Finale - Steen Langstrup - E-Book

Finale E-Book

Steen Langstrup

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Beschreibung

Dänemark. Dunkle Nacht, verlassene Straßen. Fast jeder sieht das Fußball-WM-Finale. Auch an einer neonerleuchteten Autobahntankstelle ist nicht viel los. Die zwei attraktiven Frauen Agnes und Belinda, die dort arbeiten, schlagen die Zeit tot. Plötzlich streicht Scheinwerferlichter durch die Dunkelheit. Zwei Männer betreten die Tankstelle. Sie sind freundlich und zuvorkommend. Aber auch irgendwie seltsam. Beängstigend seltsam. Und sie fangen mit den zwei Frauen ein Spiel an, wie es grausamer nicht sein könnte. Es beginnt eine Nacht des Entsetzens ... gnadenlos ... bis zum bitteren Finale!

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Seitenzahl: 207

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DAS BUCH

Die Waschanlage ist menschenleer. Man sieht das offene Tor, durch das man die Halle wieder verlässt, und drei riesige Bürsten, die herumwirbeln und die Wagen waschen, wenn alles in Betrieb ist. Zu erkennen ist auch die Außenwand gegenüber der Überwachungskamera. Die Außenwand ist aus Gasbeton. Für Agnes und Belinda ist es unmöglich, die Farbe der Wörter, die jemand an die Wand geschrieben hat, einzuschätzen. Trotzdem besteht für Agnes kein Zweifel. Es ist rote Farbe. Belindas Stimme ist dünn und brüchig, als sie die Wörter laut vorliest. »Heute Nacht werdet ihr sterben!«

DER AUTOR

Steen Langstrup steht für eine neue Generation junger Horrorautoren, die frisches Blut in das Genre pumpen. Finale wurde in Dänemark als »Best Horror Novel of the Year« ausgezeichnet, die Verfilmung kommt 2018. Weitere Bücher sind in Vorbereitung.

STEEN LANGSTRUP

FINALE

THRILLER

AUS DEM ENGLISCHEN

VON WOLFGANG THON

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe ALT DET HUN VILLE ØNSKE HUN IKKE FORSTOD erschien 2011

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2018

Copyright © 2011 by Steen Langstrup/2 Feet Entertainment

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Millennium/Browning Jonathan

Satz: Leinärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-20626-0V001

www.heyne.de

AUFGERISSENE AUGEN, NICHTS ZU SEHEN

DER GERUCH DRINGT SOFORT IN DIE NASE, wenn das Bewusstsein zurückkehrt. Es ist der Geruch eines unbewohnten Ferienhauses oder eines alten Kellers. Ein säuerlicher, modriger Geruch.

Der Geruch und danach der Schmerz. Im Kopf, in den Armen, den Füßen, dem Körper, den Händen, dem Mund, dem Magen …

Ein Verkehrsunfall, ist ihr erster Gedanke. Hat mich ein Auto überfahren?

Sie liegt auf einem Bett, in völliger Dunkelheit. Und sieht auch mit aufgerissenen Augen nichts. Schwarz. Alles ist schwarz. Sie berührt vorsichtig die Augen. Sie schmerzen, scheinen entzündet und ein wenig geschwollen, doch schlimm verletzt … fühlen sie sich nicht an.

»Hallo«, ruft sie. Ihre Stimme hallt durch den dunklen Raum.

Nach Luft schnappen. Über den Bettrand tasten. Zement kratzt an den Fingern. Das ist kein Bett. Es ist eine dünne Matratze auf einem rauen Zementboden. Dies ist kein Krankenhaus.

Sie ruft noch einmal. »Ist da jemand?«

Da ist eine Wand, auf der anderen Seite des Bettes. Aus Ziegeln. Ihre Fingerspitzen berühren den Mörtel zwischen den Ziegeln. Uneben. Von ungeübten Händen gemauert. Sie spürt etwas Lebendiges. Es huscht davon. Eine Spinne? Sie zieht die Hände zurück. Nimmt die Knie an den Körper und schlingt die Arme darum. So zu sitzen tut weh. Jetzt ist die Kälte zu spüren. Es ist eine muffige, feuchte Kälte.

Dann, wie Fotoblitze, kehrt die Erinnerung zurück. Ein Durcheinander unscharfer Bilder, chaotisch, unzusammenhängend und doch klar genug, um ihr zu versichern, dass es kein Traum ist. Dieser Albtraum ist real. Ein Albtraum, den du vielleicht nicht überlebst.

Zitternde Hände tasten vorsichtig am Körper entlang. Sie ist noch angezogen. Die Kleidung scheint unversehrt. Sie entdeckt keine Wunden, nur Abschürfungen an Knien und Ellenbogen. Kein Knochen scheint gebrochen. Ein paar Schwellungen im Gesicht, insbesondere um den Mund herum, ein paar Beulen am Kopf. Ein loser Zahn. Nichts allzu Ernstes. Doch sie hat bestimmt überall Blutergüsse, den Schmerzen nach zu urteilen. Aber nichts allzu Ernstes.

Bis jetzt.

Aus der Dunkelheit kommt ein Geräusch, ihr Herz springt in der Brust. Sie wendet sich dem Geräusch zu und kriecht gleichzeitig rückwärts davon weg. Was war das? Was bewegt sich da? Ein Tier? Eine Ratte? Da raschelt was.

Da war es wieder!

Die Beine beginnen zu zittern. Sie presst Schultern und Rücken gegen die raue Ziegelmauer.

Ein neues Geräusch. Ein schwaches Grunzen. Atmen. Da ist noch jemand irgendwo in der Dunkelheit.

Ein Mann.

ES IST NICHT DASSELBE, WENN MAN ES NICHT LIVE SIEHT

»WENN ICH DIE STELLE beim Staatskrankenhaus kriege, brauchst du hier nicht mehr zu arbeiten«, sagt Benjamin und macht das Motorrad aus.

Agnes setzt den Helm ab und zwinkert ihm aus dem Seitenwagen zu. »Wenn du den Job kriegst.«

»Meinst du nicht, dass ich ihn kriege?« Er lächelt, doch Agnes sieht an seinen zuckenden Augenwinkeln, dass er verletzt ist.

»Doch. Natürlich denke ich das«, sagt sie und steigt aus dem Seitenwagen. »Aber du kennst mich. Ich glaube erst dann etwas, wenn es wirklich passiert.«

»Kleines Fräulein Abgeklärt.«

»Mag sein, dafür bin ich dein Fräulein Abgeklärt.« Sie reckt sich. Das Motorrad ist alt. Eine armeegrüne BSA von 1963. Benjamin liebt das Motorrad, aber vom Sitzen im Beiwagen tun ihr alle Gelenke weh. »Und überhaupt! Wie kommst du auf die Idee, dass ich meinen Job hier bei der Tankstelle aufgebe, wenn du einen Job kriegst? Ich bin doch nicht das kleine Frauchen vom großen Herrn Doktor, oder?«

Er nimmt den Helm ab und streicht sich mit der Hand durchs zerzauste dunkle Haar. »Ich bin bloß nicht so begeistert, dass du abends allein an einem so abgeschiedenen Ort arbeitest. Es gibt so viele Tankstellenüberfälle. Du könntest dir was anderes suchen.«

Sie küsst ihn. »Hör auf. Bitte, Liebling. Sonst verkündest du doch auch immer, dass es viel weniger Verbrechen gäbe, wenn die Leute keine Angst mehr voreinander hätten. In dieser Gegend hier sind Studentenjobs nicht gerade reich gesät. Außerdem arbeite ich abends nicht allein. Wir sind immer zu zweit.«

»Hm.« Er sieht auf die Uhr. »Das Finale fängt gleich an. Ich muss nach Hause.«

»Du könntest es aufzeichnen, und wenn ich Feierabend habe, sehen wir es uns zusammen an.«

Er lacht. »Ja. Stimmt.« Er zieht sie an sich und küsst sie noch einmal. »Ich meinte ja nur, dass du keinen Nebenjob mehr brauchst, wenn ich die Stelle kriege. Dann könntest du dich aufs Studium konzentrieren. Wir könnten sogar hier wegziehen und uns eine schöne Wohnung in der Stadt suchen.«

»Und ich meinte nur, dass wir uns das Finale gemeinsam anschauen können, wenn ich hier fertig bin.«

»Es ist nicht dasselbe, wenn man es nicht live sieht. Das weißt du.«

Er blickt erneut auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen, sonst verpasse ich den Anfang vom Finale.«

»Dann beeil dich lieber.« Sie gibt ihm rasch einen letzten Kuss. »Holst du mich nachher ab?«

»Klar mache ich das.« Er setzt den Helm wieder auf, zwinkert ihr zu und wirft die Maschine an.

Sie winkt ihm noch hinterher, als er auf die Schnellstraße abbiegt. Er hat es eilig, nach Hause zu kommen. Dann hängt sie sich den Beutel über die Schulter und geht zwischen den Zapfsäulen hindurch ins Tankstellengebäude.

DAS WIRD EINE RUHIGE NACHT

BELINDA HOCKT VOR DER ERSTEN REIHE und füllt die Regale aus einem Karton neben ihr auf dem Boden mit Kartoffelchips-Tüten auf. Ihre Hände fliegen nur so, pfeffern die Tüten in die Regale. Klatsch, klatsch, klatsch. Nächste Reihe. Sie steht auf, um den leeren Karton platt zu drücken, als die Automatiktür aufgleitet und Agnes den Shop betritt.

»Hi, Belinda.«

»Du kommst spät«, sagt Belinda, ohne sie anzuschauen.

»Ehrlich?«

Belinda streicht ihr blondiertes Haar mit solariumgebräunter Hand hinters Ohr. »Es ist zehn nach.«

Agnes geht hinter den Tresen und stellt ihren Beutel auf den Boden. »Tut mir leid.«

Belinda lässt sie einfach stehen und sagt kein Wort. Sie geht durch die Hintertür aus dem Shop und wirft den flach gedrückten Karton in den Altpapiercontainer. Dann knallt sie den Deckel zu, wendet sich ab und bleibt kurz dort stehen, um sich wieder zu beruhigen. Sie betrachtet die Umgebung der Tankstelle. Weizenfelder, in der Ferne ein paar Bäume, hier und da vereinzelte Bauernhöfe. Die alte Schnellstraße, auf der sonst reger Verkehr herrscht. Aber nicht heute Abend.

Sie fischt das Handy aus der Tasche und simst Christoffer.

Bist du da?

Sie wartet zehn Sekunden, dann simst sie ihm noch mal.

Chris, antworte!

Nach weiteren zehn Sekunden schreibt sie ihm die dritte Nachricht.

Schicht mit Agnes. Es nervt. Langweilig mit ihr. Ich könnte sterben vor Langeweile. Schau mal rein, okay?

Keine Antwort. Natürlich nicht. Er hat sein Handy schon wieder abgestellt, obwohl sie ihm gesagt hat, das nicht zu tun. Jede Wette, dass er sich das Finale ansieht. Sie schiebt ihr Handy wieder in die Tasche und kehrt in den Shop zurück.

Im Hinterzimmer trifft sie auf Agnes, die gerade ihren Laptop anschließt. »Ich möchte heute Abend gern ein bisschen an meiner Magisterarbeit arbeiten, wenn du nichts dagegen hast.«

»Ist mir egal«, sagt Belinda. »Wer weiß, ob überhaupt Kunden kommen, wenn das Finale läuft. Wir könnten den Shop sogar schließen, und keiner würde es merken.«

»Ja, das ist echt abgefahren. Dänemark im Finale. Es ist okay, wenn du es ansehen willst, während ich hier sitze und an meiner Magisterarbeit rumpfusche.«

»Ich habe keine Lust, es mir anzuschauen.«

Agnes blickt sie an. »Nicht?«

»Nein.«

»Stimmt was nicht? Du wirkst so …«

Das kleine Hinterzimmer ist von Regalen gesäumt. Um einen weißen Tisch gruppieren sich drei Stühle. Das Fenster blickt auf den Hinterhof der Tankstelle, wo die Autos aus der Waschanlage kommen. An der Wand ist unter der Decke ein kleiner Fernseher angeschraubt. Außerdem gibt es einen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine. Belinda lässt sich auf einen der Stühle fallen. »War das dein Freund, der dich hier abgesetzt hat? Der Typ auf dem Motorrad?«

»Ja.« Agnes schiebt ihren Stuhl zurück und erwidert ihren Blick. »Er heißt Benjamin. Wieso?«

»Geht er dir nie auf die Nerven?«

»Nein.« Agnes schaut sie unverwandt an. »Hast du Ärger mit deinem Freund?«

»Nein. Abgesehen davon, dass er ab und zu ein Arschloch ist.« Sie schüttelt den Kopf. Lacht. »Schon okay. Es liegt wohl an mir, glaube ich. Vielleicht kriege ich meine Tage oder so was. Ich bin heute dermaßen schlecht gelaunt.«

Agnes wiegt den Kopf. »Wenn du reden willst … ich bin hier.«

Belinda starrt an die Decke. »Du weißt, dass das heute ein langweiliger Abend wird. Da passiert überhaupt nichts. Wenn wir fünf lumpige Kunden kriegen, gebe ich ein Eis aus.«

»Die Wette gilt«, erwidert Agnes und blickt auf den Computermonitor. »Weniger als fünf Kunden, und ich kaufe uns beiden ein Eis. Bei mehr als fünf bezahlst du.«

»Dann fang schon mal an, dein Geld zu zählen.« Belinda holt ihr Handy hervor und schickt Christoffer wieder eine SMS.

Antworte gefälligst!

»Was studierst du?«, fragt sie Agnes gleichzeitig, obwohl ihr das scheißegal ist.

»Anthropologie.«

»Schick.« Sie nickt.

»Meine Magisterarbeit dreht sich um Buschmänner in Botswana. Ich versuche zu erklären, wie sich ihre Kultur und Religion als natürliche Reaktion auf und im Wechselspiel mit dem Ökosystem entwickelt hat, in dem der Stamm lebt.«

»Oh?« Belinda gähnt und lässt ihr Handy nicht aus den Augen. »Er könnte wenigstens antworten. Findest du nicht? Wärest du nicht angepisst, wenn dein Freund nicht auf deine SMS antworten würde?«

Agnes zuckt mit den Schultern. »Vielleicht antwortet er später?«

»Klar.« Belinda springt auf und geht wieder in den Shop zurück, um den Warenbestand in den Regalen und die Softdrinks im Kühlfach zu checken. Eigentlich könnte ich mich auch damit ablenken, die Regale aufzufüllen, denkt sie bei sich und holt Zettel und Kugelschreiber aus einer Schublade hinterm Tresen. Wenn sie nichts macht, geht sie vor Langeweile ein.

Sie wirft rasch einen Blick auf die Schwarz-Weiß-Bilder der vier Überwachungskameras, die auf einem Monitor über dem Tresen flimmern. Die Tankstelle ist verwaist und wird es auch noch stundenlang bleiben.

NIEMAND ZWINGT SIE DAZU

AGNES STARRT AUS DEM FENSTER an der Rückseite der Tankstelle. Ihr Blick ist bei einem Bauernhof hängengeblieben, auf einem kleinen Hügel und vielleicht fünfhundert Meter von der Tankstelle entfernt gelegen. Doch sie sieht ihn nicht. Die Magisterarbeit füllt den Monitor des Laptops vor ihr.

Bisher ist nur ein Kunde gekommen. Ein Deutscher mit einem Wohnmobil. Vor einer Viertelstunde hat Benjamin angerufen, um ihr zu berichten, dass der Beginn des Finales wegen Unruhen vor dem Stadion verschoben wurde.

Sie richtet den Blick wieder auf den Monitor und korrigiert einen Kommafehler. Sie hat Schwierigkeiten damit, die verschiedenen Teile ihrer Magisterarbeit zusammenzuführen. Irgendwie kommt es ihr vor, als fehlten sinnvolle Überleitungen zwischen den einzelnen Kapiteln, doch sie kann einfach nicht beurteilen, ob das stimmt oder nicht. Sie trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte.

Durch die geöffnete Tür hört sie Belindas Lachen, und kurz darauf steht Belinda auch schon im Türrahmen. »Hier! Das musst du dir anschauen! Es ist so komisch. Christoffer hat mir gerade den Link geschickt.«

»Oh. Dann hat er also geantwortet?«

Belinda verzieht das Gesicht. »Na sicher. Dachtest du etwa, er würde nicht?«

»Klar doch.« Agnes sichert die Datei mit ihrer Magisterarbeit. »Du hast vorhin nur so genervt gewirkt, weil er dir nicht geantwortet hatte.«

»Quatsch. Ich wusste ja, dass er antwortet.«

Agnes blickt sie an. »Okay«, erwidert sie und versucht zu lächeln. »Was wolltest du mir zeigen?«

»Das hier. Das ist so witzig!« Sie hält Agnes ihr Handy hin, die es zögernd annimmt. »Du musst so auf den Screen drücken, damit der Clip anfängt.«

Agnes nickt, obwohl niemand ihr erklären muss, wie man ein YouTube-Filmchen abspielt. Was bleibt ihr auch schon anderes übrig?

Im Clip sieht man einen jungen Mann, der mit einem Skateboard auf ein paar Treppenstufen zufährt. Er versucht, mit dem Skateboard aufs Treppengeländer zu springen, um darauf herunterzurutschten. Er scheitert, rammt seinen Unterleib auf das Geländer und taumelt die Treppen hinab. Agnes spürt den Schmerz, den der Typ empfunden haben muss, fast am eigenen Leibe. Doch Belinda, die über ihre Schulter hinweg mitguckt, will sich vor Lachen fast ausschütten.

Dann schneidet das Video zu einem anderen Mann, der ein BMX-Rad fährt.

»Oh, hast du den schon gesehen?« Belinda kreischt fast vor Lachen. »Diese trübe Tasse ist einfach zu lahmarschig!«

Der junge Mann fährt mit dem Rad über eine Rampe und will über einen Zaun springen. Er hat nicht genug Tempo, und sein Vorderrad bleibt im Zaun hängen. Er fliegt mit rudernden Armen durch die Luft und kracht mit dem Kopf voran senkrecht auf den Boden.

Agnes gibt Belinda ihr Handy zurück. »Ich finde das nicht witzig.«

Belinda starrt sie ungläubig an. »Wieso das denn nicht? Ist doch irre. Guck dir den Typen hier mal an. Der fällt kopfüber in einen Kellerschacht und haut sich die Nase zu Brei!«

Agnes verzieht das Gesicht. »Ich finde es nicht witzig, zuzusehen, wie sich andere verletzen. Ein paar von diesen Typen haben sich bestimmt so schlimm verletzt, dass sie hinterher ins Krankenhaus mussten.«

Belinda stoppt den YouTube-Clip und schiebt sich das Handy wieder in die Tasche. Sie zuckt mit den Schultern. »Sie tun’s ja freiwillig, oder? Niemand zwingt sie dazu.«

Agnes scharrt mit den Füßen unter dem Tisch. »Ja«, sagt sie. »Kann sein.«

Belinda bleibt hinter ihr stehen. Sie holt tief Luft, atmet dann langsam durch die Nase aus und schüttelt dabei den Kopf. »Du musst nicht immer alles so furchtbar ernst nehmen, weißt du.«

»Das ist einfach nicht mein Ding.«

»Okay«, erwidert Belinda und nickt, als hätte sich ihr endlich der wahre Sinn des Lebens offenbart. »Dann verzichte ich wohl auch besser darauf, dir den Clip mit dem Autounfall zu zeigen.«

Agnes blinzelt entsetzt.

Belinda lacht. »Jetzt habe ich dich erwischt, was? Eine Sekunde lang hast du gedacht, ich hätte ein Video von einem Autounfall! Hast du! Gib’s zu.«

»Okay, okay. Du hast mich reingelegt.« Agnes erwidert das Lachen, doch irgendwie ist sie nicht ganz überzeugt, dass es wirklich ein Scherz war. »Du hast mich drangekriegt.«

Als ihr Gelächter verklungen ist, wendet sich Agnes wieder ihrem Laptop zu und fängt an, in dem Kapitel herumzuscrollen, in dem der Pakt der Buschmänner mit der Natur beschrieben wird.

Belinda rührt sich nicht vom Fleck und starrt sie an. »Kann ich dich mal was fragen?«

»Klar.«

»Würdest du dich von deinem Freund dabei filmen lassen, wie du ihm einen bläst?«

»Was?« Agnes beginnt zu lachen.

»Es ist nur, weil Christoffer gern …«

Agnes beißt sich auf die Lippe, damit sie nicht weiter lachen muss. »Wie würdest du es finden, wenn so was im Internet landet?«

»Er will das doch nur für sich selbst haben.«

»Würdest du mich das überhaupt fragen, wenn du selbst wirklich Lust darauf hättest?«

SIND WIR HIER BEI VERSTECKTE KAMERA, ODER WAS?

BELINDA STREICHT MIT DEM FINGER an der Kante des Eisfachs entlang, das mit allen möglichen Eissorten gefüllt ist, und sieht sich im Shop um. Alle Regale sind wieder aufgefüllt. Sie wirft einen Blick auf die Wanduhr. Es dauert noch ewig lange, bis der Shop geschlossen wird. Sie hört das Klicken der Laptoptastatur, die Agnes im Hinterzimmer bearbeitet, hört das Summen der Kühl- und Gefrierschränke und ihre eigenen Schritte auf dem abwetzten Linoleumboden.

Sie nimmt eine Zeitschrift aus dem Regal und blättert sie durch, ohne tatsächlich etwas zu lesen. Stattdessen studiert sie den Aufdruck auf einer Tafel Schokolade, wo erklärt wird, wie sie eine Reise mit der ganzen Familie nach Disneyland Paris gewinnen kann, wenn sie die Homepage anklickt und ein paar Fragen beantwortet.

Sie schiebt sich hinter den Tresen und blickt noch einmal zu dem Monitor, der die Bilder aus den Überwachungskameras überträgt. Sie zeigen eine menschenleere Tankstelle. Dann wendet sie sich um und sieht zur Schnellstraße hinüber, die nicht minder verwaist ist. Sie fragt sich, ob sie die Straße wohl jemals so verlassen erlebt hat. Hat sie nicht. Das weiß sie. So etwas hat es noch nie gegeben, denn noch nie war Dänemark bis ins Finale gekommen. Es ist eine ganz besondere Nacht. Fast sehnt sie sich danach, selbst darüber in Aufregung geraten zu können. Doch es geht einfach nicht. Sie fragt sich, was wohl geschehen wird, wenn Dänemark heute Nacht tatsächlich das Finale gewinnt. Totales Chaos. Überall im Land würden die Leute auf die Straßen laufen und die ganze Nacht über Party machen. Doch hier draußen nicht. Denn hier passierte nie was. Und selbst wenn, bei der Party wollte sie nicht mitmachen.

An der Luftpumpe bleibt ihr Blick hängen. Die steht zwischen den Zapfsäulen mitten im Weg. Eben hatte sie noch nicht dort gestanden. Oder doch? Sie verzieht das Gesicht. Der Deutsche in dem Wohnmobil, ihr bislang einziger Kunde – hat er sie benutzt, um den Luftdruck in seinen Reifen zu regulieren? Sie spürt ein seltsames Kribbeln auf dem Rücken. Er hatte auf der anderen Seite bei Säule Fünf gehalten. Wenn er die Pumpe benutzt hätte, stände sie jetzt auch auf der anderen Seite bei Säule Fünf. Und außerdem stand sie eben ganz sicher noch nicht da.

Sie tritt aus dem Shop, bleibt unmittelbar hinter der Automatiktür stehen und sieht sich in alle Richtungen um, bevor sie wieder zur Luftpumpe schaut. Wer mochte sie dort abgestellt haben?

»Sind wir hier bei Versteckte Kamera, oder was?«, murmelt sie, nimmt die Pumpe und bringt sie dorthin zurück, wo sie hingehört – neben die andere Luftpumpe. Sie hängt sie wieder an die Pressluftzufuhr. Das Ventil zischt und pfeift, als sich der Tank der Pumpe füllt.

DER SONNENUNTERGANG SCHEINT DURCHS FENSTER

AGNES STREIFT DIE SCHUHE AB, weil sie die Zehen frei bewegen will. Sie lässt ihre Magisterarbeit Magisterarbeit sein und loggt sich bei Facebook ein, weil sie sehen will, was die anderen so treiben. Alle sehen sich das Finale an und teilen das auch der ganzen Welt mit. Anscheinend hat das Spiel begonnen. Agnes wendet sich wieder ihrer Magisterarbeit zu. Sie trinkt den letzten Schluck aus ihrem Wasserglas.

Belindas Stimme dringt durch die offene Tür in den Raum. Sie spricht draußen vor dem Shop übers Handy mit jemandem. Sie lacht. Das Gespräch dreht sich um einen merkwürdigen Kerl aus irgendeiner Disco. Agnes belauscht andere zwar nicht gern, doch so wie Belinda herumbrüllt, lässt sich das nur schwer vermeiden.

Genauso schwer ist es, sich auf die Magisterarbeit zu konzentrieren. Sie trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. Sie wird allmählich ungehalten, doch sie will das Gefühl nicht an sich heranlassen. Der Sonnenuntergang scheint durchs Fenster; eine warme, orangefarbene Glut – nicht gerade angenehm, weil es ihre Augen anstrengt und ihr Gesicht sich im Monitor spiegelt.

Belinda lacht schon wieder, schreit fast vor Lachen. »Das hast du nicht! Das kannst du nicht!«

Agnes steht auf, um ihr Glas am Wasserhahn aufzufüllen. Sie zögert kurz, dann schließt sie sorgfältig die Tür zum Shop, rutscht wieder auf den Stuhl und vor ihre Magisterarbeit.

SIE IST SO DURCHGEKNALLT

DIE TÜR ZUM HINTERZIMMER schwingt auf. Belinda kommt herein und bleibt mitten im Raum stehen.

Agnes hebt den Blick von ihrer Magisterarbeit und ist geschockt, als sie sieht, dass sich Belinda die Augen ausweint. Die Wangen verschmiert von ausgewaschener Wimperntusche, ihre Lippen zittern.

»Was ist passiert?« Agnes eilt zu Belinda und zögert nur kurz, bevor sie sie in die Arme nimmt. »Was ist passiert?«

»Es ist nur meine Mutter. Sie ist so durchgeknallt.«

Agnes drückt sie noch einmal fest und lässt dann los. Es ist eigenartig, Belinda im Arm zu halten, deshalb führt sie sie rasch zu einem Stuhl und drückt ihr eine Rolle Papiertücher in die Hand. »Hier, nimm die.«

Belinda nimmt die Rolle und reißt ein paar Blätter ab. Auf ihre Kleidung ist etwas Wimperntusche getropft. Sie schüttelt den Kopf und blickt Agnes kurz in die Augen. »Oh mein Gott«, murmelt sie. Erneut fließen Tränen über ihre Wangen. Sie schüttelt den Kopf, beugt sich vor und weint lautlos.

»Ich dachte, ich hätte dich erst vor einer Minute lachen hören.« Agnes zieht einen Stuhl neben Belinda und setzt sich hin. Sie stupst Belinda sanft am Arm. »Was ist mit deiner Mutter?«

»Sie hat mich aus der Wohnung rausgeschmissen.«

»Gerade eben, meinst du?«

»Ja.«

»Scheiße!«

»Ja.«

»Aber warum?«

Belinda wischt sich wie wild die Augen und verschmiert die Wimperntusche überall auf ihren Wangen. Sie holt langsam Luft, schaut schließlich auf und erwidert Agnes’ Blick. »Sie will, dass ich mich nicht mehr mit Christoffer treffe. Entweder das oder Rauswurf.«

Agnes erhebt sich und schenkt Belinda ein Glas Wasser ein. »Hier, trink.«

Belinda verzieht das Gesicht. »Ich brauche kein Wasser. Ich brauche jetzt einen anständigen Schluck Wodka.«

Agnes stellt das Glas auf den Tisch.

»Sie ist doch nur eifersüchtig, weil ich jung bin und gut aussehe und sie eine alte Hexe ist. Auf alte, abgeschlaffte Weiber hat kein Mann Bock, weißt du. Sie sollte sich aus meinem Liebesleben heraushalten. Ich bin jetzt volljährig, eine erwachsene Frau. Es ist mir völlig egal, ob sie kontrolliert, mit wem ich mich verabrede und mit wem nicht. Es ist meine eigene Sache, mit wem ich mich treffe, oder nicht?«

»Ich denke schon.« Agnes wischt mit dem Zeigefinger einen verschütteten Wassertropfen vom Tisch ab. »Ich weiß nicht, ob ich das hier wirklich kapiere.«

»Was ist daran nicht zu verstehen? Meine Mutter hat gerade angerufen, um mir mitzuteilen, dass ich mir eine andere Bleibe suchen muss, falls ich mich weiterhin mit Christoffer verabrede.« Schon wieder rollen Tränen aus ihren Augen. Belinda wirft die Papiertaschentücher auf den Boden. »Mist. Mistmistmist. Ich will hier nicht herumsitzen und jammern wie ein Baby!«

»Du jammerst nicht, Belinda. Das ist okay.«

Belinda schüttelt nur den Kopf.

Agnes blickt wieder zum Fenster und versucht, ihre Gedanken zu sortieren. Mit einundzwanzig könnte es Belinda vielleicht ganz guttun, zu Hause auszuziehen und zu lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. »Es muss nicht das Ende der Welt bedeuten. Vielleicht ist es sogar besser. Einer der wenigen Vorzüge dieser Gegend ist, dass man leicht etwas Billiges zum Wohnen finden kann. Das wird schon.«

Belinda nickte. »Ich weiß.«

»Was ist denn mit diesem Christoffer? Warum will deine Mutter, dass du dich nicht mehr mit ihm triffst?«

»Es ist so bescheuert«, murmelt Belinda. »Sie …«

Agnes wendet den Kopf, als sie draußen einen Wagen stoppen hört. »Wir haben einen Kunden.« Dann wird eine Autotür zugeschlagen, kurz darauf beginnt eine Zapfsäule zu summen.

Agnes steht auf und legt Belinda die Hand auf die Schulter. »Ich bin dran«, sagt sie sanft. »Bleib einfach hier.«

Belinda versucht zu lächeln. Ihr Gesicht ist von Tränen, Rotz und Wimperntusche verschmiert.

HAT DAS FINALE SCHON ANGEFANGEN?

»AGNES BIRKEMOSE?« Der Kunde lächelt entwaffnend. Er ist ein Mann um die vierzig, in schwarzem Anzug mit Schlips. Trotzdem macht er den Eindruck, als käme er vom Land. Vielleicht liegt es an dem Anzug, der nicht gut sitzt, vielleicht auch an seinem plumpen Gesicht. Agnes hat ihn jedenfalls nie zuvor gesehen.

»Woher wissen Sie, wie ich heiße?« Sie liest den Zählerstand von Säule Drei ab, Super, bleifrei, und tippt die Summe in die Registrierkasse. Sein metallicblauer Toyota parkt neben der dritten Zapfsäule.

»Ihr Namensschild.« Er deutet auf das Namensschild links an ihrer Brust.

»Oh«, lächelt sie. »Ach so.« Ein kurzer Blick zur Kassenanzeige. »Das macht dann 355 Kronen.«

»Ach übrigens«, er hebt den Zeigefinger. »Ich brauche noch einen von diesen Duftbäumen, die man sich an den Rückspiegel hängt.«

»Einen Wunderbaum?«