Fibro oder Fusel - Hubert Laspe - E-Book

Fibro oder Fusel E-Book

Hubert Laspe

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Fibro oder Fusel beschreibt Alwins Leben mit einer unheilbaren, schwer zu diagnostizierenden Krankheit, die neben vielen anderen Symptomen Schmerzen am ganzen Körper verursacht. Mit dieser Krankheit in eine berufliche Selbstständigkeit zu gehen, brachte für ihn viele persönliche und berufliche Probleme. Er erlebte eine jahrelange Reise von Arzt zu Arzt und von Heilpraktiker zu Heilpraktiker, ohne Hilfe zu bekommen. Ist er ein Simulant? Es dauerte Jahre, bis eine Spezialistin eine Diagnose erstellt hat. Die Kombination aller Schwierigkeiten entwickelte sich zu einer schweren Depression. Durch das Zusammenspiel von Fibromyalgie und Depression, kam es zu einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit. Ihm blieb nur der Weg in die Rente. Der schwere Gang mit medizinischen Gutachtern führte zu einer gesetzlichen Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Auseinandersetzung mit einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung vor Gericht brachte immer neue Schikanen durch die Versicherungsgesellschaft.

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Seitenzahl: 271

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Das Coverbild steht sinnbildlich für das Fibromyalgie-Syndrom.

Der Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelt, stellt dar, dass die Krankheit nie gleichmäßig verläuft. Sie zieht durch den ganzen Körper, von einem Körperteil zum anderen. Wir wissen nie, wo sie uns als nächstes quält.

Genau wie der Wasserstand des Flusses ständig zwischen Niedrigwasser und Hochwasser schwankt, so schwankt die Intensität der Schmerzen. Fibromyalgie-Erkrankte fühlen sich oft wie im Nebel, wie die im Bild vom Wasser aufsteigenden Nebelschwaden.

Die im Hintergrund aufgehende Sonne, verinnerlicht die Hoffnung auf einen guten, schmerzarmen Tag.

Dieses Buch ist allen Fibromyalgie Patienten gewidmet.  

Sie alle eint das Schicksal mit kaum auszuhaltenden, oft unerklärlichen Schmerzen am ganzen Körper leben zu müssen. Dazu kommt eine Vielzahl an Begleitsymptomen, wie:  

• Schlafstörung  

• Müdigkeit  

• Erschöpfung  

• geringe Leistungsfähigkeit 

•  Konzentrationsstörungen  

• Vergesslichkeit 

• Nervosität und innere Unruhe 

• Niedergeschlagenheit und Angstzustände 

• Morgensteifigkeit der Gelenke 

• geschwollene Hände 

• Muskelzittern 

• Magen-Darm-Beschwerden 

• Starke Regelschmerzen 

• Atemprobleme 

• Herzrasen 

• Licht- und Geräuschempfindlichkeit 

• Kribbeln, Ameisenlaufen, Taubheitsgefühl 

• Morgensteifigkeit 

• Das Gefühl Nebel im Kopf zu haben (Fibrofog)

Vor einer Diagnose steht eine langjährige Odyssee von Arzt zu Arzt. Oft werden Betroffene wie Hypochonder behandelt. Durch das Unverständnis der Ärzte kommt es vor, dass Erkrankte selbst glauben, sie bilden sich die Krankheit nur ein. 

Hubert Laspe

Fibro oder Fusel

Alwins Leben mit Fibromyalgie

Impressum

© 2024

Autor: Hubert Laspe

Umschlag, Illustration: hubis-schreibstube

Druck und Distribution im Auftrag von Hubert Laspe:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

Paperback ISBN

978-3-384-09900-6

e-Book ISBN

978-3-384-09901-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Widmung

Titelblatt

Urheberrechte

Fibro oder Fusel

Der Beginn der Erkrankung?

Der Ernst des Lebens beginnt

Ausbildung, was nun?

Ein neuer Lebensabschnitt

Der Jugendraum

Überraschung im Zelt

In der Disco

Kleine Wehwehchen

Erste Liebelei

Beste Freunde

Die Unbekannte

Schützenfest

Herzklopfen

Ärger im Paradies

Bundeswehr

Lebensgefahr

Die Zukunft nach der Bundeswehr

Camping

Hausbau

Hochzeit

Bruder Werner

Die Jahre vergehen

Ein Trauerfall in der Familie

Bestattung

Bandscheibenvorfall

Tanja

Kur

Andrea

Ende bei der Bundeswehr

Autoglas

Geschäftserweiterung

Sina

Schwere Zeiten

Alpträume

Gefühlschaos

Endlich eine Diagnose

Ein schwerer Schlag

Rentenantrag

Gutachter

Drittes Gutachten

Private Berufsunfähigkeitsversicherung

Trennung

Oma mit Herz

Ein Tag wie jeder

Unser Weg nach Ungarn

Fibro oder Fusel

Cover

Widmung

Titelblatt

Urheberrechte

Fibro oder Fusel

Ein Tag wie jeder

Fibro oder Fusel

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Fibro oder Fusel

Wenn du dich fühlst, als hättest du eine Woche durchgehe den übelst gepanschten Fusel getrunken und anschließend ist ein Panzer über dich hinweggerollt.

Wenn du die Augen öffnest und es sich anfühlt, als würde jeder Sonnenstrahl dir wie eine Nadel ins Gehirn stechen.

Wenn das Aufstehen morgens so eine Kraftanstrengung und Überwindung ist, dass du so erschöpft bist und gleich weiterschlafen könntest.

Wenn du das Gefühl hast, als hättest du Nebel im Kopf und du keinen klaren Gedanken fassen kannst.

Wenn dein Kopf sich anfühlt, als würde er jeden Moment platzen.

Wenn du ständig müde und erschöpft bist, als hättest du eine Woche ununterbrochen im Steinbruch gearbeitet.

Wenn du dich bewegen willst, es nicht geht, weil dein ganzer Körper, jeder Muskel und jede Sehne zu zerreißen droht.

Wenn dein Körper von Kopf bis Fuß ein einziger Muskelkater ist.

Wenn jede Bewegung, jeder Gedanke so anstrengend ist, dass du vor Erschöpfung kaum die Augen aufhalten kannst und du dennoch versuchst deinen Tag zu meistern.

Wenn deine Hände, Arme und Beine sich anfühlen, als wären sie zum Zerplatzen angeschwollen.

Wenn deine Beine schwer wie Blei sind und jeder Schritt zur Qual wird.

Wenn Kälte nicht mehr Kälte ist, sondern als Schmerz durch den ganzen Körper kriecht.

Wenn das kleinste Steinchen unterm Schuh schmerzt und du dich fühlst, wie die Prinzessin auf der Erbse.

Wenn du bei jeder Aufgabe Angst hast, dass du sie nicht schaffst und du dich überfordert fühlst.

Wenn Magen und Darm verrücktspielen.

Wenn du von Arzt zu Arzt rennst, sie nichts feststellen, sie dir nicht helfen können und du das Gefühl hast, sie halten dich für einen Hypochonder.

Wenn du nicht mehr so, wie du gern möchtest, am sozialen Leben teilnehmen kannst und du, oder deine Freunde sich zurückziehen.

Wenn du das Gefühl hast, die Schmerzen nicht mehr ertragen zu können.

Wenn du glaubst, das Leben nicht mehr ertragen zu können.

Wenn du trotz allem kämpfst und dir nichts anmerken lässt, obwohl du nur noch heulen könntest und funktionierst nur noch wie eine Maschine.

Wenn du abends ins Bett gehst und hoffst, morgen wird ein besserer Tag. Am nächsten Abend weißt du, es war kein besserer Tag und wie jeden Abend hoffst du erneut auf einen besseren nächsten Tag.

Wenn du hoffst, dass der Schöpfer dich endlich zu sich holt, um dich von deinen Qualen und Ängsten zu erlösen. Oder der Teufel dich in die Hölle holt. Egal, alles scheint besser, als weiter diese Schmerzen, Erschöpfung und Müdigkeit zu ertragen.

Und das alles Tag für Tag.

Wenn es dir so geht, dann hast du entweder tatsächlich eine Woche durchgehend den übelsten Fusel getrunken, oder du hast Fibro.

Der Beginn der Erkrankung?

Nachdenklich sitzt Alwin Neddermann mir gegenüber auf der Couch und erzählt von seinem Leben. Er berichtet von seiner ärztlichen Odyssee, seinem Ärger mit der Berufsunfähigkeitsversicherung, Gutachtern und Gerichten. Eine lustige, spannende, traurige Geschichte, von Liebe, Hass und Hassliebe. Eine Geschichte, die längst zu Ende wäre, hätten seine beiden Töchter ihm nicht allein dadurch, dass es sie gibt, das Leben gerettet. Sie selbst wissen nichts davon, denn er hatte nie darüber gesprochen. Dankbar und mit Tränen in den Augen denkt er daran zurück. Doch dazu kommen wir später, denn seine Geschichte beginnt viel früher.

In seinem elften Lebensjahr sollte sich alles ändern. Er bekam eine Infektion. Es begann mit Kopfschmerzen, Husten, Schnupfen und einem Kratzen im Hals. Nach ein paar Tagen bekam er erhöhte Temperatur. Die Brust tat weh vom Husten. Die Halsschmerzen wurden so schlimm, dass er nichts mehr schluckte. Neben dem Bett hatte er einen Eimer stehen, in welchen er alles spuckte. Seine Mutter sagte, wenn Alwin freiwillig im Bett bleibt, ist er wirklich krank. Sie rieb ihm regelmäßig Kopf und Brust ein, es wurde nicht besser. Selbst die vom Arzt verschriebenen Medikamente brachten keine Linderung. Die Temperatur stieg auf 39 Grad und die Krankheit dauerte schon fast zwei Wochen. Der Hausarzt kam aus einer zehn Kilometer entfernten Stadt und sah zweimal die Woche nach dem Jungen. Als das Fieber auf 40 Grad stieg, kam der Arzt jeden Abend vorbei. Mittlerweile wusste er keinen Rat mehr. Selbst das inzwischen verschriebene Antibiotikum wirkte nicht. Die Mutter machte den ganzen Tag kalte Wadenwickel und einen kalten Waschlappen auf die Stirn. Nichts schien zu helfen. Am dritten Abend mit so hohem Fieber, sagte der Arzt, wenn die Temperatur am nächsten Tag nicht sinkt, muss Alwin ins Krankenhaus. Zur Mittagszeit des folgenden Tages stand der Doktor vor der Tür. Da die Temperatur um einen halben Grad gesunken war, entschloss er sich, bis zum Abend mit einer Einweisung abzuwarten. Als er abends nach dem Jungen sah, war die Temperatur auf 39 Grad gesunken. Alle waren sehr erleichtert, denn das Schlimmste schien überstanden zu sein. Trotzdem dauerte es noch drei Wochen, bis er wieder richtig fit war. Insgesamt fehlte er über fünf Wochen in der Schule.

Erst mehr als vierzig Jahre später begriff Alwin, dass diese Krankheit wahrscheinlich der Auslöser für seine weiteren gesundheitlichen Probleme und die Fibromyalgie war. Seit der Erkrankung hatte er häufig Kopfschmerzen und konnte sich schlecht konzentrieren. Immer wieder bekam er Rücken- und Gelenkschmerzen. Im Laufe der Jahre kamen weitere Beschwerden hinzu. Aber erst mal der Reihe nach.

Alwin war zwar wieder gesund, aber so richtig wohlfühlte er sich noch nicht. Der erste Schultag, nach der Erkrankung, war ein heißer, schwüler Tag. Im Klassen-zimmer war stickige Luft. Der Kopf schmerzte ihm. Er hatte das Gefühl, sein Schädel würde gleich platzen und es fiel ihm schwer, die Augen offenzuhalten. Im Englischunterricht war ein Mädchen an der Tafel, für das er schon eine ganze Weile schwärmte. „Sie ist in den letzten Wochen, als ich nicht da war, noch hübscher geworden“, dachte er und überlegte, ob und wie er sie ansprechen könnte.

„Alwin“, hörte er plötzlich die Stimme der Lehrerin wie aus weiter Ferne. “Which color is this?“, fragte sie ihn. Er zuckte zusammen und fühlte sich in seinen Gedanken ertappt. Da er vor sich hingeträumt hatte, hatte er statt color den Namen des Mädchens Karola verstanden. Er ahnte nicht, dass die Lehrerin eine englische Vokabel meinte, die sie während seiner Krankheit gelernt hatten. Das Blut schoss ihm in den Kopf und er stammelte etwas Unverständliches. Dann hörte er sich den Namen des Mädchens aussprechen und er sagte, dass sie doch an der Tafel stehe. Ein brüllendes Gelächter ließ ihn erschüttern. Nun wusste er gar nicht mehr, was los war. Am liebsten wäre er vor Scham im Erdboden versunken. Sein heimlicher Schwarm starrte ihn mit großen Augen an.

„Ruhe“, rief die Lehrerin in den Lärm. „Alwin war fünf Wochen nicht hier und weiß wahrscheinlich gar nicht, was ich von ihm will.“ Das wusste er wirklich nicht. Der Junge wusste nur, dass gerade alle über ihn gelacht hatten. Beschämt und Hilfe suchend blickte er sich in der Klasse um. Alle starrten auf ihn und lachten. Sein Blick ging zurück zur Tafel. „Wenigstens sie lächelt mich an“, dachte er. Dann erkannte er, dass sie ihn nicht anlächelte, sondern ebenfalls lachte. Es traf ihn, wie ein Hieb in die Magengrube. Er fühlte, wie das Blut in seinen Kopf schoss und ihm die letzten klaren Gedanken raubte. Ihm war Hundeelend und er wäre am liebsten aus der Klasse gerannt. Hoffend, dass ihn niemand mehr sieht, machte er sich winzig auf seinem Stuhl. Glücklicherweise setzte die Lehrerin den Unterricht fort, ohne weiter auf Alwin einzugehen. Die folgende Pause nutzten seine Klassenkameraden ausgiebig aus, sich über ihn lustig zu machen. Als letzten Ausweg flüchtete er auf die Toilette und schloss sich ein.

In den folgenden Tagen kam es immer wieder vor, dass Sachen aus der Zeit seiner Erkrankung durchgenommen, oder vom Lehrer abgefragt wurden. Hierbei stand Alwin ein ums andere Mal unwissend vor der Klasse. Dass er so lange ausgefallen und das meiste nicht wissen konnte, interessierte niemanden. So manches Mal kicherten seine Mitschüler, wenn er wieder einmal einen Anpfiff bekam. Das alles beeinflusste ihn und er traute sich nicht mehr nachzufragen, wenn er etwas nicht verstanden hatte. Unbemerkt war eine große Beeinflussung in seinen Lernprozess eingetreten. Im Gegensatz zu früher, fiel es ihm schwer, etwas auswendig zu lernen. Er hatte ständig Kopfschmerzen, war abgeschlagen, konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren und keine Gedichte oder Formeln merken. Nur was er sich logisch erklären konnte, blieb haften. Es ging los über englische Vokabel lernen, ging weiter über Mathematikformeln, bis zur Grammatik. Fortan meldete er sich kaum noch, selbst wenn er die Antwort wusste. Es kam so weit, dass er Angst hatte in die Schule zu gehen. Jeden Sonntagabend sah er mit seinem Vater und seinem Bruder Hartmut um 18 Uhr die Sportschau. Jedes Mal bekam er dabei Bauchschmerzen. Erst viele Jahre später erkannte er, dass es keine körperliche Ursache hatte. Es war allein die Angst, am nächsten Morgen wieder in die Schule zu müssen und eventuell ausgelacht zu werden.

Vor den Sommerferien war Elternabend in der Schule. Es ging um die Empfehlung des weiteren Schulweges. Der Lehrer hatte den Eltern empfohlen, Alwin auf die Realschule zu schicken. Er erklärte ihnen, dass er bis vor ein paar Monaten eine Empfehlung zum Gymnasium gegeben hätte, aber die Leistungen hatten seit einiger Zeit stark nachgelassen und der Junge wirkte oft unkonzentriert. Als die Eltern am nächsten Tag mit Alwin darüber sprachen, erklärte er ihnen, dass ihm durch die ständigen Kopfschmerzen und Müdigkeit alles schwerfiel. Die Mutter wollte ihn gern in die Realschule schicken, aber der Vater meinte, dass er lieber weiter zur Hauptschule sollte. Die Realschule war zehn Kilometer entfernt und er müsste mit dem Bus fahren. Das hieß, er käme zwei Stunden später nach Hause und konnte so im Sommer der Mutter nicht mehr auf dem Feld helfen. Alwin, der seit einiger Zeit ängstlich bei allem Neuen und Unbekannten war, wollte auch weiter zur Hauptschule gehen. Außerdem fiel ihm das Lernen mittlerweile schwer. Der Entschluss stand fest, er blieb in der Hauptschule.

Nicht nur in der Schule zog er sich zurück. Durch seine häufigen Kopfschmerzen gab es Tage, da konnte er niemanden sehen. Wenn sich seine Freunde mit ihm verabreden wollten, sagte er ab.

Der Ernst des Lebens beginnt

Da Alwin den Wald liebte, wäre er gern Förster geworden. Leider merkte er zu spät, dass ihm hierfür die nötige Schulausbildung fehlte. Er hätte nicht gedacht, dass er dafür studieren musste. Sein nächster Berufswunsch war Polizist. Dafür schickte er seine Bewerbungsunterlagen an die Landespolizeischule, die zehn Kilometer entfernt war. Nach ein paar Wochen bekam er eine Einladung zum Eignungstest. Dieser war für den ganzen Tag angesetzt und beinhaltete eine Sportprüfung, für den er Sportsachen mitnehmen musste, einen Intelligenztest, sowie eine Gesundheitsuntersuchung. Hierfür musste er eine ärztliche Bescheinigung von seinem Hausarzt mitbringen, in welcher der Doktor Alwins Gesundheitszustand darstellen sollte. Das Attest bekam er in einem geschlossenen Umschlag, den er, um Manipulation auszuschließen, geschlossen abgeben musste.

Pünktlich brachte sein Vater ihn zu den Tests in die Polizeischule. Alwin war aufgeregt und hatte Angst vor der Aufgabe. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Als er das Gebäude betrat, hatte er das Gefühl, er zittere am ganzen Körper, im Kopf war ihm schwummrig und matschig zumute. Bei der Anmeldung musste er sich ausweisen und die noch fehlenden Unterlagen abgeben. Dann wurde er in ein Klassenzimmer gebracht, wo er warten musste, bis die Bewerber vollzählig erschienen waren. Er hatte erfahren, dass es Hunderte Bewerber gab und mehrere Eignungstesttermine. Daher war es nicht verwunderlich, dass der Raum voll und die Plätze alle belegt waren. Vor den Prüflingen standen drei Polizeibeamte, die sie begrüßten und den Ablauf erklärten. Als Erstes wurde der Wissenstest absolviert. Anschließend war gemeinsames Mittagessen in der Kantine, bevor es in die Sporthalle zum Fitnesstest ging. Den Abschluss bildete die ärztliche Untersuchung.

Beim Intelligenztest wurden überwiegend Fragen zur Allgemeinbildung aus Politik und Rechtsverständnis des Bewerbers gestellt. Ein paar Matheaufgaben, sowie Fragen zu Geografie und Geschichte. Zum Schluss mussten sie einen kurzen Aufsatz schreiben, warum sie zur Polizei wollten. Da keine Formeln gefragt wurden, empfand Alwin den Test als einfach und er war schnell fertig.

Nach dem Mittagessen ging es in die Sporthalle. Hier wurden einige Geschicklichkeitsübungen absolviert. Beim Laufen Hindernisse überspringen, überklettern oder ausweichen. An einer Kletterwand hochklettern, Sprints zum Schnelligkeitstest und als Abschluss, als Ausdauertest, mehrere Runden in der Halle laufen. Außer beim Klettern, hatte Alwin alles mit Bravour gemeistert. In der Kletterwand musste er sich, wegen seiner Höhenangst, zusammenreißen und es dauerte etwas länger.

Nach dem Duschen ging es in die Sanitätsabteilung zur ärztlichen Untersuchung. Der Arzt hatte den Bericht von seinem Hausarzt vor sich liegen und fragte direkt, was es mit den dort beschriebenen Schmerzen auf sich habe. Alwin war geschockt, dass sein Hausarzt, das in das Attest geschrieben hatte. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Dann brachte er mühsam hervor, dass die Untersuchungen nichts ergeben hätten und die Ärzte diagnostiziert hatten, dass die Schmerzen vom schnellen Wachstum kamen. Anschließend horchte der Arzt ihn mit einem Stethoskop ab, untersuchte die Reflexe und Alwins Beweglichkeit. Dann musste er in ein weiteres Zimmer. Hier wartete der Beamte, der sie am Morgen begrüßt hatte. Dieser bedankte sich und erklärte ihm, dass er in den nächsten Wochen schriftlichen Bescheid bekommt.

Damit war das Abenteuer Eignungstest bei der Polizei beendet. Für Alwin war es ein Abenteuer, denn er war den ganzen Tag nervös und aufgeregt. Im Hinblick auf das Ergebnis war er zuversichtlich, denn beim Intelligenz- und beim Sporttest, hatte er ein gutes Gefühl. Gespannt wartete die Familie auf die Antwort. Etwa zwei Wochen später kam der Brief von der Polizei. Intelligenz- und Sporttest hatte er gut abgeschnitten. Da der Hausarzt angegeben hatte, dass Alwin seit Jahren gesundheitliche Probleme hat, wurde er bei der Polizei nicht angenommen. Die Enttäuschung war groß. Er war fest überzeugt, dass er nach den guten Tests angenommen würde. Vor allem verstand er nicht, dass der Hausarzt zu ihm sagte, Alwin sei gesund, habe keine organischen Erkrankungen und seine Schmerzen kämen vom schnellen Wachsen. Wenn das vom Wachsen kam, hätte er es nicht angeben brauchen.

„Hattest du noch weitere Bewerbungen laufen?“, erkundigte ich mich.

„Nein, das war die einzige.“, erwiderte er. „Es war noch ein halbes Jahr Zeit bis zur Schulentlassung, aber ich hatte mir keine Gedanken weiter gemacht.“

„Also wusstest du nicht, wie es nach der Schule weitergeht?“, fragte ich.

Nachdenklich blickte er mich an, bevor er weitererzählte.

Ausbildung, was nun?

Alwin hatte keinen blassen Schimmer, was er beruflich machen sollte. Seine Eltern hätten gern gesehen, dass er in einem Büro arbeitet, dazu hatte der Junge keine Lust. Schließlich machten sie einen Termin beim Arbeitsamt zur Berufsberatung.

Dort erklärte Alwin, dass er gern im Freien und mit nicht zu vielen Menschen zusammenarbeiten würde. Von dem Mitarbeiter wurde ihm Gärtner vorgeschlagen, als Alternative hatte er eine offene Ausbildungsstelle bei der Straßenmeisterei als Straßenwärter. Als Straßenwärter würde er in kleinen Gruppen, überwiegend im freien arbeiten. Er wäre für die Kontrolle und Instandhaltung von Straßen, Brücken und öffentlichen Wegen verantwortlich, sowie für den Winterstreudienst. Alwin war sofort begeistert davon. Am selben Tag machte er seine Bewerbungsunterlagen fertig und schickte sie zur Straßenmeisterei. In den folgenden Tagen schickte er Bewerbungen für eine Ausbildungsstelle als Gärtner ab.

Nach zwei Wochen bekam er eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bei der Straßenmeisterei. Bei diesem Gespräch erfuhr er, dass es sehr viele Bewerber für eine einzige Ausbildungsstelle gäbe und sie daraus drei zu einem Eignungstest einladen würden. Alwin sollte in den nächsten Tagen Bescheid bekommen, wie es weitergeht.

Inzwischen hatten auch die Gärtnereien geantwortet. Die meisten hatten ihre Ausbildungsstellen bereits besetzt. Zwei Betriebe luden ihn zum Vorstellungsgespräch ein. Das erste Gespräch fand in der Woche nach der Vorstellung beim Straßenbauamt statt. Obwohl er, wie zu jedem Gespräch, mit Angst und dem Gefühl von Matsch im Kopf ging, war es ein gutes Gespräch. Der Chef führte ihn durch die Gärtnerei, zeigte ihm alles und erklärte ihm, dass sie viel bei Kunden arbeiten und deren Gärten anlegen. Natürlich stellte er viele Fragen, welche der Junge überwiegend beantworten konnte. Da sie noch ein paar Vorstellungsgespräche hätten, sollte Alwin sich noch etwas gedulden, aber er hätte gute Chancen, erklärte ihm der Chef bei der Verabschiedung.

Als er von der Vorstellung nach Hause kam, wartete die Mutter mit einem Brief von der Straßenmeisterei in der Hand auf ihn. Aufgeregt riss er den Umschlag auf, fummelte umständlich den Brief heraus und traute seinen Augen kaum. Er war unter den letzten drei Bewerbern und zum Test in drei Tagen eingeladen. Damit hatte er nicht gerechnet. Dann berichtete er der Mutter von seinem Vorstellungsgespräch. Dass es ihm gut gefallen hatte in der Gärtnerei und er gern dort anfangen würde. Je mehr er über den Beruf des Gärtners nachdachte, umso mehr konnte er sich dafür begeistern.

Dann kam der Testtag bei der Straßenmeisterei. Alwin, ängstlich und aufgeregt, wie immer, war pünktlich und als erster der drei Prüflinge dort. Der Dienststellenleiter begrüßte ihn freundlich und meinte, Alwin brauche keine Angst zu haben, es sei ein einfacher Test. Nachdem die beiden Mitbewerber ebenfalls erschienen waren, gingen sie in ein Büro. Jeder nahm an einem Schreibtisch Platz, bekam seine Fragebögen und dann ging es los. Ein Zeitlimit war nicht gesetzt, wichtig war die korrekte Beantwortung der Fragen. Erleichtert stellte Alwin fest, dass ihm dieser Test lag. Viel Allgemeinbildung und Umweltfragen. Alwin war als Erster fertig mit dem Test und unterhielt sich anschließend im Nebenzimmer mit den anwesenden Mitarbeitern, bevor er zur nahen Bushaltestelle ging.

Ein paar Tage später bekam er die Zusage von der Gärtnerei mit einem Muster des Ausbildungsvertrags. Er sollte den Vertrag prüfen und dann einen Termin machen, um den Vertrag vor Ort zu unterschreiben. Alwin war glücklich, dass er einen Ausbildungsplatz gefunden hatte, in einem Beruf, der ihm sicherlich Freude machen würde.

Als er am nächsten Tag von der Schule kam, lag Post von der Straßenmeisterei auf dem Tisch. Aufgeregt öffnete er den Brief und las, dass sie sich freuen ihm mitteilen zu können, dass sie sich für ihn entschieden hätten. Sie hatten seine Unterlagen zum übergeordneten Straßenbauamt in Hannover geschickt, da diese die Besetzung der Stelle freigeben mussten. Dies sei nur Formsache, da die Entscheidung, wer anfängt, von der Dienststelle vor Ort gefällt wird.

Jetzt hatte Alwin zwei Ausbildungsstellen zur Auswahl. Bei beiden war er sich sicher, dass sie ihm Spaß machen. Für welche sollte er sich entscheiden. Am Abend saß er mit den Eltern zusammen und sie besprachen das Für und Wider der beiden Stellen. Da der Vater im öffentlichen Dienst bei der Bundeswehr arbeitete, überzeugte er ihn, die Stelle bei der Straßenmeisterei anzunehmen. Beim Staat zu arbeiten war ein sicherer Arbeitsplatz, darum sagte Alwin die Stelle in der Gärtnerei ab.

Nach vier Wochen hatte Alwin noch keine Bestätigung aus Hannover bekommen und er wurde langsam nervös. Es war Ende November und zum ersten April begann die Ausbildung. Da die Eltern kein Telefon hatten, ging er zur Telefonzelle und rief bei der Straßenmeisterei an. Der Dienststellenleiter verstand auch nicht, warum es so lange dauerte. Er sagte dem Jungen, er solle sich keine Sorgen machen, die Bestätigung würde sicherlich bald kommen.

Mitte Dezember kam endlich ein Brief von der Straßenmeisterei. Sie bedauerten ihm mitteilen zu müssen, dass Hannover entschieden hatte, den Ausbildungsplatz in der Dienststelle nicht zu besetzen. Sie wünschten ihm für die Zukunft alles Gute. Das war ein schlechtes Weihnachtsgeschenk für Alwin.

Dreieinhalb Monate vor Ausbildungsbeginn waren die meisten Ausbildungsplätze besetzt. Nun war guter Rat teuer.

Sein Onkel Heinz war gelernter Werkzeugmacher und hatte zufällig gehört, dass in der Firma, in der er lange Jahre gearbeitet hatte, ein Lehrling abgesagt hatte. Er hatte noch guten Kontakt zum Ingenieur des Betriebs und so kam es, dass Alwin noch eine Bewerbung nachreichen konnte. Normalerweise wäre einer der vorigen Bewerber nachgerückt. Der Onkel erzählte ihm noch etwas über den Beruf und die Firma, damit der Junge nicht ganz ahnungslos zum Vorstellungsgespräch gehen musste. Das, was Alwin hörte, war nicht gerade sein Berufstraum. Vor allem nicht in einer großen Halle mit dutzenden Kollegen arbeiten. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er im April nicht auf der Straße stehen wollte, musste er, sofern die Firma ihn wollte, die Stelle nehmen. Eine Woche nach dem

Vorstellungsgespräch kam die Zusage. So hatte Alwin auf den letzten Drücker eine Stelle bekommen.

Ein neuer Lebensabschnitt

Es war so weit. Erster April, Ausbildungsbeginn, kein Aprilscherz. Wie hatte er sich auf das Ende der Schulzeit gefreut! Und nun? Jetzt wünschte er sich die Schulzeit zurück. Selten fiel es Alwin so schwer, aufzustehen. Als an dem Morgen der Wecker klingelte, versteckte er sich tief unter der Decke. Es nutzte nichts, er musste raus aus den Federn. Das Sonnenlicht zeigte sich noch nicht und es kam ihm besonders dunkel und kalt vor. Ihm war unwohl bei dem Gedanken an seinen ersten Arbeitstag. Alles würde neu und fremd für ihn. Seit seiner Krankheit vor einigen Jahren, war er nicht so gern mit vielen Menschen zusammen, schon gar nicht mit Fremden.

Es nutzte alles nichts, er musste zur Arbeit. Da er nicht wusste, ob er sich dort umziehen kann, ging er mit Blaumann los. Sein Vater, der zur selben Zeit fahren musste, nahm ihn mit. Alwin hatte in der Firma noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Arbeitsbeginn, wenn er mit dem Bus fahren würde, musste er noch eher los.

Das Büro war abgeschlossen und er wartete ein paar Minuten, bis die ersten Arbeiter kamen. Die Frühschicht in der Produktion arbeitete schon, aber er konnte ja nicht einfach in die große Halle laufen.

„Warum stehst du hier in der Kälte?“, Alwin schrak zusammen, als er plötzlich angesprochen wurde. „Bist du einer von den neuen Lehrlingen?“

Der Junge brachte keinen Ton hervor und nickte nur.

„Dann komm am besten gleich mit in die Umkleide, dort ist es warm und du kannst später von da ins Büro gehen.“

„Such dir einen von den leeren Spinden aus“, zeigte der Mann auf eine Reihe Blechschränke, als sie angekommen waren. „Sehr gesprächig bist du ja nicht!“, stellte er noch fest.

Alwin war so aufgeregt, dass er keine Lust verspürte, sich zu unterhalten. Er stellte seine Tasche in einen der leeren Spinde und machte ein mitgebrachtes Vorhängeschloss davor. Dann setzte er sich auf eine der Bänke und hörte den anderen zu. Inzwischen waren zwei weitere Neulinge eingetroffen und ein Arbeiter brachte sie ins Büro, wo sie freundlich empfangen wurden. Nach der Begrüßung durch den Meister zeigte ihnen ein Büroangestellter die ganze Firma. Im Aufenthaltsraum erklärte er ihnen, dass zur Mittagspause gegen Bezahlung warmes Essen geliefert wird. Die Auszubildenden bekamen einen Zuschuss zum Essensgeld. Dann führte der Angestellte sie in die Werkstatt, wo sie auf den Meister warten sollten. Für die Arbeiter standen mehrere Reihen Werkbänke bereit und jeder hatte seine eigene Bank und eine Grundausstattung eigenen Werkzeugs. Verschiedene Feilen, Messwerkzeug, Hammer, Gummihammer und weitere verschiedene Sachen.

Neben den Werkbänken der Arbeiter standen in der Halle noch verschiedene Maschinen. Fräsmaschinen, Drehbänke, Schleifmaschinen und eine Bandsäge. Der Raum war für die Vielzahl an Maschinen und den Platz für die Arbeiter viel zu klein.

Der Meister war ein viel beschäftigter Mann und es dauerte bis Mittag, bevor er zu ihnen kam und ihnen eine Aufgabe gab. Sie mussten sich ein Stück U-Eisen absägen, die Rückseite Plan feilen und die beiden Schenkel im rechten Winkel dazu ebenfalls plan feilen. Daran hatten sie die ersten Tage zu tun. Alwin hätte die Ausbildung am liebsten abgebrochen. Das lag nicht an der Arbeit, er konnte sich nicht daran gewöhnen, dass er in einer Halle mit so vielen Menschen zusammen war. Er war ein ruhiger Typ und war bei den Gesprächen nur Zuhörer. Am Anfang war er ein paar Mal von Gesellen und Meister schroff angemacht, wenn er Fragen zur Arbeit hatte. Seitdem fragte er niemanden mehr, wenn es nicht unbedingt sein musste. Dazu kam, dass, wenn er etwas sagen oder fragen wollte, ihm oft die Wörter nicht einfielen.

Im Sommer wurde damit begonnen, eine große Halle ausschließlich für den Werkzeugbau zu bauen. Dadurch war viel Hektik in der Firma und die Mitarbeiter, insbesondere die Auszubildenden, wurden mit Arbeiten beauftragt, die mit ihrem Beruf nichts zu tun hatten. Die Kollegen waren gestresst und hatten noch weniger Lust, den Lehrlingen etwas zu zeigen. Über die Hälfte der Lehrzeit, war Alwin mit Arbeiten beschäftigt, die nichts mit dem Beruf und erst recht nicht mit der Ausbildung zu tun hatten. Selbst nachdem das neue Gebäude fertig eingerichtet war, mussten er und einige andere Auszubildende in der Produktion aushelfen, wenn dort Arbeiter fehlten.

In der Berufsschule lief auch nicht alles so, wie erhofft. Die Klasse bestand zu einem Großteil aus Hauptschülern, zu denen Alwin zählte. Des Weiteren zählten einige Realschüler und drei Abiturienten dazu. Es wurde viel mit Formeln und technischen Zeichnungen gearbeitet. Da Alwin seit seiner Erkrankung seine Schwierigkeiten mit Formeln auswendig lernen hatte, kam das jetzt erschwerend hinzu. Der Junge war nicht allein mit dem Problem, fast alle Haupt- und Realschüler kamen im Unterricht nicht mit. Der Lehrer machte sich nicht die Mühe, den Unterrichtsstoff allen beizubringen. Er arbeitete überwiegend mit den Abiturienten. Eines Tages schickte der Lehrer Briefe an fast alle Ausbildungsfirmen, in denen er darauf hinwies, dass die Schüler das Lehrziel nicht erreichen würden.

Alwin war immer ein ruhiger Junge, der allem Ärger aus dem Weg ging, aber jetzt war es ihm zu viel.

„Sie haben Briefe an die Firmen geschickt“, bekam der Lehrer zur Begrüßung von ihm vor der ganzen Klasse zu hören. „Dass wir nichts lernen, liegt weniger an uns als an ihnen!“, fuhr er fort. „Wenn sie ihre Arbeit vernünftig machen würden und auch mit uns, anstatt nur mit den Dreien zu arbeiten, dann könnten auch wir etwas lernen.“

„Wir müssen den Lehrplan durchziehen. Wenn ich auf jeden einzelnen Rücksicht nehme, schaffen wir es nicht, den ganzen Stoff zu bearbeiten“, redete der Lehrer sich raus.

„Dafür lassen sie über Dreiviertel der Klasse hängen?“, warf ein anderer Schüler ein.

Darüber wurde noch ein Weilchen diskutiert und der Lehrer gestand den Schülern zu, in Zukunft alle mehr einzubeziehen.

Der Jugendraum

In Alwins Heimatdorf stand seit einigen Jahren eine Wohnung im Pfarrhaus leer. Im Erdgeschoss befand sich ein großer, bestuhlter Raum, in dem Versammlungen der Kirchengemeinde, sowie der Konfirmandenunterricht abgehalten wurde. Oben waren zwei kleinere Zimmer, Küche und Bad. Dort hatte nach dem Krieg eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpreußen gelebt. Diese war vor einigen Jahren ausgezogen und seitdem wurden die Räume nicht mehr genutzt. Da die Jugendlichen auf der Straße oder im Bushäuschen herumgammelten, schlug der Pfarrer vor, dass sie sich die Zimmer als Jugendraum zurechtmachen könnten. Der Pfarrer, Anfang dreißig, hatte immer ein offenes Ohr für sie und war das ganze Gegenteil von seinem Vorgänger.

„Solange alles im Rahmen bleibt und ihr keine Orgien feiert, seid ihr hier oben ungestört und könnt machen, was ihr wollt“, gab er ihnen als guten Rat.