Die Insel - Steen Langstrup - E-Book

Die Insel E-Book

Steen Langstrup

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Du erwachst in einer paradiesischen Umgebung, auf einer kleinen tropischen Insel. Warmer Sand, Palmen, das glasklare weite Meer vor dir. Wie bist du hierhergekommen? Du fühlst dich nicht gut. Hast Schmerzen. Dann kommt die Erinnerung. Ein Tauchgang. Ihr seid vom Boot abgetrieben worden. Du - und deine Freundin Selina. Du siehst sie, nur wenige Meter entfernt. Sie ist schwer verletzt. Ihr Atem versiegt. Du kannst nichts tun. Sie stirbt in deinen Armen. Es wird Nacht. du bist ganz allein mit einer Toten. Oder?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 329

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

Wer oder was auch immer Selina getötet haben mochte, es war nach wie vor irgendwo da draußen, und ich war nicht besonders scharf darauf, barfuß ins Wasser zu laufen, aber ich hatte keine andere Wahl. Ginge mir die Machete verloren, würde ich ohne jeden Zweifel verdursten. Also trat ich behutsam ins Wasser und setzte jeden meiner Schritte mit größter Vorsicht. Die Machete wurde immer weiter von mir weggeschwemmt. Der Griff sank unter die Oberfläche, um unmittelbar darauf erneut aufzutauchen, gefangen im trägen Rhythmus der flachen Flutwellen. Das Wasser war kristallklar. Ich konnte genau erkennen, wie die Strömung die schwere Klinge mit sich trug.

DER AUTOR

Steen Langstrup steht für eine neue Generation junger Horrorautoren, die frisches Blut in das Genre pumpen. Sein Thriller Finale wurde in Dänemark als »Best Horror Novel of the Year« ausgezeichnet.

LIEFERBARE TITEL

Finale

STEEN LANGSTRUP

DIE INSEL

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2019Copyright © 2016 by Steen Langstrup / 2 Feet Entertainment Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Printed in Germany Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-23949-7V001www.heyne.de

(Der Buchstabe Ø ist ein dänischer Vokal. Er klingt ungefähr wie das deutsche Ö, also eine Mischung aus O und E. Steht dieser Buchstabe für sich allein, bildet er das dänische Wort für »Insel«, und so lautet auch der Originaltitel dieses Buches: Island.)

Ø

– Sie starb in meinen Armen, mit einem letzten schweren Atemzug. Ihr Körper zuckte schwach. Ihr Mund öffnete sich. Ein Schaumfaden sickerte heraus. Ihre Augen trübten sich. Ich wusste im selben Augenblick, in dem es passierte, dass sie gestorben war. Das war’s. Das Ende von allem. Meine Selina war tot. Ihr Leib erschlaffte, und ihr Kopf sackte gegen meine Brust. Die Luft wich aus ihren Eingeweiden. Der Tod ist eine hässliche Angelegenheit.

Ich zitterte am ganzen Körper. All die Gefühle, die ich die ganze Nacht über mit aller Macht zu verdrängen versucht hatte, während ich ihr tröstende Worte ins Ohr flüsterte – sie wird es schaffen, sie wird durchkommen, ich weiß, dass sie durchkommen wird, irgendjemand wird uns bald finden –, flossen nun in überwältigenden Strömen aus mir heraus. Tränen schossen aus meinen Augen und tropften auf ihre Haut. Vergeblich suchte ich nach einem Puls, einem Herzschlag, einem Atemhauch – nichts davon würde jemals wiederkommen. Ich wusste, dass sie tot war; ich wusste es, und dennoch suchte ich ihren Körper verzweifelt nach irgendeinem Anzeichen von Leben ab. Ich hielt ihren Körper fest in meinen Armen. Ich weinte lautstark in ihr langes, dunkles Haar. Ich heulte wie ein Kleinkind. Ich brüllte ihren Namen, schrie sie an, mich nicht zu verlassen.

Doch sie war tot. Während der ersten paar Minuten hatte ich irgendwie das Gefühl, sie wäre noch anwesend, als würde ihre Seele mich umkreisen, als könnte sie mich ebenso wenig loslassen wie ich sie. Dann verschwand dieses Gefühl, und ich saß da, mit nichts als ihrer Leiche.

Selina war fort.

Ich blieb dort am Strand sitzen und hielt sie fest an mich gedrückt. Die Sonne hob sich am Horizont und färbte den Himmel rotgelb. Hinter mir, tief im Dschungel, stimmten die Gibbons den Gesang ihrer melancholischen Litaneien an. Die Vögel begannen zu zwitschern.

Der Strand war schneeweiß, das Meer azurblau – ganz wie in den Reisebroschüren. Durch die Brandung rollte eine Kokosnuss. Winzige Krabben warfen mit ihren Stielaugen wilde Blicke in alle Richtungen. Ein Stück den Strand hinunter starrte ein kleiner weißer Reiher von einem niedrigen Felsen ins Wasser.

In den Tropen geht die Sonne sehr schnell auf. Schon bald stand sie ziemlich hoch über dem Horizont. Ich spürte ihre Wärme nicht. Ich spürte auch meine Beine nicht; sie waren eingeschlafen, nachdem ich stundenlang in derselben Position verharrt und Selina in den Armen gehalten hatte, während ihr Tod immer näher gekrochen war. Ich spürte weder ihr Gewicht noch meine entzündeten Nackenmuskeln. Ich merkte nicht, als ich zu weinen aufhörte, da mein Tränenfluss versiegte. Ich registrierte den Rotz nicht, der von meiner Nase tropfte.

Ich küsste ihre Stirn und ihre Wangen. Ich berührte ihr Haar. Schließlich schloss ich die Lider ihrer dunklen Augen, deren Blick niemals mehr auf den meinen treffen und ein Kribbeln in mir verursachen würde, das sich von meinem Herzen bis in meine Unterhose zog. Ich strich mit den Fingern sanft über ihre Lippen. Wischte den Schaum von ihnen ab. Ich war vollkommen verrückt nach diesen Lippen gewesen. Es waren zartweiche, volle Lippen, wie geschaffen fürs Küssen. Kein anderer Mund, den ich je geküsst hatte, war so sexy und begehrenswert wie ihrer gewesen. Weich, warm, auf vibrierende Weise lebendig. Hypnotisch. Magisch anziehend. Manchmal verlor ich den Faden, wenn sie etwas sagte, und starrte nur noch auf ihren Mund, die Lippen, die Zähne, die Zunge. Ich konnte nichts dagegen tun. Keine andere Frau hat mich jemals so verzaubert wie sie. Jetzt war der Bann gebrochen, der Zauber erloschen. Die Lippen hatten aufgehört, sich zu bewegen, sie waren bleich, fast blau geworden. Dennoch küsste ich sie. Ich flüsterte unaufhörlich ihren Namen, wieder und immer wieder.

Meine Fingerspitzen zeichneten die Konturen ihres Gesichtes nach. Die Wangenknochen, den Haaransatz, die Nase, den Kiefer, das Kinn, die Ohren, die Augenbrauen. Dann den Hals und Nacken hinab. Sand klebte auf der Haut ihrer Brust und Schultern. Ich richte ihr Bikinioberteil und strich ihr den Sand vom Körper.

Meine Selina.

Tot.

Für immer weg.

Nun war ich ganz allein. Selina war gestorben und hatte mich mutterseelenallein auf einer abgelegenen, einsamen tropischen Insel zurückgelassen, wo niemand mich finden würde. So weit das Auge reichte, lag die See still und leer da. Keine Frachtschiffe, keine Fischerkähne, keine Kreuzfahrtdampfer, keine Schnellboote, keine Nachbarinseln. Einzig das Meer. Meer. Meer.

Ich war völlig allein. Die Frau, mit der ich die letzten fünf Jahre zusammen gewesen war, lag tot in meinen Armen. Erst vor wenigen Tagen hatte ich um ihre Hand angehalten. Ich wollte sie heiraten. Dies war die Frau meiner Träume. Wir hätten Kinder bekommen sollen. Wir waren bestimmt dafür, miteinander alt zu werden.

All das war uns bestimmt.

Verstehen Sie das? Ich habe sie geliebt. Ich habe sie über alles geliebt. Selina war mein Leben. Verstehen Sie?

Ø

– Mein Name ist Line Bang Skovmand. Ich bin im Auftrag des Konsulats der dänischen Botschaft gekommen. Gestatten Sie, dass ich Sie von den Formalitäten in Kenntnis setze, bevor wir anfangen. Sie sind Noa Simon Poulsen, Reisepassnummer 206706555, mit gegenwärtigem Wohnsitz Stefansgade in Kopenhagen?

– An meine Reisepassnummer kann ich mich nicht erinnern. Die Polizei hat mir den Pass abgenommen. Abgesehen davon, ja. Genau der bin ich. Ich habe sie nicht getötet. Ich verstehe nicht, warum sie annehmen, ich hätte es getan.

– Heute früh erreichte uns eine Anfrage der örtlichen Polizeibehörde, und man schickte mich unverzüglich los, um Ihnen im Rahmen der bestehenden rechtlichen Möglichkeiten so gut wie möglich Beistand zu leisten. Normalerweise werden wir im Falle eines im Ausland inhaftierten dänischen Staatsbürgers nur dann eingeschaltet, wenn die verhaftete Person ausdrücklich nach unserer Unterstützung verlangt. In diesem Fall, der auf die Todesstrafe hinauslaufen könnte, hat der Botschafter jedoch beschlossen …

– Todesstrafe? Was wollen Sie mir …

– Wir sind hier nicht in Dänemark. In diesem Teil der Welt ist die Verhängung der Todesstrafe alles andere als unüblich. Es ist nicht mehr so schlimm, wie es mal war, doch wenn es um Mord und Drogenhandel geht, greifen sie hart und konsequent durch. Letztes Jahr wurden zwei Australier hingerichtet, die versucht hatten, Heroin aus dem Land zu schmuggeln. Anfang dieses Jahres exekutierte man einen Franzosen, den man des Mordes für schuldig gesprochen hatte. Augenblicklich haben wir einen dänischen Motorradfahrer im Todestrakt sitzen, und wir würden es vorziehen, Sie würden ihm nicht in Bälde dort Gesellschaft leisten. Es ist einem entspannten Verhältnis zweier Länder nicht besonders zuträglich, wenn einer der beiden Staaten entscheidet, einen Bürger des anderen zu exekutieren. Vor allem, wenn der Fall politisch instrumentalisiert wird und entsprechende Wellen schlägt.

– Ich bin unschuldig. Ich habe sie nicht ermordet.

– Nein.

– Sie klingen zögerlich. Glauben Sie mir etwa nicht?

– Die meisten Kriminellen behaupten, unschuldig zu sein. Ich bin dem Konsulat seit inzwischen zwei Jahren zugeordnet. Davor war ich drei Jahre lang für das Konsulat in Madrid tätig. Glauben Sie mir: Nicht alle Menschen, die ihre Unschuld beteuern, sind unschuldig.

– Ich habe Selina nicht umgebracht. Wir wollten heiraten. Ich hatte ihr gerade einen Antrag gemacht. Sie müssen mir glauben. Sehe ich wie ein Mörder aus?

– Sie haben hier Ihre Ferien verbracht, zusammen mit Ihrer Freundin, Selina Quist Hansen, Reisepassnummer 206709413, dieselbe Kopenhagener Adresse?

– Wir sind Rucksacktouristen. Wir reisen viel in der Welt herum.

– Sind gereist.

– … wir sind viel herumgereist … richtig.

– Selina war achtundzwanzig Jahre alt? Vier Jahre jünger als Sie.

– Ja. Wir waren seit fünf Jahren zusammen. Fast ebenso lange haben wir in einer gemeinsamen Wohnung gelebt. Sie hat ein paar Monate nach unserem Kennenlernen ihr Apartment verloren. Sie liebte die Bücher und das Lesen. Ich habe sie erstmals bei einem Literatur-Debattierklub in der Stadtbibliothek getroffen. Ich habe mich nicht besonders fürs Lesen interessiert, aber ein Freund von mir meinte, diese Literaturzirkel wären der ideale Ort, um Frauen kennenzulernen. Für einen Computer-Nerd wie mich ist das in der Regel gar nicht so einfach.

– Sie sind Programmierer?

– Warum fragen Sie mich das, wenn doch alles in Ihren Unterlagen steht?

– Ich benötige die Bestätigung, dass meine Informationen korrekt sind. Ist dies hier Ihre Zelle?

– Weiß ich nicht so recht. Ich bin hier drin eingesperrt, seit sie mich herbrachten. Also ist das vielleicht meine persönliche Zelle. Sie sagen mir gar nichts. Ich werde langsam verrückt. Soll ich auf dieser versifften Matratze schlafen? Da kann ich mich gleich auf den blanken Boden legen. Soll ich in den Eimer dort drüben kacken?

– Hat man Sie gefoltert? Wurden Sie geschlagen? Hat man Sie getreten? Mit Zigaretten verbrannt? An den Armen aufgehängt?

– Nein. Das …

– Wenn dergleichen geschieht, lassen Sie mich es bitte wissen. Die Botschaft kann offiziell Beschwerde einreichen. Sie wurden bereits wiederholt vernommen?

– Kann man so sagen. Ich habe ihnen alles berichtet, was auf der Insel passiert ist. Sie wissen verdammt noch mal sehr gut, dass ich die Wahrheit sage, aber es scheint sich um eine Art Tabu oder so etwas zu handeln, oder sie versuchen irgendwas zu verschleiern und unter der Decke zu halten. Für sie macht es die Sache schlicht einfacher, wenn ich sie getötet habe, schätze ich. Vielleicht haben sie Angst davor, die Wahrheit könne dem hiesigen Tourismus schaden. Dann und wann kommt ein Kerl hier rein, schreit mich in grässlich schlechtem Englisch an und verlangt von mir, endlich zu gestehen, meine Freundin ermordet zu haben. Ich weigere mich. Dann brüllt er noch ein bisschen herum und verschwindet.

– Haben Sie zu essen bekommen? Wurde Ihnen etwas Trinkbares ausgehändigt?

– Klar.

– Fühlen Sie sich einigermaßen wohl?

– Ich … Gestern ist meine Verlobte gestorben. Ich fühle mich elendig beschissen. Was erwarten Sie denn?

– Ich meinte es lediglich bezüglich Ihres gesundheitlichen Zustandes. Sie haben mehr als einen Tag auf einer abgelegenen Insel verbracht und sich offensichtlich schwere Sonnenbrände zugezogen. Sollten Sie noch andere Gesundheitsprobleme haben, dann muss ich das…

– Nein. Holen Sie mich einfach nur hier raus.

– Man wird Sie wegen Mordes anklagen. Soweit ich unterrichtet bin, werden Sie innerhalb weniger Tage einem Richter vorgeführt. In keinem Land der Welt kann man einen Mordverdächtigen einfach so aus dem Gefängnis holen.

– Schreibt das Gesetz nicht vor, dass der Fall bis spätestens vierundzwanzig Stunden nach meiner Inhaftierung vor Gericht gehen muss?

– Noch einmal: Wir sind hier nicht in Dänemark. Das Rechtssystem dieses Landes folgt seinen eigenen Regeln.

– Dann bin ich also am Arsch? Ich muss tagelang in diesem Drecksloch bleiben? Wochenlang? Monatelang? Ich habe riesengroße Schwierigkeiten damit, zu lange allein zu sein. Ich drehe durch.

– Mag sein. Allerdings sind Einzelzellen in diesem Teil der Welt extrem rar gesät. Sogar in den Vollzugsanstalten oder Arresteinrichtungen kleiner Städte und Ortschaften. Normalerweise steckt man fünf oder sechs Gefangene in eine Zelle dieser Größe. Sollte man Sie in eines der größeren Gefängnisse verlegen, dürfen Sie mit einem gewaltigen Schock rechnen. Zwanzig Mann pro Zelle, und das Schlafen auf dem Fußboden ist nichts Ungewöhnliches. Das hier ist schierer Luxus.

– Vorgestern war ich der glücklichste Mensch des Planeten. Jetzt …

– Möchten Sie auch eins?

– Was ist das?

– Nikotinkaugummi.

– Ich rauche nicht. Ich habe noch nie geraucht.

– Ich auch nicht. Mein Mann… mein Exmann fing an, diese Dinger zu kauen, als er versuchte, das Zigarettenrauchen aufzugeben. Seine Nikotinkaugummipackungen lagen buchstäblich überall rum. Also begann ich, eins von denen zu nehmen, wann immer mir nach Kaugummi war, und am Ende war ich abhängig davon. Es ist komplett idiotisch.

– Schmecken sie wie normale Kaugummis?

– Nicht ganz. Man muss sie langsamer kauen, sonst schießt zu viel Nikotin in die Blutbahn.

– Lassen Sie mich einen probieren.

– Die Botschaft kann Kontakt zu Ihrer Familie aufnehmen, falls Sie dies wünschen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen und Sie zu unterstützen. Dennoch muss ich nachdrücklich feststellen, dass unsere Einsatz- und Tätigkeitsmöglichkeiten beschränkt sind. Wir sind kein Dschinn, der aus einer alten Lampe springt und mit einem Streich alles wieder ins Lot bringt.

– Selina ist gestern gestorben. Niemand kann irgendwas wieder ins Lot bringen. Auch wenn ich es schaffe, aus dieser stinkenden Zelle rauszukommen und ein Flugzeug mit Kurs aufs gute alte Dänemark zu besteigen, habe ich alles verloren. Alles.

– Natürlich, das verstehe ich.

– Tun Sie das?

– … Ich muss wissen, was auf dieser Insel geschehen ist. Wie sind Sie und Ihre Freundin allein auf Kematia gelandet? Wie ist sie gestorben? Ich muss die vollständige Geschichte von Ihnen hören, Noa. Was ist passiert? Warum glaubt die Polizei, Sie hätten sie ermordet?

– Hat man Sie nicht informiert?

– Hat man. Aber nicht besonders gründlich. In diesen Breitengraden laufen die Uhren weniger schnell. Außerdem würde ich das Ganze lieber aus Ihrem eigenen Mund hören. Erzählen Sie mir, was genau passiert ist.

– Vielleicht wollen Sie mir nicht glauben.

– Dieses Risiko werden Sie eingehen müssen.

– In Ordnung. Geben Sie mir eine Minute, um meine Gedanken zu ordnen.

– Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Ich werde meinem Vorgesetzten eine Kurznachricht zukommen lassen, die ihn darüber informiert, dass ich hier bei Ihnen bin und er mich perSMSerreichen kann, falls es irgendwelche Neuigkeiten oder Entwicklungen in dem Fall gibt.

– Sie starb in meinen Armen, mit einem letzten schweren Atemzug. Ihr Körper zuckte schwach. Ihr Mund öffnete sich …

Ø

– Ich konnte sie einfach nicht loslassen. Ich wusste, dass sie tot war. Mir war klar, dass die Sonne meine Haut verbrennen würde, wenn ich mich nicht in die Schatten zurückzog oder wenigstens Sonnenschutzcreme auftrug. Wir hatten eine Tube Sonnencreme in unserer Strandtasche dabei. Ich sollte sie mir holen. Ich lebte noch. Sie war tot.

Doch ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht. Ich konnte sie nicht loslassen. Ich wiegte sie wie ein Baby im Arm, wie das Baby, das sie nie zur Welt bringen würde. Ich wisperte ihr Liebesschwüre und süße Heimlichkeiten ins Ohr, während ich mich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass sie diese noch immer hören konnte. Doch sie war tot. Tot. Tot. Tot. Sie würde meine Stimme nie wieder hören. Sie würde mir nie wieder antworten. Als ich dort im weißen Sand saß und sie wiegte, gab es Momente, in denen ich beinahe dachte, ich könnte ihre wundervolle Stimme meinen Namen flüstern hören. Aber natürlich habe ich mir etwas vorgemacht, schlimmstenfalls halluziniert. Hatte ich vielleicht den Verstand verloren?

Mein Mund war trocken. Ich hatte nichts mehr zu trinken übrig. Die Machete lag hinter mir im Sand neben den Kokosnüssen, die ich im Laufe der Nacht geöffnet hatte, als das Fieber in ihr brannte, sie delirieren und sinnfreie Wortfolgen vor sich hin murmeln ließ. Jetzt waren sämtliche Kokosnüsse leer. Meine Haut, von der Sonne gebacken, fühlte sich trocken und dick an. Doch all das waren nur vage, entfernte Empfindungen. Ich hatte mich aus der Welt zurückgezogen, mich so tief in mir selbst verschlossen, dass ich kaum etwas wirklich spürte. Weder Durst noch Hunger noch die Hitze. Es war wie Lärm, der von einer Baustelle auf der gegenüberliegenden Seite der Straße herüberwehte. Man hört ihn. Er kann lästig sein. Aber wenn man wirklich auf seine Arbeit konzentriert ist, vergeht der Lärm nach und nach. Er ist nicht wirklich präsent.

Was war ihr letzter Gedanke gewesen? War ihr gesamtes Leben im Zeitraffer an ihr vorbeigezogen? Ich hatte sie in meinen Armen gehalten, aber nicht die geringste Ahnung, was in ihr vorgegangen sein mochte. Als das Gift sich in ihrem Körper ausbreitete, war sie in einen fieberwahnartigen Zustand verfallen. Ich hatte sie verloren, abgesehen von ein paar ab und an hervorgestöhnten Worten, viele Stunden, bevor das Leben schließlich aus ihr wich und sie sich auf ihre allerletzte Reise begab. Den Himmelspforten entgegen. Um den Herrgott zu treffen. Oder den Großen Manitu. Oder den Zauberer von Oz. Ich habe nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Meiner Überzeugung nach folgte auf das Sterben nichts als Dunkelheit. Zerfallende Atome. Verfaulende Zellen. Die Seele war bloß ein elektrischer Funke. Wenn man stirbt, wird der Strom abgeschaltet, und das war’s. Adieu. Man ist nicht mehr. Selina hingegen hatte auf ihre eigene schräge Art an ein Leben nach dem Tod geglaubt. So war sie nun mal. Und jetzt hoffte ich aufrichtig, dass sie richtiggelegen hatte. Dass sie an einen anderen Ort weitergezogen war. Dass ihr Leben einen tieferen und größeren Sinn gehabt hatte oder Teil eines göttlichen Planes gewesen war. Dass dies nicht das absolute Ende meiner Selina bedeutete. Dass sie dort auf mich warten würde, wo auch immer sie sein mochte, sodass wir eines Tages wieder vereint wären.

Und dieser Tag war möglicherweise nicht mehr weit. Ich befand mich alleine auf einer einsamen Insel, dem Rest der Welt unendlich fern, verdammte Scheiße. Ich hatte keine Vorräte mehr übrig. Buchstäblich nichts, bis auf ein paar Teile von den Segelklamotten wie die Machete und einiges andere sowie das Zeug in unserer Strandtasche, Handtücher, Kameras und Sonnenschutzmittel. Und natürlich die Schnorchelausrüstung. Wenn man mich nicht in ein oder spätestens zwei Tagen rettete, würde ich höchstwahrscheinlich ebenfalls sterben. Nur langsamer.

Eine Fliege landete auf ihrer Wange, und ich scheuchte sie weg. Insekten hatte sie immer gehasst. Was für jemanden, der die Tropen liebte, nicht gerade besonders praktisch war. Doch so war sie eben. Gleichzeitig widersprüchlich, unlogisch und zauberhaft. Diese dunklen Augen funkelten ständig vor lauter Geheimnissen und lebensfroher Einfälle. Ich sehnte mich danach, sie wieder lachen zu hören. Ihr Gelächter war unwiderstehlich ansteckend, wie Seifenblasen aus purer Freude, die jedem Menschen in ihrer Nähe schillernd entgegenschwebten, an der Nase platzten und ihn erfrischten. Bisweilen zog sie mehr Aufmerksamkeit auf sich, als mir lieb war. Unbekannte Männer sprachen sie neugierig und fasziniert an. Das gefiel mir nicht. Ich wollte sie ganz für mich alleine. Ich war der langweilige Programmierer an der Seite einer strahlenden Schönheit. Sie alle dachten, sie mir wegnehmen zu können. Aber sie gehörte mir.

Hatte sie an uns gedacht, während ich sie in den Armen hielt und ›Bitte, stirb mir nur nicht‹ in ihr Haar flüsterte? Hatte sie sich an den Tag unseres Kennenlernens erinnert? Jenen Buchdebattierzirkel in der Bibliothek, wo ihr Lachen von den Regalen widerhallte, als ich erwischt und dafür zusammengestaucht wurde, Das Geisterhaus nicht gelesen, sondern nur den Film gesehen zu haben, da ich Alba und Bianca verwechselte oder so etwas. Ich habe den Roman noch immer nicht gelesen. Nichtsdestotrotz brachen wir einen Monat später zusammen nach Chile auf. Es war die erste in einer langen Reihe von Reisen. Mindestens zwei pro Jahr, nach Möglichkeit mehr. Wenig Geld, Rucksäcke und schlichtes Straßenküchenessen. Keine Direktflüge, keine Klimaanlagen, keinerlei Luxus. Aber eine Unmenge Erfahrungen. Sehr viel Liebe. Sie zeigte mir, wie man lebte.

Nun gab es nur noch den Tod. Einen toten, schweren und bläulichen Körper in meinem Schoß. Alles war vorbei.

Ich erinnerte mich an die Worte, die ihr Vater an mich richtete, als ihm klar wurde, dass sie es ernst mit mir meinte. Eines Abends, als wir zum Grillen im gigantischen Garten ihrer Eltern eingeladen waren, hatte er mich beiseitegezogen und gesagt: »Pass gut auf sie auf. Wenn ihr je etwas zustößt, wenn du ihr jemals Schaden zufügst … Versprich mir einfach, dich gut um sie zu kümmern, okay?«

Ich gab das Versprechen. Ich kam mir albern dabei vor, aber ich tat es dennoch. Ich – der spindeldürre und schwächliche Computer-Nerd, der sich von Cola und Kartoffelchips ernährte – benötigte ihren Schutz dringender als sie den meinen. Ich hatte einmal gesehen, wie sie in einer überfüllten Skytrain-Schwebebahn in Bangkok einen Kerl mit einem Faustschlag zu Boden schickte. Mir war überhaupt nicht aufgefallen, dass irgendwas ablief, bevor der Typ mit blutender Nase auf die Matte ging. Ich bin alles andere als ein gestandenes Mannsbild.

Selina konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen.

Solange es nicht um Insekten ging. Oder Meerestiefen. Selbst die winzigste Spinne brachte sie total aus der Fassung. Und wir mussten vor vier Jahren in Ägypten einen Tauchkurs abbrechen, weil sie schon weniger als einen halben Meter unter der Oberfläche in Panik geriet. Also gingen wir stattdessen schnorcheln. Und ich entwickelte nach und nach erstaunliche Fähigkeiten, was das Einfangen von Spinnen und Kakerlaken betraf – und darin, ihr gelogenerweise zu versichern, es gebe keine Geckos in unserem Hotelzimmer.

Die Gezeitenströmung riss mich schlussendlich aus meiner Trance. Plötzlich schwappte eine Welle über meine Beine, und mir wurde klar, dass ich sie weiter den Strand hinauf schaffen musste, oder die See würde sie mir rauben.

Ø

– Jetzt spürte ich meinen Durst. Meine eingeschlafenen Beine. Meinen schmerzenden Rücken. Meine sonnenverbrannte Haut. Meinen staubtrockenen Mund. Auf einmal spürte ich alles. Die kalten Wellen, die über meine Beine hinwegspülten, belebten aufs Neue sämtliche meiner Sinne.

Ich zwängte meinen gemarterten Leib unter ihr hervor und stand auf. Ich schwankte ein wenig, meine Beine brannten wie die Hölle, und es gelang mir gerade so eben, mich aufrecht zu halten.

Eine neue Welle rollte heran und begrub Selinas Beine unter sich. Ich bückte mich und schob meine Hände unter ihre Achselhöhlen. Die Sehnen in meinem Rücken protestierten heftig, aber ich konnte nicht länger zögern. Ich musste sie außer Reichweite der Meeresbrandung schaffen, bevor die gierige See sie zu verschlingen drohte. Ihre Haut war kalt und unangenehm zu berühren.

Ich fühlte mich schrecklich schwach, und ihr Körper schien, seit das Leben ihn verlassen hatte, schwerer geworden zu sein. Totes Gewicht, ging es mir durch den Kopf. Die Worte entsetzten mich. Sie klangen grausig und trostlos in ihrer grimmigen und unerbittlichen Wahrhaftigkeit.

Als ich einsah, dass mir die Kraft fehlte, sie zu tragen, begann ich die Leiche zu ziehen. Die Leiche. Ein anderes grausames Wort. Die Leiche. Es war nicht mehr Selina, es war eine Leiche. Ich packte sie fest unter den Achseln und zerrte sie mit aller Macht, die aufzubringen ich imstande war, weiter. Meine Füße fanden im lockeren Sand kaum Halt und rutschten immer wieder aus. Etliche Male hätte ich mich fast auf den Hintern gesetzt, doch am Ende gelang es mir Stück für Stück, Selinas leblosen Leib weg von den Gezeitenströmungen und hinter den Gürtel aus vertrockneten Meeresalgen, toten Korallen und zerbrochenen Muschelschalen zu schleppen und mich höher und höher den Strand hinauf zu quälen.

Sobald sich ihre Füße außerhalb der nassen Gefahrenzone befanden, riss ich meine Hände unter ihren Armen hervor und ließ mich rücklings in den weichen Sand fallen. Mir war übel vor Erschöpfung, und gleichzeitig litt ich grässlichen Durst. Ich lag ein paar Minuten lang da und beobachtete mit starrem Blick einen Vogel, der hoch über der Insel seine Kreise zog. Ich sah mich flüchtig am Himmel um, in der Hoffnung, ein Flugzeug zu entdecken, aber es gab keines. Dort droben war nichts, nur der Vogel, ein Wölkchen und die Sonne – und sonst überall unendliches Blau.

Ich setzte mich auf. Selinas Leiche war in scheußlich verdrehter Haltung auf dem Boden gelandet. Ein Arm verschwand unter dem Oberkörper, der andere wickelte sich um ihren Kopf. Ihr Leib war über und über mit Sand bedeckt. Die Zunge hing ihr aus dem Mund. So konnte ich sie nicht liegen lassen. Wie achtlos entsorgten Müll. Ich musste das in Ordnung bringen. Aber zuallererst brauchte ich was zu trinken. Die Insel war reich an Kokosnüssen. Während der Nacht hatte ich die von den Matrosen zurückgelassene Machete benutzt, um ein paar zu köpfen, sodass Selina und ich von der Kokosmilch darin trinken konnten. Das lag allerdings schon viele Stunden zurück, und ich hatte den ganzen Morgen über weinend in der Sonne gesessen. Mein Rachen fühlte sich wie der trockene Sand unter meinen Füßen an. Es herrschte erstickende Hitze. Mir war schwindelig und schlecht. Ich musste schnellstmöglich etwas Trinkbares auftreiben.

Selinas Füße hatten zwei parallel verlaufende Spuren im Sand hinterlassen, als ich sie von der auflaufenden Flut weggezerrt hatte. Die Spuren zogen sich kurvenreich dahin, gefolgt von einer unregelmäßig gesetzten Reihe von Furchen, wo meine Füße den Sand aufgewühlt hatten.

Ich ließ meinen Blick die Spuren entlangschweifen, bis er auf die in der Brandung treibende Machete fiel, an einer unverändert seichten Stelle. Doch das wäre nicht mehr lange der Fall. Ich sprang auf die Beine, trat über meine tote Verlobte hinweg und stolperte den Strand hinab. Meine Augen klebten am Heft der Machete, die in der Gischt auf und ab tanzte. Die schwere Klinge des riesigen Messers zog es unter die Oberfläche.

Wer oder was auch immer Selina getötet haben mochte, es war nach wie vor irgendwo da draußen, und ich war nicht besonders scharf darauf, barfuß ins Wasser zu laufen, aber ich hatte keine andere Wahl. Ginge mir die Machete verloren, würde ich ohne jeden Zweifel verdursten. Also trat ich behutsam ins Wasser und setzte jeden meiner Schritte mit größter Vorsicht. Die Machete wurde immer weiter von mir weggeschwemmt. Der Griff sank unter die Oberfläche, um unmittelbar darauf erneut aufzutauchen, gefangen im trägen Rhythmus der flachen Flutwellen. Das Wasser war kristallklar. Ich konnte genau erkennen, wie die Strömung die schwere Klinge mit sich trug.

Ich tat ein paar schnelle, inzwischen weniger bedachtsame Schritte, warf mich in die Wellen und langte nach dem Messerheft. Das Wasser war höchstens zwei Fuß tief. Ich hockte auf den Knien und ergriff die Machete. Das kühle Wasser fühlte sich unglaublich gut an. Ich begutachtete den Unterwasserbereich direkt um mich herum, bevor ich mich niedersinken ließ. Ich füllte meinen Mund mit Salzwasser, ohne es zu schlucken. Ich kannte die Geschichten von schiffbrüchigen Seeleuten in Rettungsbooten, die Meerwasser tranken und den Verstand verloren. Ich wusste nicht, ob diese Geschichten der Wahrheit entsprachen, würde allerdings keinerlei Risiko eingehen, solange Kokospalmen den Strand säumten, und außerdem gab es jenseits dieser Palmen irgendwo im Regenwald mit Sicherheit auch saftige, essbare Früchte.

Ich spuckte das Wasser aus, erhob mich und wollte mich gerade zurück Richtung Strand aufmachen, um mir eine hübsche frische Kokosnuss zu suchen, sie aufzuschlagen und ihre dickflüssige Milch zu trinken und ihr süßes Fleisch zu verzehren, als ich das Schiff entdeckte.

Es war weit entfernt, nahe am Horizont, aber es war zweifellos da, und es war das erste Seefahrzeug, das mir vor Augen kam, seit die Matrosen uns gestern auf dieser verfluchten Insel ausgesetzt hatten. Das Schiff war groß. Ein Frachter, vielleicht sogar ein Öltanker. Aufgrund der Entfernung des Schiffes war das schwer zu sagen. Ich konnte lediglich einen Umriss ausmachen. Es war auf jeden Fall keine Einbildung. Und es bedeutete eventuell meine Rettung.

In meinem unverändert dehydrierten, benebelten und entkräfteten Zustand hastete ich den Strand hinauf. Ich warf die Machete in den Sand und suchte nach Treibholz, um ein Feuer zu errichten. Mir wurde jedoch sehr rasch klar, dass es aussichtslos war. Das Schiff wäre verschwunden, bis ich genug Holz gesammelt hätte, um ein anständiges Feuer zu entfachen. Ich schnappte mir stattdessen eines unserer Strandtücher und fing an, es wie eine Fahne in der Luft zu schwenken. Ich war derart geschwächt, dass ich nur ein paar Male mit dem verdammten Handtuch hin und her wedeln konnte, bevor meine Arme verkrampften und ich aufgeben musste. Abgesehen davon war das Schiff so weit weg, dass die Besatzung mich und mein winkendes Handtuch sowieso nicht hätte sehen können. Höchstwahrscheinlich konnten sie aus dieser Distanz lediglich eine kleine Insel am fernen Horizontrand erkennen. Ich beförderte das Badetuch mit einem Fußtritt dorthin, wo unsere Strandtasche lag, und hob die Machete auf. Es gab nichts, was ich tun konnte. Falls das Schiff sich nicht weiter der Insel näherte, würden sie mich niemals hier erspähen.

Ich fand eine Kokosnuss unter einer der Palmen und setzte mich in den Schatten, um sie aufzuschneiden. Von dem Schiff, das dort in der Ferne am Horizont vorbeischipperte, konnte ich meine Augen nicht abwenden und fragte mich, ob sie die Insel überhaupt bemerkt hatten. Vielleicht waren alle unter Deck und schauten sich die Olympischen Spiele im Fernsehen an, während der Kapitän alleine am Steuer stand, Rum soff und dämliche Lieder vor sich hinsang. Ich malte mir aus, wie ein paar Matrosen, denen die Insel zufällig ins Blickfeld geraten war, einander aufgeregt darauf hinwiesen. Vielleicht schauten sie abwechselnd durch ein Fernglas zur Insel herüber. Konnten sie die Palmen, den weißen Sandstrand und die von Regenwald umgebenen steilen Klippen, die aus dem azurblauen Ozean ragten, erkennen? Ich konnte beinahe hören, wie sie sich aus ihrem elenden Alltagsleben hinausträumten. ›Oh, stellt euch nur vor, zusammen mit einer wunderschönen Frau ans Ufer dieses Paradieses gespült zu werden. Das wäre mir jederzeit weitaus lieber als alles andere auf der Welt. Ich würde gar nicht wollen, dass mich jemals einer findet. Lasst mich einfach in Frieden und bleibt mir verdammt noch mal auf ewig fern.‹ Die darin liegende Ironie biss und quälte mich, und mein Blick wurde von Tränen getrübt. Ich ließ mein Elend, meine Trauer und meinen Frust an der Kokosnuss aus und verpasste ihr einige heftige Hiebe mit der Machete, bis ich sie schließlich geöffnet hatte. Ich hob sie an meine Lippen und trank die Milch. Sie war lauwarm und schmeckte irgendwie schal und verdorben, doch ich trank sie bis auf den letzten Tropfen. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen, und wenige Sekunden lang stand ich kurz vor dem Erbrechen, aber ich schaffte es, alles bei mir zu behalten.

Inzwischen verschwand das Schiff allmählich vom Horizont. Bald würden sie nicht einmal mehr die Insel ausmachen können. Ich warf einen flüchtigen Blick auf unsere über den Strand verstreuten Habseligkeiten. Ich starrte auf das Zeug, das die Seemänner zurückgelassen hatten. Gestern hatte ich den Kram gründlich inspiziert. Überwiegend handelte es sich um Teller, Besteck und dergleichen. Bei Gott, sogar ein paar Klappstühle. Eine Kühltasche, die wir gestern geleert hatten. Mein Blick fiel abermals auf unsere eigenen Sachen. Schwimmflossen. Schnorchel. Taucherbrillen. Handtücher. Kameras.

Die Taucherbrillen.

Meine Augen bewegten sich von den Brillen zum Schiff und wieder zurück.

Konnte ich die Gläser der Taucherbrille benutzen, um die Sonnenstrahlen Richtung Schiff spiegeln zu lassen? Ein heller Lichtblitz war vielleicht in der Lage, ihre Aufmerksamkeit zu wecken. SOS. Drei kurze, drei lange und wieder drei kurze Lichtzeichen. Save Our Souls. Rettet unsere Seelen.

Ich raffte mich auf, um eine der Taucherbrillen aus der Strandtasche zu holen, und grabschte mir auf dem Weg das dunkelblaue Strandtuch. Ich überlegte mir, dass es helfen würde, das Brillenglas in einen Spiegel zu verwandeln, wenn ich das dunkle Handtuch hinter die Maske hielt.

Die Sonne war in der Zwischenzeit hoch zum Himmel hinaufgestiegen. Ich stellte mich in Position, Brille und Strandtuch in der Hand, und versuchte den Winkel zu berechnen, in dem das Sonnenlicht zum Schiff hin gebrochen würde. Es gab keinerlei Gewähr für einen Erfolg, weshalb ich die Taucherbrille in der Hoffnung, zumindest vereinzelt den richtigen Winkel zu treffen, auf und ab und von links nach rechts kippte.

Dies tat ich auch noch, als das Schiff schon lange hinter dem Horizont verschwunden war. Ich weigerte mich aufzugeben. Genau das bringen sie einem doch als Kind bei, oder? Gib niemals auf, kämpfe weiter, halte durch, und am Ende wirst du dein Ziel erreichen.

Tja, mir war es nicht vergönnt.

Ich befand mich ganz alleine auf der abgelegenen tropischen Insel Kematia, weitab von allem, mit der Leiche meiner Verlobten als einzige Gesellschaft.

– Ich blieb eine geraume Weile im Schatten. Die Haut auf meinen Schultern und meinen Füßen hatte einen schweren Sonnenbrand davongetragen. Die Haare auf meinen Schienbeinen hatten anscheinend einen gewissen Schutz gegen die Sonne gebildet, da die Verbrennungen dort weitaus weniger übel ausfielen als auf meinen knallroten und schmerzenden Füßen, deren Haut sich straff und leicht geschwollen anfühlte. Bei meinen Schultern war es allerdings noch viel schlimmer. Ich drehte den Kopf so weit, wie es ging, und fand den Anblick der blutroten Schulterblätter kaum erträglich. Es war echt böse. Das konnte ich mit Gewissheit sagen. Ich untersuchte den restlichen Körper, meine Brust, meine Arme, meinen Bauch, meine Oberschenkel. Vorsichtig berührte ich das rote Fleisch. Ich strich mir mit den Fingern über meine Gesichtshaut. Wangen, Nase, Stirn. Es war nicht schön. Schultern und Füße hatte es besonders stark getroffen, doch insgesamt hatte der überwiegende Teil meines Körpers viel zu viel Sonne abbekommen.

Die Sonnencreme lag in unserer Strandtasche. Außerdem befand sich darin eines meiner T-Shirts. Ich fragte mich, ob es irgendwas bringen würde, meine Haut noch mit Lichtschutzmittel einzureiben, jetzt, da sie bereits verbrannt war. Abgesehen davon käme ich nicht an alle Stellen meines Rückens heran, und die Sonnencreme würde sowieso nur noch für wenige Tage reichen. Dennoch konnte es keinesfalls schaden, sie aufzutragen. Ich musste die Sonne meiden und meine Haut so umfassend wie nur möglich bedecken. Es war notwendig, das T-Shirt überzuziehen, und vielleicht konnte ich die Badehandtücher zu einer Art Rock oder Schürze umfunktionieren. Bislang waren meine Beine nicht so schwer verbrannt wie der Rest meines Leibes.

Mein Blick wanderte abermals zu Selinas leblosem Körper zurück. Ein Krebs huschte im Seitwärtsgang über ihren Bauch. Zwei weitere Krebse krabbelten im Sand zwischen ihren Füßen herum. Ich erhob mich, stieß einen unartikulierten Schrei aus und taumelte nach vorne.

Vor meinen Augen überschlug sich alles. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen und trieb Kokosmilch und Galle zu meiner Kehle hinauf. Ich keuchte. Kalter Schweiß bedeckte meine Stirn. Meine Beine fühlten sich wacklig an und schienen mir keinen Halt mehr zu gewähren. Ich brüllte wie ein wildes Tier. Wie ein Stier in einer spanischen Kampfarena, von Schmerz, Hass und einem durch die Luft geschwungenen roten Tuch in den Wahnsinn getrieben. Ich stürzte neben ihr auf die Knie, schlug mit der offenen Hand nach der Krabbe auf ihrem Bauch und beförderte sie in hohem Bogen davon. Dann widmete ich mich den Krebsen zwischen ihren Beinen und machte das Gleiche mit ihnen, bevor ich sah, dass weitere Viecher um sie herumwuselten. Eines davon kroch ihr Bein hinauf, ein anderes bahnte sich seinen Weg durch ihre langen dunklen Haare.

Und dann bemerkte ich die Fliegen.

Sie waren auf ihrem Gesicht. Rings um ihre Nase, ihre Augen und ihren Mund. Ihr schlaffer Kiefer war abgesackt, und ich beobachtete etliche Fliegen, die sich durch die geöffneten Lippen hineinschoben. Ich versuchte, die Fliegen von ihrem Gesicht zu wischen. Sie hatte Insekten seit jeher gehasst. Jetzt waren sie überall auf ihr und sogar in ihrem Inneren, wo sie wahrscheinlich bereits ihre schmutzigen Eier gelegt hatten, sodass die Maden sich an ihrem Fleisch laben konnten. Ich konnte es nicht aushalten. Das durfte ich nicht zulassen. Sie verdiente es nicht, auf diese Weise zu enden. Tot an einem Strand liegend, den Krebsen und Fliegen ausgesetzt. Es war eine Schande.

Es gelang mir, die überwiegende Menge der Fliegen fortzuscheuchen, bevor ich mir die aufdringlichsten Krabben schnappte und weit von mir schleuderte. Ich war gerade damit fertig, als die Fliegen auf ihr Gesicht zurückkehrten. Inzwischen strömte sie einen üblen Geruch aus. Ihr Bauch war leicht aufgedunsen. Durch das in die unteren Regionen ihres Körpers abgeflossene Blut war ihre Haut bläulich angelaufen. Hätte ich die Leiche umgedreht, wäre ich auf die dunklen Verfärbungen auf der Haut ihres Rückens gestoßen. Ich hatte mehr darüber gelesen, als ich zu diesem Zeitpunkt wissen wollte. Die tropische Hitze ließ ihren Leib in hoher Geschwindigkeit verwesen. Die Fliegen hatten ihre Eier gelegt. Ich hob behutsam ihre Hand. Sie fühlte sich kalt, fremd und auch ein wenig steif an, doch die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Auch das war wahrscheinlich auf die Tropenhitze zurückzuführen. Sie war tot. Sie war auf elende und sinnlose Art gestorben, und nun lag ihr Körper da wie ein Stück Abfall, während der Lauf der Natur bereits seinen Anspruch auf sie geltend machte. Sie war tot. Mir war klar, dass ich nicht das Geringste hätte tun können, um ihr Leben zu retten. Als die Seeleute uns im Stich gelassen hatten, war ihr Schicksal besiegelt worden. Ich hatte weder irgendwelche Medikamente noch eine Ahnung von Vergiftungen. Ich war Programmierer. Kein Arzt. Ich hatte sie gehalten, sie getröstet, ihr beruhigende Worte ins Ohr geflüstert, ich war den ganzen Tag und die ganze Nacht lang keine Sekunde von ihrer Seite gewichen, bis sie schließlich entschlafen war. Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Jetzt musste ich mich ums eigene Überleben kümmern und ihren sterblichen Überresten so viel Würde erweisen, wie in meiner Macht stand.

Die Gedanken rasten durch mein übermüdetes und überhitztes Hirn. Ich musste sie begraben. Als Grabwerkzeuge standen mir lediglich meine bloßen Hände und die Machete zur Verfügung, aber ich musste sie um jeden Preis begraben. Ich wusste, dass ich das tun musste. Es war meine unabänderliche Pflicht, ihre Leiche weiter den Strand hinauf zu schleppen, womöglich die ganze Strecke bis zu den Palmen, in deren Schatten ich mich ausgeruht hatte, und dort ein Loch in den Sand zu graben. Ich musste sie vor den Krebsen und Fliegen und sonstigen, welch auch immer hier lebenden Tieren in Sicherheit bringen. Im Regenwald wimmelte es wahrscheinlich nur so von Viechern. Oder ich konnte auch Steine sammeln und eine Grabstätte um die Leiche herum errichten. Wie auch immer, ich musste endlich handeln.

Doch mir fehlte die Kraft dazu. Ich konnte kaum aufrecht stehen. Alles drehte sich um mich. Heftige Übelkeit ließ mich fast kollabieren. Der Horizont neigte sich vor meinen Augen. Eine fette Möwe landete weniger als einen Meter von ihr entfernt und bewegte sich unverzüglich auf sie zu. Ich trat nach dem Vogel, der mit den Flügeln schlug und ein kurzes Stückchen weit die Flucht ergriff, nur um sich sogleich mit größerer Vorsicht wieder zu nähern.