ. Nein, sie sah nicht aus wie 37. Sondern viel älter. Sie kam sich eher vor wie 47. Ja, vor kurzem noch hatte sie jünger ausgesehen, wie Anfang 30 vielleicht. Sie war immer viel jünger geschätzt worden, als sie in Wirklichkeit war. In der Pubertät hatte sie das mächtig geärgert.

Andere Frauen begannen vielleicht, sich aufzudonnern und schliefen noch öfter mit ihrem Mann als sonst. Aber sie konnte das nicht. Etwas in ihr war zu Eis gefroren.

Sie trug weite Pullis und ging nicht mehr zum Friseur. Sie kämmte sich die Haare morgens nur kurz mit einer Bürste durch und steckte sie mit einer Spange am Hinterkopf zusammen. Sie hörte auf, Make-up zu benutzen. Lediglich die dunklen Ränder unter den Augen schminkte sie kurz mit einem Abdeckstift weg.

Ann Kathrin fischte den Ausdruck aus ihrer Handtasche. Sie unterdrückte den Impuls, das Papier zu zerreißen. Sie bemühte sich jetzt, es wie ein Beweisstück zu betrachten. Dann lenkte sie den Twingo aus der Parklücke und versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren.

Sie stand unter Hochdruck. Sie kannte Möglichkeiten, solchen Stress abzubauen. Aber jetzt wollte sie das nicht. Sie hoffte, so genug Wut und Power für die eigentliche Konfrontation zu haben. Diesmal würde sie sich von seiner Weichspülerstimme nicht einlullen lassen. Diesmal sollte es voll zur Sache gehen.

Zunächst fuhr sie über die Störtebekerstraße in Richtung Norden, den Deich immer rechts neben sich in Sichtnähe. Doch dann fühlte sie sich noch nicht stark genug für die Auseinandersetzung. Sie redete sich ein, sie müsse noch einmal Luft schnappen und ihrem Sohn Eike die Chance geben, einzuschlafen. Er sollte nichts von dem drohenden Unheil mitbekommen.

Sie bog in Richtung Hage ab und fuhr zum Meerhusener Moor. Hier am Rand des Naturschutzgebietes ließ sie den Wagen stehen und spazierte durch fast völlige Dunkelheit zum kleinen Eversmeer hin. Zunächst hatte sie noch keinen festen Boden unter den Füßen. Später dann, als sie tiefer ins Gebiet um das Ewige Meer eindrang, führte sie der Eichenbohlenweg hinein in die Stille des Moors. Endlich erreichte sie die Aussichtsplattform am See. Hier saß sie eine Weile und tat nichts.

Dann erhob sie sich mit einem tiefen Seufzer, reckte sich, als habe sie lange geschlafen und entschied, dass sie nun so weit sei.

Gern wäre sie noch ein bisschen weiter ins Moor gegangen, doch zu ihrem eigenen Schutz blieb sie auf den Holzbohlen. Um diese Zeit hatte man hier keine Hilfe zu erwarten. Das Moor konnte tückisch sein. Genau wie das Wattenmeer.

 

Eine günstige Schussposition bot sich, als Alexa Guhl im Wohnzimmer zwei Kerzen anzündete und Ulf Speicher gut gelaunt eine Weinflasche entkorkte.

Alexa konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie sich zum letzten Mal so frei gefühlt hatte, so eins mit sich und ihrem Körper.

Da klingelte es an der Tür. Beide stoppten mitten in der Bewegung und sahen sich an. Alexa machte ein enttäuschtes, ja, erschrockenes Gesicht. Ihre größte Angst war, gleich vor einer anderen Frau zu stehen. Seiner Ehefrau oder Lebensgefährtin. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie seine genauen Lebensumstände überhaupt nicht kannte. Sie wusste nur, dass er Ulf Speicher war. Der Gutmensch. Mit einem Riesenherz für Behinderte und deren Angehörige und genügend Durchsetzungsvermögen, um in diesen schweren Zeiten eine Organisation wie den Regenbogen-Verein durch die Klippen der sozialen Kürzungen zu schiffen.

Ulf Speicher legte den Zeigefinger über seinen Mund, schüttelte den Kopf und blies die Kerzen aus. Auf keinen Fall würde er jetzt öffnen. Niemandem.

Der unangemeldete Besucher vorn an der Tür verschaffte Speicher noch einmal einen kurzen Aufschub.

 

Als müsste Ann Kathrin Klaasen sich selbst beweisen, dass sie nun bereit war, die Auseinandersetzung zu suchen, übertrat sie die Geschwindigkeitsbegrenzung bewusst. Rechts neben ihr lag der Bahnhof. Eine einsame Taxe wartete davor.

Taxi van Hülsen. 2-1-4-4.

Der Pfeifenraucher nickte ihr freundlich zu. Er hatte sie im letzten Jahr ein paar Mal abgeholt, wenn sie von Fortbildungsmaßnahmen in Hannover oder Oldenburg spät nachts mit dem Zug zurückgekommen war.

Sie fuhr am liebsten mit dem Auto nach Norden. Der Bahnhof hatte immer etwas Trostloses an sich, besonders, wenn die letzten Touristenströme versiegt waren. An den staubblinden Scheiben erzählte ein altes Werbeplakat, dass man hier einst Dart spielen und Kaffee trinken konnte. Jetzt war sogar der Automat abgebaut, an dem man im Sommer Getränke und Süßigkeiten ziehen konnte.

Wenn man mit dem Auto über die B 72 auf die Bahnhofstraße kam, wirkte Norden dagegen einladend. Direkt am Ortseingang der Esoterik-Laden. Draußen ein Schild: Reiki. Was immer das war, Ann Kathrin fand es sympathischer als mit Marlborowerbung empfangen zu werden.

Links und rechts je eine Windmühle. Sie fuhr dazwischen hindurch wie durch ein Stadttor. Der Anblick dieser Mühlen ließ sie gleich tiefer atmen, als könne sie das Meer bereits riechen.

Dann die Riesen-Doornkaatflasche. Die nahm sie jedes Mal ganz bewusst wahr. Andere Städte hatten Reiterdenkmäler. Irgendwelche Könige oder Feldherren. Norden hatte die Doornkaatflasche. Sie belächelte dieses grüne Monstrum. Es erinnerte sie jedes Mal daran, dass Doornkaat der Lieblingsschnaps ihres Vaters gewesen war. Im Eisfach hatte immer eine Flasche gelegen. Daneben zwei gefrorene Gläser.

»Doornkaat«, hatte ihr Vater verkündet, als sei es eine tiefe philosophische Weisheit, »muss man kalt trinken: Eiskalt!«

Sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, denn damals besaßen sie noch keine Tiefkühltruhe, nur dieses kleine Gefrierfach im Kühlschrank, und die Doornkaatflasche füllte es zur Hälfte aus.

Ann Kathrin Klaasen trank selten Schnaps, aber wenn, dann einen eiskalten Doornkaat. Sie bewahrte Flasche und Gläser an der gleichen Stelle auf wie einst ihr Vater. Wenn sie sich – genau wie er früher – im Stehen vor dem Kühlschrank einen eingoss und ihn runterkippte, dann sagte sie jedes Mal: »Prost, Paps.«

»Hast du Kummer mit den deinen, trink dich einen!« Dieser Satz von ihm, ironisch lächelnd auf seine Kohlenpottvergangenheit anspielend ausgesprochen, gehörte auch zu seinen viel zitierten Lebensweisheiten. Er, der verdammt viel Kummer im Leben gehabt haben musste, war aber nie zum Trinker geworden. Zäh und grimmig kämpfte er den Kampf des Lebens bis zum Schluss.

Wenn sie vor dem Kühlschrank stehend das gefrorene Glas an die Lippen führte, dann gab es immer Ärger wegzuspülen. Dann hatte sie zu viel zu lange geschluckt und den Mund gehalten. Dann platzte sie innerlich fast.

Das warme Gefühl des Alkohols breitete sich jedes Mal wohlig in ihr aus. Sie schüttelte sich dann und stöhnte, als würde sie alle fremden Energien abschütteln, die nach so einem Tag an ihr klebten wie der Matsch an ihren Schuhen. Es war für sie wie ein Ritual.

Sie stellte das Glas immer in Augenhöhe auf dem Kühlschrank ab, wie ihr Vater es so gern hatte. Sie liebte es, das Glas anzuschauen, auf dem die Wärme ihrer Fingerspitzen Spuren hinterlassen hatte. Sie stand dann meist noch einen Moment still und sah zu, wie die Zimmertemperatur die Kristalle auf dem Glas zu Tropfen schmolz, die langsam wie silbrige Schnecken daran herunterkrochen. Es war ein meditativer Moment.

Danach war sie jedes Mal wieder bereit, sich der Welt zu stellen. Ann Kathrin Klaasen, die Kämpferin. Ann Kathrin Klaasen, die Unerschrockene.

So könnte sie sich vermutlich sogar heute wieder in den Griff bekommen. Aber genau das wollte sie nicht. Dies war nicht der Tag, um etwas herunterzuspülen und ins Gleichgewicht zu bringen. Heute wollte sie eine Entscheidung. Danach dann vielleicht den Schnaps. Vielleicht …

Ihr Haus lag im Norden von Norden, im sogenannten Getreideviertel. Keine tausend Meter Luftlinie vom Deich entfernt. Sie fuhr am Kornweg vorbei und bog in den Haferkamp ab. Je näher sie ihrem Haus kam, umso schneller schlug ihr Herz.

Der Mond hing fast über ihrem Haus, als ob ihr das Universum so den Weg zeigen wollte. Sie lenkte ihren Twingo im Distelkamp Nummer 13 auf die große Auffahrt.

Der Wind hatte gedreht. Es war, als würden ihr die Köpfe der Tulpen im Vorgarten zunicken.

Sie parkte vor der Garage. Heros Wagen war schon drin.

Der Gedanke, dass sie es genau so machen würde, wenn sie in diesem Haus einen Mörder zu verhaften hätte, huschte durch ihren Kopf. Seine Garage war jetzt zugeparkt. Er konnte mit dem Auto nicht raus. Zunächst mussten einem gefährlichen Verbrecher die Fluchtwege abgeschnitten werden. Nach ihrer Erfahrung ergaben sich selbst die härtesten Jungs, wenn sie keine Chance mehr sahen, davonzukommen.

Obwohl Ann Kathrin Klaasen direkt bei der Haustür ausstieg, betrat sie die Wohnung nicht durch den Haupteingang, sondern durch die Garage. Das Licht dort ging automatisch an. Sie beugte sich an der Fahrerseite in Heros blauen Renault Megane, zog ihr Notizbuch aus der Handtasche und schrieb den Tachostand auf.

Sie schnüffelte am Beifahrersitz herum. Nein, ein fremdes Parfum konnte sie nicht ausmachen. Doch die Zahlen auf dem Tacho sagten ihr genug.

Ann Kathrin straffte ihren Körper und zupfte an ihrer Kleidung herum. Sie räusperte sich wie eine Opernsängerin, die vor dem großen Auftritt befürchtet, dass ihre Stimme versagt. Dann erst betrat sie das Haus.

Sie holte tief Luft und schritt der Auseinandersetzung entgegen.

Donnerstag, 28.April, 21.32 Uhr

Ulf Speicher knipste das Licht an und ging noch einmal in die Küche, um eine neue Flasche Wein zu holen.

Das Licht reichte, um die tödliche Kugel genau zu platzieren.

Ja. Prima. So. Jetzt hab ich dich. Du wirst keinen Schaden mehr anrichten. Nicht in meinem Leben und auch nicht in dem von anderen Menschen.

Gute Nacht, du verlogenes Schwein. Jetzt hab ich dich endlich …

Der Zeigefinger krümmte sich über dem Abzug.

 

Mit geschlossenen Augen lag Alexa auf dem Sofa und stellte sich vor, wie es wäre, bei Ulf zu bleiben. Mit ihm in diesem Haus zu wohnen. Er hätte bestimmt keine Probleme mit Markus. Wenn es überhaupt einen Mann gab, der mit behinderten Kindern umgehen konnte, dann Ulf. Das Haus war groß genug. Es hielt sie ohnehin nichts in Oberhausen. Sie hatte ihre Freunde verloren und ihre Arbeit. Eine bessere Betreuung gab es hier in Ostfriesland für Markus mit Sicherheit.

Ihre Schwester würde das verstehen. Dann wäre auch sie endlich frei, um ein eigenes Leben zu führen.

Alexa fragte sich, ob sie gerade dabei war, sich neu zu verlieben.

Irgendwo draußen knallte etwas. Das Klirren der Scheibe hörte sie nicht.

Doch dann prallte etwas mit voller Wucht auf den Boden. Erstaunt stand sie auf und ging zur Küche. Sie sah Ulf auf dem Küchenboden liegen mit einem kreisrunden Loch in der Stirn.

Dann schrie sie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.

 

Nummer Eins.

 

Im Flur stand die Sporttasche. Heros Cordjacke hing am Kleiderständer. Die unbedarfte Ehefrau sollte denken, dass er mal wieder beim Handball gewesen war.

Ann Kathrin öffnete die Sporttasche so leise, dass Hero im Wohnzimmer den Reißverschluss nicht hören konnte. Er sah sich einen Boxkampf an.

Sie befühlte die Sportkleidung. Dann erschien sie in der Wohnzimmertür wie ein Racheengel. Sie lehnte sich mit der rechten Hand so gegen den Türbalken, dass Hero ihre linke Hand mit seiner Sporttasche noch nicht sehen konnte.

Sie bemühte sich um eine freundlich-interessierte Stimme, konnte aber den bebenden Unterton, der das drohende Gewitter ankündigte, kaum verbergen: »Na, mein Schatz, wie war’s beim Handball? Habt ihr gewonnen?«

Hero Klaasen legte die Fernbedienung neben sich, schaute kurz zu ihr, dann zurück zum Bildschirm. Er trug sein Lieblingsoberhemd. Weiß mit blauen Streifen, die Ärmel locker aufgekrempelt. Seine Haare waren vom Duschen noch feucht.

Er winkte lächelnd ab. »Ach …«

»Also habt ihr verloren?«

Er nickte, als sei das erstens belanglos und zweitens selbstverständlich, nahm die Fernbedienung und stellte den Ton lauter. Er liebte es, in den Kampfpausen die Tipps der Trainer zu belauschen, die auf ihre angeschlagenen Schützlinge einredeten.

Ann Kathrin schwang die Sporttasche im hohen Bogen ins Wohnzimmer und ließ sie durch die Luft auf die Couch segeln. Fast hätte die Tasche Heros Kopf gestreift.

Irritiert sah er seine Frau an. Jetzt hatte sie endlich seine Aufmerksamkeit.

»Was soll das?«

Triumphierend ging sie stumm an ihm vorbei, öffnete die Tasche und schüttete die Handballsachen vor ihm auf den Boden. Alles war noch schön gefaltet, also unbenutzt. Mit spitzen Fingern, ganz so als würde sie einen eklig verschmierten Lappen anfassen, hob sie sein Hemd mit der Nummer 4 auf und roch daran.

»Früher hat mein tapferer Sportler bei jedem Spiel die Sachen durchgeschwitzt. Heute riechen sie, als ob sie aus der Reinigung kämen.«

Treffer. Klare Beweisführung. Aus der Nummer würde er so leicht nicht herauskommen.

Er verdrehte seine Augen und schaute zur Decke, als müsse er den Himmel für ihre entsetzliche Dummheit um Verzeihung bitten.

Dann hob er beide Hände hoch wie jemand, der sich ergeben möchte und sagte: »Mein Gott, ja, ich geb’s zu! Ich bin gar nicht hingefahren. Ich war zu Hause und hab Fernsehen gesehen. Ich brauch das. Boxkämpfe entspannen mich.«

Sie nahm seine Ausrede sofort ernst, machte zwei Schritte zum Fernsehgerät und legte die Hand darauf. Sie sah ihn an, als ob sie ihm noch eine Chance für ein Geständnis geben wollte, bevor sie die Beweisführung fortsetzte: »Der Kasten läuft noch keine fünf Minuten. Sonst wäre er warm.«

Hero sprang auf. Er riss die Fernbedienung wie eine Waffe hoch und schaltete das Fernsehgerät aus.

»Was wollen Sie, Frau Kommissarin? Wessen bin ich angeklagt? Muss ich einen Anwalt hinzuziehen?«

Ann Kathrin glaubte, Hero überführt zu haben, und stellte ihm nun die einzige wirklich wichtige Frage: »Warum tust du mir das an?«

Er zuckte mit den Schultern und tat, als hätte er keine Ahnung, wovon sie redete. Sie spürte aber, dass er innerlich erschrocken war. Er arbeitete noch an einer haltbaren Position, die er einnehmen konnte. Er ahnte, dass sie alles wusste, hoffte aber noch, einer Verurteilung entkommen zu können.

»Was tu ich dir denn an?«

»Was hat deine kleine Freundin, das ich nicht habe?«

Es war schwerer für sie, den Satz herauszubekommen, als sie gedacht hatte. Sie spürte, dass mit den Worten »kleine Freundin« gleichzeitig eine Träne in ihr linkes Auge trat. Auf keinen Fall wollte sie heulen. Nichts wäre jetzt schlimmer für sie, als ein Versuch von ihm, sie zu trösten.

»Ich habe keine kleine Freundin.«

Ann Kathrin ging nun auf und ab. Ihr Wohnzimmer war viel größer als der Verhörraum im Kommissariat, sie bewegte sich aber im Wohnzimmer genauso, wie sie es bei den Verhören tat. Drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte, eine Kehrtwendung. Jeweils beim zweiten Schritt ein Blick auf den Verdächtigen.

Sie bemühte sich, kalt zu referieren, wie sie es als Hauptkommissarin gewöhnt war. Den Verdächtigen mit den Fakten konfrontieren, damit er die Sinnlosigkeit seiner Gegenwehr einsieht und gesteht.

»Das geht seit einem halben Jahr so. Meinst du, ich krieg das nicht mit? Die Turnhalle ist keine zwei Kilometer von hier entfernt. Du fährst aber jedes Mal 37 Kilometer hin und zurück. Heute auch.«

Hero sah sie fassungslos an. »Du kontrollierst meinen Tachostand?« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Das ist doch krank!«

»Krank? Das sind Fakten!«

Hero brauchte jetzt mehr Abstand zu ihr. Während Ann Kathrin weiterhin mit drei Schritten, Kehrtwendung, drei Schritten, ihr Revier im Wohnzimmer markierte, suchte er Schutz in der von ihr am weitesten entfernten Ecke, angelehnt ans Buchregal. Er zeigte mit dem Finger auf sie: »Jedes Mal, wenn du eine neue Diät anfängst, geht das Ganze wieder von vorne los. Es ist einfach unerträglich! Wann fängst du endlich an, dich so zu akzeptieren, wie du bist? Dann musst du weder mich kontrollieren noch dein Körpergewicht.«

Seine Worte waren wie ein Brechmittel für sie. Jetzt spürte sie die Wut in sich aufsteigen wie eine faule Fischsuppe, die der Magen wieder hochpresst, um das Gift aus dem Körper zu bekommen.

»Ich lasse mich jetzt vom Herrn Psychologen nicht zur Patientin machen! Ich bin deine Ehefrau!«

Heros Hemd zeigte Schwitzflecken unter den Achseln. Er bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten.

»Ach ja? Du lässt dich von mir nicht zur Patientin machen? Aber wieso fühle ich mich dann dauernd wie ein Angeklagter im Kreuzverhör?«

»Betrügst du mich etwa nicht mit ihr?«

Hero wollte antworten. Er holte tief Luft. So gern hätte er jetzt etwas Bedeutungsschwangeres gesagt. Etwas, das ihr den Wind aus den Segeln genommen hätte. Aber ihm fehlte ein gutes Argument. Er hätte eine Sekunde oder zwei gebraucht, um nachzudenken. Aber diese Zeit ließ sie ihm nicht. Spöttisch hakte sie nach: »Wahrscheinlich ist sie nur eine Patientin von dir, die sich im Rahmen der Therapie in dich verliebt hat. Ich weiß natürlich, dass das eine völlig normale Projektion ist. Sozusagen rein professionell dazugehört. Du hast es mir ja oft genug erklärt.«

Einerseits trafen ihre Worte ihn, andererseits gaben sie ihm auch wieder ein bisschen Boden unter die Füße. Diese Auseinandersetzung war nicht neu.

Er stöhnte. »Ich habe es hauptsächlich mit Frauen zu tun und du in deinem Job mit Männern. Da haben wir uns wohl wenig vorzuwerfen. Männer agieren ihren Frust und ihre Verletzungen eben gerne aus – dabei werden sie dann schon mal kriminell, während Frauen häufig die Aggression gegen sich selbst kehren, magersüchtig werden oder …«

Nein, das wollte Ann Kathrin sich nicht von ihm anhören. Keinen Vortrag. Jetzt nicht. Sie fiel ihm mit einem Angriff ins Wort: »Ist sie so schwer Suizid gefährdet, oder warum hast du sie im letzten Monat siebzehnmal angerufen?«

Hero konnte es nicht glauben. Er atmete heftig aus. Während Ann Kathrin weiterhin ihren Drei-Takte-Schritt einhielt und dabei spürte, dass von ihren Füßen die Sicherheit in ihren Körper strömte, ging er zum Schrank, nahm sich ein Glas heraus und lief damit ins Bad.

Gezwungenermaßen verließ Ann Kathrin ihren professionellen Laufrhythmus und folgte ihrem Mann. Er ließ das Glas mit Leitungswasser volllaufen und trank es in einem Zug leer. Er wirkte blass um die Nase. Er hatte Angst, sein Kreislauf könnte versagen.

Hart stellte er das Glas auf dem Rand des Waschbeckens ab und fuhr sie an: »Du kontrollierst also auch meine Anrufe!«

»Glaubst du, ich kann keine Telefonrechnungen lesen?«, konterte sie. »Jeder Anruf ist einzeln aufgeführt.«

Vom Streit der Eltern geweckt, erschien ihr Sohn Eike nun im Schlafanzug. Das Gummi in der gestreiften Schlafanzughose war gerissen, und er musste sie mit einer Hand festhalten, damit sie ihm nicht vom Hintern rutschte.

»Mama? Papa? Was ist los?«

Eike kam Hero gerade recht. »Siehst du, jetzt hast du den Jungen geweckt! Der schreibt morgen eine Mathearbeit, für die wir die ganze Woche gelernt haben …«

Ann Kathrin bemühte sich um einen festen Stand und stützte die Hände in den Hüften ab. »Ach, dann bin ich jetzt wohl schuld, wenn er sie vergeigt?«

Eike lief auf seine Eltern zu. »Mama! Papa!« Er war schon dreizehn, doch er konnte es immer noch nicht ertragen, wenn die Eltern sich stritten. Am liebsten hätte er sie beide gleichzeitig umarmt. Doch sie standen sich so feindlich gegenüber, dass er sofort spürte: So läuft das nicht.

Ann Kathrin sah ihren Sohn an. Er war blass im Gesicht. Aber sie konnte ihm das jetzt nicht ersparen. »Dein Papa hat eine Freundin. Susanne Möninghoff.«

Hero stellte sich vor Eike, als müsste er ihn vor seiner Mutter schützen. »Bitte, Ann. Lass den Jungen da raus. Das ist nur etwas zwischen uns beiden.«

Sie mochte es nicht, wie er sich beschützend vor seinen Sohn stellte. Damit wies er ihr eine schlimme Rolle zu. Sie hatte ihr Kind nie geschlagen, in all den Jahren war ihr nicht einmal die Hand ausgerutscht. Warum sollte sie ihm jetzt etwas tun? Wenn überhaupt, dann musste Hero mit ein paar Ohrfeigen rechnen. Er tat gern so, als müsste er den Jungen emotional vor ihr schützen. Er spielte gerne den großen Guten. Wenn sie spät vom Dienst kam, hatte er natürlich schon gekocht. Er kontrollierte die Hausaufgaben. Er gab Nachhilfestunden. Er fuhr den Jungen herum, wenn die öffentlichen Verkehrsmittel mal wieder nicht ausreichten, damit ihr Kind alle Termine hintereinander bekam.

Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »O nein, das ist keineswegs nur etwas zwischen uns beiden. Glaubst du, dass es ihn nichts angeht, wenn unsere Ehe vor die Hunde geht? Wir werden jetzt unsere Beziehung klären. Ich mache keine Kompromisse mehr. Entweder, du verlässt sie, oder du ziehst hier aus. Entscheide dich.«

Hero drehte ihr jetzt den Rücken zu und nahm Eike in den Arm. Er versuchte, eine Überlegenheit zu erreichen, indem er ruhig blieb und deutlich leiser sprach als sie.

»Du verlangst doch jetzt nicht im Ernst von mir, dass ich nach 14 Jahren Ehe heute Abend einfach so …«

»Doch!«, brüllte sie, um ihn endlich aus der Reserve zu locken.

Er versuchte, Zeit zu gewinnen. Jetzt stellte er sich neben Eike und sah Ann Kathrin wieder an. »Und wenn wir uns trennen – was wird dann aus ihm?«

Ann Kathrin fixierte ihren Mann mit einer Mischung aus Strenge und Verachtung. »Eike ist alt genug. Er darf selbst entscheiden.«

Dann wendete sie sich an ihren Sohn. Ihre Stimme wurde freundlich, aber die Aufregung schwang noch mit. »Keine Angst, Eike, wir zwingen dich zu gar nichts. Du kannst weiter hier wohnen und Papi so oft sehen, wie du willst.«

Eike löste sich aus der Umarmung seines Vaters. »Aber ich …« Er konnte nicht weitersprechen. Seine Unterlippe bebte. Tränen liefen über seine Wangen.

Mit verständnisvoller Therapeutenstimme, vielleicht ein bisschen zu professionell, sagte Hero: »Keine Sorge, mein Junge. Wir werden das jetzt nicht übers Knie brechen. Wir sind alle nur ein bisschen nervös. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

Dann verpasste er Ann Kathrin mit einem Blick einen energetischen Schlag, der sie innerlich zusammenzucken ließ. Sie spürte plötzlich einen Kloß im Hals.

»Was willst du eigentlich?«, zischte er.

Sie hörte sich selbst rufen: »Klarheit! Ich will Klarheit. Noch heute Abend!«

Zunächst war es ein Geräusch wie sehr weit weg, etwas, das nicht hierhin gehörte. Er wusste noch vor ihr, was es war: ihr Handy. Sein Blick verriet es ihr. Darin lag dieses: Na bitte. Typisch. Genau in so einer Situation. Dieser Vorwurf: Du hast ja nie Zeit für uns.

Ann Kathrin griff unter ihren Pullover und pflückte das Handy vom Hosengürtel. Ohne darauf zu achten, wer sie anrief, klappte sie es auf und sagte nur klar und deutlich: »Nein, jetzt nicht.« Dann ließ sie es wieder zuschnappen und wollte es unter ihrem Pullover verschwinden lassen. Es klingelte augenblicklich noch einmal.

Ihr Mann und ihr Sohn warfen sich vielsagende Blicke zu. Sie stöhnte, wendete sich von den beiden ab und klappte das Handy wieder auf. »Ich hatte doch gesagt, jetzt …«

Schon Ruperts Stimme sagte ihr, dass sie jetzt nicht noch einmal auflegen konnte. Es war etwas passiert. Etwas Dramatisches.

Ann Kathrin ging mit dem Handy in Richtung Küche, um ungestört zu sein.

Eine Leiche war kein alltägliches Ereignis. Ein Ermordeter reichte aus, um den Urlaub abzubrechen, auch wenn er gerade erst begonnen hatte. Eine Leiche relativierte auch diesen Streit. Jetzt musste Ann Kathrin ganz die Hauptkommissarin werden. Etwas in ihr war sogar erleichtert. Hier war jetzt alles ausgesprochen. Die Karten lagen auf dem Tisch, und sie hatte einen guten Grund, sich noch einmal zurückzuziehen, um dann gestärkt in die nächste Runde zu gehen.

»Ja, gut. Ich komme sofort.«

Sie wollte zurück zu Mann und Sohn, doch die beiden standen bereits nebeneinander in der Küchentür.

»Es tut mir leid. Wir müssen unser Gespräch leider auf morgen ver…«

Hero ließ die Hände gegeneinanderklatschen. »Siehst du, so ist es immer. Wenn es stimmt, dass sich in einem Tropfen Wasser das ganze Meer spiegelt, so zeigt sich in dieser Situation hier unsere Ehe. Du bist plötzlich da, machst einen Riesenaufstand, und bevor irgendetwas geklärt wird, bist du wieder weg, und wir beide bleiben mit dem Alltag zurück.«

Ann Kathrin nahm den Ball an und schmetterte die Vorlage hart zurück. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Psychologe, aber ich habe mit meinen Mördern keine Verträge, in denen steht, dass sie sich an die Bürozeiten halten müssen. Meine Klienten sind auch nicht verpflichtet, 24 Stunden vorher abzusagen, wenn es ihnen nicht passt. Ein Verhör ist auch nicht auf 50 Minuten beschränkt und wird nicht von der Krankenkasse bezahlt.«

Im Vorbeigehen berührte sie Eike und strich ihm durchs Haar. »Geh wieder schlafen. Ich beeil mich. Wir reden morgen früh. Ich hab dich lieb. Es tut mir leid.«

Als sie die Tür hinter sich schloss, lehnte sie sich einen Moment mit dem Rücken dagegen und holte tief Luft. Innen hörte sie die Stimme von Hero. Er rief hinter ihr her: »Dankeschön für den netten Abend, Frau Kommissarin! Es war mal wieder ganz bezaubernd!«

 

Ann Kathrin Klaasen war immer noch aufgewühlt und eigentlich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich jetzt einem Mordfall widmen zu können. Sie war noch ganz im Gefühl der betrogenen Ehepartnerin, die spürt, wie weh es tut, recht gehabt zu haben.

Die Konfrontation war nicht ganz so gelaufen, wie sie es erhofft hatte, doch sie war stolz auf sich, weil sie sich nicht wieder hatte einwickeln lassen. Wenn sie an Eike dachte, wuchs ihre Wut auf Hero. Er zog den Jungen an sich, brachte ihn auf seine Seite, nutzte ihn als Waffe im Ehekrieg. Manchmal sah Eike sie an wie Hero. Das Gesicht nach unten, den Augenaufschlag ein bisschen verschämt. Diese tiefbraunen Augen konnten sie mit einer Mischung aus: »Mir kannst du doch nichts vormachen« und »Ich hab dich längst durchschaut« angucken.

Ann Kathrin Klaasen fuhr zu dem Zweifamilienhaus in Süderneuland. Die Fahrt war viel zu kurz für sie, um den Streit mit Hero zu verdauen und sich frei von privaten Sorgen dem neuen Fall widmen zu können. Sie war in wenigen Minuten dort.

Die Siedlung glich der, in der sie selbst wohnte. Recht neue Ein- und Zweifamilienhäuser, rote Ziegel, gepflegte Vorgärten. Auch hier die ersten Tulpen und Krokusse. Im Licht der Scheinwerfer sah sie die weißen Blüten der Birnbäume.

Jedes Haus war in seiner Architektur anders, und doch ergab alles zusammen ein einheitliches Bild. Eine friedliche Idylle. Ein schöner Ort, um dort zu wohnen.

Sie musste die Hausnummer nicht suchen. Vor dem Zweifamilienhaus parkten bereits zwei Polizeiwagen mit laufendem Blaulicht. Eine Gruppe uniformierter Beamter aus Norden sicherte den Tatort. Außerdem waren ihre Kollegen von der Spurensicherung aus Aurich da. Um den Vorgarten wurde ein rot-weißes Band gezogen, um den Bereich abzusperren.

Im Licht der Scheinwerfer sah Ann Kathrin das Garagentor. John Lennons riesiges Gesicht lächelte sie an. Sein Gesicht füllte das ganze Garagentor aus. Es war in einem Rahmen wie aus schwarzem Trauerflor.

Rupert und Weller waren schon im Haus. Sie mussten sich lange überlegt haben, Ann Kathrin anzurufen, denn ihr Weg hierher war viel kürzer als der Weg der beiden aus Aurich. Wahrscheinlich hatten sie die Entscheidung erst angesichts der Leiche gefällt.

Vorsichtig betrat Ann Kathrin das Haus.

Direkt im Eingangsbereich des Hauses lag Wäsche auf dem Boden. Ein großer BH fiel Ann Kathrin auf. Dann Männershorts.

Innen war es eine typische IKEA-Wohnung. Nicht arm, nicht reich, geschmackvoll zusammengewürfelt. Viele Bücher, ein paar selbstgemalte Aquarelle an den Wänden.

Rupert stand an der Tür wie ein Securitymann, der aufpassen musste, dass niemand ohne Backstagekarten den VIP-Bereich betrat.

Der Raum war groß. Sitzmöbel trennten den Arbeitsbereich vom Wohnzimmer ab. Ein großer Schreibtisch neben Regalen mit Akten. Trotzdem wirkte es nicht wie ein öder Büroraum, denn die Rücken der Akten waren mit einem Bild von der Nordsee bei Flut und klarem Wetter beklebt. Es war wie ein Puzzle. Das Bild ging von Akte zu Akte weiter. Eine Weitwinkelaufnahme. Zwischen den Buchstaben E und L konnte man Juist sehen. Die Insel erstreckte sich über drei Aktenordner und acht Buchstaben.

Das alles hier war mit viel Liebe selbst gemacht und zusammengeschraubt. In dieser Wohnung hatte sich jemand sehr wohl gefühlt.

Weller stand am Fenster. Er sah sich einige Glasscherben an, die in der Blumenvase lagen. Auf die langstieligen Blätter hatten sich staubfeine Glassplitter gelegt wie eine dünne Schicht frisch gefallener Schnee. Erst jetzt drehte er sich zu Ann Kathrin Klaasen um und sagte: »Tut mir leid, dass wir deinen Urlaub unterbrechen mussten, aber du siehst ja …«

Sie winkte ab und ging gar nicht darauf ein. Angesichts der Leiche fiel ihre private Situation von ihr ab. Sie war jetzt ganz die Frau Hauptkommissarin. Sie wunderte sich, wie schnell das gehen konnte. Ein Mord hatte Priorität. Ganz klar.

Erst jetzt sah Weller seiner Kollegin richtig ins Gesicht. »Was ist denn mit dir? Das ist doch nicht deine erste Leiche.«

Ann Kathrin Klaasen schüttelte den Kopf. »Mir … ich hab heute noch nicht viel gegessen.«

Er glaubte ihr nicht ganz. Sie konnte tagelang hungern, ohne so auszusehen. Er kannte das. Sie nannte es »Heilfasten«. Er »Schlankheitswahnsinn«.

»Privater Stress?«

Ann Kathrin Klaasen fand nicht, dass ihm so eine Frage zustand. Auf keinen Fall würde sie ihm von ihrer gescheiterten Ehe erzählen.

Sie schaute auf ihre Uhr. Es war 22.30 Uhr. Seit 16 Uhr hatte sie eigentlich Urlaub. »Bringen wir es hinter uns, Kollegen.«

Rupert nickte.

Sie fuhr fort: »Was wissen wir?«

Die Frage tat Rupert gut. Er brauchte in solchen Fällen Sachlichkeit.

Ann Kathrin Klaasen sah sich die Leiche an, während Weller sprach. Der Tote wirkte so, wie er auf dem Küchenboden lag, auf eine beunruhigende Art friedlich. Seine Augen waren halb geöffnet. Es war keine Angst darin zu sehen. Dieser Mann war ohne Argwohn gestorben. Die Kugel hatte seinem Leben so schnell ein Ende gesetzt, dass das Gehirn nicht in der Lage gewesen war zu begreifen, was geschah.

»Der Schütze muss hinter dem Haus gestanden haben. Die Kugel hat zunächst die Fensterscheibe hier durchschlagen und dann Herrn Speicher in den Kopf getroffen. Das ist der Besitzer des Hauses. Ulf Speicher.«

»Der Ulf Speicher?«, fragte Ann Kathrin.

Weller nickte. »Ja. Der Ulf Speicher.«

Ann Kathrin hatte schon oft Fotos von diesem Mann in der Zeitung gesehen, allerdings war er da nicht nackt gewesen, und natürlich hatte er auch kein Loch in der Stirn gehabt

Sie war ihm nie persönlich begegnet, hatte aber zweimal für seine Organisation gespendet. Einmal die gesamten Einnahmen der Weihnachtsfeier, auf einstimmigen Beschluss der Kollegen, ein zweites Mal, um Arbeitsplätze für Behinderte in Ostfriesland zu schaffen.