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Finn Dever, ein nebenberuflicher Ermittler mit der außergewöhnlichen Gabe, die unmittelbare Zukunft zu sehen, steht vor seiner bisher größten Herausforderung. In Blackvale, einer Stadt im Südosten der USA, verbreitet ein brutaler Serienkiller, bekannt als der "Blackvale Ripper", Angst und Schrecken. Acht Opfer sind bereits auf grauenhafte Weise gestorben, und die Polizei tappt im Dunkeln. Als Finn zum Ermittler-Team um Detective Kate Okon stößt, glaubt er zunächst, nur seine einzigartige Fähigkeit nutzen zu müssen, um den Mörder zu finden. Doch was er nicht ahnt: Dieser Fall wird alles verändern. Was als routinemäßige Ermittlung beginnt, nimmt eine unheimliche Wende, als Finn erkennt, dass er das neueste Opfer persönlich kannte. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse, und Finn findet sich in einem tödlichen Katz-und-Maus-Spiel wieder. Aber das ist nicht das Schlimmste. Finn wird von einer unheimlichen Wahrheit eingeholt: Die Gabe, die er für sein wertvollstes Werkzeug hält, ist nur der Anfang. Denn in ihm lebt eine künstliche Intelligenz, die ihm weit mehr Fähigkeiten verleihen kann, als er je geahnt hätte. Und die Mordserie ist noch lange nicht vorbei – das Spiel hat gerade erst begonnen.
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2025
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1. eBook-Ausgabe 2025
1. Auflage
© 2025 Golkonda in der Europa Verlage GmbH, München
Lektorat: Silwen Randebrock
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,
Zürich, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock
Layout & Satz: Margarita Maiseyeva
Druck und Bindung: CPI, Leck
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-96509-075-0
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
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Ansprechpartner für Produktsicherheit
Europa Verlage GmbH
Monika Roleff
Johannisplatz 15
81667 München
Tel.: +49 (0)89 18 94 733-0
E-Mail: [email protected]
www.golkonda-verlag.com
Für Janna,Mats, Stine und Henry
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
DANKSAGUNG
GOOD MORNING BLACKVALE
VOR 11 MONATENBLACKVALE, 04. JULI 2023
NEWS
Sehen Sie als Nächstes: Kleines Mädchen brutal getötet –Hinweise führen zu ungelöstem Mordfall aus dem Mai.Die Leiche der siebenjährigen Lola Whitehouse wurde amWochenende in ihrem Elternhaus gefunden. Die Eltern hattendas Haus für ein paar Stunden verlassen und fanden nachder Rückkehr ihre Tochter erdrosselt und mit aufgeschlitztenAugenlidern im Wohnzimmer des Hauses. Aufgrund der Artder Verletzungen nimmt das Blackvale Police Departmentan, dass es Parallelen zur ungelösten Ermordung des vierundfünfzigjährigen Bauschlossers Kirk Vinage von vor zweiMonaten gibt. »Unsere Ermittler sammeln weiterhin Informationen, um zu verstehen, was passiert ist«, sagte uns CaptainTimothy Thake vom BPD. Nach Angaben des Revierleiterskann aktuell weder bestätigt noch dementiert werden, dass es sich um den gleichen Täter wie bei Kirk Vinage handelt, der im Netz mittlerweile als »Blackvale-Ripper« bezeichnet wird.
BLACKVALE, 17. JUNI 2024
17 Minuten
Julia Lang ahnte nicht, dass sie sich zum letzten Mal über Ethan ärgerte. Nie wieder würde sie hinter ihm herräumen. Nie wieder würde sie ihn maßregeln. Nie wieder würde sie sich mit ihm versöhnen. Nie wieder würde sie ihn in den Arm nehmen. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, an diesem Abend zu sterben. Nie im Leben hätte sie sich ausmalen können, dass ihr Sohn Ethan ihren Tod mit ansehen müsste.
15 Minuten
Auf dem Weg um die maßgefertigte Kücheninsel blieb Julias Pantoffel an einer klebrigen Stelle auf dem Parkettfußboden hängen. Ethan hatte schon wieder gekleckert. Und das, obwohl sie ihm extra gesagt hatte, er solle sich nicht auf sein Smartphone, sondern aufs Essen konzentrieren.
Sie fluchte leise und griff sich ein Leinenhandtuch vom Weinkühlschrank. Gebückt begutachtete sie den Fleck und widerstand dem Drang, ihn direkt wegzuwischen. Das macht er selbst, dachte sie.
»Ethan!«, rief sie so laut, dass es hoffentlich die Treppe hinauf zu hören war.
Ihre obligatorischen drei Sekunden verstrichen. Keine Antwort. Sie stapfte wütend aus der Küche, durchs Wohnzimmer in die offene Eingangshalle. Am Kirschholzgeländer der Treppe zum Obergeschoss blieb sie stehen. Ihre Stimme wurde deutlich lauter.
»Ethan, komm den Boden sauber machen! Du hast gekleckert.«
Keine Antwort. Hatte er wieder seine Kopfhörer aufgesetzt? Kurz überlegte sie, nach oben zu gehen und den Jungen in die Küche zu schleifen. Aber sie fühlte sich zu erschlagen für eine Auseinandersetzung. Kurz vor dem Essen hatte sie noch einen Besuch eines Vertriebsteams ihres Unternehmens absolviert. Außerdem warteten unzählige dienstliche E-Mails im Postfach, und sie kam schneller dazu, die noch abzuarbeiten, wenn sie selbst die Küche putzte.
Julia seufzte kurz. Wieder einmal keine vorbildliche Erziehung. Die traditionelle Mutterrolle passte einfach nicht zu ihr. Die Vorstellung, sich rund um die Uhr ums Kind zu kümmern und sich selbst zurückzustellen, hatte sich von Anfang an erdrückend angefühlt. Deshalb hatte es auch Melissa gegeben, die als Kindermädchen bei ihnen arbeitete. Mit seinen sechzehn Jahren war Ethan aber mittlerweile so eigenständig, dass sie Melissa schweren Herzens entlassen hatte. Für einen kleinen Moment wünschte sie sich, ihrem Sohn mehr bieten zu können und eine bessere Mutter zu sein.
5 Minuten
Mit dem frischen Duft von Zitrusreiniger und Lavendel in der Nase und einem großzügig befüllten Weinglas auf dem Couchtisch ließ sich Julia mit ihrem Laptop auf die Couch sinken. Trotz Ethan fühlte sie sich seit dem Auszug ihres Ex-Manns Robert verloren und allein in diesem zu großen Haus. Sie verfluchte Robert für seine Vorliebe für englischen Landhausstil und sich selbst dafür, dass sie zugestimmt hatte, mit ihm die Innenstadt von Blackvale zu verlassen und in einen stillen und abgeschiedenen Vorort zu ziehen.
Julias Blick huschte zum Fenster. Sie mochte ihre Geburtsstadt. Mit ihren 1,6 Millionen Einwohnern nicht zu groß und eine Stadt im Wandel. Moderne Architektur und innovative Unternehmen vor einem historischen Stadtbild. Mit pulsierenden Vierteln, in denen sie als Jugendliche nachts gerne herumspaziert war. Dort roch es nach Blackvale-Burgern und weichen Brezeln, und das Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit lag in der Luft. Sobald Ethan auf eigenen Beinen stand, würde sie sich nach einer neuen Wohnung näher an der Innenstadt und ihrer Arbeitsstätte umschauen.
Was war das für ein Geräusch? Julia drehte sich um und lauschte von der Couch in den Eingangsbereich hinein.
»Ethan?«
Stille. Julia schüttelte den Kopf. Dieses Haus schien dauerhaft unheimliche Geräusche zu produzieren. Jedes Knarren des Bodens, jedes Rascheln des Vorhangs fand sein Echo. Bis zu Roberts Auszug bei der Trennung vor sieben Jahren hatten sie diese Geräusche mit Musik oder dem leisen Hintergrundrauschen des Fernsehers überspielt, beide jeweils über dem eigenen Laptop tief in die Arbeit versunken. Nun war das Wohnzimmer nur noch selten mit Leben erfüllt.
Julia ertappte sich beim Wunsch, lieber im Büro zu sein. Sie vermisste die langen konzentrierten Abende vor ihren Zahlentabellen, an denen im gesamten Gebäude nur noch bei ihr Licht brannte. Diese Atmosphäre entspannte sie. Und ihr fehlte ihr zweiter Monitor.
Besorgt starrte sie auf ihren Laptop. Sie brauchte Nervennahrung. Julia stand auf und schlängelte sich um die cremefarbene Couch in Richtung Küche. Ihr Blick streifte die Treppe in der Eingangshalle. Für einen Moment dachte sie, Ethan wäre nach unten gekommen.
Beim Öffnen des Kühlschranks stieg ihr der Duft von Curry und Zwiebeln in die Nase. Außerdem lag dort ein Stück dunkle Schokolade, verlockend und verführerisch. Dieser kleine Moment der Belohnung nach den komplexen Nachforschungen, die ihr in den letzten Monaten Bauchschmerzen bereitet hatten, erschien ihr mehr als verdient.
1 Minute
Mit neuem Elan steuerte Julia ihren Laptop auf dem Couchtisch an. An eine ruhige Nacht war nicht zu denken. Morgen würde es auf der Arbeit ungemütlich werden.
Hinter ihr knackte es. Ein Blick über die Schulter. Wieder nichts.
Das letzte Tageslicht war verschwunden, und die Eingangshalle zu ihrer Linken lag im Dunkeln. Julia machte einen halben Sprung auf die Couch zu, um die knarzende Diele zu vermeiden.
Sie hätte nicht sagen können, was sie als Erstes bemerkte. Das Trittgeräusch hinter ihr? Den Luftzug einer Bewegung über ihrem Kopf? Das leichte Rascheln einer Jacke direkt an ihrem Ohr? Sie war nicht allein im Wohnzimmer.
Die Schlinge um den Hals nahm ihr sofort die Luft zum Atmen. Sie verlor den Halt und kippte nach hinten gegen etwas Hartes. Im Reflex versuchte sie, das, was sich wie ein dicker Draht anfühlte, wegzuziehen. Ihre Finger tasteten Blut. Es fühlte sich an, als ob ihr Kiefer zur Nase gedrückt wurde. Ihre Augen traten hervor, und sie suchte vergeblich strampelnd Halt mit den Beinen. Als ihre Füße schließlich den Boden fanden und sie versuchte, ihren Oberkörper hochzustemmen, zog sich die Schlinge fester. Sie spürte, wie sich jemand von hinten an sie presste, versuchte, sich nach links und rechts zu werfen, aber der Kopf schien wie festgetackert an der Person hinter ihr. Ihre zappelnden Füße erwischten den Couchtisch, der Laptop krachte zu Boden. Ihr Herz raste. Ihre Lunge rang nach Luft. Die Welt um Julia herum löste sich auf. Wie ein Schleier, der sich über die Augen legt. Verzweifelt zuckte ihr Blick seitlich in Richtung der Eingangshalle, als könne überraschend jemand zur Hilfe kommen. Sie erfasste das obere Ende der Treppe. Ethan kauerte oben auf dem Treppensims, seine Augen weit aufgerissen und auf das Schreckliche fixiert, das sich vor ihm entfaltete. Sein blasses Gesicht ließ Julia erstarren. Die leicht geöffneten Lippen des Jungen zitterten. Während die Welt um sie verschwand, tauschte Julia Lang einen letzten Blick mit ihrem Sohn aus.
GOOD MORNING BLACKVALE
VOR 10 MONATENBLACKVALE, 26. JULI 2023
NEWS
Lon: Wir schalten jetzt live nach Downtown Blackvale. Cathy Newham ist für uns vor Ort. Cathy, die Polizei hat mittlerweile bestätigt, dass der Ripper ein weiteres Opfer auf dem Gewissen hat. Was kannst du uns dazu sagen?
Cathy: Danke, Lon. Bei dem Opfer handelt es sich um den einunddreißigjährigen Busfahrer Timothy Renard. Auch diese Tat weist auffällige Gemeinsamkeiten zu den bisherigen Morden an Kirk Vinage und Lola Whitehouse auf, was die Ermittler zu dem Schluss führt, dass es sich um ein und denselben Täter handelt. Alle Opfer wurden in ihren eigenen Häusern angegriffen, erdrosselt und wiesen laut Polizei kleine Schnitte auf den Augenlidern auf. Eine Mordwaffe wurde bisher nicht gefunden, und es gibt es keine klaren Hinweise auf ein spezifisches Motiv. Ein Bekennerschreiben existiert nicht. Die Opfer scheinen wahllos ausgewählt worden zu sein, was die Ermittlungen erheblich erschwert.
BLACKVALE, 17. JUNI 2024
Finn Dever öffnete die gesicherte App und tippte die Nachricht schnell in sein Smartphone.
VisionFox: Keine Hinweise, nächste Sackgasse, sorry.
Er wartete kurz, bis eine Antwort auf seinem Display erschien.
JTR888: Ernsthaft? Gar nix?
VisionFox: Nada. Unauffällig.
JTR888: Das nervt. Ich bleib dran. Wenn was kommt, sag ich Bescheid.
Er klappte sein Smartphone zu und atmete tief durch. Langsam drehte er den Türknauf zu seinem Apartment, bereit, sich bei Elia für sein spätes Kommen zu entschuldigen. Hoffentlich würde sie das Fehlen seines Rucksacks nicht bemerken.
* * *
Was eine Katastrophe für den Jungen! Detective Kate Okon stand mitten in Julia Langs Wohnzimmer. Der metallische Geruch von Blut hing schwer in der Luft und drängte sich mit jedem Atemzug in ihre Nasenlöcher. Sie hatte sich ein grobes Bild des Tatorts verschafft. Leider hatte sie schon zu viele gesehen, und dieser kam ihr nur zu vertraut vor. Doch der Junge brachte eine neue, zusätzliche Komponente hinein. Ihre eigenen Gefühle widerten sie an. Ein sechzehnjähriges Kind musste den brutalen Tod seiner Mutter verkraften, und sie dachte nur daran, dass dies endlich ein entscheidender Schritt im Fall sein könnte. Denn diesmal hatte jemand überlebt.
Kate strich sich durch ihr schokoladenbraunes Haar und fummelte unbehaglich an ihrem Blazer. Es musste für die anderen offensichtlich sein, dass sie ihn in Eile aus dem Schrank gegriffen hatte, als der Anruf des Captains kam. Er war zu klein und passte nicht zu Jeans und Pullover.
Mit ihrem Freund Steven zu Hause war sie bereits dabei gewesen, ins Bett zu gehen. Wer rechnete auch um diese Zeit noch mit einem Anruf? Dann jedoch wurde sie hellwach. Ihr erster Fall als frischgebackene Leiterin eines Ermittlungsteams. Die erste richtige Möglichkeit, sich zu beweisen. Sie knetete ihre schwitzigen Finger.
Als Jüngste im Team rechnete sie fast schon mit der Frage, ob sie der Rolle gewachsen sein würde. Seit dem ersten Tag im neuen Amt fühlte sie sich beobachtet und bewertet. Auch wenn es für sie zur Normalität geworden war, in ihrem Studium der Polizeiwissenschaften sowie als Ermittlerin des Monterey Police Departments stets als Jahrgangsbeste aufzufallen, fühlte sie sich in der neuen, exponierten Rolle plötzlich im gleißenden Rampenlicht.
Kate schwenkte ihren Blick aus Julia Langs Wohnzimmer hinüber in die pompöse Eingangshalle. Sie suchte Augenkontakt zu ihrem Ermittler Brad Hale und signalisierte ihm per Handzeichen, zu ihr zu kommen. Der Detective schob seinen stämmigen Körper wie einen Lastwagen zwischen den umgestürzten Möbeln hindurch. Es sah aus, als ob Brad an diesem Abend ausgegangen war. Kate hatte auf dem Revier aufgeschnappt, dass er dafür bekannt war, aus dem Dating einen Wettkampf zu machen. Nun roch sie seine warme und holzige Duftwolke bis ins Wohnzimmer, und sein Bodyfit-Shirt passte mehr zu einem Discobesuch als zu einem Tatort. Kate musste schmunzeln. Was um Himmels willen hatte ihn bewogen, sich in so enge Kleidung zu zwängen? Seine athletische Figur war noch immer erkennbar, und früher, mit ein paar Kilos weniger auf den Rippen, mochte es gepasst haben. Jetzt sah es einfach nur unvorteilhaft aus.
Brad baute sich direkt vor ihr auf. Für ihr Gefühl deutlich zu nah.
»Wie sieht’s aus?«, raunte sie ihm genervt entgegen. Sein Eindringen in ihren persönlichen Bereich empfand sie als aufdringlich.
»Du siehst ganz schön fertig aus.« Brad musterte ihr Outfit.
Kate zog die Augenlider hoch. »Der Fall bitte …« Sie trat einen Schritt zurück.
Brad deutete auf die Leiche am Boden. »Julia Lang … nee, Moment, Dr. Julia Lang. Tot seit circa neunzig Minuten. Ihr Junge, Ethan, hat die Polizei gerufen.«
»Hat er die Tat gehört oder gesehen?« Kate strengte sich an, nicht euphorisch zu klingen.
»Keine Ahnung, bis jetzt schweigt er. Ich lass das Gerda mal machen.« Brad grinste.
Richtige Entscheidung, dachte sich Kate. Obwohl sie sowohl Brad als auch ihre zweite Ermittlerin Gerda erst kurz kannte, hatte Kate das Gefühl, dass Gerda mehr Einfühlungsvermögen bei der Befragung des Jungen aufbringen würde, als Brad es in seinem ganzen Leben besessen hatte.
»Was wissen wir über den Tathergang?« Den Kopf in den Nacken gelegt, blickte Kate hinauf zu Brads Gesicht.
»Sie wurde von hinten erdrosselt. Es sieht danach aus, als hätte sie sich gewehrt«, antwortete er mit seiner auffallend tiefen Stimme. »Ich vermute, dass es beim Kampf ganz schön rundging. Ich denke, sie hat getreten. Hat einiges erwischt.« Mit dem Finger deutete Brad auf den Tisch im Wohnzimmer und den aufgeklappt auf dem Kopf stehenden Laptop auf dem Boden daneben.
»Was ist mit den Schnitten?«
In die Hocke gehend, ließ Brad seine Hand in der Luft über Julia Langs Augenlider gleiten. »Zwei klare Schnitte, wie immer. Größe passt zu einem Cuttermesser.«
»Die Finger und Zehen?«
»Ohne Schnitte.« Brad zuckte mit den Achseln.
»Komisch.«
»Er könnte es trotzdem gewesen sein. Vielleicht hatte er keine Zeit wegen dem Jungen.«
Kate zog den rechten Mundwinkel nach oben und drehte den Kopf leicht zur Seite, sodass ihr eine Strähne ihres eilig zum Dutt gebundenen Haars ins Gesicht rutschte. »Ich weiß nicht. Wenn er den Jungen gesehen hat, wieso hat er ihn nicht auch umgebracht? Der Junge ist ein Risiko.«
»Vielleicht hat der Täter ihn nicht gesehen. Oder der Junge war schneller am Telefon, als es dem Täter lieb war. So ein Bursche hat doch heutzutage schnell die Finger am Handy.« Brad rümpfte die Nase, während er mit seinem luxuriösen Smartphone wedelte.
Kates Gedanken liefen auf Hochtouren. War er das wieder, dieser Serienkiller, den die Presse als Blackvale-Ripper bezeichnete? Genau diesen Fällen hatte sie ihre neue Position beim BPD zu verdanken. Kurz bevor sie für die Stelle beim Blackvale Police Department empfohlen wurde, hatte sie gehört, dass der Captain des Reviers, Timothy Thake, die Geduld mit ihrem Vorgänger verloren hatte. Seit fast einem Jahr hielt der Blackvale-Ripper die Stadt in Atem, und immer noch gab es keinen Fortschritt bei den Ermittlungen. Jede Tat ein sorgfältig inszeniertes Schauspiel des Terrors. Mit eiskalter Präzision, die Opfer scheinbar zufällig ausgewählt. Falls Julia Lang auch ein Opfer des Rippers war, dann hatte er innerhalb von elf Monaten ein neuntes Mal zugeschlagen.
Die Bilder der Opfer waren jederzeit abrufbereit in Kates Kopf. Zu lange und zu intensiv hatte sie die Fotos in den Akten angestarrt. Immer das gleiche Muster. Sechs Schnitte. Beide Augenlider, beide Zeigefinger, beide großen Zehen. Wahrscheinlich mit einem Cuttermesser. Post mortem. Es gab viele Hinweise. Jeder in der Stadt schien etwas zu wissen. Aber nirgends bildete sich ein Muster, und alle vermeintlichen Spuren hatten bisher in einer Sackgasse geendet.
Nun lag der Fall bei Kate. Ihr bisher größter – und ihr erster als leitende Ermittlerin. Noch immer wunderte sie sich, wie sie diese Stelle trotz ihrer Unerfahrenheit bekommen hatte. Das Risiko zu scheitern war hoch.
* * *
Das schrille Klingeln des Smartphones übertönte die romantische Szene im Fernseher. Finn reagierte sofort und versuchte, seine vom Popcorn klebrigen Finger am Kissen abzustreifen.
»Um halb neun? Schon wieder?« Elia rollte mit den Augen. »Wer ruft denn jetzt an?« Ihre Hand löste sich von seinem Knie.
Mit verzogenem Gesicht zeigte Finn ihr das Display und blickte sie entschuldigend an. »Es ist Kelly.«
Elia grummelte kurz und nahm sich ihr eigenes Smartphone. Bei seiner Schwester konnte sie schwer etwas sagen, weil sie im Vergleich zu Finn eine noch engere Beziehung zu ihrer eigenen Familie pflegte und überall und jederzeit für diese erreichbar war.
»Hi, alles okay?«, meldete sich Finn.
Kelly flüsterte. »Es gibt wieder eine Leiche.« Der ruhige Ton passte gar nicht zu seiner ausgeflippten, lauten Schwester.
»Kann ich zu dir kommen?« Er vermied es, Elia anzuschauen, weil er ihre Reaktion vorausahnte. Schließlich war er erst vor fünfzehn Minuten angekommen.
»Finn, ich finde das langsam auffällig.« Kellys Ton am Telefon änderte sich und ähnelte dem von Elia kurz zuvor.
»Ich war das letzte Mal vor einem Monat bei euch auf dem Revier.«
»Das ist aber das letzte Mal. Sonst rufe ich nicht mehr an.«
»Ich habe dich auch lieb …«, erwiderte Finn, während er von der Couch aufstand. »In einer halben Stunde bin ich da. Danke.«
Sich zu Elia wendend, die ihn ignorierte und scheinbar gebannt auf den Fernseher starrte, hielt Finn einen Moment inne. Ihre natürliche Schönheit mit ihrem dunklen, lockigen Haar, das in sanften Wellen über ihre Schultern fiel, faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Im Vergleich zu Elia empfand er sein eigenes Aussehen als gewöhnlich, obwohl er mit seinem Dreitagebart, der sportlichen Figur und seinem schwungvoll nach hinten gestylten Haar bei den Frauen gut ankam. Seine stylische, runde Brille mit dem schmalen Metallrahmen trug seiner Meinung nach erheblich dazu bei.
»Ich mache es wieder gut. Ich gehe morgen später zur Arbeit.« Seine Hand suchte ihre.
»Geh, du würdest es ja sowieso machen.« Die Enttäuschung in Elias Stimme war unüberhörbar. Mit ihrer sonst leidenschaftlich aufbrausenden Art kam er besser zurecht. Sie fixierte ihn eindringlich aus ihren tiefgründigen Mandelaugen. »Das muss aber besser werden. Du bist nur noch unterwegs. Du warst ja gar nicht wirklich hier.« Sie zupfte ihr weißes Nachthemd zurecht.
»Wird es.« Finn zog sie zu sich, atmete ihren geliebten sanften Duft von Jasmin und Rosen tief ein und küsste sie leidenschaftlich. Nun konnte er mit einem besseren Gefühl gehen.
* * *
Gerdas Befragung von Ethan hatte nicht viel ergeben. Der Junge gab an, von oben ein Geräusch gehört zu haben und daraufhin aus seinem Zimmer nach unten gegangen zu sein. Dort hatte er seine Mutter gefunden und sofort den Notarzt gerufen. Den Täter habe er nicht gesehen.
Während Gerda ihr Gespräch mit dem Jungen zusammenfasste, bemerkte Kate, wie intensiv sie Ethan von Weitem angestarrt hatte. Er passte nicht in diese Umgebung. Waren es seine vormals akkurat nach hinten gegelten Haare, die mittlerweile über seinen kurz rasierten Seiten schlaff herunterhingen? Oder sein zu großer schwarzer Hoodie mit der Aufschrift »Skip school and make money«, der seine dünne Gestalt kaschierte? Er sah für Kate eher aus wie ein Rebell als wie ein Sprössling aus reichem Elternhaus.
Was ging in diesem Jungen vor? Wie konnte man in seinem Alter so eine Tragödie verkraften? Mit zitternden Lippen saß Ethan auf der Treppe und starrte aus wasserblauen Augen gedankenverloren vor sich hin. Aufgrund der tiefen Augenringe wirkte er älter als sechzehn. Beim Anblick seiner Tränen, die dunkle Flecken auf seiner Hose bildeten, überkam Kate ein Gefühl der Hilflosigkeit. Seine Mutter würde nie zu ihm zurückkehren.
»Was meinst du?« Gerdas Frage holte sie in das Gespräch zurück. Kate blickte auf die kleine, rundliche Frau mit ihrer dunkelvioletten Brille. Anders als Brad hatte sie Gerda mit ihrer liebevollen und ruhigen Art direkt gemocht.
»Zum Jungen?«, fragte Kate.
»Nein, ob es ein neuer Ripper-Fall ist.« Gerda schien zu merken, dass Kate in Gedanken versunken war.
Kate konnte den Namen Blackvale-Ripper nicht leiden. Ein solch furchteinflößender Titel ließ so eine schlimme Person zu einer faszinierenden Figur werden. In den Medien hatte sich der Spitzname für den Serienkiller jedoch etabliert.
»Ich bin mir unsicher«, erwiderte Kate. Der Öffentlichkeit hatten sie nur die Schnitte auf den Augenlidern mitgeteilt, nicht die Schnitte an Fingern und Zehen, die er seinen bisherigen acht Opfern zugefügt hatte. »Warum sollte er diesmal nur Teile seines Musters anwenden und Finger und Zehen nicht einschneiden? Das macht doch keinen Sinn.« Gerda nickte zustimmend. Mit der Hand schob sie ihr schulterlanges, dunkles Haar nach hinten.
»Wenn wir gleich fertig sind, bring den Jungen bitte aufs Revier. Er kann nicht allein bleiben.«
Kate drehte sich von Gerda weg und ging zurück ins Wohnzimmer der Langs. Während die Spurensuche Beweise sicherte und Fotos schoss, stand Brad an die Couch gelehnt und tippte auf seinem Smartphone. Kate stellte sich zu ihm und musterte die Leiche von Julia Lang noch einmal intensiv. Bis jetzt wussten sie nicht viel über die Tote. Ihr Personalausweis hatte sie als neunundvierzig Jahre alt ausgewiesen, und laut Onlineprofil arbeitete sie als »Chief Financial Officer (CFO)« und damit Leiterin des Finanzbereichs von Hearium, einem auf In-Ear-Headsets spezialisierten Unternehmen. In diesem Job verdient man gut, konstatierte Kate beim Blick auf die luxuriöse Einrichtung. Als Notfallkontakt hatte Julia Lang einen Robert Lang eingetragen, den Brad bisher nicht erreicht hatte.
»Wissen wir schon, wie der Täter reingekommen ist?« Der raue Ton ihrer Stimme fiel ihr selbst auf, aber sie konnte es nun einmal nicht leiden, wenn Ermittler am Tatort an ihren privaten Smartphones herumfummelten.
Brads schmale, braune Augen schnellten nach oben. »Ähm …«, stammelte er, um sich zu sammeln. »Die Hintertür ist eingetreten. Gewaltsames Eindringen denke ich. Ansonsten haben wir nicht viel festgestellt.« Sein Smartphone verschwand schnell in seiner linken Hosentasche.
»Hat sie Abwehrspuren am Körper?«
»Die Pathologie hat noch nichts gefunden. Ich sehe keine.« Brad fuhr sich durch seine kurzen, akkurat geschnittenen Haare.
Kate nickte. Die Puzzleteile schienen bisher überhaupt nicht zusammenzupassen.
* * *
Finns Körper vibrierte vor Adrenalin. Die Straßen wurden breiter, die Gebäude höher und der Verkehr dichter, je näher er der Innenstadt kam. Sein Puls beschleunigte sich, die Hoffnung auf neue Hinweise ließ sein Herz wild pochen. Er zwang sich, ruhiger zu werden. Doch das, was er tat, fühlte sich nicht wie ein Hobby an. Für ihn war es mehr als das Teilen von Informationen in irgendwelchen Foren. Er hatte Elia zwar gesagt, dass es seinen eigenen Schmerz linderte, durch seine Mitarbeit an Podcasts und Onlineermittlungen seinen Beitrag zur Suche nach dem Ripper beizusteuern. Tief innen wusste er aber, dass er sich immer weiter in seinen Schmerz vertieft hatte und den Gedanken nicht loslassen konnte, dass seine Fähigkeiten ihm geradezu die Verpflichtung auferlegten, den Ripper zu stellen. Er sah es als seine Bestimmung.
Er vermisste Lola. Die Erinnerung an das tragische und sinnlose Schicksal seines Patenkinds schmerzte noch immer. Sie fehlte ihm, diese lebhafte, liebevolle, kleine Seele, die viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Ab dem Tag, als er sie zum ersten Mal sah und ihr Vater, sein seit eigenen Kindheitstagen bester Freund Simon, ihm mitgeteilt hatte, dass er der Patenonkel sein würde, war sie sein Ein und Alles. Jahrelang hatte er Lola mindestens einmal pro Woche bei Simon und dessen Frau Steph besucht.
Er erinnerte sich an ihre strahlenden Kinderaugen, voller Neugier und Lebensfreude. An ihr ansteckendes Lachen, das den Raum erhellte. An ihre vertrauensvolle Umarmung, die ihm immer wieder Trost und Freude geschenkt hat. An all die kleinen Momente: ihre Abenteuer im Park, ihre Ausflüge zum Eisessen und ihre gemütlichen Nachmittage, an denen sie Spiele gespielt und gelacht hatten.
Der Gedanke daran, dass Lolas junges Leben auf so grausame Weise beendet worden war, brach ihm das Herz. Was hätte er darum gegeben, sie, die er wie ein eigenes Kind liebte, zurückzubringen und sie vor allem Schaden und Leid dieser Welt beschützen zu können.
Zehn Monate lag der schwarze Tag nun zurück. Simon hatte Finn angerufen. Der saß in seinem Wagen vor einem Kundentermin und überflog gerade beim ersten Kaffee des Tages seine Notizen. Der Schmerz über die unfassbare Nachricht war tief in seinen Magen gefahren und hatte eine Wunde hinterlassen, die kaum zu heilen war. Ein Gefühl der Leere, eine quälende Erinnerung. Die Welt war seitdem nicht mehr dieselbe, alles Lachen weniger hell und sein Herz schwer beladen mit Trauer und Verlust.
Finn war wütend, dass die Polizei den Blackvale-Ripper immer noch nicht gefasst hatte. Seine Gedanken sprangen zurück zu Elia. Nach dem Umzug in die gemeinsame Wohnung vor einem Jahr hatte sie sicherlich nicht davon geträumt, dass Finn sich Abend für Abend mit den Mordfällen beschäftigte. Er liebte sie dafür, dass sie für seine Hartnäckigkeit Verständnis aufbringen konnte. Schnell hatte sie erkannt, wie sehr ihm wegen Lolas Tod die Aufklärung der Ripper-Morde am Herzen lag. Mit verständnisvollem Lächeln sah sie darüber hinweg, dass er auf der Couch stundenlang neben ihr am Smartphone hing und akribisch Foren und Datenbanken durchforstete und Theorien mit Gleichgesinnten diskutierte. Ihr war jedoch nur die Spitze des Eisbergs bekannt. Die düsteren Facetten dieser Besessenheit hielt er vor ihr verborgen.
Finn hatte seine Freundin in letzter Zeit spürbar vernachlässigt. Elia war in einer italienischen Großfamilie mit sechs Geschwistern aufgewachsen und würde bald die nächsten Schritte Richtung Hochzeit und Kind gehen wollen. Sie waren seit mittlerweile sechs Jahren zusammen, und ewig würde Elia nicht mehr warten, wenn er nicht allmählich dem Fortgang ihrer Beziehung genauso viel Leidenschaft widmen würde wie seiner privaten Informationssammlung im Fall des Blackvale-Rippers.
Egal. Das Thema konnte warten. Jetzt drehte sich Finns Welt um die neue Leiche. Und um mögliche Spuren. Er beschleunigte seinen alten Ford. Bei jedem Tritt aufs Gaspedal schepperte es im Wagen. In der Werkstatt hatten sie die Probleme also immer noch nicht beheben können. Elia, ständig besorgt über den Zustand des Autos, hatte den Ford heute erst von der Reparatur abgeholt. Freiwillig würde Finn den Wagen aber nie auf den Schrottplatz bringen. Er hatte sich vom ersten Moment in die massiven Stoßstangen und den breiten Kühlergrill verliebt. Trotz der Rostflecken auf der Karosserie und der verblassten Farbe strahlte der alte Ford für ihn eine unerschütterliche Stärke und Zuverlässigkeit aus. Dieser Wagen würde ihn nicht im Stich lassen.
Finn griff in seine Tasche. Personalausweis und Zugangskarte zum Blackvale Police Department waren, wo sie sein sollten. Hoffentlich würde der Abend auf dem Polizeirevier erkenntnisreich werden.
* * *
Ein letzter flüchtiger Blick durch Julia Langs Küche, dann hatte Kate genug gesehen. Sie beschloss, aufs Revier zu fahren und den morgigen Tag vorzubereiten. Steven würde ohnehin nicht mehr auf sie warten. Er fuhr in seine Wohnung, wenn sie lang arbeitete. Mit schnellen Schritten durchquerte sie das Wohnzimmer. Der Geruch von Blut und Tod, vermischt mit dem dumpfen Aroma von Schweiß der Beamten vor Ort, stand ihr in der Nase. An der Eingangstür atmete Kate befreit die frische Nachtluft ein.
»Kate, warte«, rief Gerda, ihr nacheilend. »Der Junge kommt dann mit aufs Revier?«
»Habt ihr den Vater erreicht?«
»Am Handy geht niemand ran.« Gerda flüsterte. »Ethan will nicht zu seinem Vater.«
Eine tiefe Furche zog sich über Kates Stirn. »Warum das denn nicht?«
»Scheinen sich nicht zu verstehen.« Gerda zuckte mit den Achseln.
Kopfschüttelnd nestelte Kate in ihrer Tasche nach den Schlüsseln ihres Dodge Charger. »Weiter beim Vater versuchen. Mr. Lang soll ins Revier kommen. Ich will mit ihm sprechen.«
Gerda nickte und entschwand im Haus.
Das laute Röhren eines Sportwagens durchbrach die aufkommende Stille der Nacht. Die Beamten vor dem Haus griffen instinktiv an ihre Waffen. Ein Aston Martin rauschte die Straße entlang und kam mit quietschenden Reifen direkt vor der Absperrung zum Stehen. Der Fahrer stieg aus und wollte dem Beifahrer die Tür aufhalten. Der stürmte aber schon an ihm vorbei auf den ersten Polizeibeamten zu. Dieser hob das Sperrband hoch, drehte sich um, und nachdem er Kate im Türrahmen erkannt hatte, deutete er mit dem Finger auf sie.
Schnellen Schrittes stapfte der Mann auf sie zu. Vielleicht der Vater des Jungen, dachte sich Kate. Maßgeschneiderter Anzug, groß gewachsen, leicht angegraute Haare. Jede Falte des Anzugs sorgfältig geglättet, das Hemd stilvoll und kostspielig, die Krawatte akkurat gebunden. Dieser Auftritt signalisierte Macht und Erfolg zugleich.
»Detective Okon?«, fragte er mit tiefer, klangvoller Stimme, während er Kate durchdringend musterte.
»Genau. Und Sie sind?«
Der Mann reichte ihr die Hand. »Bryan Malah, CEO, also Geschäftsführer von Hearium. Julia war meine Mitarbeiterin.«
Kate hatte das Gefühl, Bryan versuche bewusst, ihre Hand zu zerquetschen.
»Sie sind einer von Julia Langs Notfallkontakten?«, fragte Kate, obwohl sie die Antwort kannte.
»Ich war auch verwundert«, antwortete Bryan schulterzuckend.
»Standen Sie sich näher?«
Bryan rieb sich nachdenklich das Kinn, während sein Blick ins Leere ging. Es wirkte auf Kate, als würde er verschiedene Möglichkeiten in seinem Kopf abwägen. »Sie ist eine langjährige Mitarbeiterin. Nicht mehr, nicht weniger. Wir haben viel zusammen durchlebt.«
»Gibt es einen Mann oder Freund?«
»Julia ist geschieden. Robert, Julias Ex-Mann, lebt in der Nähe. Von einem Freund ist mir nichts bekannt.« Zur Seite geneigt, versuchte Bryan, an Kate vorbei ins Haus zu sehen.
»Und Familie?«, fragte die Ermittlerin und schob ihren Körper in sein Blickfeld.
»Ich weiß nicht.« Bryan blickte zum Fenster. »Die wohnt ganz woanders.« Er streckte seine Brust heraus und baute sich vor ihr auf. »Kann ich sie sehen?«
»Wir sind in der Beweisaufnahme. Niemand geht ins Haus«, erwiderte Kate mit einem Kopfschütteln.
Auf Bryans Gesicht spiegelte sich die Überraschung eines Mannes, dem ansonsten das Wort »Nein« nicht häufig zu begegnen schien. »Ich bin ihr Notfallkontakt. Sie können mich begleiten, und ich fasse nichts an.« Es klang wie eine Aufforderung.
»Mr. Malah, niemand betritt den Tatort.« Kate stand instinktiv auf ihren Zehenspitzen. »Warum glauben Sie, dass Sie der Notfallkontakt sind?«
Bryans Gesichtsausdruck blieb undurchdringlich. »Wir arbeiten zusammen. Wir haben das Unternehmen fast von null auf groß gemacht. Ich würde meine Führungskräfte nicht als Freunde bezeichnen, aber sie sind nicht weit davon entfernt. Julia gehört zum engeren Kreis. Also, gehörte …«
»Wann haben Sie Mrs. Lang zum letzten Mal gesehen?«
»Heute.« Bryan überlegte kurz. »Wann ist sie gegangen? Gegen fünf?«
»Ich kann Ihnen das nicht sagen«, wunderte sich Kate über die Frage.
»Detective Okon, ich verstehe vollkommen, dass Sie Ihre Arbeit machen müssen. Was kann ich tun, um Julia kurz zu sehen?«
Die beiden starrten sich intensiv an
»Mr. Malah, aktuell geht niemand ins Haus.«
Bryan knirschte mit den Zähnen und nickte.
Kate fuhr fort. »Mein Kollege würde Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen. Wären Sie so freundlich, uns aufs Revier zu begleiten?«
Nach einem Moment des Zögerns entsperrte Bryan sein Smartphone. »Ich kann Sie kurz begleiten. Aber nur kurz. Ansonsten kommen Sie gerne morgen zu mir ins Büro. Meine Assistentin räumt Ihnen Zeit für eine Befragung ein. Guten Abend, Detective.«
Im Gehen warf Bryan noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Haus. Kate fragte sich, ob mehr hinter seiner Beziehung zu Julia steckte, als er zugegeben hatte.
* * *
Er spürte es direkt beim Betreten des Polizeireviers. Etwas war anders. Obwohl er hier in den letzten Monaten schon häufiger zu Gast sein durfte, hatte er es nie im Revier gespürt. Dieses euphorische Gefühl. Als würde sein Kopf leuchten. Als würde in seinem Gehirn ein zusätzliches Licht angehen. Finn liebte das. Ein Ruck schüttelte seinen gesamten Körper.
Schon früh in seiner Kindheit hatte er gemerkt, dass es Situationen in seinem Leben gab, in denen ihn dieses Gefühl übermannte. Er nannte dies immer seine magischen Momente. Er hatte keine Ahnung, was das euphorische Gefühl in ihm auslöste und wie lange es dauerte. Von wenigen Minuten bis hin zu mehreren Stunden hatte er schon alles erlebt. Es wurde ein ständiger Begleiter in seinem Leben.
Einen der ersten Momente mit dem euphorischen Gefühl im Kopf, an den Finn sich erinnerte, hatte er beim Wechsel auf die Mittelschule. Voller Adrenalin und Emotionen stand er mit den anderen Schülern in der großen Aula. Hunderte von neuen Gesichtern. Und sein Gehirn wurde vom euphorischen Gefühl förmlich durchflutet. Er genoss es, hatte damals aber Angst, weil er diesen Zustand nicht zuordnen konnte.
Schnell hatte er herausgefunden, wie er diese Momente für sich nutzen konnte. Ein damals zufälliger, heute bewusst eingesetzter tiefer Blick in die Augen eines Menschen versetzte ihn in die Lage, eine Vision von dessen naher Zukunft zu erhalten. Damals in der Schulaula hatte der Blick in die Augen einer Mitschülerin ihm verraten, dass diese wenig später den Treppenabsatz herunterstolpern und sich ein Band im rechten Fuß reißen sollte. Verängstigt von dem, was ihm passierte, hatte Finn das als lebhaften Tagtraum abgetan und ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt. Als er später hörte, dass seine Vision Wirklichkeit geworden war, bekam er Angst vor sich selbst.
Seitdem hatte Finn mit seiner Gabe leben gelernt. Wann immer er das euphorische Gefühl in seinem Kopf spürte, versetzte es ihn in die Lage, mit einem vom ihm initiierten tiefen Blick in die Augen eines Menschen, eine solche Vision auszulösen und für sich zu nutzen. Als Teenager waren seine Visionen noch bruchstückhaft oder unzuverlässig gewesen. Doch mit den Jahren veränderten sie sich. Die Bilder wurden schärfer, die Farben intensiver, und aus vormals vereinzelten Eindrücken formten sich lebendige Szenen. Plötzlich beobachtete er Momente aus der Zukunft kristallklar und detailreich.
In seiner Jugend hatte Finn die Bibliothek nach Literatur zu seiner rätselhaften Fähigkeit durchsucht und versucht, im Internet etwas darüber zu finden. Erfolglos. Über die Jahre hatte er die Hoffnung auf Erklärungen allmählich aufgegeben. Eine Klarheit aber hatte er: Er brauchte dieses euphorische Gefühl, diese Explosion in seinem Kopf. Leider konnte er das nicht bewusst erzeugen. Er war der Unberechenbarkeit des Zufalls ausgeliefert.
Über die Jahre hatte er sich aber eine eindrucksvolle Kontrolle beim Umgang mit den Visionen erarbeitet. Wie bei einem Film konnte er sich das, was gleich geschehen würde, in Ruhe ansehen. Diese aufsehenerregende Fähigkeit hatte ihm viele Türen geöffnet, vor allem aber einen Beratervertrag bei der Mordkommission des BPD beschert. Beim Lösen festgefahrener Kriminalfälle hatte er die Polizei häufiger beraten, und jede eingetroffene Vision hatte seine Glaubwürdigkeit untermauert.
Nun hieß es aber: Nur nicht auffallen. Finn hatte die stickigen Flure der Streifenpolizei mit dem wuseligen Treiben und dem dauerhaft lauten Lärmpegel schnell durchquert. Nun wartete er neben ihrem Schreibtisch auf seine Schwester Kelly und betrachtete die Etage der Detectives mit ihrer offenen Arbeitsfläche, den gläsernen Besprechungsräumen, der gedämpften Geräuschkulisse und dem Geruch von Papier und frischem Kaffee. Bei den heißen Temperaturen des Junis im Südosten der USA stimmte ihn vor allem die Klimaanlage glücklich.
Zu seiner Verwunderung hatte das euphorische Gefühl in seinem Kopf im Revier nicht nachgelassen. Es wurde stärker. Das passierte selten. Nur an wenigen Orten und in besonderen Momenten erlebte er dieses Prickeln, das seinen Visionen vorausging. Er hatte schon ohne dieses Gefühl versucht, die Zukunft in den Blicken der Menschen zu erkennen – und dabei eher wie ein verwirrter Mann gewirkt, der anderen unablässig in die Augen starrte.
Wo zum Teufel steckte eigentlich Kelly? Wenn er nicht mit seiner Schwester plauderte, würde sein Besuch hier noch weniger zufällig wirken. Nach der Begrüßung hatte sie ihn sitzen lassen und den Jungen mitgenommen, den Gerda ihr zuvor an den Schreibtisch gesetzt hatte. Finn zückte sein Smartphone, um auf die Uhr zu schauen.
Elia: Alles gut, Liebling?
Er sah die Nachricht auf seinem Display. Verdammt. Er hatte vergessen, seiner Freundin zu schreiben. Schnell löste er die Sperre.
Finn: Sorry. Bin bei Kelly. Gut angekommen, keine Sorge, alles o.k. bei mir.
Er beendete die Nachricht mit einem Kuss-Smiley und vergewisserte sich, dass der Doppelhaken erschien und Elia seine Antwort bekommen hatte.
Während sein Smartphone zurück in die Tasche wanderte, weiteten Finns Augen sich, als er sah, dass sein Chef-Chef und CEO Bryan Malah das Büro betrat und in einem gläsernen Kasten Platz nahm. Verborgen hinter Pinnwänden mit bunten Klebezetteln, tippte Finn sofort so stark auf sein Smartphone ein, als würde er versuchen, den Finger durchs Display zu drücken.
Sie hatten kurz Blickkontakt, ohne dass Bryan seinen Mitarbeiter erkannte. Finn arbeitete seit einem Jahr als Vertriebler oder, wie er sich lieber nannte, Sales Executive, bei Bryans Firma Hearium. Hier war er auf die wichtigen Großkunden spezialisiert. Bryan kam ihm in den wenigen Meetings, in denen Finn seinen Geschäftsführer erlebt hatte, gestresst und unnahbar vor. Seine Kollegen hatten ihm aber berichtet, dass das nicht immer so gewesen sei und Bryan in den Anfängen des Unternehmens ein entspannter und freundlicher Mensch gewesen sein solle. Vielleicht erklärte das auch die ungezwungene Duzkultur, die bei Hearium selbst für den CEO galt. Finn fand es jedoch jedesmal befremdlich, seinen Chef, den er sehr respektierte, so vertraut anzusprechen.
»Dever. Klar, dass du auch wieder hier rumlungerst.«
Brad hatte sich von hinten herangeschlichen und begrüßte Finn per Handschlag. Der Ermittler lachte laut auf, während er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.
Ein Lächeln huschte über Finns Gesicht. »Die haben mich. Ich bin der Serienkiller.«
»Lustig. Willst du wieder Klatsch für deine Recherchen abholen? Bist du immer noch in deinen Verschwörerforen unterwegs?«
»Irgendwer muss deinen Job doch machen.« Finn zwinkerte Brad zu.
»Dann such doch am besten jemanden, der auch etwas Ahnung hat.« Er klopfte Finn auf die Schulter und manövrierte im Slalom an den Tischen vorbei zu einem der abgelegeneren Besprechungsräume.
Finn mochte Brad. Obwohl er jede Frau notorisch anflirtete und Finn seine private Fokussierung auf romantische Beziehungen oftmals nicht angemessen fand, hatte ihre Zusammenarbeit immer eine interessante Dynamik. Wenn sie mehr Zeit miteinander verbrächten, glaubte Finn, dass hinter den lockeren und oberflächlichen Sprüchen ein wirklicher Freund mit einem warmherzigen Charakter stecken könnte. In den letzten Monaten hatten sie mehrere Fälle gemeinsam bearbeitet. Brads unterschiedliche Denkweise ließ ihn neue Facetten des Lebens erkennen, und Finn hatte Freude an ihrer spielerischen Rivalität.
Endlich tauchte Kelly wieder auf und setzte sich stöhnend vor das heillose Durcheinander aus Aktenstapeln, Post-its und Büromaterialien, die wild auf ihrem Schreibtisch verstreut lagen.
»Ich glaube, ohne mich würde der gesamte Betrieb zusammenbrechen.«
Finn wunderte sich immer wieder, wie man mit dieser Unordnung erfolgreich als Sekretärin des Captains arbeiten konnte. Er schmunzelte.
»Und ich dachte immer, die Polizisten würden diesen Betrieb am Laufen halten. Ich wusste nicht, dass die nur das Sahnehäubchen auf deinem Kuchen sind.«
Beide lachten, wobei sich Finn fragte, wie viel Wahrheit in solchen Aussagen von Kelly steckte.
Seine Schwester beugte sich vor und flüsterte. »Krasse Geschichte mit dem Jungen. Der war in seinem Haus, die Tote ist seine Mutter.«
»Ui, das glaube ich. Der hat ein Trauma fürs Leben.«
Kelly senkte ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Und weißt du was? Die Frau ist aus deinem Unternehmen. Julia Lang. Kennst du die?«
Finns Herzschlag schien auszusetzen. »Julia Lang? Sicher?«
»Ich bin mir immer sicher.« Ein breites Grinsen dehnte sich über ihr Gesicht bis zu den Ohren.
Finns Herz hämmerte, und sein Mund öffnete sich leicht, ohne dass ein Ton herauskam. Wie war das möglich? Julia Lang war die Frau, deren Haus er erst vor wenigen Stunden verlassen hatte.
* * *
Kate, Brad und Gerda saßen zusammen in einem der blickdichten Verhörräume, da Bryan Malah den Glaskasten blockierte. Kopfschmerzen fingen an, Kate zu quälen. Es war ein langer Tag. Aus Gerdas Ungeduld und ungewohnt schneller Sprechweise schloss Kate, dass die Ermittlerin gerne ihren Mann noch sehen wollte und es ihr langsam zu spät wurde. Gerda liebte ihren Beruf, aber sie legte Wert auf ihre Freizeit mit Mann Gordon und Sohn Jake sowie regelmäßige Treffen mit ihren Freundinnen.
Kate hingegen sah Beziehungen nicht als essenziellen Teil ihres Lebens. Die Mischung aus Erwartungen, Kompromissen und möglichen Enttäuschungen stresste sie eher. Außerdem schätzte sie ihre Unabhängigkeit und persönliche Freiheit. Was nicht hieß, dass sie danach strebte, allein und einsam zu sein. Ihre Beziehung zu Steven dauerte mittlerweile vier Monate. Und es lief gut. Ihr Freund respektierte ihren Job und ihr Streben nach Autonomie. So konnte es weitergehen. Die Frage war nur: Wie lange? Ihre früheren Partnerschaften hatten bisher um die fünf Jahre gehalten und sich dann auseinandergelebt. Damit konnte Kate gut leben.
»Okay, einmal bitte die Zusammenfassung, kurz.« Kate nickte Gerda zu.
»Bryan Malah, dreiundvierzig, lebt außerhalb, in Chesterfield. Verheiratet, zwei Kinder im Schulalter. CEO von Hearium, Marktführer für In-Ear-Headsets mit KI-Sprachübersetzungen. Das sind die Dinger, die die Politiker jetzt alle im Ohr haben.« Gerdas Stimme wurde immer schneller. »Harvard-Student, hat die Firma selbst mit aufgebaut. Julia war seine CFO, also Chief Financial Officer oder Leiterin der Finanzabteilung, und fast seit den Anfängen des Unternehmens dabei.«
»Wo war er heute zwischen fünf Uhr nachmittags und seiner Ankunft am Haus?«
»Auf der Arbeit. Er sagt, dass könnten mehrere Mitarbeiter bezeugen.«
»Okay, da müssen wir morgen hin.« Kate registrierte Gerdas hastiges Nicken beim Wort »morgen«. »Was wissen wir über unser Opfer, Julia Lang?«
Mit demselben Tempo setzte Gerda fort. »Arbeitstier. Hat für die Firma gelebt. Sonst sportlich. Ethan ist das einzige Kind. Sechzehn Jahre. Sein Vater ist Robert Lang, die Eltern sind seit sieben Jahren geschieden. Sie kannten sich aus dem Studium.«
»Hat Bryan Malah etwas dazu gesagt, ob Mrs. Lang Feinde hatte?«
Gerda ergriff wieder hastig das Wort. »Mr. Malah sagt, dass er auf der Arbeit von niemandem wüsste. Aber dass Mrs. Lang nicht besonders beliebt war. Im Privaten kenne er sie nicht gut genug. Er weiß nur, dass die Trennung von Robert Lang unschön ablief.«
»Inwiefern?«
»Robert Lang hat seine Ex-Frau häufiger auf der Arbeit besucht und laut Malah … na ja … ›sehr nachdrücklich‹ mit ihr diskutiert. Mr. Malah hat aber nie die Inhalte der Auseinandersetzungen mitbekommen.«
Brad trat einen Schritt vor. »Ich habe vorhin noch einen Nachbarn erwischt. Der meinte, dass es da wohl einen Freund gab in letzter Zeit. Zumindest kam abends immer wieder ein Typ zu Besuch.«
»Okay, gut«, murmelte Kate. »Brad, guckst du bitte, ob du den Ex-Ehemann erreichst. Wir müssen außerdem überlegen, was wir mit dem Jungen machen. Gerda, wenn du willst, kannst du gehen. Ich will morgen mit dir als Erstes bei Hearium vorbeifahren. Vielleicht kennt dort jemand auch den angeblichen Freund.«
Mit einem Nicken und den besten Wünschen für den Abend verschwand Gerda eilig durch die Tür. Ein Sprung zur Seite verhinderte knapp eine Kollision mit einem der Streifenpolizisten.
Der Polizist betrat den Raum und zeigte auf Kate. »Detective Okon?«
»Officer?«
»Wir hatten einen Anruf eines Nachbarn zum Fall der ermordeten Frau.« Der Polizist stand stramm vor ihr. »Zur Tatzeit hat er einen Mann das Haus verlassen sehen.«
Kate wurde hellhörig. »Danke, bitte bringen Sie den Nachbarn morgen für eine Phantomskizze zu uns.« Sie lächelte.
* * *
»Möchtest du eins?« Finn streckte Ethan ein Lakritzbonbon aus Kellys Glas hin, obwohl er vermutete, dass Kelly ihm bereits mehrfach eines angeboten hatte.
Ethan schüttelte den Kopf. Finn schob sich stattdessen selbst ein Bonbon in den Mund, was er aufgrund des bitteren Geschmacks sofort bereute.
Das war also Ethan. Der Sohn von Julia Lang. Der Junge, der vor wenigen Stunden ein Stockwerk über ihm in seinem Zimmer gezockt hatte, während Finn seine Mutter besucht hatte. Finns Hände zitterten, und sein Herz raste, als er versuchte, die Fotos des Tatorts zu erkennen, die gerade im Analystenraum von zwei Polizeibeamten aufgehängt wurden. Diese Fotos konnten ihm gehörige Probleme bereiten.
Er fühlte sich unbehaglich, neben dem schweigenden Ethan auf Kelly zu warten. Sie hatte den Jungen zu ihm gesetzt und war dann verschwunden. Wie verhält man sich gegenüber einem Sechzehnjährigen, dessen Mutter gerade brutal ermordet worden war? Ethan blickte ihn mit großen, traurigen Augen an. »Du musst mich nicht bemitleiden.«
Entschuldigend hob Finn die Arme. »Es tut mir leid wegen deiner Mutter. Sie war eine nette Frau.« Er versuchte, seine Stimme weich klingen zu lassen.
»War sie nicht.« Ethan rollte die Augen.
Da hatte der Junge recht. »Man konnte gut mit ihr arbeiten.«
»Dann hast du ein dickes Fell.«
Endlich bog Kelly um die Ecke, beladen mit mehreren Aktenordnern, die mit einem Schwung auf dem Schreibtisch landeten, und wandte sich zunächst Ethan zu.
»Sicher, dass ich dir nicht helfen kann?«, fragte sie mit ungewohnter Wärme in der Stimme. Im Gegensatz zu ihrem sonst forschen Auftreten wirkte Kelly wie ausgewechselt. »Wir haben deinen Vater noch nicht erreicht«, säuselte sie weiter. »Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?«
Ethan rollte wieder die Augen. »Bestimmt irgendwo saufen. Er macht nicht viel anderes.«
Betreten schwiegen alle einen Moment, bevor Kelly die Sprache wiederfand.
»Weißt du, wo er immer hingeht?«
»Das ist mir egal. Ich gehe sowieso nicht zu ihm.«
»Ist etwas passiert mit deinem Vater?«
»Er ist ein Idiot. Wir streiten nur. Ich will lieber wieder nach Hause. Ich kann allein da leben.«
Kelly sprach vorsichtig. »Junge, euer Haus ist ein Tatort. Da wirst du nicht hingehen können.«
Ethans schnaubte frustriert: »Dann will ich zu einem Freund.«
Zu ihrem Bruder gewandt, schüttelte Kellys ungläubig den Kopf und widmete sich dann wieder ihren Akten.
Finn musterte den Jungen. Irgendwie passten seine Wahrnehmungen nicht zusammen. Er war auf der Hut, aber gleichzeitig in Gedanken versunken. Völlig ruhige Körperhaltung, trotzdem nahm Finn die Energie des Jungen wahr. Er hätte ihm gerne tief in die Augen geschaut, um etwas über seine Zukunft zu erfahren, der Junge wich seinem Blick jedoch immer aus.
Stattdessen wanderte Finns Aufmerksamkeit wieder zum Analystenraum, in dem die Bilder des Tatorts Julia Lang nun alle hingen. Er musste einen Blick darauf werfen.
* * *
»Wer ist das denn da bei Kelly?«
Kate und Brad steuerten schnurstracks auf den Schreibtisch der Sekretärin des Captains zu.
»Finn Dever, ihr Bruder.«
»Was macht der denn hier? Hier ist doch nicht Tag der offenen Tür.«
»Der hat einen Ausweis. Berater …«
»Hat er denn gerade einen Fall mit uns?« Kate dachte, dass sie alle aktuellen Ermittlungen grob kennen würde.
Brad zuckte mit den Achseln. »Glaube nicht.«
»Dann soll er gehen.«
»Der will an Informationen. Er veranstaltet mit einer Internet-Community seine eigene Jagd auf den Ripper. Die haben sogar einen Podcast.«
Kate starrte Brad irritiert an. »Dann soll er erst recht hier weg. Das gibt’s ja nicht.«
»Sag du ihm das.« Der Ermittler legte den Kopf zur Seite. »Finn kann gut mit dem Captain. Er hat schon ein paarmal wirklich geholfen. Er besitzt«, Brad zögerte, »sagen wir mal … spezielle Fähigkeiten.«
Kate blieb stehen, um nicht in Hörweite zu Kellys Schreibtisch zu kommen. »Was denn für Fähigkeiten?«
»Er hält sich für einen Mentalisten. Er sagt, er sieht Ereignisse in der Zukunft. Da waren ein paar skurrile Dinge dabei.«
Kate konnte nicht glauben, was sie hörte. »Arbeiten wir jetzt mit Wahrsagern an den Fällen? Was denn für skurrile Dinge?«
Sie atmete tief durch. Das Grummeln in der Magengegend und die aufkommende Müdigkeit hatten ihrer Meinung nach nichts mit ihrer aufbrausenden Stimme zu tun. Selbst ohne angebliche »Fähigkeiten« hatte Kate wenig Vertrauen in Berater und bevorzugte es, ihre eigenen Erfahrungen und Instinkte bei der Lösung von Fällen einzusetzen.
»Manchmal sieht er Sachen, die uns weiterbringen. Manchmal sieht er aber auch, dass das Fertiggericht in der Mikrowelle ausläuft. Obwohl er nicht im Raum ist. Kann beängstigend sein.«
»Du glaubst doch nicht an so was?«
»Nee. Aber der Typ lässt einen schon mal zweifeln.«
* * *
Kelly deutete mit dem Finger auf Kate und Brad. »Showtime, Brüderchen. Das ist deine Chance. Die neue leitende Ermittlerin, Kate Okon. Wirkt ganz nett. Aber niemand für die Karaokeparty. Die ist angespannt. Sehr jung, ich glaube, zwei Jahre jünger als du, einunddreißig. Ihre erste große Rolle.«
Finn musterte Kate.
»Vielleicht baggert Brad sie die ganze Zeit an«, schmunzelte Kelly.
Bestimmt sogar, dachte er sich. Ihr hochgestecktes Haar, das ein markantes Gesicht mit sanften Konturen und strahlenden Augen einrahmte, war genau Brads Beuteschema. Kate fixierte Finn von Weitem mit kritisch zusammengezogenen Brauen, und er merkte, wie die Hitze in seinen Körper anstieg.
Während Kate und Brad sich näherten, versuchte er, eine möglichst lässige Sitzhaltung einzunehmen.
»Kate Okon. Wir kennen uns noch nicht.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Finn wischte seine Hand in einer unauffälligen Bewegung leicht an der Hose ab, um den Schweiß loszuwerden. Als sie sich berührten, bekamen sie beide einen kleinen elektrischen Schlag. Schnell zog er seine Hand weg und verzog sein Gesicht, halb schmerzerfüllt, halb amüsiert.
»Finn Dever, ich berate bei Ermittlungen.«
»Habe ich schon gehört. Haben Sie denn aktuell einen Fall?«
»Noch nicht.« Finn stand auf, um seriöser zu wirken und nicht von unten heraufschauen zu müssen. »Aber ich kenne mich mit allem rund um den Ripper ziemlich gut aus und kann Ihnen helfen.«
Kate warf Kelly einen warnenden Blick zu. »Wir wissen gar nicht, ob es eine neue Entwicklung im Fall des Serienkillers gibt. Mir wäre es lieber, wenn Sie gehen. Wir melden uns, falls wir Ihre Beratung in Anspruch nehmen möchten.«
Sie fixierte ihn. Das war die Möglichkeit für Finn, bewusst den tiefen Blick in ihre Augen zu suchen. Er brauchte eine Vision. Sein Geist drehte ab.
Kate saß an ihrem Schreibtisch, das Licht der Schreibtischlampe gedimmt. Sie war nahezu allein im Revier. Mit einem konzentrierten Blick auf ihr Smartphone scrollte sie durch die Tatortfotos des Mordfalls. Die blutigen Details ließen ihren Puls rasen und verhinderten zugleich, dass sie müde wurde.
»Verdammt, sieht fast genauso aus wie bei den anderen Opfern«, murmelte sie leise vor sich hin. »Irgendetwas passt doch nicht.«
Ihre Augen scrollten das Foto der zugerichteten Julia Lang von oben nach unten durch. Sie kreiste die beiden Schnitte auf den Augenlidern mit ihren Fingern ein und speicherte das Bild. Im Anhang einer E-Mail wanderte es zurück zur Pathologie mit der Bitte, die Schnittmuster mit denen der anderen Serienkillerfälle zu vergleichen. Ihr sei auf dem Bild aufgefallen, dass die Schnitte ein gezackteres Muster im Vergleich zu den vorherigen Opfern zu haben schienen.
Kate schaute kurz auf die Uhr und öffnete ihren privaten Chat mit Steven. Schon zwei Stunden hatte sie nicht auf seine letzte Nachricht geantwortet. Auf seine Frage, ob sie sich heute noch einmal sehen würden, hatte Kate ihm knapp geantwortet, dass es wegen der Arbeit nicht passen würde. Steven schrieb kurz darauf, dass sie gerne noch auf einen Teller seiner Gulaschsuppe vorbeikommen könnte, wenn es nicht zu spät werden würde. Dieses Angebot hatte Kate bis jetzt ignoriert.
Sie stemmte beide Hände auf den Schreibtisch und begann, ihre Unterlagen zu sortieren.
Die Vision in Finns Kopf endete. Der Film vor seinen Augen erschien wie immer klar und deutlich. Er konnte in der Zeit vor- und zurückgehen, Details der Szene näher betrachten und sich umsehen. Er liebte diese Momente. Ein unbeschreibliches Gefühl von Wissen und Macht.
Finn entschied, sich nicht mit Kate anzulegen. Er lächelte die Ermittlerin an, nickte ihr zu und flüsterte Kelly ein leises »Danke« bei der Abschiedsumarmung ins Ohr.
Etwas Werbung für sich musste aber sein. Er warf einen letzten Blick auf Kate und legte sich, weil er es ausdrucksstärker fand, den Finger an die Stirn. Über die Jahre hatte er sich dieses Verhalten angewöhnt, wenn er seine Visionen nutzte.
»Sobald Ihnen später bei Ihrer Mail an die Pathologie die gezackteren Schnitte auf den Augenlidern bei Mrs. Lang auffallen: Überlegen Sie sich, ob Sie nicht doch die Gulascheinladung von Steven nehmen. Vielleicht hat er das extra für Sie gemacht.«
Grinsend machte er sich auf zur Toilette, nur um im nächsten Moment zu realisieren, dass er vielleicht gerade einen teuren Fehler begangen hatte.
* * *
Kate sah besorgt auf den Jungen neben sich. Er wirkte verloren. Die verzweifelten Versuche, seinen Vater zu erreichen, hatten bis jetzt nicht gefruchtet. Alle Anrufe blieben unbeantwortet. Kate fühlte einen Kloß im Hals. Der Junge stand ohne Bezugsperson da.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Ethan mit fester Stimme.
Mit zusammengekniffenen Augen überlegte Kate fieberhaft. Dem Jungen war die Mutter genommen worden, und zusätzlich konnte er nicht nach Hause zurückkehren. Was, wenn der Täter zurückkommen würde? Aber wo sollte Ethan bleiben? Das Jugendamt würde so schnell auch nicht mehr aktiv werden.
»Hilfe, wir brauchen eine Retterin in der Not.« Kelly imitierte spöttisch eine dunkle, fremde Stimme, um nach einer dramatischen Pause normal weiterzusprechen. »Ich kann ihn mit zu mir nehmen.« Sie lehnte sich dabei auf ihrem Stuhl so weit nach hinten, dass Kate Sorge bekam, sie würde hintenüberkippen. »Bei mir ist er sicher.«
Ethan schüttelte hastig den Kopf. »Ich möchte nach Hause«, beharrte er.
Kate überlegte kurz und überging seine Forderung. »Gut«, sagte sie ruhig, aber bestimmt. »Du gehst vorübergehend zu Kelly. Das ist für heute Abend die beste Lösung.« Sie wandte sich direkt an Ethan. »Sobald dein Vater da ist, überlegen wir weiter.«
Erleichtert beobachtete sie Ethan und Kelly auf ihrem Weg zum Aufzug – und für einen Moment spürte sie Ruhe inmitten des Chaos um sie herum.
* * *
Finn bewegte sich mit gesenktem Kopf, als er ganz beiläufig an den Schreibtischen vorbeischlenderte und die Augen offen hielt. Niemand sollte ihn zum Analystenraum schleichen sehen. Endlich war der Raum leer. Kaum drinnen, scannte er schnell durch die Fotos von Julia Langs Ermordung an der Pinwand. Ihm stockte der Atem, als das Objekt in sein Blickfeld trat, das er zwar schon erwartet hatte, das ihm aber erhebliche Probleme bereiten konnte – sein eigener, blauer Rucksack.
Panisch blickte er sich um. Jeder Schritt musste jetzt wohlüberlegt sein. Wieso hatte Elia nur den blöden Zettel mit seinem Namen im Rucksack befestigt? Der drohte alles zu offenbaren. Finn wischte seine Hände an der Hose ab. Mit einem letzten Blick auf den Rucksack, der sein düsteres Geheimnis enthüllen konnte, wusste er, dass es keine Zeit zu verlieren gab – er musste in Julia Langs Haus einsteigen.
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VOR 9 MONATENBLACKVALE, 30. AUGUST 2023
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Sehen Sie gleich nach der Werbung: Mysteriöser Ripper könnte mehr Opfer haben als bekannt.
Es gibt Gerüchte und zunehmende Besorgnis, dass der Blackvale-Ripper, der bisher mit drei brutalen Morden in Verbindung gebracht wurde, mehr Leben als ursprünglich angenommengefordert haben könnte. Während die Ermittler tiefer graben, deuten zwei ungeklärte Mordfälle aus dem letzten Jahr auf eine erschreckende Möglichkeit hin: Der Killer könnte weit mehr Opfer auf dem Gewissen haben, als wir bisher vermuten. Bleiben Sie dran für die neuesten Updates zu dieser Geschichte.
BLACKVALE, 18. JUNI 2024
Nach dem ersten Kundengespräch des Tages atmete Finn endlich durch. Die Gedanken an den Vorabend und seinen in Julia Langs Haus vergessenen Rucksack wirbelten ihm durch den Kopf. Bisher jedoch hatte ihn niemand angerufen oder festgenommen. So weit, so gut. Im Moment konnte er nichts unternehmen. Der Tatort wurde bewacht, und am helllichten Tag konnte er nicht einsteigen. Er musste auf die Dämmerung warten und hoffen, dass bis dahin niemand in den Rucksack sah.
Hinzu kam, dass die entspannten Jack-Johnson-Akustikklänge in seinem Ford nicht das bedrückende Gefühl vertrieben, das von seinem Gespräch mit Elia zurückgeblieben war. Ihre Blicke hatten ihn, als er schließlich spätabends nach Hause kam, wie spitze Pfeile durchbohrt, und er konnte den verletzten Ausdruck in ihren Augen nicht vergessen.