Final Call - Daniela Schwarzer - E-Book

Final Call E-Book

Daniela Schwarzer

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Beschreibung

Europa steht vor einem Make-it-or-Break-it-Moment. Nie waren die inneren Fliehkräfte so stark, nie der äußere Druck auf die Europäische Union und ihre Mitglieder so groß. Wir stecken in einem Systemkonflikt mit autoritären Regimen wie China und Russland. Die renommierte Europaexpertin und Politikberaterin Daniela Schwarzer analysiert so nüchtern wie überzeugend: Der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit müssen intern gestärkt werden, und nach außen muss Europa nach einer Klärung seiner Interessen viel strategischer auftreten. Denn unsere Herausforderer schlafen nicht. Daniela Schwarzer spricht aus, was Politiker in dieser Klarheit selten sagen: Noch haben wir die Chance, unsere Zukunft mitzugestalten. Aber nicht mehr lange. Gruppen von Staaten sollten gemeinsam voran gehen, statt ihre Energie in der Auseinandersetzung mit Störenfrieden zu verschwenden. »Ein starkes Plädoyer für eine neue europäische Außenpolitik.« Norbert Röttgen »Das Gegenteil der üblichen politischen Froschperspektive, die vor allem in Wahlkampfzeiten eingenommen wird.« Sigmar Gabriel »Daniela Schwarzer skizziert scharfsinnig die sich verändernde Welt, in der wir leben.« Josep Borrell »Bezwingende Ideen für die Zukunft unseres Kontinents im Systemwettbewerb mit China.« Constanze Stelzenmüller »Das sprichwörtlich richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt.« Klaus-Dieter Frankenberger

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Daniela Schwarzer

FINAL CALL

Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Europa steht vor einem Make-it-or-Break-it-Moment. Nie waren die inneren Fliehkräfte so stark, nie der äußere Druck auf die Europäische Union und ihre Mitglieder so groß. Wir stecken in einem Systemkonflikt mit autoritären Regimen wie China und Russland. Die renommierte Europaexpertin und Politikberaterin Daniela Schwarzer analysiert so nüchtern wie überzeugend: Der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit müssen intern gestärkt werden, und nach außen muss Europa nach einer Klärung seiner Interessen viel strategischer auftreten. Denn unsere Herausforderer schlafen nicht. Daniela Schwarzer spricht aus, was Politiker in dieser Klarheit selten sagen: Noch haben wir die Chance, unsere Zukunft mitzugestalten. Aber nicht mehr lange. Gruppen von Staaten sollten gemeinsam voran gehen, statt ihre Energie in der Auseinandersetzung mit Störenfrieden zu verschwenden.

Unseren Kindern

Inhalt

Einleitung

1 – EUROPA IN DER POST-COVID-WELT

Die Weltordnung im Umbruch

Großmächtekonkurrenz und Systemwettbewerb

2 – SPANNUNGEN UND GEMEINSCHAFTSSINN: WAS IN DER EU LOS IST

Fünf Krisen, die die EU herausgefordert haben

Polarisierung und Fliehkräfte: Was Europa im Inneren untergräbt

3 – EUROPAS SELBSTBEHAUPTUNG

Es muss, aber es hakt

Außenpolitisches Erwachen

Technologische Aufholjagd

Demokratien schützen

Wirtschaftliche Kraft und Nachhaltigkeit

Wer die EU voranbringt

Dank

Register

»China ist die größte außenpolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Die USA haben sie angenommen. Aber was macht Europa?

In ihrem Buch denkt Daniela Schwarzer die Rolle Europas im Systemkonflikt zwischen China und dem Westen neu. Final Call ist eine kluge Analyse der geopolitischen Ausgangslage und ein starkes Plädoyer für eine neue europäische Außenpolitik!«

Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags

»Daniela Schwarzer beschreibt ernsthaft, aber nicht alarmistisch die Herausforderungen an uns Europäerinnen und Europäer – und die Unfähigkeit unserer nationalen und europäischen Politik, diesen gerecht zu werden. Sie stellt die politische Debatte vom Kopf auf die Füße, indem sie die neuen und dramatischen globalen Veränderungen analysiert und daraus ableitet, welche besonderen Aufgaben auf Deutschland zukommen.

Das ist das Gegenteil der üblichen politischen Froschperspektive, die vor allem in Wahlkampfzeiten eingenommen wird. Die leidenschaftliche Europäerin fordert von der Politik ein, dass sie das große Ganze in den Blick nimmt und Orientierung gibt in einer verwirrenden Welt.«

Sigmar Gabriel, Bundesaußenminister a.D. und Vorsitzender der Atlantikbrücke

»Daniela Schwarzer skizziert scharfsinnig die sich verändernde Welt, in der wir leben. Final Call macht klar, was Europa tun kann und muss, um diese geopolitischen und geoökonomischen Herausforderungen zu meistern und die Welt von morgen mitzugestalten.«

Josep Borrell, EU-Außenbeauftragter und Vizepräsident der Europäischen Kommission

»Daniela Schwarzer denkt strategisch, schreibt mit Klarheit und Verve, und hat bezwingende Ideen für die Zukunft unseres Kontinents im Systemwettbewerb mit China. Wer Orientierung sucht in unübersichtlichen Zeiten findet sie in dieser hervorragenden Analyse.« 

Constanze Stelzenmüller, Fritz-Stern-Chair, Brookings Institution

»Es ist das sprichwörtlich richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt: Es gibt zielführende, ja zwingende Antworten darauf, wie Europa im Machtkampf zwischen China und den Vereinigten Staaten und dem fundamentalen Systemkonflikt seine eigenen Interessen und Prinzipien durchsetzen kann. Ohne eine couragierte und ambitionierte Rolle auf der globalen Bühne wird das nicht gelingen. Daniela Schwarzers Final Call ist wirklich ein letzter Aufruf!«

Klaus-Dieter Frankenberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Einleitung

Wir schreiben den Monat März im zweiten Corona-Jahr 2021. Es sind nur zehn Tage, in denen sich die Entwicklungen einer bereits extrem herausfordernden Zeit nochmals verdichten: In Europa schlägt die dritte Viruswelle kurz vor Ostern mit aller Kraft zu. Deutschland und Frankreich weiten ihre Lockdowns aus, die Öffnung der beiden größten europäischen Volkswirtschaften wird vertagt – einmal mehr. Der politische und wirtschaftliche Druck auf die EU, die verbissen um Impfstoffe kämpft, wächst: China ist nach nur einer Corona-Welle in seinen Grenzen bereits auf Erholungskurs, die USA legen ein zusätzliches, milliardenschweres Konjunkturpaket auf und impfen plötzlich, was das Zeug hält.

Die internationalen Spannungen erreichen in diesen Frühlingstagen eine neue Stufe. China verbietet Europäerinnen und Europäern aus Politik und Wissenschaft die Einreise, es rächt sich dafür, dass die Europäische Union (EU) gemeinsam mit den USA die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren sanktioniert hat. Kurzfristig nimmt Joe Biden, der neue US-Präsident und Hoffnungsträger der Transatlantiker, am virtuellen Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs der EU teil. Als er seine Vision für ein neues, transatlantisches Verhältnis als strategische Antwort auf das aufstrebende China darlegt, lächeln die Europäer in ihre Videokameras. Sie sind sich aber längst nicht einig, wie eng der Schulterschluss mit der neuen US-Führung wirklich sein soll.

Der Machtkampf zwischen China und den USA und der dahinterliegende Systemkonflikt sind die wichtigsten globalen Entwicklungen dieses Jahrzehnts. Die EU steht eindeutig mit Joe Bidens USA im westlichen Lager. Doch sie ist von beiden Seiten abhängig. Es wird zunehmend schwierig für die Europäer, im sich verschärfenden Machtwettbewerb ihren eigenen Stand zu behaupten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen und ihre eigenen Prinzipien zu bewahren. Doch was sind diese überhaupt?

In diesem Buch analysiere ich zunächst die internationalen Herausforderungen, vor denen die Europäer heute stehen in der Welt des Großmächtewettbewerbs, in der geopolitische und geoökonomische Auseinandersetzungen immer härter werden. Danach geht es darum, wie es in der EU und zwischen ihren Mitgliedern aussieht, denn international handlungsfähig ist die Gemeinschaft nur, wenn sie im Inneren zusammenhält. Über 15 Jahre hinweg wurde die EU immer wieder von schweren Krisen erschüttert. Zerstört haben diese die Gemeinschaft nicht, und ich möchte Ihnen zeigen, wie die EU selbst existenzielle Herausforderungen bewältigt hat. Und doch haben die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Krise der europäischen Sicherheitsordnung, die Migrationskrise, der Brexit und die Covid-19-Pandemie tiefe und beunruhigende Spuren hinterlassen. Sie haben für Unsicherheit und wirtschaftlichen und sozialen Druck gesorgt und die Entwicklungsunterschiede zwischen Staaten und Regionen verschärft. Sie haben innerhalb von und zwischen Staaten polarisiert und anti-europäische Kräfte gestärkt. All das belastet heute die Entscheidungsfähigkeit der EU. Vor diesem Hintergrund geht es im letzten Teil des Buches um die Frage, was Europa tun kann, um sich trotz dieser inneren Anspannungen im Systemwettbewerb zwischen Demokratien und zunehmend aggressiv auftretenden autoritären Regimen zu schützen, zu behaupten, und um gestalten zu können. Ich greife Vorschläge auf, wie die EU im Inneren stärker werden und gemeinsam mit Partnern in Europa und in der Welt eine aktivere und prägende Rolle spielen kann. Dabei wird deutlich: Es fehlt nicht an Ideen, was getan werden könnte. Es fehlt an Entscheidungswillen und Führungsstärke in einer Union mit 27 Mitgliedsstaaten, die viel zu oft viel zu stark mit sich selbst beschäftigt ist. Um die internationalen Herausforderungen zu bewältigen, braucht es eine enge Zusammenarbeit mit dem gerade aus der EU ausgeschiedenen Vereinigten Königreich. Daher spricht dieses Buch auch immer wieder von Europa und nicht nur von der EU, die zwar vieles, aber nicht alles allein angehen sollte.

Im Machtkampf zwischen China und den USA geht es bei Weitem nicht nur um das Ringen einer aufstrebenden Weltmacht hier und einer absteigenden Weltmacht dort. Es geht um einen Systemkonflikt. Hier die westlich-liberalen Demokratien mit ihren offenen Gesellschaften, unabhängigen Gerichten, garantierten Grundrechten und offenen Marktwirtschaften; dort das autoritäre China, in dem die Kommunistische Partei auch mithilfe technischer Mittel die Bevölkerung fast vollständig überwacht und manipuliert, Menschenrechte verletzt und einen aggressiven Staatskapitalismus betreibt, der internationale Standards verletzt. Dieser Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autokratie spielt sich weltweit ab, auch in der europäischen Nachbarschaft und sogar innerhalb der EU, denn China dehnt seinen politischen Einfluss gezielt aus, um seine Maßstäbe und sein Modell zu exportieren. So kombiniert Peking Investitionen, aggressive Diplomatie und Manipulation, um Einfluss in westlichen Staaten zu gewinnen, und fördert gleichzeitig autoritäre Tendenzen auf dem ganzen Globus, unter anderem durch den Export von Überwachungstechnologie.

Wie der Systemkonflikt ausgeht, entscheidet über die Zukunft der nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Weltordnung. Jahrzehntelang trug sie dazu bei, dass es keine Großmächtekriege gab, die Weltwirtschaft maßgeblich wuchs und weltweit Armut zurückging. Heute muss sie zwar reformiert werden, doch aus europäischer Sicht sollten ihre Grundprinzipien beibehalten werden: Der Erfolg der EU basiert auf ihrer Einbindung in genau diese regelbasierte Ordnung, die wirtschaftliche Offenheit, Berechenbarkeit durch die Geltung internationalen Rechts, Zusammenarbeit in globalen Fragen und eine friedliche Konfliktbeilegung im Streitfall ermöglicht hat. Nun aber setzt das autokratische China sein wirtschaftliches, diplomatisches und militärisches Gewicht im Streben nach globaler Vorherrschaft gezielt und konfrontativ ein, um diese Ordnung so zu ändern, dass sie seinen Vorstellungen dient.

Aber, trotz alledem: Wir erleben derzeit keinen neuen Kalten Krieg, so eingängig dieses Label auch sein mag. Die Sowjetunion war eine direkte militärische und ideologische Bedrohung, und in ihren Beziehungen zum Westen gab es wenig wirtschaftliche Abhängigkeiten oder persönliche Beziehungen. Mit China haben die EU und die USA intensive Handelsbeziehungen, die Wirtschaften sind auch durch gegenseitige Investitionen stark verflochten, zwischen den Menschen gibt es über die zahlreichen Kooperationen etwa in Wirtschaft und Forschung viel mehr Kontakte. Europa wird heute nicht durch den Export des Kommunismus bedroht, sondern durch ein komplexes Geflecht der gegenseitigen Abhängigkeit und durch Versuche, wirtschaftliche und demokratische Errungenschaften und die Einigkeit der Europäer gerade über diese Interdependenzen gezielt zu untergraben. Dieses enge Beziehungsgeflecht, das über Jahre im guten Glauben an den beiderseitigen Nutzen gestärkt wurde, macht für die EU eine Konfrontation mit China und die Loslösung aus den entstandenen Abhängigkeiten so schwierig – und damit ihre Positionierung zwischen den beiden Großmächten.

Die Biden-Regierung erwartet ganz eindeutig, dass sich die EU einer kollektiven Anstrengung anschließt, westliche Demokratien zu verteidigen und die regelbasierte Weltordnung zu stärken, um die chinesische Herausforderung zu bewältigen. Für die meisten Europäerinnen und Europäer ist es keine Frage, dass sie sich normativ voll und ganz im politischen Westen sehen. Doch sitzt der Schock der Präsidentschaft Donald Trumps von 2017 bis 2021 sehr, sehr tief. Er hat uns gelehrt, dass auch der engste Alliierte, der für Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs Garant für Sicherheit, Prosperität und politische Stabilität war, sich abwenden und sich sogar gegen die Europäer stellen kann. Die schützende Hand der USA ist keine Selbstverständlichkeit mehr.

Seither ist klar, dass Europa eigenständiger handlungsfähig werden muss. Das steht keinesfalls im Widerspruch zu einem engen Schulterschluss mit der Biden-Regierung, zumal Europa die Allianz weiter braucht. Im Gegenteil: Eine stärkere EU ist den USA ein stärkerer Partner im Systemkonflikt und kann globale Gestaltungsaufgaben viel wirksamer mitübernehmen. Ein Beispiel dafür ist die Bekämpfung des Klimawandels, die nur in Zusammenarbeit zwischen den USA, China und Europa gelingen wird. Die EU könnte ihre Vorreiterrolle im Klimaschutz und ihre Beziehungen mit China nutzen, um gemeinsame Verhandlungen zwischen Washington, Peking und Brüssel vorzubereiten, etwa über die Einführung einer gemeinsamen CO2-Abgabe auf Importe, die aufgrund der geballten Marktmacht der drei Regionen weltweite Effekte hätte.

Für die Europäische Union geht es ums Ganze – in einer Welt im Wandel und nach 15 Krisenjahren im Inneren. Nie waren die Spannungen und Fliehkräfte in der Gemeinschaft so stark, nie der äußere Druck auf die EU und ihre Mitgliedsstaaten so hoch. Europa ringt um seinen Zusammenhalt, um seine Souveränität und Selbstbehauptung. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stehen auch im Inneren auf dem Spiel: Einige Regierungen, wie die Ungarns und Polens, beschädigen sie im eigenen Land. Gleichzeitig intervenieren China und Russland massiv, um unser offenes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell ebenso zu zermürben wie unseren Zusammenhalt.

Diese innere Fragilität ist der Grund, warum die Folgen der Pandemie und des anhaltenden Wirtschaftseinbruchs, die 450 Millionen Europäerinnen und Europäer im Alltag erleben, so stark an Europas Widerstandskraft zehren. Die schleppende Bereitstellung von Masken, Tests und Impfstoffen hat an der Glaubwürdigkeit der EU und einiger nationaler Regierungen genagt. Wie und wie schnell Europa aus der Krise kommt, wird unsere Gesellschaften, unsere Wirtschaftskraft, unsere Sicherheit und auch Europas Rolle in der Post-Covid-Welt maßgeblich beeinflussen.

Umso bemerkenswerter ist es, dass die EU unter extremem Druck einen großen Erfolg hinbekommen hat: Bereits in den ersten Monaten der Pandemie stellte sie einen milliardenschweren Aufbaufonds und andere Hilfsmaßnahmen für Bevölkerung, Unternehmen und Regierungen bereit. Auch wenn diese von der breiten Öffentlichkeit weniger wahrgenommen werden als der Rückstand bei den Impfungen und die offensive chinesische Masken- und Impfstoffdiplomatie, war dies ein zukunftsweisender Schritt. Das 750-Milliarden-Euro-Paket aus Krediten und Transfers mit dem Namen NextGenerationEU (NGEU) unterstützt nicht nur die wirtschaftliche Erholung der EU und stärkt ihren Zusammenhalt. Es macht die EU krisenfester und erleichtert den EU-Staaten die Bewältigung zweier herausfordernder Transformationsaufgaben, nämlich die EU umweltfreundlicher und digital wettbewerbsfähig zu machen.

Die dringendste und größte Aufgabe ist der Kampf gegen den Klimawandel und der Umgang mit den bereits bestehenden Klimafolgen und Umweltzerstörungen. Die Ökologisierung der europäischen Wirtschaft, unseres Energie- und Verkehrswesens und unserer Gesellschaft gelingt nur, wenn wir gemeinsam neue, viel umweltverträglichere Technologien entwickeln, wenn wir unsere Konsum- und Reisegewohnheiten maßgeblich umstellen und dabei die notwendigen Alltagsanpassungen großzügig sozial abfedern, die Ärmere viel stärker belasten als die Vermögenden.

Die rapide fortschreitende Digitalisierung sozial- und demokratieverträglich zu gestalten ist die zweite große Herausforderung. Die EU muss technologische Wettbewerbsfähigkeit und Handlungsautonomie zurückgewinnen, um unsere Wirtschaftskraft und unsere politische Unabhängigkeit zu erhalten. Im Wettbewerb mit technologischen Führungsmächten ringt sie darum, die Digitalisierung im Einklang mit politischen Sichtweisen und grundlegenden Rechtsnormen wie Datenschutz oder Bürgerrechten zu regulieren. Denn die internationalen Regeln, die den Umgang mit Technologie und Daten bestimmen, werden unsere Gesellschaften beeinflussen. Ganz offensichtlich steht Europa in dieser Hinsicht in einem fundamentalen Konflikt mit China, wo der Staat volle Zugriffrechte hat und die Bevölkerung keinen Schutz genießt. Doch auch zu den USA bestehen Widersprüche; so lässt Washington großen Tech-Konzernen beim Umgang mit Daten bislang mehr Spielraum als Brüssel. Eine wichtige Zukunftsfrage ist, ob wir eine Entkopplung der digitalen Räume erleben werden – und wenn ja, ob Europa dann mit den USA gemeinsame Sache macht oder die Welt in drei und mehr Sphären zerfällt.

Durch die Veränderungen, welche die Digitalisierung und die Klimaagenda mit sich bringen, und vor allem durch die Belastung der Pandemie sind in Teilen der Bevölkerung Angst und auch Wut aufgekommen. Die politische Polarisierung verschärft sich, populistische Kandidaten könnten in Zukunft noch mehr Unterstützung finden. In den USA kanalisierte Donald Trump den Frust breiter Bevölkerungsgruppen in seinen Wahlsieg. In China bietet das politische System zwar kaum Wahlalternativen und Proteste sind unterdrückt, doch auch hier entlädt sich gesellschaftlicher Druck, wenn einstweilen auch nur in Konflikten auf lokaler Ebene. In Europa artikulieren sich die Unzufriedenheit und das Gefühl der Entkopplung auf der Straße, wie zum Beispiel die Proteste der Gelbwesten in Frankreich gezeigt haben. Es zeigt sich in Wählervoten für EU-kritische Populisten etwa in Polen und Ungarn und ihrem Auftreten im Europäischen Parlament. Wachsende politische Polarisierung führt zu Reibungsverlusten, Unzufriedenheit und politischer Lähmung in einem so komplexen Entscheidungssystem wie dem der EU, wo die nationale und die europäische Ebene zusammenspielen und sehr viele Interessen und Perspektiven miteinander in Einklang gebracht werden müssen.

Überfordert dieses Zusammenspiel aus externem Druck und internen Herausforderungen Europa? Nicht unbedingt. Aber die EU steht vor ihrer letzten Chance. Wenn die politisch Verantwortlichen jetzt nicht die Weitsicht haben, die EU so zu stärken, dass sie im Inneren zusammenhält, könnte sie zerbrechen. Und selbst wenn dies nicht der Fall ist: Wenn sie sich im Inneren nicht besser aufstellt, wird sie im globalen Wettbewerb Schwierigkeiten haben, ihre Interessen und Werte zu schützen, denn kein Staat unseres Kontinents allein hat dafür die Kraft. Auch nicht Deutschland als größtes und wirtschaftlich stärkstes EU-Land.

Um die EU strategisch handlungsfähig zu machen, müssen sich die Mitgliedsstaaten über die Herausforderungen und Chancen, die sich global bieten, klar und einig werden. Die Einschätzungen von Risiken und richtigen Handlungsansätzen laufen von Land zu Land nach wie vor stark auseinander. Auch deshalb fällt es der EU so schwer, ihre Interessen klar zu formulieren und entsprechend zu handeln. So könnte sie es versäumen, das, was sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht hat, zu retten und weiterzuentwickeln: einen sicheren Kontinent mit stabilen liberalen Demokratien und sozialen Marktwirtschaften, die im Mächtedreieck mit den USA und China ein besonderer Vorteil in der Bewältigung der beiden Transformationsaufgaben sein können. Eine Gemeinschaft, die über Jahrzehnte gemeinsam Politiken, einen Binnenmarkt mit gemeinsamer Währung und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entwickelt hat – und die damit einmalig ist in der Welt. So vielen dient sie als hoffnungsvolles Beispiel.

Um das nicht zu verspielen, müssen die Europäer noch entschiedener für ihre Interessen und – bei aller gebotenen Offenheit – für den Schutz ihres Modells eintreten. Dabei kommt es wieder einmal auf Deutschland und Frankreich an, auch wenn die deutsch-französische Zusammenarbeit längst nicht mehr ausreicht, die Gemeinschaft der 27 voranzubringen. Wenn sich die beiden größten Staaten auf gemeinsame Ziele einigen, besteht zumindest die Chance, dass sie die anderen Regierungen so mobilisieren und einbinden können, dass Kompromisse errungen werden können. Das hat die eine wichtige und erfolgreiche Großinitiative der beiden Regierungen in der Covid-19-Krise gezeigt: der europäische Wiederaufbaufonds. Auch für die Zukunft wird weiterhin wichtig sein, dass sich Frankreich und Deutschland nicht im innereuropäischen Kleinkrieg verlieren, zum Beispiel mit einzelnen Blockierern wie Ungarn, mit Verhinderungskoalitionen wie den Visegradstaaten oder auch mit einer Gruppe nordischer Staaten, die den Wiederaufbaufonds so nicht wollten. Gelingt kein Kompromiss, muss Fortschritt auch in Teilgruppen möglich sein, sonst gerät die EU ins Hintertreffen.

Das deutsch-französische Verhältnis erfordert in den kommenden Jahren großes politisches Engagement. Beunruhigend ist, dass trotz der so engen Zusammenarbeit auf beiden Seiten immer wieder tiefes Misstrauen aufflackert. In der Covid-19-Krise haben Grenzschließungen und mangelnde Koordination im Krisenmanagement für zusätzliche Spannung und Unverständnis gesorgt. Der gesellschaftliche Austausch – von Jugend, Bildung, Kultur über Städtepartnerschaften – kam zum Erliegen, das Interesse, die Sprache des jeweils anderen zu lernen, sinkt bei der Jugend seit Jahren immer weiter. In einer Zeit, in der die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs die allergrößten Teile der beiden Gesellschaften nicht mehr direkt prägt, besteht die Gefahr, dass die über Jahrzehnte erarbeitete gesellschaftliche Grundlage der engen politischen Partnerschaft kaum bemerkt erodiert. Die inhaltlichen und kulturellen Differenzen zwischen Berlin und Paris sind wohlbekannt, ein konstruktiver Umgang damit wird immer wieder erarbeitet werden müssen, besonders nach den Wahlen in Deutschland und Frankreich in den Jahren 2021 und 2022. Wie sich die beiden politischen Führungen in Europa und international positionieren, wird die Zukunft unseres Kontinents maßgeblich mitbestimmen. Ob in Zeiten politischer Richtungsentscheidungen in den beiden größten EU-Staaten die Weiterentwicklung der EU von Politik und Gesellschaft überhaupt als wichtig und dringlich gesehen wird, ist keine ausgemachte Sache. Das sollte sie aber, denn die EU muss sich an die Welt im Wandel anpassen.

Noch hat Europa die Chance, im globalen Wandel nicht zum Spielball zu werden, sondern mitzugestalten. Es kann seine außen- und sicherheitspolitische Rolle deutlich ausbauen, es kann seinen eklatanten technologischen Rückstand zumindest in einigen Bereichen aufholen, es kann seine Marktmacht noch stärker einsetzen, um global Standards mitzudefinieren, die unserem Wirtschafts- und Demokratiemodell entsprechen – sei es im Bereich der Künstlichen Intelligenz oder des Datenschutzes. Es kann die transatlantischen Beziehungen in beiderseitigem Interesse mitgestalten und bei zukunftsentscheidenden Themen international Führung übernehmen, etwa beim Kampf gegen den Klimawandel. Es kann – und es muss!

Deshalb gibt es zwei Prioritäten für unseren Kontinent. Erstens: die Europäische Union intern so weit wie möglich zusammenführen, modernisieren und stärken, denn nur größere Resilienz, Wettbewerbs- und Handlungsfähigkeit können sicherstellen, dass wir uns als Demokratien mit offenen Gesellschaften behaupten können. Als ganz eigener Zusammenschluss westlich-liberaler Demokratien, der es über sechs Jahrzehnte geschafft hat, Frieden, Freiheit und Wohlstand zu sichern, und eine erfolgreiche integrierte Wirtschaft hat, die heute gewiss nicht umsonst der wichtigste Exportmarkt für die USA, Russland oder China ist, muss die EU zweitens ihre internationale Rolle ausbauen. Es ist höchste Zeit, dass wir eine ambitionierte globale Agenda mit gleichgesinnten Partnern in Europa und der Welt definieren, etwa in den Bereichen Klima und Nachhaltigkeit, Gesundheit, Wirtschaft und Finanzen und den jeweiligen Ordnungsstrukturen, die eine kooperativere Welt und friedliche Konfliktlösung unterstützen. Und wir müssen unseren Teil dazu beitragen, dass diese Agenda kein Papiertiger bleibt, sondern wirklich umgesetzt wird. Dafür ist es jetzt nicht zu spät. Noch nicht.

1 – EUROPA IN DER POST-COVID-WELT

Die Weltordnung im Umbruch

Amerika ist zurück! So lauteten weltweit die Schlagzeilen, nachdem US-Präsident Joe Biden am 19. Februar 2021 als virtueller Gast bei der Münchner Sicherheitskonferenz einen Neubeginn der transatlantischen Beziehungen beschworen hatte. »Wir schauen nicht nach hinten«, zog er rhetorisch einen Schlussstrich unter die Präsidentschaft seines Amtsvorgängers. Doch dann knüpfte er in einem zentralen Punkt an Donald Trump an: die Bedeutung, die er der Großmachtrivalität mit China einräumt, und die Erwartungen, die er dabei an Europa formuliert. »Wir müssen uns gemeinsam auf die langfristige strategische Konkurrenz mit China einstellen«, schwor Biden seine Zuhörer ein. »Und der Wettbewerb mit China wird hart.«

Der Machtkampf zwischen der aufsteigenden autoritären Großmacht China und der herausgeforderten Demokratie USA strukturiert heute maßgeblich die internationalen Beziehungen. Seit mehr als drei Jahrzehnten verlagert sich wirtschaftliches, militärisches und demografisches Gewicht vom Westen nach Asien. Neu ist allerdings, dass der Konflikt zwischen China und den USA zu einem harten systemischen Wettbewerb geworden ist. China ist zur Digital-Autokratie geworden, die weltweit ihren Einfluss ausdehnt. Washington will verhindern, dass China weltweit Vorherrschaft erlangt und Demokratie und Menschenrechte und die regelbasierte internationale Ordnung untergräbt. Und dabei will Joe Biden Europa an seiner Seite haben.

Bei der Auseinandersetzung zwischen China und den USA geht es um die Zukunft der internationalen Ordnung, die unter amerikanischer Vorherrschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgebaut wurde und die Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Individualismus und Toleranz schützen und den Rahmen für eine wirtschaftliche Öffnung setzen soll. Heute ist die Frage, ob dieses umstrittene System so weiterentwickelt werden kann, dass es Bestand hat. Ob darauf aufbauend Wege gefunden werden, um drängende transnationale Probleme wie den Klimawandel, Pandemien und andere grenzüberschreitenden Risiken einzudämmen beziehungsweise mit ihren Folgen umzugehen. Es geht um die Frage, ob die digitale Revolution, die sich noch beschleunigen wird, kompatibel mit unserem demokratischen Modell gestaltet wird. Und es geht darum, ob autoritäre Staaten wie China, Russland, Türkei oder Iran ihren Einfluss immer weiter ausdehnen und andere Staaten – bis in direkter Nachbarschaft der EU – unter ihre Kontrolle bringen.

Gewichtsverschiebung Richtung Asien

Seit den 1990er Jahren verschieben sich die Gewichte vom geografischen Westen in Richtung Asien. Die Covid-19-Krise hat die Aufholjagd Chinas beschleunigt, denn dort wurde die Pandemie vergleichsweise schnell eingedämmt. Seit Jahrzehnten sinkt der Anteil der 27 EU-Staaten und der USA an der weltweiten Wirtschaftskraft Jahr für Jahr. 1970 lag er nach Angaben der Weltbank noch bei über 60 Prozent, 2021 bei nur noch gut 40 Prozent. Je länger Europa braucht, um sich von der Pandemie wieder zu erholen, desto stärker wird die wirtschaftliche Entwicklung auseinanderfallen. Eine weiterhin schleppende Wirtschaft hat Auswirkungen auf die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen, wenn diese weniger in Forschung und Entwicklung investieren können. Es könnte weniger Unternehmensneugründungen geben und erfolgreiche Start-ups könnten abwandern – in dynamischere Märkte mit einer interessanteren Risikokapitalszene, wie die USA sie haben. Insofern könnte die Covid-19-Krise dazu beitragen, dass Europas wirtschaftliche Machtbasis noch schneller erodiert.

Innovationskraft und technologischer Vorsprung sind nicht nur die Grundlage für wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch für sicherheits- und verteidigungspolitische Stärke. Längst ist ein Wettlauf um die Kontrolle neuer Schlüsseltechnologien im zivilen wie im militärischen Bereich in vollem Gange, etwa bei Künstlicher Intelligenz, Cloud Computing, Quanteninternet und 5G. Ähnliches gilt im Energiesektor: Bei den immer wichtiger werdenden kohlenstoffarmen Technologien hat Chinas Streben nach Marktführerschaft, etwa bei der Batteriezellenherstellung oder intelligenten Stromnetzen, neben der wirtschaftlichen eine eminent politische Komponente. Investitionen in Energieinfrastruktur sind eines der Mittel, mit denen China seine Macht immer weiter ausdehnt. Denn mit der Bereitstellung kritischer Infrastruktur wächst das politische Einflusspotenzial, da Peking mit Versorgungsunterbrechung drohen oder je nach Vertragslage auch über den Preis Druck auf die betroffenen Staaten aufbauen kann.

Chinas militärische Aufholjagd lässt sich bislang nur ansatzweise durchschauen. Die deklarierten Militärausgaben sind nach denen der USA die zweithöchsten der Welt. In den vergangenen zehn Jahren sind sie immer stärker gewachsen als das chinesische Bruttoinlandsprodukt. 2020 lag der Militäretat nach Schätzung des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI vom April 2021 bei 252 Milliarden US-Dollar. Anders als in westlichen Ländern ist allerdings nicht annähernd transparent, wie viel Geld Peking tatsächlich in die Verteidigung steckt. Welchem Zweck technologie- und wirtschaftspolitische Maßnahmen im Zusammenspiel mit der Verteidigungs- und Rüstungspolitik genau dienen, ist aufgrund einer langfristig angelegten Strategie, die in Teilen zu einer Verschmelzung des militärischen und des zivilen Bereichs führen wird, schwer auszumachen. Es ist aber davon auszugehen, dass wesentlich mehr Geld in das Militär fließt als in den offiziellen Zahlen angegeben, um das chinesische Militär, vor allem die Marine, rasch zu modernisieren. China ist längst auf dem Weg zu einer Hightech-Seemacht.

Auch in demografischer Hinsicht verliert die transatlantische Gemeinschaft im weltweiten Vergleich an Gewicht. Das ist aus europäischer Perspektive besonders problematisch, denn im globalen Wettbewerb ist heute eine der wichtigsten Stärken der EU ihr großer geeinter Markt. Dessen 450 Millionen Konsumenten sind zahlenmäßig deutlich mehr als die 328 Millionen Amerikaner, und sie sind finanzstärker als die chinesischen Konsumenten. Deren Pro-Kopf-Einkommen ist im Schnitt so gering, dass China immer noch als Entwicklungsland gilt, obwohl es in vielen Zukunftstechnologien längst zur Weltspitze gehört. Schrumpft der europäische Markt, weil es immer weniger Konsumenten gibt oder deren Kaufkraft sinkt, verliert die EU etwa in der Handelspolitik oder bei der Standardsetzung und Regulierung an Verhandlungskraft, um ihre wirtschaftlichen Interessen und Prinzipien wie Verbraucher- und Umweltschutz durchzusetzen. Zwar wurde das chinesische Bevölkerungswachstum durch die Ein-Kind-Politik phasenweise gebremst und die Bevölkerung altert schnell – ein Problem, das insbesondere die USA nicht in dem Maße haben. Doch entfallen auf Europa und die USA gemeinsam heute nur noch ein Zehntel der Weltbevölkerung, auch weil Indien, andere asiatische Staaten und Afrika ein enormes Bevölkerungswachstum verzeichnen. 1970 waren es immerhin noch 16 Prozent, während die militärische und die wirtschaftliche Stärke im Vergleich zum Bevölkerungsanteil weit überproportional entwickelt waren. Heute ist klar, dass Europa und die USA in allen Bereichen im weltweiten Vergleich anteilsmäßig an Gewicht verlieren.

Globale Risiken und neue Bedrohungen

Nicht nur der relative Gewichtsverlust der EU in wirtschaftlicher, verteidigungspolitischer und demografischer Hinsicht verändert Schritt für Schritt die Art, wie die Europäer internationale Chancen und Bedrohungen wahrnehmen. Neue Sicherheitsrisiken und die Instabilitäten in Europas Nachbarschaft geben Grund genug, sich ernsthaft mit der eigenen Sicherheitslage zu befassen.

Doch immer wieder überrascht, dass die europäische Bevölkerung vergleichsweise wenig besorgt ist. Die europäische Einigung ist ein Friedensprojekt – ein seit über sechs Jahrzehnten erfolgreiches. Die Abwesenheit von Krieg in den Grenzen der EU und das trotz diverser Wirtschaftskrisen vergleichsweise stabile Wohlstandsniveau haben dazu geführt, dass die Europäer sich sicher fühlen. Das ist ein großer Erfolg der Integration. In einigen Staaten, und dazu gehört Deutschland, ist das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung allerdings so groß, dass neue Bedrohungen kaum noch realistisch wahrgenommen werden. Sicherheits- und Verteidigungspolitiker machen sich daher Gedanken, wie sie – ohne Panik zu verbreiten – die sich schnell wandelnden Bedrohungen ins Blickfeld rücken. Denn die Politik braucht gesellschaftlichen Rückhalt dafür, wenn sie mehr Geld für Sicherheit und die Stärkung der Widerstandskraft etwa der Infrastruktur, der Wirtschaft und der Gesellschaft ausgeben will. Diesen braucht sie auch, wenn in hochsensiblen Bereichen wie Sicherheit und Verteidigung die Zusammenarbeit mit den EU-Partnern gestärkt wird.

Und das sollte sie! Denn die Sicherheitslage hat sich im Vergleich zu den 1990er Jahren, als nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine Phase der Stabilität anbrach und der westliche kooperative Ansatz auf dem Vormarsch zu sein schien, geändert. Das gilt für den klassischen Verteidigungsbereich ebenso wie für die Abwehr von hybriden Bedrohungen oder auch für die Verhinderung weiterer extremistisch motivierter Terrorattacken, die in der EU in den vergangenen Jahren Hunderte von Menschenleben gefordert haben. In seiner unmittelbaren und weiteren Nachbarschaft muss Europa mit anhaltender Instabilität rechnen, im kommenden Jahrzehnt dürften die davon ausgehenden Gefahren sogar noch wachsen. Regionale Mächte wie die Türkei oder Russland werden weiterhin versuchen, ihren Einfluss und ihre Machtbasis auszubauen, auch durch das Ausnutzen von Instabilitäten und Konflikten, wie das Beispiel Syriens gezeigt hat. Terroristische Gruppen werden in Zonen der Instabilität, wie etwa Afghanistan nach dem Truppenabzug der Amerikaner und Europäer, ihre Netzwerke und Fähigkeiten ausbauen – Terrorismus bleibt ein ernst zu nehmendes Sicherheitsrisiko für die EU. Und in Zukunft wird der Migrationsdruck eher noch größer werden, unter anderem wegen der Instabilität im Nahen Osten und in Afrika – und weil der Klimawandel und daraus resultierend die Knappheit von Wasser und Nahrungsmitteln Menschen aus ihrer Heimat vertreiben.

Hybride Angriffe werden zunehmend zu einer relevanten Bedrohung unserer Sicherheit. Sie kombinieren wirtschaftlichen Druck, Computerangriffe, das gezielte Steuern von Diskussionen in sozialen Netzwerken bis hin zur Manipulation von Informationen in den Medien. Ihr Ziel ist es, Verwirrung zu stiften, Gesellschaften zu destabilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Sie liegen unterhalb der Schwelle eines offiziellen Kriegs und werden deshalb oft in ihrer Wirkung unterschätzt. Offene, pluralistische und demokratische Gesellschaften bieten für hybride Attacken viele Schlupflöcher und sind somit leicht verwundbar.

In den vergangenen Jahren sind europäische Institutionen, Regierungen, Parlamente, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen immer wieder und immer häufiger Opfer von Cyberattacken geworden, wie die regelmäßig aktualisierte Übersicht über Cyberangriffe auf signifikante Einrichtungen des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington zeigt. So fanden 2020 vermehrt Angriffe in Zusammenhang mit der Impfstoffentwicklung statt, etwa auf die Europäische Medizinagentur, auf einzelne Regierungen und auch Unternehmen. Es gab sowohl Spionage- als auch Sabotageversuche. Zudem nehmen die Angriffe auf kritische Infrastruktur zu. Sind sie erfolgreich, kann dies dramatische Folgen für die öffentliche Sicherheit oder die nachhaltige Versorgung haben.

Um die Gemeinschaft in Zukunft besser vor digitalen Sicherheitslücken und Cyberangriffen zu schützen, wurde die zuständige EU-Cybersicherheitsagentur ENISA bereits 2019 finanziell und personell gestärkt. Derartige Investitionen sind wichtig, und trotzdem können wir aufgrund der Vielfältigkeit und Komplexität der Bedrohungen heute nicht mehr davon ausgehen, dass die Gesellschaft, die Wirtschaft und die öffentliche Infrastruktur überhaupt umfassend geschützt werden können. Die durch die Pandemie vorangetriebene Digitalisierung unserer Arbeitswelt schafft übrigens, bei allen anderen Vorteilen, zahlreiche neue Angriffsflächen.

Heute geht es nicht mehr nur darum, Bedrohungen vorauszusehen und sie abzuwehren. Neben diese Aufgaben muss das Ziel treten, die Resilienz von Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft zu steigern, also sicherzustellen, dass sich ein System, eine Organisation oder auch einzelne Menschen möglichst rasch von Schocks und Störungen erholen und wieder in einen funktionsfähigen Zustand kommen statt zusammenzubrechen. Heute ist Unsicherheit zur Norm geworden, mit Störungen und Katastrophen muss gerechnet werden. Wie stark die Wirkung von Cyberangriffen sein kann, zeigte die Hackerattacke im Frühjahr 2021 auf die Colonial Pipeline in den USA, durch die rund 45 Prozent des an der Ostküste verbrauchten Kraftstoffs fließen. Der Betrieb musste nach dem Angriff zeitweilig eingestellt werden, und in Teilen des Landes kam es zu Benzinengpässen. In der Hauptstadt Washington hatten zeitweilig 88 Prozent der Tankstellen keinen Treibstoff mehr.