Krisenzeit - Daniela Schwarzer - E-Book

Krisenzeit E-Book

Daniela Schwarzer

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Beschreibung

Es ist Krisenzeit: In Europa herrscht Krieg. 1000 Kilometer von Berlin entfernt schlagen Bomben ein, und Millionen von Menschen aus der Ukraine sind auf der Flucht. Unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik, unsere Energiepolitik und unsere wirtschaftlichen Abhängigkeiten von autokratischen Regimen stehen auf dem Prüfstand, unsere Demokratie ist unter Druck. Obwohl Europa gegenüber Russland geeint auftritt, bröckelt der innere Zusammenhalt. Daniela Schwarzer zeigt, wie wir von Getriebenen wieder zu Gestaltenden werden. Denn wenn wir unsere Zukunft nicht entschieden in die Hand nehmen, werden andere es tun – in ihrem eigenen und nicht in unserem Interesse.

»Daniela Schwarzer kennt die Geschichte, ordnet unsere Gegenwart ein und weiß, wie die Zukunft gestaltet werden kann. Wer dieses Buch liest, versteht, was Deutschland jetzt tun muss, um sich im tiefen Wandel zu bewähren.« Christoph Heusgen, Präsident der Münchner Sicherheitskonferenz

 »Deutschland hat die Wahl: die globale Zeitenwende erleiden oder sie gestalten. Daniela Schwarzers sehr lesbares Buch erklärt klar, knapp und überzeugend, wie diese gewaltige Herausforderung bewältigt werden kann.« Constanze Stelzenmüller, Fritz Stern Chair und Europadirektorin, Brookings Institution

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Vorwort

1 Warum der Krieg in der Ukraine Europa so erschüttert

Zerfall der europäischen Sicherheitsordnung

Putins Agenda

Ethnonationalismus und Neoimperialismus

Äußere Härte, Diktatur im Innern

Was der Westen anders sieht

Neue nukleare Bedrohung

Angriff auf die Ukraine, Angriff auf die Demokratie

Auch Nachbar Moldau im Visier

2 Deutschlands politische 180-Grad-Wende

Sicherheit und Verteidigung

Erste Bilanz der Zeitenwende

Energiepolitik ohne Russland

Druck auf Deutschlands Wirtschaftsmodell

3 Ringen um den Umgang mit Russland

Die Illusion von Wandel durch Handel

Schwierige Debatten um den Preis des Friedens

Schrille Töne in der Strategiediskussion

Ein Krieg ohne kalkulierbares Ende

4 Europäische Überraschungen, europäische Verwundbarkeit

Geschlossene Ränge

Mittel- und Osteuropa packen zu

Was Putin nicht erwartet haben mag

Osten und Westen in der EU

Deutschlands Rolle

Deutsch-französische Versäumnisse

Flucht nach vorn

5 Die Welt sortiert sich neu

Amerika ist zurück – aber wie lange?

Der »Krieg des Westens« und die Taktierer

Das Denken der anderen

Tanz der Elefanten: Russland und China

Autoritäre Weltgestalter

Chinas Interessen am russischen Krieg

Deutschland in der neuen Weltordnung

6 Weltwirtschaft im Umbruch

De-Globalisierung und Re-Globalisierung

Near-Shoring und Re-Shoring

Die Beziehungen zu China

Gegen die Blockbildung

Reform des Multilateralismus

7 Aufgaben in der Welt der Unsicherheit

Epochenwechsel

Gestaltungskraft in der Polykrise

Im Systemkonflikt zusammenhalten

Demokratien müssen liefern

Europäische freiheitliche Demokratie stärken

Eine Zukunftsagenda für Europa

Prämissen überprüfen: Partnerschaft mit den USA

Sicherheit und Verteidigung anders denken

Eine realistische Chinapolitik

Der Ukraine zum Sieg verhelfen

Eine europäische Russlandpolitik

Ein krisenresilientes Wirtschaftsmodell

Energie- und Klimapolitik

Neue Abhängigkeiten vermeiden

Die neue, unbekannte Ordnung gestalten

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Die alte Welt stirbt gerade, die neue lässt auf sich warten, und in diesem Helldunkel kommen nun immer mehr Monster zum Vorschein.«

Antonio Gramsci

Vorwort

Meine Generation wuchs in der Sicherheit auf, dass sich alles immer weiter zum Guten entwickeln wird: der Frieden auf unserem Kontinent, die stetige Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft, das Zusammenwachsen Europas, die Verlässlichkeit unserer Demokratie. Nach dieser Prämisse hat auch die Politik in den letzten Jahrzehnten gehandelt, und eine Ära der Stabilität und des Wachstums schien dem recht zu geben. Doch im Schatten politischer Beständigkeit und wirtschaftlichen Fortschritts brauten sich Risiken zusammen, die sich heute Schritt für Schritt entladen.

Wir durchleben komplexe, polarisierende und sehr ermüdende Krisenzeiten. Ständig muss auf immer neue Herausforderungen sofort reagiert werden. Krisen überlagern sich und erreichen Wendepunkte, die eine Rückkehr zur vorherigen Situation unmöglich machen. Neben kurzfristigem Krisenmanagement ist jetzt langfristiges Umsteuern nötig, in Deutschland, in Europa und weltweit. Wir erleben Brüche, deren Dimensionen Entscheiderinnen und Entscheider in Wirtschaft und Politik und jeder Einzelne erst nach und nach erfassen werden.

Wie wichtig gerade in Zeiten des Umbruchs vorausschauendes Handeln ist, braucht wenig Erläuterung, wenn man vor Augen hat, wie gravierend und unerwartet Erschütterungen auf unserem dicht besiedelten Kontinent sein können. Wie zerstörerisch die Kraft von Egoismus und Hass, von Angst und Verlust, von verletztem Stolz sein kann. Das reflektieren die Geschichten so vieler Familien in Europa und in Deutschland.

Auch meine Eltern haben als Teil der Kriegsgeneration tiefe Brüche und Erschütterungen erlebt. In Berlin geboren, waren sie zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Nach Kindheitsjahren in einer bombardierten Stadt, Evakuierung in den Osten, Flucht in Richtung Westen, Jahren des Hungerns und der tiefen Sorge um verschwundene Elternteile erlebten sie in den späten 1940er-Jahren zum ersten Mal eine Phase der Stabilität. Endlich. In den folgenden Jahrzehnten wurde diese zur Alltagsnormalität, auch wenn natürlich mit der Spaltung Europas in West und Ost neue Bedrohungen entstanden waren.

Wir Kinder der nächsten Generation wurden in den Kalten Krieg der 1960er und frühen 1970er hineingeboren. Im Westen, Norden und Süden von uns wuchs Europa zusammen und versprach Frieden und Wohlstand. Wie gefährlich die Sowjetunion damals schien, verstand ich, als meine Mutter mir erzählte, wie sie ihre Aussteuer aus Westberlin zu Verwandten nach Westdeutschland ausgelagert hatte. Sie wusste, dass man bei einer Flucht fast nichts mitnehmen kann.

Die USA hingegen schienen uns als verlässlicher Freund. Wir sind mit Erzählungen von Rosinenbombern groß geworden, die ab Juni 1948 im Minutentakt Lebensmittel, Medikamente und Kohle nach Westberlin einflogen, als die Sowjetunion die Hälfte der Stadt aushungern wollte. Wenn ich heute am Flugfeld Tempelhof vorbeifahre, denke ich an Kinder, die am Zaun sehnsüchtig auf ein Stückchen Schokolade aus den Händen der US-Soldaten warteten. Und wie sich 15 Jahre und einen Mauerbau später John F. Kennedy unter dem Jubel der Menschen vor dem Rathaus Schöneberg zu »einem Berliner« erklärte.

Die Enkel und Enkelinnen meiner Eltern kamen in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends auf die Welt. Die Mauer war vor über einem Jahrzehnt zusammengebrochen, mit ihr der Ostblock. Politisch ging es zu der Zeit darum, wie nun der ganze Kontinent, nicht mehr nur die Westhälfte, in Frieden, Freiheit und Stabilität zusammenwachsen würde. Die sogenannten Farbrevolutionen in ehemaligen Sowjetrepubliken wurden bejubelt, und es ging um die Integration von acht ehemaligen Ostblockstaaten in eine EU[1], in der sich viele Staaten seit ein paar Jahren sogar die Währung teilten. Nur selten gab es in dieser Zeit die Sorge, dass Sicherheit in Europa, die regelbasierte Weltordnung und unser komfortables Lebensmodell einmal keine Selbstverständlichkeit mehr sein könnten.

Berlin wandelte sich in dieser Zeit rasant: Ost- und Westberlin wuchsen ab 1990 nun zu einer spannenden Hauptstadt zusammen. In deren klaffenden Baulücken entstand die damals modernste Metropolenarchitektur in Europa. Im brandneuen Regierungsviertel rund um den geschichtsträchtigen Reichstag gehörte es zum guten Ton, den Sorgen unserer europäischen Partner vor der wachsenden Macht Deutschlands Zurückhaltung, Verantwortungsbekundungen und Geschichtsbewusstsein entgegenzusetzen. Deutschland betitelte sich als Friedensmacht und schwächte Schritt für Schritt seine Armee.

Hinter den neuen imposanten Glasfassaden führte die Berliner Politik jedoch das vereinigte Deutschland fast lautlos zu immer größerer Stärke in Europa, wirtschaftlich vor allem, aber auch politisch. Die Beziehungen in den Osten und Westen dieser Welt, und ganz besonders zu Russland und China, bauten Politik und Unternehmen gemeinsam aus. Die politische Hoffnung dabei war, dass wirtschaftliche Öffnung und ein engerer Austausch Transformation und schließlich Demokratisierung in diese Länder bringen würden.

Billige Energie, ein starker europäischer Markt und ein stabiler Euro waren die Grundlage deutscher Wettbewerbsfähigkeit und somit Deutschlands politisches Erfolgsrezept. Amerikanische Sicherheitsgarantien waren Geschäftsgrundlage und Rückversicherung unseres prosperierenden Modells, das trotz – oder vielleicht wegen – seiner Behäbigkeit so zukunftssicher erschien. Deutschland verstand sich als Integrationsmotor Europas, gemeinsam mit Frankreich, mit dem es nie ein einfaches, aber oft produktives Verhältnis gab, in dem historisches Verantwortungsbewusstsein und gewachsene Freundschaft neben Eigensinn und nationaler Interessensdurchsetzung abwechselnd für Integrationserfolge und tiefe Vertrauenskrisen sorgten.

Deutschlands Macht und seine europäische Führungsrolle traten in den 2010er-Jahren im Zuge der Finanz- und Verschuldungskrisen deutlicher denn je in der Nachkriegszeit hervor. Und das brachte Berlin viel Kritik und Kontroversen ein: Deutschland galt manchen als wenig weitsichtiger Vetospieler und langsamer Zauderer, etwa als die Finanzmärkte 2010 den Preis für die Rettung Griechenlands in die Höhe trieben. Andere kritisierten Deutschland dafür, dass es anderen EU-Staaten sein eigenes Modell aufzwingen wolle. Auch als Deutschland 2015/16 über eine Million syrischer Kriegsflüchtlinge aufnahm und sich für ein Aufnahmequotensystem in der EU starkmachte, hagelte es Kritik. Deutschland musste lernen, mit immer tieferen europäischen Kontroversen umzugehen, und musste dabei fortwährend überprüfen, ob es als größter Staat in der Gemeinschaft genug für deren Zusammenhalt tat. Immer wieder prallten in dieser Frage Fremd- und Selbstwahrnehmung aufeinander. Berlin versteht sich als zutiefst der europäischen Integration verschrieben, die es für sein Wirtschafts- und Politikmodell ja auch unbedingt braucht. Europäische Partnerstaaten warfen der Bundesregierung derweil puren Egoismus vor und brandmarkten Deutschlands Politik als Gefahr für den Zusammenhalt der Gemeinschaft und – mit Blick auf eine sehr freundliche Russlandpolitik – für die Sicherheit Europas. Noch härteren Gegenwind bekam die im eigenen Verständnis konsequent transatlantisch ausgerichtete Bundesregierung 2017 vom engsten Alliierten, den USA, als der damalige US-Präsident Donald Trump Berlin als »sehr, sehr böse« bezeichnete, Strafzölle auf Importe aus Deutschland verhängte und 2020 einen Abzug der US-Truppen aus Deutschland ankündigte. Doch diese Erschütterungen, die früh auf das Ende von politischen Gewissheiten hindeuteten, brachten zunächst keine Kehrtwende in der deutschen Politik.

Jetzt schreiben wir das Jahr 2023. Und in Europa ist Krieg. Die USA sind als Sicherheitsgarant auf unserem Kontinent so präsent wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Darüber können wir froh sein, denn die europäische Sicherheitsordnung der Zeit nach dem Kalten Krieg ist zusammengebrochen. 1000 Kilometer von Berlin entfernt schlagen Bomben ein, und Millionen von Menschen aus der Ukraine sind auf der Flucht. Viele Familien in Deutschland haben seit Ausbruch der neuen Phase des Krieges im Februar 2022 ukrainische Flüchtlinge beherbergt. In manch einem Berliner Keller lagern Geigerzähler und Gummistiefel für den Fall, dass Russland Atomwaffen einsetzt. Kinder kennen Namen von Panzern und Flugabwehrsystemen, Leoparden sehen sie viel öfter auf Kriegsbildern als im Zoo. Von aus der Ukraine geflüchteten Menschen, auch sehr jungen, haben wir Geschichten über Flucht in die große Ungewissheit gehört, von deren Angst um Freundinnen und Freunde, Eltern, Großeltern, von der brutalen und unsinnigen Zerstörung ihres Landes. Geschichten so vieler Familien, die einfach nur ihr Leben in Ruhe leben wollten und in die schreckliche Fratze roher Gewalt blicken mussten.

Unser Alltag hingegen erscheint weiterhin recht »normal«, auch wenn vor allem Energie zeitweise erschreckend teuer wurde und Lebensmittelpreise in die Höhe schnellten. Nach dem Schock der Covid-Lockdowns geht es heute vom Frühstückstisch wieder zur Schule, in die Uni oder zur Arbeit, fast als wäre nichts gewesen.

Und doch werden wir auf die frühen 2020er-Jahre als eine Zeit des Epochenbruchs zurückblicken. Auf das Jahr 2022 ganz besonders, denn Entwicklungen, die wir seit Jahren hätten ernst nehmen müssen, haben sich zu einem perfekten Sturm zusammengebraut. Was wir in Reaktion darauf sehen, ist kein plötzlicher Zusammenbruch, sondern ein atem- und pausenloses Ringen um Anpassung an die neue Realität. Politische 180-Grad-Wenden werden vollzogen, wo es nötig und möglich ist, um den neuen geopolitischen Realitäten Rechnung zu tragen. Unter größtem Druck musste die Bundesregierung in vielen Bereichen den Kurs dramatisch anpassen: kurzfristig in der Verteidigungspolitik, im Einsatz für die Ukraine, in der Energiepolitik, mittelfristig in der Überprüfung wirtschaftlicher Abhängigkeiten von autokratischen Regimen und der Versorgung mit Rohstoffen und vor allem Seltenen Erden, die Deutschland für die Energiewende so dringend braucht.

Vor unseren Augen wird Geschichte geschrieben. Es ist zu hoffen, dass noch Schlimmeres verhindert wird, etwa der Einsatz von Massenvernichtungswaffen und eine Ausbreitung des Krieges auf dem europäischen Kontinent oder auch ein bewaffneter Konflikt zwischen China und den USA. Es kann sein, dass wir trotz des immensen Schadens des Krieges, der Klimakrise und des weltweiten Rückbaus von Demokratie als Europa gestärkt aus dieser Krisenzeit hervorgehen. Es kann aber auch ganz anders kommen.

Die Geschichte der 2020er-Jahre wird viele Autorinnen und Autoren haben, und schon jetzt ist klar, dass zu viele davon eine menschenverachtende, diktatorische Welt wollen und sich Machtinstrumente verschafft haben, die diese bereits zur Realität werden lassen. Die wichtigste Aufgabe unserer Zeit ist, dass wir selbst den Stift in der Hand behalten. Fest in der Hand behalten, um eine Zukunft zu schreiben, in der wir das erhalten können, was unsere liberalen Demokratien in Deutschland und Europa ausmacht. Und um das zu bewahren, müssen wir uns im Inneren verändern, aber auch, wie wir international agieren. Es geht darum, von Getriebenen wieder zu Gestaltenden zu werden.

Deutsche und europäische Politik, gesellschaftliche Kräfte genauso wie Unternehmen müssen unser Wirtschafts-, Gesellschafts- und Demokratiemodell weiterentwickeln, um es zu erhalten. Dafür müssen wir Europäerinnen und Europäer die europäische Sicherheitsordnung, die neuen Parameter der internationalen Wirtschaft und die Prinzipien der größten Transformationen unserer Zeit mitdefinieren. Gestalten wir bei uns zu Hause und weltweit nicht entschieden unsere Zukunft mit, werden andere es tun – in ihrem eigenen und nicht in unserem Interesse.

1 Warum der Krieg in der Ukraine Europa so erschüttert

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 wurden Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern von heulenden Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Raketen fielen auf militärische Ziele und zivile Infrastruktur, zerstörten Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen. Europa schaute entsetzt zu, wie Russlands Soldaten in Richtung der ukrainischen Hauptstadt drängten. Bereits seit Monaten hatte Wladimir Putin über 100 000 Soldaten an der Ostgrenze des Landes stationiert. Der russische Präsident schien geringe Gegenwehr der ukrainischen Streitkräfte zu erwarten. Und als die Invasion begann, fürchteten auch westliche Beobachterinnen, dass Kiew in wenigen Tagen fallen werde.

Diese Annahme war falsch, denn in der Ukraine begann eine beispiellose militärische und zivile Mobilisierung. Anstatt um ihr Leben zu rennen, ergriffen viele Freiwillige jede Waffe, die sie finden konnten. Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigten ihre Dörfer und Städte gegen eine mit Panzern und Kampfhubschraubern bewaffnete Invasionsmacht, auch dank eilig aus dem Ausland gespendeter oder auf eigene Kosten gekaufter Ausstattung. Ihre Hauptstadt Kiew kämpften sie guerillakriegsartig frei, wo nötig mit selbst gebauten Molotowcocktails. Bald machten Bilder von ausgebrannten russischen Panzern und stecken gebliebenen Militärkonvois die Runde. Der Mythos der übermächtigen russischen Armee wurde binnen weniger Tage zerstört.

Im Gegenzug dazu überraschte der politische Westen mit schneller Reaktion und großer Unterstützungsbereitschaft: Bereits 48 Stunden nach Kriegsbeginn entschied Deutschland, Waffen an die Ukraine zu liefern, was die Bundesregierung zuvor noch ausgeschlossen hatte, weil es gegen den jahrzehntelang mit wenigen Ausnahmen hochgehaltenen Grundsatz verstieß, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern.[2] Die Europäische Union (EU) beschloss am Tag nach der Invasion umfassende finanzielle Sanktionen und Ausfuhrbeschränkungen in den Bereichen Technologie und Energie, um Russlands militärische Fähigkeiten und seine Wirtschaft zu schwächen. Visabeschränkungen und das Einfrieren von Vermögenswerten, so die Hoffnung, sollten führende Köpfe des Putin-Regimes zum Umdenken bringen.[3] Erst zwei Tage zuvor hatte die EU 351 russische Abgeordnete mit Vermögenssperren und Reiseverboten sanktioniert, die in der Vorwoche, nach von den russischen Besatzern organisierten Scheinreferenden, die Unabhängigkeit der selbst ernannten »Republiken« Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine anerkannt hatten.

Auch die USA griffen sofort durch. Präsident Joe Biden schnitt vier Großbanken, die gemeinsam ein Drittel der russischen Vermögen hielten, vom US-Finanzmarkt ab und machte ihnen damit Dollargeschäfte unmöglich. Wie die EU verboten die USA Exporte nach Russland im Technologiesektor. Gleichzeitig kündigte Biden an, zusätzlich 7000 US-Soldaten nach Europa zu schicken.

An der schnellen Reaktion zeigte sich: Der Westen war vorbereitet – und er war entschieden. Über Monate hatte Washington hinter den Kulissen mit seinen europäischen Alliierten und der Ukraine eng zusammengearbeitet. Bereits im Jahr vor Kriegsbeginn hatte die US-Regierung zunächst erfolglos versucht, Deutschland von seinen engen Beziehungen zu Russland abzubringen und, vor allem, von der Fertigstellung und Inbetriebnahme der Nord-Stream-2-Pipeline abzusehen. Je mehr russische Truppen in östlicher und nördlicher Nachbarschaft der Ukraine aufmarschierten, desto mehr drängten die Amerikaner diejenigen in Deutschland und Europa, die an das Schreckensszenario eines großen russischen Angriffs nicht glauben wollten, der Realität ins Auge zu blicken: US-Geheimdienste warnten eindringlich, dass es sich bei den russischen Truppenbewegungen nicht etwa, wie von Moskau behauptet und von vielen in Berlin gerne zunächst geglaubt, um eine Militärübung oder um reine Drohgebärden handele. Anfang Dezember 2021 starteten die USA eine beispiellose öffentliche Kommunikationskampagne[4] und veröffentlichten Ausschnitte ihrer geheimdienstlichen Erkenntnisse über Russlands Kriegspläne. Der britische Geheimdienst zog auch öffentlich nach, sein Twitterkanal wurde zu einer viel genutzten Informationsquelle in Europa.[5]

In Berlin und anderen Hauptstädten zeigten die Warnungen aus Washington und London Wirkung: Vor Weihnachten 2021 wuchs die Nervosität in Regierungskreisen und bei Abgeordneten des Deutschen Bundestages deutlich an. Immer konkreter wurden die Evidenzen, immer absurder wurde es, dass manche das Szenario eines umfassenden Kriegs immer noch ignorieren wollten. Auch wenn es vielen so unvorstellbar schien – es musste ab sofort angenommen werden, dass Russland nicht nur die Manöver-Muskeln spielen ließ, sondern tatsächlich eine große Invasion vorbereitete. Warum sonst lieferte das russische Militär in größerem Umfang Blutkonserven an die Feldlazarette, die längst entlang der ukrainischen Grenzen auf russischem Boden eingerichtet waren?

In Berlin sorgte dieses Szenario für stille Fassungslosigkeit bei vielen politischen Entscheiderinnen und Entscheidern. Sollten sich die Befürchtungen bewahrheiten, würden sich über zwei Jahrzehnte deutscher Russlandpolitik, für die Berlin schon lange lautstark von seinen Alliierten im Baltikum und Osteuropa kritisiert worden war, im Nachhinein als fatale Fehleinschätzung erweisen. Dabei entsprang sie doch der Angst vor genau so einem zerstörerischen Krieg und der Hoffnung, Russland durch politische und wirtschaftliche Einbindung von einer blutigen Konfrontation abbringen zu können.

Am 24. Februar 2022 begann die massivste militärische Aggression in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Putin hat Europa über Jahre in ein neues Zeitalter getrieben, das wieder von Krieg und Konflikt geprägt ist. Das Recht des Stärkeren ist zurück. »Kein historischer Vergleich ist exakt, aber Putins Versuch, die unabhängige Existenz eines Nachbarstaates zu zerstören, mit Kriegsverbrechen, völkermörderischen Aktionen und unerbittlichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, kommt in Europa seit 1945 dem am nächsten, was Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg getan hat«, urteilt der Oxford-Historiker Timothy Garton Ash.[6]

Zerfall der europäischen Sicherheitsordnung

Ein imperialistischer Angriff mit dem Ziel, die politische Selbstbestimmung eines Landes zu brechen, sein Territorium zu rauben und seine Sprache und Kultur auszulöschen, ist etwas sehr Altes und in Europa nur zu gut Bekanntes. Doch lange herrschte die Annahme vor, dass so etwas nicht mehr geschehen könne. Schließlich wurde bereits zu Zeiten des Kalten Krieges alles versucht, um ein friedliches Miteinander auf unserem eng besiedelten Kontinent abzusichern. Sogar während des Kalten Krieges vereinbarten die damaligen Kontrahenten Grundregeln, um eine Eskalation des Ost-West-Konflikts unwahrscheinlicher zu machen. 35 Staaten des Ostblocks und des Westens[7] verpflichteten sich mit ihrer Unterschrift unter der Helsinki-Schlussakte vom 1. August 1975, die damals bestehenden Staatsgrenzen als unverletzlich anzuerkennen und eventuelle Streitfälle friedlich zu regeln. Sie versprachen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen sowie Menschenrechte und Grundfreiheiten zu wahren. Außerdem vereinbarten sie, in Wirtschaft, Wissenschaft und Umweltschutz zusammenzuarbeiten, und gründeten gemeinsam die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die fortan maßgeblich zur Vertrauensbildung zwischen Ost und West beitrug. Nach Ende des Kalten Krieges wurde aus ihr die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Die Grundregeln der europäischen Friedensordnung wurden nach 1989 weiterentwickelt: In der Charta von Paris von 1990 und später in der NATO-Russland-Grundakte von 1997 bekräftigten die europäischen Staaten, die Sowjetunion (und anschließend die Russische Föderation) sowie die USA die grundlegenden Prinzipien Souveränität und territoriale Integrität von Staaten. Sie sprachen sich gemeinsam für das Recht auf freie Bündniswahl aus und bestätigten ihre Bereitschaft zur friedlichen Konfliktlösung. Die OSZE, ebenso wie EU und NATO, sollten diese Ordnung entsprechend der gemeinsamen Beschlüsse unterstützen.

Heute sind diese Prinzipien in einem Teil Europas auf brutale Art und Weise verletzt. Das gilt nicht erst seit dem Beginn von Russlands umfassender Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022. Moskaus Vorstellungen darüber, wie Sicherheit in Europa zu erreichen sei und nach welchen Regeln Staaten miteinander umgehen sollten, wichen bereits seit Jahren von den gemeinsamen Vereinbarungen ab.

Seit den 1990er-Jahren hat Russland immer wieder gewaltsam in seiner Nachbarschaft eingegriffen, um seine Einflusssphäre abzusichern und auszudehnen oder um den Zerfall des eigenen Staates zu verhindern: Moskau griff 1992 in Transnistrien ein, unterstützte die Abspaltung von der Republik Moldau und hat seither dort Truppen stationiert, es intervenierte von 1994 bis 1996 sowie 1999 bis 2009 in Tschetschenien und 2008 in Georgien. 2014 besetzte und annektierte es die Krim, die zum Staatsgebiet der Ukraine gehörte, und destabilisierte im Osten des Landes den Donbas durch die militärische Unterstützung von Separatistengruppen. Ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten Krieges zeigte Putin, was er vorhatte: Die Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung, die auch Russland vertraglich mehrfach anerkannt hatte, brach er wiederholt. Immer wieder – und zuletzt vor dem Hintergrund der Drohkulisse der über 100 000 Soldaten an der ukrainischen Ostgrenze – forderte Russland explizit eine Neuverhandlung der Sicherheitsordnung.[8] Im Dezember 2021, zwei Monate vor dem Einmarsch in die Ukraine, veröffentlichte Moskau zwei Dokumente, die es als »Abkommensentwürfe« bezeichnete. Tatsächlich waren es einseitige, revisionistische Erklärungen, die wohl Putins Brüche internationaler Vereinbarungen ex post legitimieren sollten.[9] Der Kreml forderte darin erneut einen Stopp der NATO-Osterweiterung und wandte sich gegen die Errichtung US-amerikanischer Militärstützpunkte in Staaten auf dem ehemaligen Territorium der Sowjetunion, die nicht der NATO angehören. Moskau wollte die USA von jeglicher militärischen Zusammenarbeit mit diesen Ländern abbringen, um seinen eigenen Einfluss auf die entsprechenden Staaten auszubauen und gleichzeitig die USA militärstrategisch zu schwächen: Während des Militäreinsatzes in Afghanistan etwa spielten Stützpunkte in den Ex-Sowjetrepubliken Usbekistan und Kirgistan für die USA und ihre Verbündeten eine zentrale Rolle. Mit seinen Vorschlägen für eine veränderte Sicherheitsordnung forderte Moskau volle Handlungsfreiheit im postsowjetischen Raum ein – ohne Rücksichtnahme auf die Souveränität und Sicherheitsinteressen der Ukraine und aller anderen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind – sowie auch der Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes. Wie konnte Moskau Ende 2021 an diesen Punkt gelangen?

Putins Agenda

Russland und der Westen streiten seit Jahren über die europäische Sicherheitsarchitektur und ihre Entwicklung nach Ende des Kalten Krieges. Aus Putins Sicht wurde das europäische Sicherheitssystem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Westen konzipiert, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Dass der Westen versucht hatte, Russland etwa über den NATO-Russland-Rat in einen engen Dialog zu bringen, konnte keine Abhilfe schaffen – im Gegenteil: Putin sah auch darin einen imperialen Übergriff und kritisierte die Rolle der USA in der europäischen Sicherheitsarchitektur scharf.

Seit Jahren wirft Moskau den USA und den Westeuropäern vor, durch die NATO- und EU-Osterweiterungen in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren die vereinbarten Regeln gebrochen und Russland somit durch das Missachten seiner Sicherheitsbedürfnisse ignoriert zu haben. Putin behauptet, im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung 1989/1990 sei zugesichert worden, dass die NATO keine Osteuropäer aufnehmen werde. Schriftliche Dokumentationen gibt es dazu nicht, und Putins Aussagen stehen denen einiger beteiligter Politiker und Politikerinnen aus dem politischen Westen entgegen. Historiker:innen weisen zudem darauf hin, dass zu dem Zeitpunkt der angeblichen Zusicherung die Sowjetunion noch bestand. Konkrete Absprachen könne es deshalb ohnehin erst nach ihrer Auflösung Ende 1991 gegeben haben, sodass es vorher keinen Grund gab, Vereinbarungen über die NATO-Mitgliedschaft der Sowjetrepubliken zu treffen. Dennoch sprach Putin diesbezüglich in seiner Ansprache vor Beginn des Überfalls auf die Ukraine am 22. Februar 2022 von »zynischen Täuschungen und Lügen«.[10]

Bereits 15 Jahre zuvor hatte Putin seine Unzufriedenheit unüberhörbar in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz gezeigt. »Niemand fühlt sich mehr sicher«, sagte der russische Präsident 2007. In ihren möglichen Konsequenzen wurden Putins drohende Worte viel zu wenig ernst genommen, womöglich, weil Deutschland und Europa die politischen Weichen zu diesem Zeitpunkt gerade in eine andere Richtung gestellt hatten. Putin sprach in München direkt nach der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Regierung die Beziehungen zu Russland noch deutlich vertiefen wollte. Deutschland und Russland waren dabei, ihre strategische Partnerschaft inhaltlich auszubauen, und Berlin setzte sich in seiner damaligen G-7- und EU-Präsidentschaft für ein engeres, partnerschaftliches Verhältnis zu Russland ein.[11] Doch im Bayerischen Hof vor dem versammelten Publikum der Münchner Sicherheitskonferenz wandte sich Putin in scharfen Worten gegen die »monopolare Welt«, in der es nur ein Macht- und Entscheidungszentrum gäbe: die USA. Sie hätten ihre Grenzen »in allen Sphären überschritten« und würden der ganzen Welt ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen. »Wem gefällt das schon?«, fragte Putin in den voll besetzten Saal und warnte eindringlich vor einer weiteren Erweiterung der NATO.

Trotz aller Bemühungen Deutschlands und der EU um eine engere strategische Partnerschaft zog Putin unmittelbare Konsequenzen aus der Sicht, die er in München mit der Sicherheitscommunity des versammelten politischen Westens geteilt hatte. Russland intervenierte in den folgenden Jahren wiederholt in Osteuropa und im Kaukasus, baute seine Kontrolle und Abhängigkeiten aus und schuf Organisationen, um die Beziehungen mit seinen Nachbarn zu strukturieren: In der Eurasischen Wirtschaftsunion, die 2015 aus der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft hervorging, schlossen sich Russland, Armenien, Belarus, Kasachstan und Kirgistan zu einem Binnenmarkt zusammen. Die bereits 2002 gegründete Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, ein Militärbündnis, das heute aus Russland, Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan besteht, versuchte Moskau zu stärken. Darüber hinaus intervenierte Putin im Nahen und Mittleren Osten und wurde in Afrika aktiver, um als Präsident der zweitgrößten Nuklearmacht der Welt seinen Weg an internationale Verhandlungstische mit den Großmächten zurückzufinden. Dies gelang ihm etwa durch seinen Schulterschluss mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad oder durch seine Entscheidung, in Mali die brutale Söldnergruppe Wagner einzusetzen, die zur Unterstützung der russischen Armee auch in der Ukraine kämpfte. Durch die umfassende Invasion der Ukraine, seine Ankündigung, auch weitere Staaten anzugreifen, und die Drohung, nukleare Waffen einzusetzen, gilt Russland heute wieder als eine der größten Bedrohungen weltweit. Dieses Risiko wurde auch in Deutschland über Jahre unterschätzt.

Ethnonationalismus und Neoimperialismus

So wurde Putins Politik trotz der Brutalität seiner Taten etwa in Georgien, Syrien oder in Mali noch über Jahre im Westen als in gewisser Weise rational, zumindest aber als berechenbar angesehen. Opportunistisch und kalkuliert schien Putin außen- und sicherheitspolitische Gelegenheiten zu ergreifen, um Russlands Rolle in der Welt wieder zu stärken. Unkalkulierbare Risiken schien der als scharfer Denker wahrgenommene frühere Geheimdienstagent aber nicht einzugehen.

Seit Februar 2022 zeichnet der Angriff auf die Ukraine nun ein ganz anderes Bild. Denn mit dem versuchten Vernichtungsfeldzug nimmt der russische Präsident nicht nur enorme Kosten für sein Land in Kauf. Er begann zudem einen Krieg, der offensichtlich auf einer völligen Fehleinschätzung der Kräfte seines eigenen Militärs, der Resilienz der Ukraine und der Unterstützungsbereitschaft des Westens fußte.

Sosehr der Krieg in seiner Brutalität erschreckt und viele überrascht haben mag, so nachvollziehbar ist bereits seit Jahren in Putins Reden und Veröffentlichungen, dass ethnischer Nationalismus und die selbstdefinierte Mission, Russinnen und Russen über die Grenzen der russischen Föderation hinaus zu schützen, für den Präsidenten immer zentraler wurden. Er verpflichtete sich, von ihm wahrgenommene Ungerechtigkeiten gegenüber russischen Minderheiten in anderen Staaten zu beenden und die gesamte russische Nation, inklusive der geschätzt 25 Millionen ethnischen Russinnen und Russen außerhalb des russischen Staatsgebiets, wieder unter russischen Schutz zu stellen. Dieses Motiv wurde seit Putins Amtsübernahme 1999 zum Grundprinzip seiner postsowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik.[12] Wladimir Putin prägte dabei den Begriff der »Russischen Welt«. Das schloss die Eingliederung von »verlorenem Territorium« ein, auf dem sich im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion souveräne Nationalstaaten gegründet haben. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion nannte er eine »Tragödie«. Dass sich die Ukraine, Georgien und Moldau, Belarus, Kirgistan und Kasachstan, Aserbaidschan und Armenien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan in die Eigenständigkeit verabschiedet hatten, nannte er die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts«. Damit meinte er nicht das Ende der kommunistischen Ideologie, sondern den Zerfall der Weltmacht Russland. Er ging noch weiter: »Das, was wir uns in 1000 Jahren erarbeitet haben, war zu einem bedeutenden Teil verloren.«[13] Der Zerfall des slawischen Imperiums scheint Putins Trauma zu sein, seine Wiederherstellung, zumindest zum Teil, sein großes, gefährliches Ziel.

Getrieben von der Schmach des Machtverlustes, von nationalistischen Ideen und dem Schutzgedanken, reicht seine Politik in Osteuropa und der zentralasiatischen Nachbarschaft Russlands von externer Einflussnahme und Mobilisierung russischer Gruppen in anderen Staaten heute bis zu einem imperialistischen Expansionskurs, der vorerst in der Intervention in der Ukraine gipfelt. Moskau bot ethnischen Russ:innen außerhalb des Landes die russische Staatsbürgerschaft an und gründete Organisationen wie den Kongress der Patrioten, um sie in Nachbarstaaten für seine Ziele zu mobilisieren. Für viele europäische Nachbarn wurde diese Form der Organisation russischer Minderheiten im Land zu einem Problem, etwa im Baltikum, in Moldau oder auch in der Ukraine. Im russisch-georgischen Krieg von 2008 erklärte die russische Regierung, dass ihr Eingriff nötig sei, um Russ:innen in Südossetien und Abchasien zu schützen. Auch die Annexion der Krim rechtfertigte Putin im Jahr 2014 damit, dass Russ:innen bedroht seien und er sich gegen ein Aufkommen von Nationalismus in der Ukraine stellen müsse.[14] Bereits 2014 verband er diese Ziele in emotionalen Reden damit, dass er Territorium, das historisch gesehen zu Russland gehörte, zurückgewinnen müsse. Nach seiner Konzeption bilden die Bevölkerungen Russlands, der Ukraine und auch von Belarus gemeinsam das »Kernvolk« des russischen Imperiums.

Im Juli 2021, ein halbes Jahr vor dem Überfall auf die Ukraine, stellte Putin in einem langen, geschichtsrevisionistischen Aufsatz auf der Website des Kremls die Idee der ukrainischen Nation und eines unabhängigen ukrainischen Staates grundlegend infrage. Er erklärte zudem, die ukrainische Regierung sei von einer westlichen Verschwörung beeinflusst.[15]. Indem er die Frage nach der Existenzberechtigung der ukrainischen Nation und damit auch ihres Staates, ihrer Sprache und ihrer Kultur in den Mittelpunkt rückte, erreichte seine außenpolitische Doktrin eine gefährliche neue Stufe. In gleicher Rechtfertigungslogik erkannte er kurz vor Beginn des Großangriffs die von Russland unterstützten sogenannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk im ukrainischen Donbass als unabhängig an.

Bevor er zur großen Offensive in der Ukraine ansetzte, zeichneten Wladimir Putin und seine Führungsriege ein Bild des vermeintlich schlimmen Schicksals ethnischer Russ:innen, russischsprachiger Menschen und russischer Bürger:innen in der Ukraine. Seine Rede am 21. Februar 2022[16] an die russische Bevölkerung bezog explizit die »Landsleute« in der Ukraine mit ein. Er warf dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj darin »Genozid« vor und bezeichnete ihn sowie seine Regierung als Neonazis. Den Vorwurf, dass die Ukraine die russische Zivilbevölkerung im ostukrainischen Donbass »auslöschen« wolle, erhob die russische UN-Delegation auch vor einem Treffen des Sicherheitsrats und brachte eine entsprechende Unterlage in Umlauf, um ihr Narrativ des Eingreifens in der Ukraine zu stärken und Regierungspositionen vor Abstimmungen in der UN-Vollversammlung zu beeinflussen.

Über zwei Dekaden stilisierte sich Wladimir Putin so zum Beschützer der russischen Nation in ihrem breitesten Sinne, ethnisch, sprachlich und kulturell, und begründet damit weitreichende russische Staatsinteressen jenseits des eigenen Territoriums. Seither fühlen sich nicht nur die Ukraine, sondern auch die Republik Moldau, der Südkaukasus und auch die Staaten in Zentralasien, insbesondere Kasachstan, noch stärker von Russlands neoimperialer Expansionspolitik bedroht.