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Traust du dich ins Land der Sumpfhexe? Wagst du die Reise ins Ungewisse? Stehst du uns bei im Kampf gegen die Drachen? Dann mach dich bereit für ein nervenaufreibendes Fantasyabenteuer ab 11 Jahren! Die 13-jährige Finnja ist fassungslos: Der Drachenfürst Dragon und die grausame Sumpfhexe haben ihre Mutter entführt – die Königin des Feenlands. Mutig wählt Finnja sieben Gefährten für die beschwerliche Reise ins Land der Sumpfhexe. Dazu gehören ihre beste Freundin Maja, der Troll Wuhuu, ein wehleidiger Drache – und Leon, ein Menschenjunge. Leon, der auf der Suche nach seinem verlorenen Smartphone im Feenreich gelandet ist und nicht glauben kann, dass Finnja seine "Smatfo-Magie" für ihren größten Trumpf hält. Doch auf das, was die sieben Gefährten auf ihrer Reise erwartet, ist keiner von ihnen vorbereitet … Ein bildhaft und atmosphärisch erzähltes Abenteuer mit außergewöhnlichen Illustrationen im Buch, das bis zur letzten Seite fesselt!
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Seitenzahl: 285
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Die 13-jährige Finnja ist fassungslos: Der Drachenfürst Dragon und die grausame Sumpfhexe haben ihre Mutter entführt – die Königin des Feenlands. Mutig wählt Finnja sieben Gefährten für die beschwerliche Reise ins Land der Sumpfhexe. Dazu gehören ihre beste Freundin Maja, der Troll Wuhuu, ein wehleidiger Drache – und Leon, ein Menschenjunge. Leon, der auf der Suche nach seinem verlorenen Smartphone im Feenreich gelandet ist und nicht glauben kann, dass Finnja seine »Smatfo-Magie« für ihren größten Trumpf hält … Bildhaft und atmosphärisch erzähltes Abenteuer, das bis zu letzten Seite fesselt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Im Nachhinein betrachtet begann alles mit dieser Turmruine. Leon hätte schwören können, sie in der Ferne gesehen zu haben, doch sein Großvater glaubte ihm nicht. »Weit und breit gibt es hier nur einen einzigen Turm, den Kirchturm«, hatte er Leon belehrt, »und den als Ruine zu bezeichnen, das sollte man den Pfarrer mal besser nicht wissen lassen. Seit wann kann so ein Turm denn wie ein Pilz über Nacht aus dem Boden sprießen?«
Ha ha ha. Opa fand sich wohl sehr witzig. Zu guter Letzt behauptete er, Leon habe sich durch eine Fata Morgana täuschen lassen.
Eine Fata Morgana. In Mecklenburg-Vorpommern. Wollte Opa ihn auf den Arm nehmen? Ja, es war heiß, ziemlich heiß sogar. Aber so heiß wie in der Sahara nun auch wieder nicht. Dennoch schien die Luft über dem Grasland wie in einer Sandwüste vor Hitze zu flimmern. Sollte Opas Vermutung doch nicht so abwegig sein?
Definitiv abwegig fand Leon die Reaktion seiner Großmutter. Vor Schreck hatte sie die Schüssel mit den frisch gepflückten roten Johannisbeeren auf den Steinboden der Küche fallen lassen und Leon aus ihren grünen Augen angestarrt, als sei er ein Gespenst. Wann und wo genau er den Turm entdeckt und wie er ausgesehen habe, wollte sie wissen. Und als Leon mit den Schultern gezuckt hatte und »Keine Ahnung, wie ein Turm eben« zur Antwort gab, hatte sie ihn regelrecht angefaucht. Ob es vielleicht etwas genauer ginge und dass er ihr jedes Detail beschreiben solle.
Erschrocken hatte Leon alles, woran er sich erinnerte, aufgezählt: das dunkle, brüchige Gestein, das zwischen den Steinritzen hervorwuchernde Unkraut, die Turmzinnen, die aussahen wie an- und ausgeschlagene Zähne. Und als ihr das immer noch nicht genug war, erwähnte Leon noch die vielen dunklen Wolken, die sich um den Turm herum ballten, obwohl der Himmel ansonsten wie blau lackiert war.
Wenn möglich, war seine ohnehin blasse Großmutter noch blasser geworden. Opa hatte sie besorgt am Arm genommen und zu einem Sessel im Wohnzimmer geführt. Dass sie dabei etliche Johannisbeeren auf dem Fußboden zertrat, schien sie gar nicht zu bemerken, dabei war ihr doch Pflanzliches aller Art heilig – sogar Brennnesseln.
In sich zusammengesunken wie eine verwelkte Topfpflanze hatte sie vor sich auf den Fußboden gestarrt. Leon war beunruhigt. Was hatte sie denn bloß? Oma war zwar etwas schrullig, aber eigentlich immer cool drauf und die Gelassenheit in Person, wie seine Mutter sagte. Davon konnte im Moment nicht die Rede sein. Seine Oma hatte sich plötzlich wie ein Schilfrohr aufgerichtet, das Kinn gereckt und ihn streng angeblickt.
»Ab sofort wirst du nicht mehr draußen im Grasland herumstreifen. Du bleibst innerhalb der Dorfgrenze. Hast du mich verstanden, Leon?«
Ungerührt von Leons entsetztem Blick ergänzte sie: »Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl.«
Ein, zwei Schocksekunden später brach es aus Leon heraus. »Never. Vergiss es, Oma. Das kannst du nicht mit mir machen.«
Nun war es nicht so, dass die pfannkuchenflache Grasebene so superspannend gewesen wäre oder dass Leon seiner Oma gerne widersprach. Doch hier ging’s ums Prinzip. Erstens war er fast vierzehn, und sie konnte ihn nicht herumkommandieren wie einen Achtjährigen. Zweitens musste er unbedingt sein Smartphone wiederfinden, das ihm irgendwo dort draußen aus der Hosentasche gerutscht war. Und drittens war das Grasland immer noch besser als die einsame Hauptstraße des winzigen Dorfs, wo nur noch Omas und Opas herumschlurften, die sich zudem stark für seine Schulnoten interessierten.
Zu seiner großen Erleichterung hatte sich sein Großvater auf seine Seite geschlagen. Und schließlich war seiner Oma nichts anderes übrig geblieben, als klein beizugeben, zumal sie ihr Verbot nicht begründen wollte. Statt sich zu erklären, hatte sie nur grimmig die Lippen zusammengekniffen und geschwiegen.
Die darauffolgenden Tage benahm sie sich noch seltsamer als ohnehin schon. Dass sie stundenlang im Garten an Büschen und Blumen herumzupfte, in der Erde buddelte, etwas ausrupfte und dabei vor sich hin trällerte, war normal. Dass sie aus Kräutern, Blüten, Beeren und Blättern Tees, Salben, Gelees, Marmeladen und Tinkturen mixte und rührte, war schon eher besonders. Manches davon verkaufte sie sogar auf dem Wochenmarkt. Doch dass sie nun mit Libellen, Schmetterlingen, Käfern, Singvögeln und sogar Pflanzen zu sprechen schien, fand Leon mehr als schräg. Besonders ein Blaukehlchen hatte es ihr angetan. Mehr als einmal hatte Leon seine Oma heimlich dabei beobachtet, wie sie im Garten vor sich hin murmelte, während der Piepmatz auf ihrer Schulter hockte und ihr aufmerksam zu lauschen schien.
Doch nachdem sein Großvater dies als »harmlose Macke« abtat, beschloss Leon, sich ebenfalls keinen Kopf zu machen. Zumal er schon genug Stress hatte. Tag für Tag quälte ihn Opa mit Nachhilfe in Latein. Kein Wunder, dass Leon, wann immer es ging, das Weite suchte.
Doch nun, drei Wochen später, sah er alles in einem anderen Licht. Nun wusste Leon, dass er in diesen Ferien sehr viel mehr lernen sollte als nur Latein. Dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die er nicht für möglich gehalten hätte. Und dass seine Oma schon damals etwas gewusst oder geahnt hatte, was niemand sonst außer ihr wusste oder ahnte. Zumindest kein menschliches Wesen.
So eintönig Leon das Leben im Dorf seiner Großeltern schien, so lebhaft war das Treiben im nahen Feenland. Dass ein solches überhaupt existierte, geschweige denn, was dort vor sich ging, hätte sich Leon in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können.
Das Mondbeerenfest stand bevor und damit der höchste aller Festtage im Jahreskalender der Feen. Doch dieses Mal feierten die Feen nicht einfach nur die Sommersonnenwende und die Ernte der magischen Mondbeeren. In zwei Nächten, genau zum Fest, würde der Mond als kreisrunder leuchtender Ball am Himmel stehen – ein Zusammentreffen, das nur selten stattfand. Er würde die Feier in sein silbernes Licht tauchen und den Mondbeeren unmittelbar vor der Ernte eine besondere Magie und Heilkraft verleihen. Doch damit nicht genug: Finnja, die Tochter der Feenkönigin, feierte an diesem Tag ihren dreizehnten Geburtstag.
»Jetzt sieh dir das mal an,« rief Finnja empört. »Die sollen wir alle bis zum Mückentanz heute Nachmittag putzen.«
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Finnja den kniehohen Berg an Muscheln und Schneckenhäusern, der sich vor ihr und ihrer Freundin Maja auftürmte.
»Was, was, was«, keifte eine Stimme in ihrem Rücken, »stellt euch nicht so an, ihr Quengelquallen. Vom Anschauen alleine werden die nicht sauber.«
Ertappt drehten sich die beiden um. Schlurfend näherte sich die alte Druseline. In den Händen hielt sie etwas, das sie den beiden Jungfeen ungeduldig winkend entgegenstreckte.
»Hier, nehmt das. Für jede von euch hab ich einen Mooszick und eine Rindenmuffe, damit schrubbt ihr den Schlamm und Schlick von den Muscheln ganz leicht weg. Aber gründlich, wenn ich bitten darf!«
»Wozu brauchst du die denn alle? Das sind ja Tausende.« Finnja meinte bereits vom Anblick des Haufens vor ihr Blasen an den Händen zu haben.
»Papperlapapp und Quallenschlapp. Dieses Jahr haben wir eine Jahrhunderternte. Hast du nicht gesehen, wie sich die Mondbeerenstängel auf dem Feld biegen von all den prallen Früchten? Die Pflückfeen brauchen viel mehr Behälter als sonst. Also, hört auf zu jammern und macht euch ans Werk. Und merkt euch: Nichts darf den Schimmer der geernteten Mondbeeren stören, nicht ein einziges noch so kleines Muschelbarthaar.«
»Aber was ist mit Nicko und Najad? Müssen die etwa nicht helfen?«, fragte Finnja. Missmutig wies sie hinüber zu den beiden Wasserelfen, die untätig auf dem Ast einer Birke am Ufer des Sees hockten und zu ihnen hinübergrinsten, während von ihren Hosen und Haaren das Wasser auf den Boden tropfte.
»Keine Sorge«, antwortete Druseline, »für die hab ich was anderes.« Sie wandte sich um und fuchtelte mit der Hand. »Ihr braucht nicht zu denken, dass ihr den lieben langen Tag gemütlich auf dem Baum vor euch hin tropfen könnt, während alle anderen schuften.«
Leise murmelnd und ohne den Blick von den Jungs abzuwenden, beschrieb sie mit dem Zeigefinger in der Luft so etwas wie eine doppelte Acht mit Ferkelschwänzchen. Gleich darauf wirbelte der Ast wütend auf und ab, als wolle er sich von einer lästigen Zecke befreien, woraufhin beide Jungs wie reife Äpfel zu Boden fielen.
»Autsch. Verdammter Lurchlefz. Das hat wehgetan, Druseline«, jammerte Najad und rieb sich den Ellbogen, während Nicko abgerissenes Laub aus seinen Haaren strubbelte.
Finnja und Maja kicherten, senkten jedoch schnell den Kopf, als Druseline sie streng musterte. Verstohlen blinzelten sie sich hinter dem Vorhang ihrer Haare an und pressten fest die Lippen zusammen, um nicht loszuprusten.
»Los, ihr zwei Wasserelfenbengel, kommt mit! Wäre doch gelacht, wenn ihr euch nicht ausnahmsweise mal nützlich machen könnt. Als Erstes holt ihr den Schwanenthron aus der Höhle und putzt ihn.«
»Hast du dasselbe gehört wie ich, Nicko? Putzen? Tut mir leid, Druseline, das können wir nicht«, sagte Najad.
»Genau«, ergänzte Nicko mit wichtigtuerischer Miene. »Das dürfen wir gar nicht. Unsere Hände sind dafür viel zu groß.«
»Quatsch mit Quappensalat«, rief Druseline und stemmte die Hände in die Hüften. »Wer hat euch denn solchen Unsinn erzählt? Bestimmt der alte zahnlose Bartfloss, oder? Den ganzen Tag im warmen Schlamm faulenzen, Wasserschnecken zutzeln und dummes Zeug blubbern … ts, ts, ts. Euer Großvater hat auch schon mal lichtere Weiher gesehen. Zu große Hände … da kommt ja dem Lurch die Larve hoch.«
Druseline schüttelte so erzürnt den Kopf, dass das Blaukehlchen, das in ihrem zerzausten Zopf gedöst hatte, erschrocken aufflatterte.
»Keine Sorge, Jungs, ihr könnt putzen, ihr dürft putzen und ihr werdet putzen, so wahr ich Druseline heiße. Ich persönlich erteile euch hiermit die Erlaubnis. Folgt mir. Und keine Widerrede.«
Lustlos trotteten die beiden Jungs hinter Druseline her, wobei Nicko es nicht lassen konnte, ihr Gemeckere nachzuäffen und den beiden Mädchen, die ihnen schadenfroh grinsend nachblickten, Wassertropfen entgegenzuschleudern. Schließlich wandten sich die beiden Jungfeen wieder ihrer Arbeit zu.
»Ganz ehrlich, Maja, so richtig kann ich mich nicht auf das Fest übermorgen freuen.«
»Geht mir genauso«, erwiderte Maja und nickte. »Dieses Jahr ist alles anders. Mir kommt es so vor, als ob nicht nur Druseline, sondern alle am Durchdrehen sind. Seit Tagen nur Gemeckere und Stress mit Putzen, Kochen, Lieder einüben und was weiß ich noch. Und alles nur wegen Vollmond und natürlich wegen deinem Geburtstag.«
»Ja eben, das ist es ja.«
Maja hielt in der Bewegung inne und blickte ihre Freundin fragend an. »Wie meinst du das? Ist doch toll, Geburtstag zu haben. Vor allem der dreizehnte. Freu dich doch, ab übermorgen darfst du mitkommen zum Tanzplatz unter den Birken und musst nicht beim ersten Nachtruf der Eulen in deine Höhle zurückkehren.«
Finnja schrubbte rabiat eine Muschel. »Das meine ich ja auch gar nicht, und genau genommen ist das auch das einzig Gute an diesem Geburtstag. Aber wenn ich daran denke, was ich nun alles lernen muss, wird mir ganz schlecht. Wie soll ich mir das bloß alles merken?«
Maja kicherte. »So wie ich dich kenne, wirst du tatsächlich alles durcheinanderbringen. Wahrscheinlich erfindest du aus Versehen komplett neue Mondbeeren-Rezepturen, weil du dir nicht merken kannst, wie viele Tropfen von diesem und wie viele Brösel von jenem zusammengemischt werden müssen. Oder ob das Ganze gekocht, gerührt, geschüttelt oder gestampft wird. Nicht zu reden von den Krankheiten oder Beschwerden, die dadurch geheilt werden.«
Finnja sah ihre Freundin bedrückt an. »Mach dich nur lustig über mich. Wahrscheinlich schaffe ich es, dass bei mir der Feensprutz nicht hellgrün, sondern lila wird und nach Fischkotze schmeckt.«
»Uäääääh«, rief Maja und kicherte.
»Und mein Trüblix macht wahrscheinlich nicht blind, sondern sorgt für juckende Zehen.«
Maja lachte. »Und dein Heilbrüh lässt nicht Bauchweh verschwinden, sondern verursacht so gewaltige Pupser, dass der Kranke jedes Mal wie ein Springfloh vom Boden abhebt und ›Holla die Waldfee‹ brüllt.«
Obwohl auch Finnja darüber lachen musste, linderte das nicht ihre Sorgen. Nachdenklich strich sie über das Schneckenhaus in ihrer Hand.
»Ganz im Ernst, Maja. Wieso muss es eigentlich die Tochter der Feenkönigin sein, die alles über die Heilkraft und Magie der Mondbeeren wissen und weitergeben soll? Du wärst da viel geeigneter. Für dich wäre es ein Leichtes, dir zu merken, wie viele Stängel Schachtelhalm getrocknet werden müssen, wie viele Blattspitzen von Silberkraut mit wie viel Tropfen Blütentau einer Gelblilie um genau 7.13 Uhr morgens gemixt werden müssen. Und ob das Ganze dann mit einer Schuppenspitze Mondbeerenschale, Mondbeerenstängel oder Mondbeerenblüte angereichert wird. Und wozu das Ganze? Nur damit Schluckhicks, Kopfklopf oder Poprickel verschwinden?« Finnja blickte Maja so verzweifelt an, dass diese laut auflachte.
»Also ehrlich, Finnja. Du übertreibst. So schlimm wird es schon nicht werden. Und du weißt genau, dass es nicht nur um harmlose Beschwerden geht. Hast du schon vergessen, dass die kleine Fee Gladiole ohne Mondbeerenspritz fast gestorben wäre? Diese riesige gelb-schwarze Wildkatze hätte ihr fast den Arm abgerissen.«
»Ja, stimmt, aber …«
»Oder das neugeborene Silberflockling-Baby, dessen Mutter vermutlich von derselben Wildkatze getötet wurde. Ohne Mondbeerenträufe hätte ich das niemals großziehen können. Freu dich doch darüber, wie viel Wissen du dir nun aneignen kannst und wie sehr du damit anderen helfen oder auch …«
»… anderen schaden oder sie sogar töten kannst«, fiel ihr Finnja ins Wort. »Was ist, wenn ich etwas falsch mixe? Wenn ich versehentlich jemanden umbringe?«
Mit angsterfüllten Augen blickte Finnja ihre ältere Freundin an.
»Keine Sorge, das wird nicht passieren. An die lebensgefährlichen Stoffe lassen dich deine Mutter und Druseline doch gar nicht ran, solange du im Umgang mit all den Pflanzen nicht absolut sicher bist. Und außerdem: Ich bin ja auch noch da, auch wenn ich nur Hilfsarbeiten machen darf.«
Maja konnte nicht verhindern, dass sich ein bitterer Ton in ihre Stimme mischte.
»Und genau das finde ich falsch«, rief Finnja erzürnt und zerrte an den Barthaaren einer Muschel, »denn du könntest das alles viel besser als ich.«
Gleich darauf fiel ein Schatten auf sie und Maja.
»Da seid ihr ja. Ich suche euch schon die ganze Zeit. Habt ihr etwa die Chorprobe vergessen?«
Erschrocken sahen Finnja und Maja auf. Sie hatten nicht bemerkt, dass sich der Musikelf Stradivarius, begleitet vom Chor der Grillen, genähert hatte.
»Entschuldigung, Stradivarius. Aber wir haben leider keine Zeit für die Probe. Wir müssen das hier erst fertig machen, sonst macht Druseline Algenschleim aus uns.«
»Ach herrje«, Stradivarius kratzte sich mit einem seiner kochlöffellangen Dirigentenzeigefinger hinter dem Ohr. »Was machen wir denn da? Ich hab’s. Dann üben wir das Sonnwendlied eben hier bei euch, während ihr dieses … dieses Zeug da putzt. Aber tut mir einen Gefallen: Putzt leise. Das Geschrubbe stört mein empfindliches Gehör.«
Finnja, Maja und die fünfundfünfzig Grillen rollten die Augen. Dann gruppierte sich der Chor im Halbkreis um die beiden sitzenden Mädchen. Stradivarius hielt einen Zeigefinger an die Lippen und wartete ab, bis keinerlei Flügelgeraschel und Getrippel mehr zu hören war, dann tippte er dreimal mit dem Finger in die Luft, als drücke er eine unsichtbare Klingel, und wie auf Kommando erklang aus siebenundfünfzig Kehlen ein vielstimmiger Gesang.
Stradivarius klatschte ein paar Mal in die Hände. »Das gefällt mir schon sehr gut, nur …« – der Elf holte tief Luft und sah Finnja streng an – »liebe Finnja, was soll ich nur mit dir machen? Das ist doch nun wirklich nicht viel Text, aber du scheinst ihn immer noch nicht auswendig zu können. Du magst zwar Prinzessin sein und übermorgen Geburtstag haben, aber dennoch wirst du mir heute noch die Strophe auswendig und fehlerfrei vortragen. Ich erwarte dich am frühen Abend nach dem Mückentanz in meiner Höhle.«
Finnja wollte eben ansetzen zu protestieren, als in der Ferne Hufgetrappel zu hören war, das schnell lauter wurde. Begleitet von einer Staubwolke näherte sich Hermarius, der Kundschafter der Feen. Noch im Lauf sprang er von seinem weißen Silberflockling ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch das Fell seines Reittiers ringelte sich vor Feuchtigkeit und das lange gedrechselte Horn auf der Stirn schimmerte nicht mehr silbern, sondern grau – ein sicheres Anzeichen dafür, dass das Tier erschöpft war. Die Silberflocklinge waren spezielle, von den Feen für lange Ausritte und die Feldarbeit gezüchtete Einhörner. Sie besaßen nur noch Flügelstummel und konnten daher nicht mehr fliegen wie gewöhnliche Einhörner; stattdessen waren sie jedoch besonders robust, kräftig und ausdauernd.
»Wo ist Lynn? Bringt mich sofort zu Lynn. Ich habe etwas Wichtiges zu melden.«
Aufs Höchste beunruhigt, führten ihn Finnja und Maja sowie der gesamte Grillenchor samt Stradivarius zur Wohnhöhle der Feenkönigin. Auf dem Weg dorthin ließen auch andere Feen, neugierig geworden, ihre Arbeiten liegen und schlossen sich dem Zug an. Schließlich fand sich der gesamte Feenstamm vor der Wohnhöhle ein. Hermarius trat vor und rief: »Geliebte Herrin über das Feenland, tritt heraus. Ich habe eine Meldung von großer Wichtigkeit zu machen.«
Hermarius hatte kaum geendet, als Lynn im Eingang ihrer Höhle erschien. Ihr eigentlich hüftlanges silberblondes Haar lag aufgerollt auf Tannenzapfen wie Sahnehäubchen rund um ihren Kopf. Unter ihrem, aus Flachs gewebten Umhang spitzte einer der magischen Libellenschuhe hervor, die Lynn nur zu festlichen Anlässen trug. Sie ließen ihre Trägerin über dem Boden schweben und verliehen ihr dadurch mehr Eleganz und Größe.
Finnja vermutete, ihre Mutter war gerade beim Anprobieren gestört worden, denn sie trug nur einen der beiden Schuhe. Wenig majestätisch ruderte sie mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und kickte schließlich den Schuh von ihrem Fuß – was das eine oder andere belustigte Glucksen aus der Menge der Zuschauer zur Folge hatte. So königlich es Lynn in diesem Moment noch möglich war, ließ sie den Blick über die versammelte Feenschar schweifen und richtete ihn schließlich auf Hermarius.
»Was führt dich zu mir? Was kann so wichtig sein, dass du mich und die Vorbereitungen zum Fest der Mondbeeren und zum Geburtstag meiner geliebten Tochter störst?«
Hermarius schluckte unmerklich, straffte aber gleich darauf die Schultern. »Niemals würde ich wagen, euch zu stören, verehrte Herrin, wenn nicht der Anlass von höchster Dringlichkeit wäre.« Zögerlich blickte er die Feenkönigin an, bevor er fortfuhr. »Es droht äußerste Gefahr.«
Ein Raunen ging durch die Menge.
»Was bringt dich zu dieser Annahme?«, fragte Lynn und brachte ihre Untertanen mit einer Handbewegung zur Ruhe.
Hermarius räusperte sich nervös und fuhr dann fort: »Ich habe ungewöhnliches Treiben bemerkt. Hinter den Grenzen deines Reichs, im Sumpfgebiet rund um das Kloster Mon Diö, hängt seit zwei Tagen eine pechschwarze Wolke am Himmel. Bisweilen ist ein Grollen und Heulen zu hören und gewaltige Windböen biegen die Wipfel der Bäume bis zum Boden. Des Nachts scheinen gar Funken am Himmel zu sprühen.«
Erneut ging ein Raunen durch die Menge, einige der älteren Feen schlugen erschrocken die Hände vor den Mund und ein kleines Feenkind fing sogar an zu weinen. Jeder im Feenreich wusste, dass im Turm der alten Klosterruine Mon Diö im Herzen des nebelfeuchten Sumpflands die Hexe Swampilla hauste. Und dass diese nur eines im Sinn hatte: den Feen zu schaden. Das Brausen und Heulen konnte nichts Gutes verheißen.
Lynn ließ den Blick über ihre Untertanen schweifen. Dann räusperte sie sich und sah Hermarius streng mit gerunzelter Stirn an. »Ist das alles, Hermarius? Ist dies die äußerste Gefahr, die du erkannt haben willst, mit der du mein Volk beunruhigst und uns allen die Freude am bevorstehenden Fest trübst?«
Überrascht von Lynns Worten, öffnete Hermarius den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Lynn machte eine unwirsche Handbewegung.
»Hört mir zu, meine geliebten Untertanen. Seid nicht töricht. Dunkle Wolken, Grollen, Funken am Himmel – was kann, was soll das sein? Seit Tagen lastet über dem Feenland und über den Sümpfen von Mon Diö eine ungewöhnliche, nahezu unerträgliche Schwüle. Es wird Zeit, dass sich diese entlädt. Was Hermarius gesehen hat, sind die Vorboten eines Gewitters. Eines vermutlich sehr heftigen Unwetters. Lasst uns hoffen, dass es nicht genau zum Fest auf uns herniedergeht. So, und nun macht euch wieder an eure Arbeit.«
Mit diesen Worten wandte sich Lynn ab und verschwand in ihrer Höhle. Langsam löste sich die Menge auf. Und auch Hermarius trottete kleinlaut zurück zu seinem Silberflockling, das ungeduldig schnaubend auf einen Eimer Wasser wartete.
Nur Finnja blieb noch einen Moment stehen. Sie kannte ihre Mutter besser als alle anderen. Ihr war nicht entgangen, dass sie bei Hermarius’ Worten kaum merklich zusammengezuckt und erblasst war. Aber weshalb, wenn es sich bei der vermeintlichen Gefahr doch nur um ein drohendes Gewitter handelte? Was verbarg sie?
Der Wind fauchte um die verwitterten Mauern der Klosterruine Mon Diö, zerrte an den hölzernen Fensterläden und zerrupfte die Kronen der Schwarzerlen. Wolken rasten am Mond vorbei und spien dabei Regentropfen aus, so dass die Blätter wie nasse Waschlappen tropften und der Sumpf rund um das Gemäuer gluckste und blubberte.
Durch die zersprungene Scheibe des obersten Turmfensters betrachtete Dragon das Unwetter und die morastige Wiese vor dem einstigen Kloster. Niemand setzte freiwillig einen Fuß vor die Tür, auch nicht die Ratte Miss Souri, obwohl sie nur ungern auf die Jagd nach Riesenkakerlaken verzichtete. Aus Furcht vor dem Donnergrollen hatte sie sich in Dragons Arme geflüchtet. Erschrocken wich Dragon zurück, als ein Blitz einen Zacken in den tintenschwarzen Nachthimmel riss, gefolgt von rumpelnden Donnerschlägen.
»Essss issss genausssso wie vor fünfzehn Jahren«, wisperte Miss Souri.
»Ja«, flüsterte Dragon, während er mit kalten, bleichen Fingern das Nackenfell der Ratte kraulte. »In solch einer Nacht ist es geschehen. Wie könnte ich das je vergessen?«
Dragon betastete die beiden ovalen Seidenklappen, die zwei seiner drei Augen wie eine Schlafmaske bedeckten. Niemand sollte die Narben und die milchigen Augäpfel sehen, deren Licht seit damals von Nebelwolken verschluckt war. Schmerz huschte über die hageren Wangen des alten Drachenfürsten, während sich die Ereignisse jener Nacht wie ein Kinofilm vor seinem inneren Auge abspulten: sein ungläubiges Entsetzen, als sich die scheinbar so liebliche Feenkönigin plötzlich in eine vor Wut zitternde Furie verwandelte, ihr vor Hass und Verachtung verzerrter Mund, die winzige Glasflasche mit dem grünschillernden Trüblix in ihrer Hand und der wie eine Stichflamme aufschießende Schmerz in seinen Augen.
»Niemals wirst du mich küssen, niemals werde ich die Deine sein, niemals wieder wirst du mich anglotzen wie ein widerlicher alter Karpfen«, hatte Lynn ihm entgegengespien, als sie mit einer blitzschnellen Handbewegung das Fläschchen öffnete und ihm die ätzende Flüssigkeit in die fassungslos aufgerissenen Augen kippte. Wie hatte sie es wagen können, ihn so zu verletzen und zu beleidigen? Und wie dumm war er gewesen, ihre Fesseln zu lösen.
»Wie soll ich dich, du schönster und mächtigster aller Drachenherrscher, in die Arme schließen, wenn meine Hände gebunden sind?«, hatte sie nur wenige Minuten zuvor gesäuselt. Alles Lug und Trug. Noch jetzt, fünfzehn Jahre später, meinte Dragon vor Zorn und Scham innerlich zu verglühen.
So ungern Dragon es sich selbst eingestehen mochte, die Feenkönigin hatte nicht nur zwei seiner drei Augen zerstört, sie hatte eine brennende Wunde in seiner Seele hinterlassen: Er wurde alt. Noch vor zweihundertfünfzig Jahren hatte er über seine Eltern gespottet. Doch nun wusste er, dass diese mit ihren düsteren Prophezeiungen recht behalten sollten. Sobald ein Drachenfürst aus der Dynastie der Dragoniaten fünfhundertfünfundfünfzig Jahre alt wurde, ging es mit seinen Kräften bergab. So schmerzte ihn neuerdings nach einem Ritt auf einem seiner zweihundert Drachen der Rücken. Und vor seinem noch intakten Auge, dem auf der Stirn, waberte seit Kurzem ein Schleier, der sich nicht wegzwinkern ließ – was die eine oder andere Peinlichkeit mit sich brachte. Hatte er doch am Tag zuvor beinahe Miss Souris Nacktschnecken-Geschnetzeltes statt des leckeren Blattlaus-Smoothies zu sich genommen – zum Glück hatte die Ratte empört gequiekt. Dragon schniefte und fischte frustriert ein SchuggaSchugga aus seiner Manteltasche. In solchen Momenten waren die gezuckerten Mehlwürmer sein einziger Trost.
Warum waren bloß alle so fies zu ihm? Denn auch hier, in der Ruine Mon Diö, bewunderte ihn niemand. Dabei hatte er erwartet, als geladener Gast der Sumpfhexe Swampilla hofiert zu werden. Verstohlen betrachtete Dragon seine Cousine. Sie kauerte auf ihrem Bett aus Sumpfgras, Moos und Seerosenblüten und hielt in einer Hand einen kleinen, aus den Schwanzhaaren eines Dachses gebundenen Pinsel. Ihr zu Füßen kauerte die Riesenkröte Unkula, die ein großes Schneckenhaus in ihren Tatzen hielt. Es diente als Behältnis für die Farbe, mit der sich die Sumpfhexe die Fußnägel lackierte, von denen jeder mindestens die Größe einer Riesenmuschel hatte.
So ungewöhnlich diese auch aussahen, das Erschreckendste an Swampilla waren die Schlammwarzen, mit denen sie übersät war. Je nach Laune konnten sich diese von grün über braun zu schwarz verfärben. Spätestens, wenn sie schwarz waren, sollte man das Weite suchen, denn dann fingen Swampillas Pupillen an zu glühen. Wer ihr dann noch in die Augen blickte, konnte von einem Wimpernschlag auf den anderen nicht mal mehr den kleinen Finger rühren, sondern würde stattdessen zu Stein erstarren – so wie die elf Mönche, die vor vielen Jahren der Sumpfhexe den Einlass in ihr Kloster verwehrten. Oder wie die vorlaute Kröte, die bei einem von Swampillas Kontrollgängen durch die Sümpfe zur Begrüßung der Hexe respektlos gefurzt hatte.
Dragon wandte seinen Blick wieder dem Fenster zu. Schade, dass seine Cousine ständig so miesepetrig guckte wie ein Lurch mit Blähungen. Ansonsten könnte sie mit ihren großen Augen und wuscheligen Haaren fast aussehen wie eine harmlose schrullige Kräuterhexe. Und falls sie aus Versehen mal lachte, was so gut wie nie vorkam, fielen sogar die Schlammwarzen, gegen die sie so verzweifelt ein Mittel suchte, kaum noch auf. Aber vermutlich fürchtete sie, nicht mehr für voll genommen zu werden, wenn sie nicht grimmig guckte. Dragon rollte mit den Augen.
So wie die Dinge im Moment lagen, schien Swampilla weit davon entfernt zu sein, ihn anhimmeln zu wollen. Dabei hatte er alles getan, um sie für sich zu gewinnen. Vor seinem Aufbruch nach Mon Diö war er täglich die fünfhundert Stufen seines Wachturms hinaufgekeucht, um seine Wampe loszuwerden. Unter Schmerzen hatte er sich von der Turmkrähe Rabiata die wuchernden Nasenhaare herauszupfen lassen. Alles umsonst. Was immer Swampilla im Schilde führte, mit zärtlichen Gefühlen ihm gegenüber hatte es nichts zu tun.
Umso mehr richtete sich sein Groll gegen diejenige, die er als eigentliche Ursache für seine Einsamkeit und seine Schmach betrachtete: die Feenkönigin Lynn.
»Na warte«, murmelte Dragon. »Es kommt der Tag, da wirst du bereuen, geboren worden zu sein. Und dieser Tag ist näher, als du denkst.«
»Was flüsterst du da? Sprichst du jetzt schon mit dir selbst wie die Kröte Dabbelbabbel?«
Ertappt drehte sich Dragon um zu seiner Cousine, die seinen Blick mit spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln erwiderte.
»Ich habe nur laut gedacht«, antwortete Dragon. »Nichts von Bedeutung.«
»Denken? Du? Halleluja. In Mon Diö geschehen tatsächlich noch Wunder, wenn auch nicht von Bedeutung«, murmelte Swampilla, aber immer noch laut genug, dass Dragon es hören konnte. Der alte Drachenzüchter presste die Lippen zusammen und schluckte die Beleidigung herunter wie eine dicke schwarze Fliege. »Wie schaffst du es eigentlich, dass die Farbe auf den Nägeln kleben bleibt?«, fragte er mit geheucheltem Interesse.
Swampilla rollte die Augen. »Ja wie wohl? Mit der Spucke besonders alter Schwalben natürlich.«
»Aaah, wie klug du bist«, rief Dragon bewundernd. »Da hat Leonidas ja ganze Arbeit geleistet, nicht wahr?«
»Ja, auf den ist wenigstens Verlass.« Liebevoll betrachtete Swampilla ihren gelb-schwarz gestreiften Riesenkater, der ausgestreckt in der Ecke auf einem Kissen aus Schilfgras lag und döste. An seiner Schnauze klebten noch ein paar Federn, unter einer der Pfoten ragten blutige Knöchelchen hervor.
Dragon verzog angewidert das Gesicht. Im Gegensatz zu Swampilla konnte er die Wildkatze nicht leiden. Verschlagen blickte sie ihn aus ihren phosphorgelben Augen an.
»Soll das vielleicht heißen, dass auf mich kein Verlass ist?«, erwiderte er und ärgerte sich über den quengeligen Ton in seiner Stimme. Selbstbewusst klang anders.
Ein feines Lächeln schlich sich auf Swampillas Lippen, als sie sich nach vorne beugte, um den Nagel ihres nicht wirklich kleinen Zehs zu bearbeiten.
»Aber, aber, mein lieber Dragon, natürlich ist auf dich Verlass – Verlass darauf, dass du immer nur jammerst und nie etwas unternimmst.«
»Waaas?« Dragon spürte, wie ihm heiß wurde. Mit zwei großen Schritten baute er sich drohend vor Swampillas Lager auf.
»Was fällt dir …«
»Beruhige dich, liebster Cousin«, fiel ihm Swampilla ins Wort und legte eine Hand auf Dragons Arm. »Ich meine es nur gut mit dir. Sag doch mal, welcher Tag ist übermorgen?«
Dragon blickte ratlos auf Miss Souri, die ihn aus der Manteltasche heraus beobachtete. Mit den Lippen formte sie stumm: der 21. Juni.
»Der 21. Juni«, sagte Dragon laut.
»Danke, Miss Souri«, antwortete Swampilla. »Was wäre Dragon nur ohne dich?«
Miss Souri lächelte geschmeichelt und wich dem Hieb aus, den Dragon ihr verpassen wollte.
»Und was ist am 21. Juni?«
Dragon straffte die Schultern. »Sonnenwende. Das weißt du doch. Was soll das …«
»Genau«, unterbrach ihn Swampilla. »Und für welche elenden Kreaturen ist dieser Tag von größter Bedeutung?«
»Für die Feen«, antwortete Dragon zähneknirschend. War es nötig, ihn darauf hinzuweisen? Als ob er das nicht wüsste.
»Richtig«, kreischte Swampilla und fuchtelte mit dem Pinsel in der Luft herum.
»21. Juni. Der höchste Feiertag der Feen. Der Tag der Mondbeerenernte, dieser magischen und geheimnisvollen Früchte, die angeblich wahre Zauberkräfte besitzen. Kannst du mir verraten, mit welchem Recht diese dreimal verfluchten Lichtwesen die Mondbeeren für sich beanspruchen und ihre Geheimnisse mit niemandem teilen wollen? Das ist doch asozial. Oder findest du nicht?«
Verständnislos sah Dragon seine erzürnte Cousine an.
»Äh, wieso? Ist mir ehrlich gesagt egal.«
»Aber mir nicht«, kreischte Swampilla und Dragon schloss angesichts der sich bedrohlich verdunkelnden Schlammwarzen schnell alle Augen. »Und vielleicht ist dir nicht egal, was am 21. Juni vor fünfzehn Jahren geschah?«, säuselte Swampilla plötzlich ganz nah in sein Ohr, so dass Dragon ihren warmen Atem spürte.
Erschrocken zuckte er zurück, was Swampilla zu seinem Ärger mit einem Lächeln quittierte. Peinlich berührt räusperte sich Dragon, um Swampilla gleich darauf anzuraunzen: »Willst du mich quälen? Erinnere mich nicht daran, sonst … sonst …«
»Was sonst? Gar nichts sonst, du halbblinder Jammerflunz von einem Drachenzüchter«, entgegnete Swampilla.
»Was fällt dir ein?«, brüllte Dragon und machte Anstalten, seine Cousine an den Haaren zu packen.
»Mir ist in der Tat etwas eingefallen«, sagte Swampilla, während sie Dragon blitzschnell auswich, »etwas Großartiges. Etwas, das dir sehr gefallen wird. Etwas, was dein Leben von Grund auf verändern wird. Oder was dachtest du, weshalb ich dich ausgerechnet jetzt zu mir eingeladen habe?«
Schlecht gelaunt peitschte Leon mit einem abgebrochenen Ast das ausgetrocknete kniehohe Gras vor seinen Füßen. Seinem Gefühl nach musste er schon Stunden unterwegs sein – bisher jedoch ohne Erfolg. Schweißperlen rannen ihm über die Stirn und brannten ihm in den Augen, und sein T-Shirt klebte am Rücken. Schatten gab es so gut wie keinen, denn aus dem Grasland ragten nur vereinzelt Bäume auf.
Wenn er nur wüsste, unter welchen von ihnen er sich am Vortag gesetzt hatte. Oder wo genau er gelaufen war. Doch darauf hatte er nicht geachtet. Die Chancen, sein Handy wiederzufinden, standen schlecht. Aber so was von.
Schließlich konnte er kaum jeden Halm umbiegen oder jedes Grasbüschel durchwühlen. Trotzdem. Er musste es finden. Unbedingt. Allein der Gedanke, es hier ohne Smartphone aushalten zu müssen, schnürte ihm den Hals zu. Das war Horror. Dagegen wären die Qualen von diesem antiken Typen in dem antiken Buch, von dem Opa unbedingt wollte, dass er es las, ein Witz.
Apropos Opa: Heute hatte er sich wieder selbst übertroffen. Ich arbeite, du arbeitest, er/sie/es arbeitet und so weiter. Ich arbeitete, du arbeitetest und das Ganze dann auch noch in Futur. Leons Zunge fühlte sich jetzt noch an wie verknotet. Nicht zu reden von seinem Hirn. Wahrscheinlich hatten die Schüler, die Opa als Lateinlehrer erleiden mussten, bis zum Umfallen gefeiert, als er in Pension ging. Leon reichte schon die Nachhilfe, die er ihm verpasste. Drei Wochen sollte er hier seine Schulferien verbringen, wobei von Ferien kaum die Rede sein konnte. Wann immer es ging, suchte Leon das Weite, und davon gab es hier mehr als genug. Früher, da konnte man in Altkleinkirchdorf wenigstens noch ins Schwimmbad oder Kino gehen. Doch mittlerweile sammelte sich in den leeren Schwimmbecken welkes Laub und die Filmplakate waren vergilbt. Auch auf dem Fußballplatz tat sich nichts mehr, eins der beiden Tore war sogar in sich zusammengebrochen, der Kiosk mit Brettern verrammelt.
Wie man es hier aushalten konnte, war ihm ein Rätsel, doch seinen Großeltern gefiel es. Oma puzzelte den lieben langen Tag in ihren, Kräuter- und Gemüsebeeten rum, Opa las ganze Bücherregale leer oder »dirigierte« Opern, die er auf CD anhörte. Manchmal war Opas Musik so laut, dass Leon trotz Kopfhörer seine eigene kaum hören konnte.
Apropos Musik: Auch das war vorbei, wenn er sein Handy nicht wieder fand. Und auch Filme gucken oder mit Ben schreiben. Sein Kumpel hatte es gut. Der war mit seinen Eltern in Spanien.
Verzweiflung wallte in Leon auf. Wieso musste sein Vater eigentlich dauernd arbeiten und seine Mutter sich selbst finden und erden, wie sie sagte, und das Ganze in der Toskana? Und was meinte sie überhaupt mit erden? Leon musste an ein Bild denken, das Ben auf Instagram gepostet hatte. Da lag er bis zum Hals eingebuddelt im Sand und lachte, nur der Kopf schaute noch raus. Aber so etwas meinte seine Mutter bestimmt nicht. Für sie schien Erden eine sehr ernste Sache zu sein.
Ratlos stocherte Leon mit dem Ast im staubigen Boden. Weshalb erdete sie sich eigentlich nicht hier? Hier gab es massenhaft Erde. Und finden könnte sie hier doch vielleicht auch das, was sie suchte. Und wenn nicht, dann vielleicht das, was ER suchte. Schließlich war sie nicht ganz schuldlos am Verlust seines Handys. Hätte sie seine Hose – ausgerechnet seine Lieblings-Bermuda – noch geflickt, wäre in der Hosentasche kein Loch gewesen, das sich dann auch noch klammheimlich vergrößert hatte.