Flammennächte über Aan - Holger Stalfort - E-Book

Flammennächte über Aan E-Book

Holger Stalfort

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Beschreibung

Flammennächte über Aan Wie konnte es nur soweit kommen? Königin Astrid musste Prinz Randos aus Westlande zum Gemahl nehmen. Damit scheint ihr Schicksal und das ihrer Untertanen besiegelt zu sein. König Angantyr muss nun erkennen, dass er einem arglistigen Komplott aufgesessen ist. Unaufhaltsam scheint der Sturz der freien Königreiche. Was aber hat das Erwachen der Feen zu bedeuten, die einander nach dem Leben trachten? Der Kampf um Aan beginnt und Mittellandes Feinde werden immer mächtiger. Auch in Luna entzweien Unfrieden und Zwietracht die Menschen. Wo steckt König Robin von Vergessene Lande? Warum begehrt Elastor auf und will den König und die Königin stürzen? In einer Zeit von Umsturz und Verrat muss Eleon sich behaupten. Je weiter sie in die Geheimnisse ihres Buches vordringt, desto bewusster wird ihr, dass ihre Zukunft von weiteren Bürden geprägt sein wird. Während König Hiastir in den Krieg zieht, um dem Treiben der Feen ein Ende zu setzen, zieht Dunkelheit über das Königreich Ostlande auf. Mit der Zeit des 2. Zeitalters in Aan weitet sich die Geschichte um die magischen Mondsteine, das Mysterium der Feen und die Vergangenheit der Großen Häuser aus. Unausweichlich beginnt der Krieg um Aan. Flammennächte über Aan erzählt den dritten Teil der Saga um Robin, Eleon, Astrid und die Feen von Aan.

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Holger Stalfort

Flammennächte über Aan

Wie konnte es nur soweit kommen? Königin Astrid musste Prinz Randos aus Westlande zum Gemahl nehmen. Damit scheint ihr Schicksal und das ihrer Untertanen besiegelt zu sein.

König Angantyr muss nun erkennen, dass er einem arglistigen Komplott aufgesessen ist. Unaufhaltsam scheint der Sturz der freien Königreiche. Was aber hat das Erwachen der Feen zu bedeuten, die einander nach dem Leben trachten?

Der Kampf um Aan beginnt und Mittellandes Feinde werden immer mächtiger. Auch in Luna entzweien Unfrieden und Zwietracht die Menschen. Wo steckt König Robin von Vergessene Lande? Warum begehrt Elastor auf und will den König und die Königin stürzen?

In einer Zeit von Umsturz und Verrat muss Eleon sich behaupten. Je weiter sie in die Geheimnisse ihres Buches vordringt, desto bewusster wird ihr, dass ihre Zukunft von weiteren Bürden geprägt sein wird. Während König Hiastir in den Krieg zieht, um dem Treiben der Feen ein Ende zu setzen, zieht Dunkelheit über das Königreich Ostlande auf.

Mit der Zeit des 2. Zeitalters in Aan weitet sich die Geschichte um die magischen Mondsteine, das Mysterium der Feen und die Vergangenheit der Großen Häuser aus. Unausweichlich beginnt der Krieg um Aan.

Flammennächte über Aan erzählt den dritten Teil der Saga um Robin, Eleon, Astrid und die Feen von Aan.

Königreiche und Familienstammbäume der Großen Häuser von

AAN

Dunkellande

Feenlande

König Thorsis & Königin Tandra

Königin Ailianne

Koldor & Thara

Merena & Androme

Nordlande

Südlande

Königin Sara & König Thorm

König Hiastir & Königin Aryja

Astrid

Sera, Algor, Sirra, Surra, Amgor & Argon

Ostlande

Westlande

König Iranus & Königin Theresa

König Atos & Königin Eferia

Irus, Ira

Argos, Randos & Famos

Mittellande

Seenlande

König Angantyr & Königin Eleonora

König Angor & Königin Marian

Ragan, Lydia & Eleon

Leander & Leor

Vergessene Lande

Robins Familie

König Robin & Königin Astrid

Chris & Cornelia von Mer

Nova

Robin

Inhalt

Prolog

188. Zeit des 2. Zeitalters in Aan

189. Nordlande

190. Ostlande

191. Seenlande

192. Nordlande

193. Vergessene Lande

194. Westlande

195. Italien

196. Westlande

197. Mittellande

198. Feenreich

199. Westlande

200. Italien

201. Südlande

202. Westlande

203. Nordlande

204. Vergessene Lande

205. Mittellande

206. Vergessene Lande, Grenze zum Feenland

207. Südlande

208. Auf dem Meer zwischen Nord- und Ostlande

209. Mittellande

210. Dunkellande

211. Südlande

212. Ostlande

213. Westlande

214. Feenreich

215. Zeit des 2. Zeitalters

216. Seenlande

217. Mittellande

218. Südlande

219. Feenreich

220. Dunkellande

221. Italien

222. Vergessene Lande

223. Zeit des 2. Zeitalters

224. Ostlande

225. Südlande

226. Mittellande

227. Nordlande

228. Mittellande

229. Feenreich

230. Mittellande

231. Westlande

232. Lübeck – Anno 1352

233. Zeit des 2. Zeitalters

234. Italien Castel del Monte

235. Vergessene Lande

236. Feenreich

237. Ostlande

238. Hamburg

239. Mittellande

240. Feenreich

241. Südlande

242. Hamburg

243. Mittellande

244. Zeit des 2. Zeitalters von Aan

245. Feenreich

246. Hamburg

247. Feenreich

248. Westlande

249. Feenreich

250. Vergessene Lande

251. Mittellande

252. Im Osten Mittellandes

253. Nordlande

254. Zeit des 2. Zeitalters von Aan

255. Lübeck 1352

256. Vergessene Lande

257. Feenreich

258. Vergessene Lande

259. Zeit des 2. Zeitalters von Aan

260. Ostlande

261. Nordlande

262. Mittellande

263. Nordlande

264. Zeit des 2. Zeitalters von Aan

265. Vergessene Lande

266. Nordlande

267. Dunkellande

268. Zeit des 2. Zeitalters von Aan

269. Seenlande

270. Westlande

271. Nordlande

272. Vergessene Lande

273. Mittellande

274. Westlande

275. Zeit des 2. Zeitalters in Aan

276. Nordlande

277. Mittellande

278. Südlande

279. Ostlande

280. Vergessene Lande

281. Ende der Zeit des 2. Zeitalters in Aan

282. Vergessene Lande

283. Südlande

284. Mittellande

285. Nordlande

286. Feenreich

287. Mittellande

Epilog

Wer tiefer in die Welt von Aan eintauchen will, kann sich mit meiner Spotify Playlist in die passende Stimmung begeben.

Aan Book 3: Nights of Flames

Bereits erschienen:

Die vergessene Welt Aan

Die Feen von Aan

Besuche mich auf Instagram:

h.stalfort (@stalfort_aan)

Für Claudia, Tilo & Jula.

Einatmen. Ausatmen. Augen schließen.

Licht folgt der Dunkelheit.

Dunkelheit folgt dem Licht.

`Black feathers in the storm

Where will we fall?

Will we ever be home?

Let`s let the wind decide where we are going to fall.`1

Flammennächte über Aan

Drittes Buch

Prolog

5. Zeitalter von Aan, 99. Mondjahrhundert, 39. Mondphase

In der Dunkelheit der Stollen huschten Frauen zwischen zerklüfteten Gebirgsspalten herum. Zielstrebig suchten sie einen merkwürdigen Bau auf, der sich trotzig in einer Höhle in die Höhe reckte und nur über eine schmale Steinbrücke zu erreichen war. Dunkelrotes Feenlicht, das von den Rändern der Feenflügeln wie der Schein vieler Glühwürmchen aufflackerte, tauchte den Ort in ein mystisches Licht. Die Feen folgten dem Pfad in das Innere des Turms, schritten die Stufen in das Gewölbe hinab und verharrten dort in vollkommener Ruhe.

Mächtige Hammerschläge klopften Gestein aus dem Berg. Ein Geräusch, das täglich erklang und dessen Laut in ihren feinen Gehören schmerzte. Das Hämmern der Menschen hörte niemals auf, weil die Dunkelländer Dawn seit Urzeiten ober- und unterirdisch erweiterten. Das Geräusch näherte sich den Feen, weil die Menschen die Stollen unter Dawn immer weiter in ihre Richtung ausbauten.

„Unsere Königin hat uns eine Botschaft gesendet, Schwestern. Bald schon wird sie wieder den Wind unter den Flügel fühlen und zu uns stoßen. Lunas Blutlinie scheint ausgelöscht zu sein. Ariell lässt uns wissen, dass König Thorsis töricht gehandelt hat. Wir müssen unserer Augenmerk auf das Kind richten. Hoffen wir, dass das Mädchen auserwählt ist.“

Die Hammerschläge wurden lauter. Eine Nachtfee drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Feiner Staub rieselte von der Turmdecke auf sie herab.

„Ich hasse sie! Ihre Begierde kennt keine Grenzen. Tötet die Menschen in den Stollen. Lasst weitere Gänge einstürzen. Danach fliegt hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Unsere Königin erwartet Auskünfte über das Kind.“

„Wo sollen wir es suchen?“

„Westlande. Dort hat sich Prinz Randos mit Astrid von Skyark vermählt. Das Kind wird dort sein. Eilt geschwind! Fliegt mit den Nachtwinden!“

188. Zeit des 2. Zeitalters in Aan

Anfasan und Joshua wanderten durch eine öde Steppe, in der die Sonne erbarmungslos von einem blauen Himmel auf sie herunterbrannte. Salzige Schweißtropfen standen ihnen auf der Stirn und liefen das Gesicht zum Hals herunter, wo der weiche, leichte Stoff ihrer Kaftane den Schweiß auffing und feucht auf der Haut klebte.

Vater und Sohn trugen weiße Kaftane, deren Kapuzen ihre Gesichter vor der Sonne schützten und die bodenlang gearbeitet waren, damit auch der Rest des Körpers vor der Sonne verhüllt war. Schweigsam führten sie ihre Pferde, stolze schwarze Hengste, an den Riemen hinter sich her. Ihnen folgten einige Männer, die zwar ähnlich gekleidet waren, dem Stand entsprechend aber in schwarzen Kaftanen wanderten. Die Männer waren die persönliche Leibgarde des Königs und des jungen Prinzen.

Anfasans Wächterkrieger trugen lange Krummschwerter in goldenen Scheiden an ihren Gürteln, die den einzigen Laut beim Gehen in dieser Ödnis von sich gaben. Der Tross war bereits seit mehreren Mondtagen unterwegs. Die Gruppe wanderte geradewegs auf ein Inferno zu, das sich weit entfernt vor ihnen als grauer Punkt andeutete. In der Ferne erhob sich ein Sandsturm.

„Schnell! Treibt die Pferde zusammen!“, gab Anfasan Befehl.

Hastig führten seine Männer die Pferde an ihren Halftern zusammen. Mit geballter Kraft versuchten sie die Tiere dazu zu bringen, sich hinzulegen. Die abgenommenen Sättel legten sie auf einen Stapel. Danach eilten sie mit Decken auf die Vierbeiner zu und verhängten ihnen die Augen und Nüstern. Die Männer versuchten die von Unruhe gezeichneten, laut wiehernden Hengste zu beruhigen. Ein Pferd stieg energisch auf und schlug dabei mit den Vorderhufen aus, während ein weiteres Tier sich kraftvoll von der Leine losriss. Beide Hengste galoppierten in die Wüste davon. Den Männern blieb nur das Nachsehen.

„Lasst sie! Sorgt für eure Sicherheit“, rief Anfasan seinen Soldaten zu.

Der Wind wurde stärker und die ersten Sandkörner schlugen auf sie ein. Joshua wurde von seinem Vater schützend in den Arm genommen. Anfasan bedeutete seinem Sohn sich zu setzen.

„Setz dich ruhig hin, mein Sohn, und lehn dich an mich.“

„Ja, Vater.“

Beide zogen die Kapuzen fest über ihren Kopf und Anfasan hockte sich so in den Sand, dass er seinem Sohn Schutz bieten konnte, indem sich Joshua an die Brust seines Vaters lehnte, der zugleich schützend seine Arme um ihn legte. Dieser fühlte die wirbelnden Sandkörner wie unzählige Nadelstiche in seinem Rücken. Der Sandsturm zerrte nun immer heftiger an ihnen, und ihre Kleidung flatterte im Wind. Feiner Sand türmte sich hinter Anfasan auf und die Gewalt des tosenden Sturms nahm weiter zu. Der Wind rüttelte an seinem Sohn und Anfasan musste seine ganze Kraft aufbringen, damit er nicht wegflog. Um ihn herum versuchten seine Männer weiterhin die Pferde zu beruhigen, die die Flucht ergreifen wollten. Anfasan hörte die Tiere wiehern und sah, wie die Decken flatterten. Der König versuchte durch seinen Schal, den er vor das Gesicht gezogen hatte, zu erkennen, wie weit das Auge des Sturms noch entfernt war. Feine Sandkörner wirbelte vor seinen Augen herum, als er seinen Kopf drehte. Es war unmöglich den Blick zu halten und er wendete sich zu seinem Sohn zurück, der den Kopf gesenkt hielt. Der Sand prallte nun geschossartig auf ihn und die Männer ein. Anfasan wollte vor Schmerzen aufschreien, aber ein König musste Stärke beweisen. Der Herrscher von Südlande biss daher tapfer die Zähne zusammen. Nur Schwächlinge und Muttersöhnchen jammerten laut wie ein Weib. Hinter sich fühlte er den Wüstensand, der sich an seinem Rücken anfing aufzutürmen.

Sandstürme waren in dieser Jahreszeit in Südlande nichts Besonderes. Man musste immer mit ihnen rechnen.

Mit einem Mal hallten laute Schreie durch den tosenden Wind. Waren da draußen Frauen und Kinder?

Anfasan versuchte etwas zu erkennen. Zunächst sah er nichts. Seine Augen blinzelten durch den Schal, um ein klares Bild zu erhaschen, und er meinte Umrisse zu erkennen. Schemen. Es sah so aus, als wenn einige Wesen durch den Sturm wanderten. Anfasan schwieg, rührte sich nicht und beobachtete die Kreaturen, die dem Sandsturm trotzten. Die Wesen waren nur undeutlich auszumachen. Seine Augen ruhten auf der Gestalt, die vor ihm auftauchte. Lange Haare schauten unter der Kapuze hervor und wehten wild im Wind. Trotz der langen Haare war sich Anfasan unsicher, ob es eine Frau oder ein Mann war, den er erblickte. Eine Kreatur kam ihnen deutlich näher und blieb direkt vor ihm und Joshua stehen. Anfasan hätte seine Hand nur seitlich ausstrecken müssen, um die Gestalt zu berühren. Während er vor Angst schlotterte, wirkte sein Sohn wie versteinert und hielt das Haupt noch tiefer gesenkt.

Der Sand um Anfasans Rücken türmte sich weiter wie ein Sandberg auf, wobei sein Sohn vor ihm bereits tiefer vom Sand bedeckt war. Das Wesen drehte den Kopf in seine Richtung. Es trug zerlöcherte Hosen und einen zerlöcherten Kaftan, der ebenfalls den Kopf bedeckte. Im Sandsturm konnte Anfasan das Gesicht immer noch nicht wirklich erkennen. Dann drehte sich das Wesen und gewährte ihm einen kurzen Blick. Hatte er richtig gesehen? War das Bild, das er erkannt hatte, eine Täuschung, verursacht durch den Sand, der unverändert auf ihn einschlug und in seine Augen flog?

Die Kreatur wendete sich langsam um und weitere Wesen kamen zu ihr. Sie schienen sich mit diesen hellen Tönen zu verständigen. Anfasan versuchte herauszuhören, was sie sprachen, konnte aber kein Wort deutlich verstehen. Der Sand wirbelte in atemberaubender Geschwindigkeit um die Wesen herum, wobei jedes seinen eigenen Sandwirbel zu haben schien. Blitze zuckten. Ein grelles Licht blitzte und dann wurde es schlagartig dunkel, weil der Sand in alle Himmelsrichtungen geschleudert wurde. Die Wesen sanken in den Sand vor ihm ein. Sie verschwanden zunächst bis zum Knie, dann bis zum Oberkörper. Mehr und mehr wurden sie vom Sand verschluckt und lösten sich schließlich ganz wie von Geisterhand auf. Stille kehrte ein, während sich der Sand, der noch in der Luft war, leise, wie fallende Schneeflocken auf dem Wüstenboden, absetzte. Anfasan erhob sich mühsam und schlug sich den Sand von seinem Kaftan ab. Anschließend befreite er seinen Sohn vom Sand.

„Steht auf!“, rief er seinen Männern zu.

Nichts und niemand rührte sich. Anfasan rannte zu den Pferden, die offenbar tief vom Sand zugedeckt waren. Auch sie bewegten sich nicht. Hastig fing er an die Pferde auszubuddeln und riss ihnen die Tücher, die seine Männer über sie gehängt hatten, herunter.

„Vater! Vater!“

Anfasan hörte seinen Sohn ängstlich schreien. Beklommen drehte er sich zu ihm um. Joshua stand bei den Pferdesätteln und deutete auf einen Mann, der im Sand begraben war. Langsam ging Anfasan auf seinen Sohn zu.

„Sieh, Vater!“

Als Anfasan näher herantrat, erblickte er einen seiner Krieger. Der Mann war tot. Das Gesicht sah merkwürdig deformiert aus. Die Haut hatte sich um die Schädelknochen zurückgezogen. Teils waren Löcher in den Wangen zu sehen und Knochen schimmerten weiß durch. Mund und Lippen waren verschwunden. Dafür waren die Zähne zu sehen. Die Augenhöhlen waren leer, das Haar sah verbrannt aus und war kaum noch zu erkennen. Der Wind öffnete den Umhang des Mannes. Was Anfasan zu sehen bekam, sorgte dafür, dass er sich übergeben musste. Die Eingeweide waren herausgerissen. Der Getötete war geschlachtet und ausgeweidet worden wie ein Schaf.

Joshua deutete auf die anderen Leichen. „Sie sind alle tot, Vater. Alle. Sie sehen alle so aus. Was ist denn bloß mit ihnen passiert?“

Anfasan wusste keine Antwort. In der Ferne erblickte er zwei Pferde.

„Bleib hier, Sohn. Ich versuche die Hengste einzufangen.“

Mit langen Schritten lief er auf die Tiere zu. Anfasan wusste, dass sie ohne die Pferde elendig verenden würden. Also versuchte er sich vorsichtig den Vierbeinern zu nähern, damit sie nicht vor Angst davongaloppierten. Beruhigend sprach er auf sie ein und kehrte kurze Zeit später mit ihnen zurück. Anfasan reichte Joshua das Seil, an dem er die Tiere angeleint hatte und kniete sich zu den im Sand liegenden Sätteln. Geübt durchwühlte er die Satteltaschen und nahm die Wasserflaschen und den Proviant heraus. Beides verstaute er an den Sätteln der zwei Pferde. Danach hob er Joshua auf eines der Tiere und saß auf. Die Leichen ließen sie im Sand zurück, der die Männer und die Pferde mit der Zeit vollständig begraben würde.

Anfasan zermarterte sich das Gehirn, um eine Antwort für das Erlebte zu finden. Die Kreaturen ängstigten ihn. Nie zuvor in seinem Leben hatte er derartige Wesen gesehen. Sein Blick wanderte zu seinem Sohn. Wie musste sich Joshua fühlen. Der junge Prinz hätte tot sein können. Joshua war das Wertvollste, was ein Mann im Leben in Südlande erschaffen konnte - einen Sohn.

Gemeinsam ritten sie weiter durch die endlos erscheinende Weite Südlandes. Ihr Ziel war Sahlina. Als es später Nachmittag war, füttern und tränkten sie die Pferde. Sie saßen auf und galoppierten weiter auf die Stadt der Eintausend Geschichten zu.

Einige Mondtage später erreichten sie Sahlina, wobei Anfasan in dem Gebirge, das die Stadt umgab, anhielt, damit sein Sohn den Ort von oben betrachten konnte.

„Siehst du, Joshua! Dort unten liegt Sahlina. Ich habe die Stadt nach dem Zweitnamen deiner Mutter benannt. Sie wächst immer mehr und erhebt sich aus der Wüste.“

„Warum hast du die Stadt hier erbauen lassen, Vater?“

„Ich habe hier einen großen schwarzen Stein gefunden.“

„Einen schwarzen Stein?“

„Ganz richtig, mein Sohn. Als ich ungefähr in deinem Alter war, hat mein Vater mir unser großartiges Land gezeigt, so wie ich es dir heute zeige. Als wir Station gemacht haben, weil hier eine kleine Oase liegt, habe ich den schwarzen Stein gefunden. Er war offenbar im Sand versteckt worden. Die Schatulle, in der er lag, war überzogen mit Gold. So etwas Wertvolles verliert man nicht einfach. Ich habe damals eine Reflexion in der Sonne gesehen. Der Sand, der einst auf der Schatulle gelegen haben muss, wurde vom Wind fortgeweht. Es war einfach für mich die Schatulle mit dem Stein auszugraben. Vater hat mir damals erlaubt ihn zu behalten.“

„Wo bewahrst du den Stein denn heute auf?“

„Der Stein ist in Imra, mein Sohn. Ich werde ihn dir einst zeigen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Er birgt ein Geheimnis.“

Nur zu gerne hätte Joshua erfahren, was an dem Stein so besonders war. Als Sohn eines Königs aber hatte er gelernt, seine Neugier zu zügeln. Sein Vater würde den Zeitpunkt weiterer Erläuterungen selbst bestimmen. Alles Drängeln würde nichts helfen, also unterließ er es.

Anfasan galoppierte weiter und Joshua folgte ihm. Sie durchquerten ein prächtiges Tor, an dem gerade gearbeitet wurde, und saßen ab. Der Torbogen war über und über mit Ornamenten bedeckt, die die Steinmetze eingearbeitet hatten. Viele lehmartige, aber auch feste Steinhäuser waren in den letzten Mondjahren errichtet worden. Die Steinhäuser bestanden aus dicken Quadern, damit sie im Inneren kühl blieben. Die Hauptgasse war als einzige Straße breit angelegt worden. Ansonsten waren die Gassen eng, damit die Sonne die Häuser und Gassen weniger erwärmen konnte. Es war angenehm kühl, durch die kleinen Gassen zu laufen. Vater und Sohn führten ihre Pferde hinter sich her.

Die Bewohner von Sahlina wussten, wer durch die Gassen kam. Der König war durch das Amulett, das er trug, schnell zu erkennen. Seine Untertanen verneigten sich vor ihnen und legten sich tief in den Wüstenstaub der Gassen. Sie erhoben sich erst, als er mit seinem Sohn an ihnen vorbeigegangen war.

Anfasans Amulett glitzerte im Sonnenlicht. Gelbe Mondsteine reflektierten die Sonne und sogen die Wärme in sich auf. Anfasan spürte die Magie der Mondsteine. Er wusste, dass sein Vater und dessen Vater deutlich älter als jeder andere Untertan in Südlande geworden waren. Krankheiten hatten sie nie kennengelernt. Das Amulett wurde von einer Generation an die nächste Generation weitergegeben. Ein Erbe, das den Herrscher auswies. Das Amulett zeigte einen goldgelben Mond.

Als sie den Palast erreichten und ihnen die Pferde abgenommen wurden, fühlte sich Anfasan niedergeschlagen. Die Reise war anstrengend gewesen.

„Herr, wollt Ihr Euch erfrischen?“

Anfasan sah in die mandelförmigen Augen einer jungen Frau, die ihr schwarzes Haar unter ihrem Umhang trug, wie es Sitte war. Er nickte: „Gerne. Nehmt Euch meines Sohnes an und sendet Nachricht an den Statthalter. Ich möchte ihn sprechen.“

Als die Sonne untergegangen war, entspannte sich Anfasan auf der Sonnenterrasse. Er trug frische Kleider, räkelte sich auf breiten Kissen und goss sich aus einer goldenen Kanne warmen süßlichen Tee ein. Genüsslich nahm er einen Schluck und schmeckte Zitrone und Orange. Für einen Moment schloss Anfasan die Augen und genoss die Ruhe um sich herum.

„Herr, Ihr habt nach mir gerufen.“

Anfasan öffnete die Augen, besah seinen Gast, der sich demütig vor ihm verbeugte, und erhob sich.

„Mögt Ihr einen Tee mit mir trinken, Imaria?“

„Sehr gerne.“

Die beiden Männer setzten sich und Anfasan goss ihnen beiden Tee ein. Sie tranken einen ersten Schluck, ohne ein Wort zu wechseln. Ein Ritual in Südlande, welches besagte, dass erst der Gastfreundschaft gedacht wurde, bevor Neuigkeiten und Geschäftliches den Mittelpunkt des Treffens bildeten.

„Ich habe meine Garde unterwegs verloren“, eröffnete Anfasan das Gespräch.

„Verzeiht, was meint Ihr mit verloren, mein Gebieter?“

„Wir kamen in einen Sandsturm.“

„Und die Männer haben sich einfach auf- und davongemacht? Wo habt Ihr die Kerle ausgewählt?“ fragte Imaria, Anfasan unterbrechend. „Die Peitsche soll die Körper dieser Feiglinge treffen!“

„Nein, nein, es war ganz anders, Imaria. Sie verhielten sich stets tadellos in meiner Gegenwart.“

Anfasan erzählte von den getöteten Männern und Pferden und rundete das, was er und Joshua erlebt hatten, mit den merkwürdigen Wesen ab, die plötzlich aufgetaucht und dann genauso schnell verschwunden waren.

„Habt Ihr schon einmal von derartigen Erzählungen gehört?“

„Mein König, es gibt die merkwürdigsten Geschichten in Aan.

Vielleicht seid Ihr den alten Wesen begegnet?!“

„Alte Wesen? Was meint Ihr damit?“

„In Sahlina lebt die Älteste. Sie erzählt den Kindern immer wieder Märchen über Kreaturen, die einst in ganz Südlande verbreitet waren. Sie nennt sie Wüstenfeen. Hatten die Wesen Flügel?“

„Hm? Ich glaube nicht. Ich bin mir aber auch nicht wirklich sicher.

Könnt Ihr mich morgen zu ihr bringen?“

„Zu ihr? Sollte ich sie nicht lieber zu Euch führen, Herr?“

Anfasan lächelte Imaria an.

„Der kleine Joshua liebt Abenteuer. Ich würde es gerne so aussehen lassen, wenn er eine entsprechende Geschichte von dieser Frau hören könnte. Da wir noch einige Mondtage hier sein werden, kann er so auch andere Kinder kennenlernen. Ihr versteht?“

„Sehr wohl. Ich werde sie informieren und führe Euch dann morgen zu ihr.“

Die beiden Männer schwiegen eine Weile. Dann erzählte Anfasan von den Entwicklungen aus Imra. Nachrichten waren das wahre Gold. Die Menschen hatten nur wenige Möglichkeiten Neuigkeiten zu erfahren. Wenn Karawanen Sahlina besuchten, waren nach dem Handel die Stunden miteinander die wichtigsten, wenn die Reisenden von fremden Städten in Aan erzählten.

Am nächsten Morgen machte sich Anfasan mit Joshua auf den Weg. Sie hatten beide einfache Kaftane angezogen, damit sie sich unbemerkt unter den Einheimischen bewegen konnten.

Imaria führte sie aus dem Palast durch verwinkelte Gassen, in denen die Menschen hin- und hereilten und ihren täglichen Geschäften nachgingen. Vor dem Bogentor einer Schmiede hielten sie an. Laute Hammerschläge drangen nach außen und Anfasan lief unter dem Kreuzbogen hindurch in einen mit braunen Steinen gepflasterten Hof, an dessen Ende ein verwunschenes Gebäude mit mehreren Türmen aufwartete. Im Innenhof stehend sahen sie, wie der Schmied gerade Metall auf einem Amboss beschlug, um daraus ein Schwert zu schmieden. Aus den Fenstern der gedrehten Türme, die zum Hof hinausgingen, hingen bunte Stoffbahnen herab. Frauen, die die Stoffe zu Tüchern oder Kleidern verarbeiteten, waren allerdings nirgends zu sehen.

Anfasan und Joshua hielten auf den Schmied zu. Freundlich eröffnete der König das Gespräch: „Ein herrlicher Mondtag, Schmied.“

„Seid gegrüßt, Fremde“, antwortete der Schmied. Als er Imaria erblickte, stellte er die Arbeit ein. „Was verschafft mir einen solch hohen Besuch?“

Bevor Imaria antworteten konnte, ergriff Anfasan das Wort.

„Wir sind auf der Durchreise nach Imra, und ich suche für meinen Sohn eine gute Waffe.“

Der Schmied legte seine Zange und den Hammer beiseite, mit denen er das Eisen bearbeitete. Sein beurteilender Blick ruhte auf Joshua. „Euer Sohn braucht ein leichtes, kurzes Schwert. Wenn Ihr wollt, zeige ich Euch, was ich hier habe.“

Anfasan nickte. „Gerne.“

Sie folgten dem Mann, der sie in die Schmiede führte. An der Seite einer Wand erblickte Anfasan eine alte Frau, die in ihren Händen einen Draht hielt, den sie geübt um den Griff eines Schwertes band. Wie es Sitte in Südlande war, war ihr Gesicht verhüllt. Als die Männer näherkamen, nickte sie ihnen kurz zu, stand auf und verließ das Gebäude, so dass die Männer unter sich waren.

Der Schmied reichte Anfasan einige Schwerter. Sie wirkten stabil und waren in der typischen Art als Krummsäbel gearbeitet. Die Griffe waren kunstvoll verziert. Anfasan prüfte die geschmiedete Klinge. Sie ließ sich leicht biegen. Die Schwerter sahen zwar wertvoll aus, waren aber aus einfachem Eisen gefertigt.

„Habt Ihr auch Krummschwerter, die weniger nachgeben?“

Der Schmied schien zu überlegen. „Was für eine Waffe sucht Ihr genau, mein Herr?“

„Ich suche eine Waffe, die aus ostländischem Bergstahl gefertigt ist und beständig bleibt. Eure gezeigten Schwerter sind eindrucksvoll,

aber sie sind lediglich aus einfachem Eisen geschmiedet.“

Anfasan wollte den Schmied nicht beleidigen, weshalb er sich in seiner Ausdrucksweise zurückhielt.

„Wie lange seid Ihr hier, Herr?“

„Gebt Imaria Nachricht, wenn Ihr mit Eurer Arbeit fertig seid. Ich erwarte ein gutes, austariertes Schwert und glaubt mir: Ich erkenne eines, wenn ich es sehe.“

Der Schmied legte die gezeigten Krummschwerter auf einen Tisch.

„Einverstanden. Ich werde aber einige Mondtage zu arbeiten haben.“

Anfasan verneigte sich vor dem Mann. „Wie gesagt, Ihr meldet Euch. Dann kommen mein Sohn und ich wieder.“

Während Anfasan und Joshua gingen, blieb Imaria zurück. Er bedeutete dem Schmied, dass es ihm besser zu Gesicht stünde, wenn er eine außergewöhnliche Arbeit abgeben würde.

Imaria führte Anfasan und Joshua weiter durch die Gassen, bis er vor einem sehr einfachen Lehmhaus stehenblieb, das das eigentliche Ziel war.

„Hier wohnt die Älteste, mein König.“

Imaria betrat das Lehmhaus und Anfasan und Joshua folgten ihm. Zwei kleine Mädchen im Alter von Joshua hielten sich kichernd in einer Ecke des schäbigen Zimmers fest und blickten die drei neugierig an.

Joshua war fasziniert und abgestoßen zugleich von dem kleinen Raum, der karg ausgestattet war. Die Bewohner schliefen anscheinend irgendwo anders, dachte er, da er keine Schlaflager entdeckten konnte.

„Wo ist Airi?“

Eines der Mädchen wies nach draußen. Imaria betrat ein Kleinod.

Einige Palmen und Dattelbäume standen dicht beieinander. Im Schatten eines Baumes hockte eine alte Frau und verarbeitete die Wolle von Schafen auf einem Webstuhl.

„Airi, schön dich zu sehen“, begrüßte der Statthalter die Frau. Ihr Kopf wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Wie Anfasan bemerkte, war die Frau blind. Ihre Augen waren milchig weiß. Die zwei Mädchen folgten ihnen mit Abstand, blieben aber im Durchgang zum Garten stehen. Im Kreis um die alte Frau saßen viele Kinder und hörten ihr aufmerksam zu. Als die Alte die Ankömmlinge hörte, hielt sie mit ihrer Arbeit inne und unterbrach ihre Erzählung. Sie deutete den Gästen an sich zu ihnen zu setzen. Ihre Stimme klang matt, aber herzlich.

„Wollt ihr noch eine Geschichte hören?“

Die Kinder klatschten begeistert.

'Vor langer Zeit, als ich noch jung und schön und Sahlina noch eine Oase in der weiten Wüste war, hat mir mein Vater von den Sandwesen erzählt. Sie leben verborgen in der Weite unserer Wüsten, wo sie im Sand ruhen. Wenn sie erwachen, erhebt sich der Sand zum Leben und ein Sturm zieht auf. Sie sind wie Stürme und fegen durch unser Land.

In den Sagen von Aan heißt es, dass es einmal eine Frau mit vielen Gesichtern gegeben hat, die sich in einen Mann aus Imra verliebt hat. Die beiden hatten zwei Kinder. Einen prächtigen Knaben mit dem Namen Jasot und ein holdes Mädchen. Ihr Name war Zandra. Als der Knabe acht Mondjahre alt war, wurde er beim Wasserholen in der Oase getötet. Das war zu Beginn des 2. Zeitalters von Aan. Zandra hatte die Mörder ihres Bruders gesehen und geschworen seinen Tod zu rächen. Gegen den Willen ihrer geliebten Eltern ließ sie sich zur Kriegerin ausbilden und streifte fortan durch die Einsamkeit der Wüste; immer auf der Suche nach den Mördern ihres geliebten Bruders. Eines Mondtages geschah es, dass sich ein Sturm zusammenbraute und sich der Sand erhob. Das Mädchen hatte gefunden, wonach es die ganze Zeit gesucht hatte. Die Wesen waren auf der Jagd. Sie hatten eine Karawane in der Wüste ausgemacht, und sie bewegten sich durch den Sandsturm auf die ahnungslosen Menschen zu. Als diese die Gegenwart der Kreaturen bemerkten, war es für viele schon zu spät. Sie versuchten zu fliehen. Aber bevor die Wesen allen Menschen das Lebenslicht nehmen konnten, schlug Zandra zu. Sie schoss ihre todbringenden Pfeile von ihrer Armbrust ab. Die Pfeile verletzten aber die Kreaturen nicht. Sie gingen durch sie hindurch wie durch Luft. Zandra traute ihren Augen nicht. Sie hatte nun Gewissheit, dass sie die Wesen nicht mit den Waffen der Menschen besiegen konnte. Also wanderte Zandra nach Luna, da sie gehört hatte, dass Männer dort als Lehrlinge in den Künsten der Zauberei ausgebildet wurden. Zunächst wurde sie dort abgewiesen. Zauberer waren immer Männer, nie Frauen. Zandra aber gab nicht auf. Sie hockte sich vor den Palast der Zauberer und wartete geduldig Tag und Nacht.

Eines Mondtages kam der König von Luna vorbei. Er hatte gehört, dass eine junge Frau aus Südlande schon seit vielen Monden vor dem Palast der Magier ausharrte. Als der König Zandra befragte, warum sie Zauberin werden wollte, erzählte Zandra ihm ihre Geschichte. Der König befahl den Zaubermeistern Zandra zu prüfen. Sie bestand die ihr auferlegten Prüfungen und wurde der erste und einzige weibliche Zauberlehrling.

Zandra lernte die Elemente Luft, Feuer, Wasser und Erde zu beherrschen. Sie war eifriger als alle anderen, die jemals zuvor in Luna ausgebildet wurden. Die Meister der Zauberei erkannten, dass sie nicht nur strebsamer als alle Männer in ihrer Klasse war, sondern dass sie eine Gabe besaß. Zandra, so wird erzählt, konnte sich mit Hilfe der Magie auflösen. Wanderer nennen wir diese Menschen. Als die Meister der Zauberschule hörten, warum Zandra viele Mondjahre in die Lehre ging, erlernte sie den Umgang mit den Mondsteinen. Ihr wurde schnell bewusst, dass sie die Wesen, die ihren Bruder getötet hatten, nur mit einem Mondstein vernichten konnte. Zandra fertigte sich also einen Speer, der viele Mondsteine enthielt. Da die Kraft der Mondsteine mitunter zerstörerisch ist, musste sie, damit sie überleben konnte, einen großen gelben Mondstein tragen. Dieses Wissen erhielt sie von den Zaubermeistern, die ihr Wissen um die Mondsteine auf Geheiß des Königs mit ihr teilten.

Nach Ende ihrer Lehre ernannte der König sie zur 1. Nigromantin von Luna. Zandra sollte ihm dienen, da sie besser und mächtiger als alle ausgebildeten Männer zusammen war. Sie willigte unter einer Voraussetzung ein: Sie durfte ein Mondjahr lang Jagd auf die Wesen in der Wüste Südlandes machen, die ihren Bruder einst getötet hatten. Der König willigte ein und Zandra begab sich nach Südlande. Dort spürte sie die Wesen auf. Sie wusste, wen und was diese Biester jagten. Bewaffnet mit dem Speer ging sie in den Kampf. Die Wesen waren überrascht, da sie mit der Kraft des Speeres getötet werden konnten und flohen. Sie konnten sich aber nicht vor ihr verstecken, da Zandra ihnen auch unter die Erde folgen konnte. Wenn die Kreaturen zu Luft oder Nebel wurden, machte es Zandra ihnen gleich. Sie verfolgte sie bis zum letzten Wesen. Dieses Wesen war eine Königin. Die Königin der Feen der Dunkelheit. Zandra durchbohrte ihr Herz mit dem magischen Speer und tötete die dunkle Feenkönigin. Diese wusste sehr wohl, dass sie einst ihrem Bruder das Leben genommen hatte. Die guten Feen, heißt es, werden zu einem Stern am Firmament. Anders die dunklen Feen. Als die Feenkönigin getötet wurde, wandelte sich ihre Lebensmagie in einen schwarzen Stein, den Zandra in der Wüste vergrub. Sie wollte diese Wesen für immer hinter sich lassen. Angeblich beinhaltete der schwarze Stein die Seele der getöteten Feenkönigin. Aber jede Königin hinterlässt einen Erben. So war es auch in diesem Fall. Zandra kehrte an den Hof von Luna zurück und wachte von dieser Zeit an immer an der Seite des Königs.

Die Feenkönigin der Dunkelheit hatte aber bereits einer Tochter das Leben geschenkt. Ihr Name war Ariell. Ähnlich wie einst Zandra, tötete die Feenprinzessin aus Rache am Tod ihrer Mutter Zandra. Zandra hatte ihren magischen Speer nicht bei sich gehabt und konnte sich daher nicht verteidigen. Sie hatte stets geglaubt, dass die Feenkönigin keine Nachfahrin hatte und sie alle Wesen getötet hatte. Aber Zandra hatte sich geirrt. Es wird erzählt, dass die dunklen Feen die meiste Zeit unter der Erde leben, verborgen vor den Augen der Welt Aan.'

Ein kleiner Junge stellte eine Frage: „Wo ist der magische Speer

heute, Älteste?“

„Der Speer ging in Orpheum verloren, wird zumindest erzählt.“ Die Alte zuckte mit den Achseln.

Anfasan erhob sich und stellte seinerseits eine Frage: „Gibt es heute noch dunkle Feen in der Wüste von Südlande?“

Die alte Frau schaute nachdenklich drein, bevor sie eine Antwort gab. Bedächtig legte sie ihre von der Arbeit gezeichneten Hände in ihren Schoß.

„Die dunklen Feen sind immer da. Ihr könnt sie des Nachts schreien hören, wenn Ihr ganz leise seid und auf den Wind lauscht. Ihre Stimmen hallen bis zu uns. Es gab eine Zeit, da hörten wir nichts von ihnen. Aber heute singen sie lauter als je zuvor. Sie sind da draußen. Wie eine Katze schleichen sie um die Maus herum. Sie spielen mit uns. Das bereitet ihnen Freude.“

„Dann bleibe ich besser für immer hier!“, meinte ein kleines Mädchen.

Die alte Frau schüttelte energisch den Kopf: „Nein! Sie kommen auch hierher, wenn sie wollen. Es sind die guten Feen, die sie meiden. Sie verstecken sich vor ihnen, da die guten Feen Jagd auf sie machen. Wenn eine Fee des Lichts in der Nähe ist, brauchst du keine Angst zu haben, meine Kleine.“

„Aber wie sehen die Feen denn überhaupt aus?“, wollte das kleine Mädchen wissen.

„Sie haben Flügel. Aber die Feen der Dunkelheit haben schwarze Flügel. Daran kannst du sie unterscheiden. Es ist ihre Farbe. Die schwarze Farbe der Nacht. Die verkrüppelten Kreaturen in der Wüste dienen ihnen. Sie wiederum werden Geisterfeen gerufen.“

Joshua hörte begeistert zu. Seine Augen leuchteten. Anfasan wurde den Gedanken nicht los, dass Joshua gerne wie Zandra sein wollte.

Stark, unabhängig und den Feenwesen die Stirn bietend.

„Wie geht man ihnen aus dem Weg?“, stellte er seine zweite Frage.

„Ihr könnt ihnen nicht aus dem Weg gehen, wenn sie es nicht wollen. Die Menschen haben gelernt sie zu bekämpfen. Zandra hat ihnen gezeigt wie. Dieses Wissen darf nicht verloren gehen. Wenn die Menschen vergessen haben sich zu schützen, werden sie untergehen.“

„Ein Letztes noch, Älteste: Wo leben diese Geisterfeen?“

„In einer Schattenwelt, die kein Sterblicher betreten kann. Es heißt, dass es einen Zugang in Südlandes Wüste gibt. Die Geisterfeen kommen immer, wenn die Zeit der zwei Monde nah ist.“

„Habt Dank für Eure Worte“, antwortete Anfasan höflich.

Er hatte genug gehört und hob Joshua aus dem Kreis der Kinder, um zu gehen. Imaria begleitete sie zurück. Nun wusste der König, wer die Wesen in der Wüste waren. Aber eines schockierte ihn noch mehr als die Wesen. Anfasan hatte zum ersten Mal in seinem Leben Angst. Der König wusste nun, was er einst in der Wüste gefunden hatte und was die Wesen so sehr begehrten.

189. Nordlande

5. Zeitalter von Aan, 99. Mondjahrhundert, 39. Mondphase

Die Dunkelländer segelten am frühen Morgen begleitet von Nebelschwaden, die über dem Wasser schwebten, in den Hafen von Skyark. Prinz Koldor lehnte sich am Bug stehend vor. Seine Haltung drückte Anspannung aus. Das Einlaufen glich einem gefährlichem Unterfangen. Jederzeit konnten Katapulte riesige Gesteinsbrocken auf sein und die anderen Schiffe im Geleit schleudern. Nichts aber geschah. Immer noch rätselte er, was mit der Verstärkung, die eigentlich längst hätte von Solinium zurückkehren müssen, geschehen war. Weder er noch sein Vater hatten Nachricht erhalten. Koldor vermutete, dass ein Sturm oder das, was sie auf der ihm unbekannten Insel bergen sollten, ihr Schicksal besiegelt hatte. Glockengeläut durchbrach seine Gedanken und seine Aufmerksamkeit galt den Skyarkern, die in Panik flohen.

Die Nordländer, die sich zu dieser frühen Stunde im Hafen aufhielten, rannten flüchtend vor den einfahrenden Schiffen zurück hinter die großen Tore der Stadt. Befehle wurden geschrien und die mächtigen Stadttore von Skyark geschlossen. Zugleich ertönte warnendes Glockengeläut. Auf den Mauern drängten sich Ritter und Gemeine von Nordlande zusammen. Ein jeder wollte mit eigenen Augen sehen, was vor sich ging. Bogenschützen standen bereit, Katapulte und Schleudern wurden bestückt. Skyarks Streitmacht wartete auf weitere Befehle.

Kapitän Nemo war von Dunkellandes Küste nach Skyark zurückgesegelt, so wie König Robin es bestimmt hatte. Astrids ranghöchster Kapitän hatte in Absprache mit Ferrak, Hauptmann der königlichen Armee, eine Streitmacht unter Waffen gesetzt. Stormhold und Skyark waren auf einen Krieg vorbereitet worden. Botschaften über den anrückenden Feind, der seit Mondwochen an der Küste von Nordlande entlang segelte, verbreiteten sich im ganzen Königreich wie ein Lauffeuer.

Von den Mauern aus verfolgten Nemo und Evian das Geschehen. Die Streitmacht, die nach Skyark gesegelt kam, war gewaltig. Evian versuchte die Anzahl der Schiffe zu zählen. Waren es mehr als Einhundert Einsegler?

Der Hafen und die Strände um Skyark füllten sich mit dunkelländischen Kriegsschiffen. Grauschwarze Segel, auf denen eine Schlange als Wappentier flatterte, verdunkelten den Horizont. Während Schiffe an den Kaianlagen vertäut wurden, hielten Boote mit der Schlange als Galionsfigur auf die Strände zu. Bis an die Zähne bewaffnete Ritter sprangen aus den Booten heraus und eroberten das Land. Die Kriegsmaschinerie aus König Thorsis` Reich, bestehend aus Sturmtürmen und Katapulten, wurde, genauso wie Ochsen und Kühe, an den Stränden entladen. Fässer wurden von Bord gerollt und ein Belagerungsring errichtet. Die Krieger begannen Gräben auszuheben und ein Heerlager vor den Toren der nordländischen Hauptstadt auszuheben.

Ritter aus Dunkellande galoppierten wenig später um die Stadt herum und errichteten weitere Lager, die in einem sicheren Abstand vor den Katapulten der Nordländer aufgebaut wurden. Andere ritten in die Wälder Nordlandes, um das Wild zu erlegen.

Endorian, Astrids wichtigster Berater, kannte Prinz Koldor nicht. Aber an der Art, wie der Mann zielstrebig auf das geschlossene Bogentor der Hauptstadt zuging, ahnte er, wer dieser Kerl sein musste. Endorian verließ seinen höher gelegenen Aussichtsturm am Palastring und suchte sich seinen Weg durch die von vielen Untertanen verstopften Gassen. Er eilte die Stufen zu den Wehrgängen hinauf. Ritter und Neugierige ließen ihn durch. So schnell es ging, marschierte Endorian durch die Reihen der Soldaten und gesellte sich zu Evian und Nemo.

Koldor trug eine dunkelglänzende Rüstung. Ein schwarzer Umhang flatterte um ihn herum. Sein Schwert steckte in der Scheide und er hielt mit großen Schritten auf das Stadttor zu. Während seine Begleiter Abstand hielten, trat Koldor vor. Seine Garde war mit Fahnenbannern ausgestattet, die das Schlangensymbol auf weißem Untergrund in ihren Händen hielten. Ein weißer Untergrund bedeutete der anderen Seite, dass man einander Zeit für Verhandlungen einräumte. Die Bedeutung weißer Flaggen war zwischen allen Königreichen ein ungeschriebenes Gesetz, das aus Achtung vor einem Waffengang respektiert wurde.

„Ich bin Prinz Koldor aus dem Königreich Dunkellande. Ich bitte um ein Gespräch mit dem Befehlshaber dieser Stadt.“ Arrogant blickte Koldor zum Stadttor empor.

Endorian nickte den anderen zu. „Lasst mich gehen. Ich bin alt.“ Zu Koldor antwortete er: „Ich werde zu Euch kommen!“

Die Männer ließen Endorian durch die Reihen gehen. Die Gasse zum Tor war von Rittern, die auf ihren Pferden saßen, gefüllt. Endorian fühlte die Anspannung der Tiere, die sich von den Männern auf die Tiere übertrug. Reihen weiterer bis an die Zähne bewaffneter Männer standen im Hintergrund bereit. Sie waren angetreten, um ihr Leben für die Krone und das Königreich zu geben. Das Fallgitter wurde hochgezogen und danach das schwere Tor geöffnet. Endorian lief vor das Tor und näherte sich Koldor. Zwei bewaffnete Posten begleiteten ihn. Die Männer hielten an Lanzen befestigte Flaggen mit dem Wappentier eines Adlers auf weißem Tuch.

„Ich bin Endorian, Berater der Königin“, stellte er sich vor.

„Königin? Nein, ab jetzt dürfte sie nur noch Prinzessin Astrid von Skyark heißen“, belehrte ihn Koldor hochnäsig.

„Ich verstehe nicht, was Ihr meint.“ Endorian blieb höflich.

„König Robin ist tot. Euer König war einerseits ein tapferer Mann, hat er sich doch geopfert, um das Leben seiner Gemahlin zu retten. Andererseits war er ein Narr. Mein Vater, König Thorsis, hat sie beide gefangen genommen und den König getötet.“

„König Robin ist tot?“ Äußerlich versuchte Endorian sich nichts anmerken zu lassen, aber innerlich fühlte er, wie ihm die Galle hochstieg.

„Ey, so ist es! Königin Astrid wurde Prinz Randos aus Westlande zur Gemahlin versprochen. Prinz Randos wird mit ihr hierher zurückkehren. König Thorsis ist Eurem Volk gegenüber großzügig. Die einstige Königin des Nordens darf am Leben bleiben. Bedingung ist allerdings eine Ehe mit Prinz Randos aus Westlande. Eure Gebieterin hat der Vermählung zugestimmt. König Robin hat unter diesen Bedingungen ebenfalls zugestimmt, wenn sie am Leben bleibt.“

„Das kann ich nicht glauben!“ Endorian war geschockt. Robin wollte Astrid befreien. Von Nemo hatte er erfahren, was der König mit seiner mutigen Entscheidung erreichen wollte. Ohne breit aufgestellte Streitmacht Dunkellande zu erobern war ein Unterfangen, das sicherlich gescheitert wäre. Es war daher weise vom jungen König gewesen, auf die Aufstellung eines Heeres zur Eroberung von Dunkellande und dem Königspaar zu setzen. Ein derartiges Vorgehen benötigte aber Zeit. Nun war der junge König bei seiner Rettungsmission gestorben. Ihm wurde schwer ums Herz. Koldor griff unter seinen Brustpanzer und holte ein Schriftstück hervor. Ein Flughund hatte ihm die Botschaft auf dem Meer gebracht. Sein Vater hatte Thara vor ihrer Reise nach Westlande ein aufgesetztes Schriftstück gegeben, das von Astrid und Robin unterzeichnet worden war. Thara hatte Robins Unterschrift noch im Gefängnis erhalten. Vor ihrer Abreise hatte sie ihrem Vater das Schreiben gegeben und dieser hatte die Botschaft einem Flughund anstecken lassen, der sie zu Koldor geflogen hatte. Die Biester fanden die Ihren überall. Koldor reichte Endorian das zerknüllte Schriftstück. Endorian studierte das Schreiben gründlich. Wieder und wieder las er die Zeilen.

`König Thorsis verfügt hiermit, dass Prinz Koldor zum König von Nordlande gekrönt wird. Zugleich danken König Robin und Königin Astrid ab. Es wird bestimmt, dass Königin Astrid Prinz Randos von Westlande zu ihrem Gemahl nehmen wird und sie gemeinsam als Statthalter von Stormhold eingesetzt werden. Stimmen König und Königin dem zu, gewährt das Große Haus Dunkellande der Königin ihr Leben. Ihr gemeinsames Kind verbleibt in Westlande. König Thorm und Königin Sara leben dort im Exil. Sie haben abgedankt und werden das Kind großziehen. Dreimal im Mondjahr ist es der zukünftigen Statthalterin gestattet, ihr Kind und ihre Eltern in Begleitung ihres Gemahls zu besuchen. Diese großzügige Geste gewährt König Thorsis den beiden, wenn sie ihr Einverständnis geben. Zugleich fordert Dunkellandes Majestät die Rittermacht Nordlandes auf, ihre Waffen niederzulegen. Königin Astrid stimmt dem zu. Auch sie will keinen Krieg zwischen den Ländern und damit weiteres Leid ihrer Untertanen heraufbeschwören. König Robin wird niemals lebend zurückkehren. Er willigt ein, sein Schicksal in die Hände der Dunklen Frau Denera, Beraterin des Königs, zu legen.`

Die Unterschriften waren echt. Endorian hatte keinen Zweifel daran. „Prinz Koldor, ich möchte mich zur Beratung zurückziehen. Darf ich das Schreiben an mich nehmen?“

„Ihr dürft! Ich gebe Euch zwei Mondtage Bedenkzeit. Solltet Ihr danach nicht einwilligen und das Stadttor öffnen, werde ich meinen Vater benachrichtigen. Königin Astrid, nein“, Koldor lächelte verschlagen, „Prinzessin Astrid wird hingerichtet und wir ...“, er drehte sich mit einer Geste zu seinen Kriegern um, „... werden Euch belagern und aushungern. So oder so, wir bekommen, was wir wollen! Geht!“

Endorian drehte sich mit seinen zwei Gardisten um, und sie betraten die Festung. Das Tor wurde geschlossen und das Fallgitter fiel laut krachend herunter. Schnellen Schrittes suchte Endorian Evian, Nemo, Gallard von Stormhold sowie Hauptmann Ferrak auf, um sich zur Beratung mit ihnen in den Palast zurückzuziehen.

Tausende Augenpaare verfolgten die Männer auf ihrem wortlosen Gang zum Palast. Ein jeder versuchte aus der Aura von Endorian abzulesen, welche Forderungen die Dunkelländer gestellt hatten.

Seufzend zeigte Endorian den anderen im Sitzungssaal das Schriftstück. Auch Nemo und Evian hatten an der Echtheit der Unterschriften keinen Zweifel.

„Tot also“, meinte Evian matt. „Also hat uns das fallende Licht auf dem Altarstein die Wahrheit gesagt.“ Alle Hoffnung war aus ihm gewichen. „Was können wir jetzt noch tun? Gehen wir nicht auf Prinz Koldors Forderungen ein, stirbt auch noch unsere Königin. Das können wir nicht wollen!“

„Ihr habt recht, Evian. Ich teile Eure Ansicht. Wir müssen zum Schein auf die Forderungen eingehen. Was mich allerdings überrascht ist, dass König Thorm und Königin Sara noch am Leben sind. Wir dachten doch immer, dass sie in Westlande umgekommen sind. Dabei hat König Atos sie anscheinend entführt und vor uns versteckt“, entgegnete Endorian.

„Ich könnte ihn dafür umbringen, Evian!“, fluchte Ferrak. Seine geballte Faust hämmerte auf den Tisch. „Dieser verdammte Hurensohn!“

„Wir sollten abwarten, guter Freund.“ Nemo legte eine Hand auf Ferraks Arm. Er lächelte listig vor sich hin. „Lasst uns im Untergrund arbeiten. Wenn wir die Königin aus den Armen von Prinz Randos befreien können, sollten wir überlegen, wie es weitergehen könnte. Wir könnten Astrid in unsere Kolonien segeln. Niemand würde sie je dort finden.“

„Dann stirbt ihr Kind, Kapitän Nemo. Wir können das Kind nicht opfern“, antwortete Gallard frustriert.

„Ihre Eltern wären genauso tot“, fügte Endorian hinzu.

„Ich schlage vor“, führte Evian aus, „dass wir zunächst auf die Forderungen eingehen. Wir müssen König Angantyr und König Iranus Nachricht senden. Vielleicht können sie König Thorm und Königin Sara in Westlande ausfindig machen. Wenn König Atos Krieg führen wird, wie er das anscheinend beabsichtigt hat, um Prinzessin Eleon aus dem Feenreich an seinen Hof zurück zu holen und die Schmach gegen die Feen auszumerzen, bietet sich vielleicht eine günstige Gelegenheit für uns. Außerdem wird uns Prinz Ragan sicherlich gerne helfen. König Robin war ein enger Freund von ihm. Er wird das Geschehene sicherlich nicht auf sich beruhen lassen.“

„Ein vortrefflicher Vorschlag, Evian“, lobte Nemo. „Ich bin dabei“, er lächelte. Die anderen Männer schlugen ein. Zum Zeichen ihres Bündnisses legten sie ihre rechten Hände übereinander.

Bevor sie auseinander gingen, äußerte sich Hauptmann Ferrak: „Wir sollten Prinz Koldor zappeln lassen und die Lage unseren Untertanen erklären. Sie werden enttäuscht sein, dass sie nicht in den Krieg gegen Dunkellande reiten und ihre Königin verteidigen dürfen. Wir Nordländer haben einen ganz besonderen Stolz. Milde gehört, wie wir alle wissen, nicht zu unseren Stärken. Außerdem müssen wir Nachricht nach Stormhold senden. Ihr, Gallard, müsst unseren Untertanen berichten.“

Die anderen nickten zum Zeichen ihres Einverständnisses.

190. Ostlande

5. Zeitalter von Aan, 99. Mondjahrhundert, 39. Mondphase

In Ostlande kehrten die warmen Winde zurück und mit ihnen Vögel, die in Südlande dem Winter den Rücken gekehrt hatten. Zugleich zeigten viele Bäume bereits ein dichtes, sattes Grün. Die Natur gewann ihr Leben zurück, welches sich durch die unendliche Farbenpracht der vielen Blumen, die in Ostlande wuchsen, zeigte. Bienen summten und die Bauern waren wie immer tagein, tagaus auf den Feldern zu sehen. Eine miserable Ernte wie im Vorjahr, galt es zu vermeiden.

Iranus ritt mit seiner Frau Theresa und seinen beiden Kindern zwischen den ausladenden Feldern von Ostlande hindurch. Sie hatten Ostlillie für einen Ausflug verlassen. Ihre kleinen Kinder hatten ihre ersten Ponys erhalten und reiten gelernt. Statt in den königlichen Hallen Reitunterricht zu erhalten, hatten Theresa und Iranus beschlossen, den Unterricht vor die Tore der Hauptstadt zu verlegen, die Irus und Ira bislang nur von kleineren Ausflügen her kannten. Hinter ihnen trabten sechs Gardisten, die die Königsfamilie begleiteten.

Iranus war unverändert unschlüssig, ob er einen offenen Konflikt mit König Hiastir anstacheln sollte. Erstaunt erblickte er einen einzelnen Reiter, der aus Süden herangaloppiert kam. Iranus konnte bereits an der Kleidung erkennen, dass der Reiter aus Südlande stammen musste. Der königliche Bote hielt auf Theresa und Iranus zu. Die Gardisten, die das königliche Banner der Lillie trugen, einem Fabelgewächs in Ostlande, das zwar wie eine Lilie aussah, in Wirklichkeit aber eine Pflanze war, die im Meer wuchs und in flachen Gewässern trieb, ritten vor und bildeten einen Schutzring um die Königsfamilie. Der Reiter stoppte abrupt vor ihnen.

„Seid gegrüßt, König Iranus. Verehrte Königin Theresa“, eröffnete er das Gespräch und verbeugte sich im Sattel.

Höflich antwortete Iranus: „Wir grüßen Euch, seid willkommen.“

Der Bote sprach weiter: „König Hiastir schickt mich zu Euch, um Euch diese Botschaft zu übermitteln.“

Der Reiter griff in die Seitentasche seines Pferdes und zog eine Pergamentrolle hervor, die er einem Gardisten reichte, der sie an Iranus übergab. Sie war versiegelt und Iranus brach das königliche Siegel und rollte das Pergament aus. Seine Augen weiteten sich, als er las, was Hiastir geschrieben hatte.

„Schlechte Nachrichten?“, erkundigte sich Theresa.

„Sehr schlechte Nachrichten. Ich fürchte, wir müssen unseren Ausflug für heute beenden und zurückkehren.“

Iranus nickte dem Reiter zu. „Kommt Ihr aus Sahlina?“

„König Hiastir hat mich direkt von dort zu Euch gesandt“, gab der Bote Antwort.

„Dann folgt uns bitte. Ich möchte von Euch wissen, was genau in Sahlina geschehen ist.“

Theresa und Iranus wendeten ihre Pferde und auch ihre Kinder folgten ihrem Beispiel. Die Gardisten begleiteten die Königsfamilie zurück nach Ostlillie.

Die Stadt war umgeben von einer festen Mauer, die in unterschiedlichen Abständen von Wachtürmen unterbrochen war. Ostlillie hatte einen äußeren und einen inneren Ring, so dass selbst nach der Eroberung des ersten Ringes eine weitere Verteidigung möglich war. Der zweite Mauerabschnitt überragte den ersten Ring deutlich. Kupferdächer waren, anders als in vielen anderen Städten in Aan, in Ostlillie nicht zu sehen. Kuppeln und Dächer waren aus Stein erschaffen worden. Auf den meisten Dächern konnte man laufen, so dass man die Stadt auch gut von oben aus von Hausdach zu Hausdach betreten und durchwandern konnte, wenn man denn schwindelfrei war.

Iranus saß von seinem Pferd ab und half zunächst seiner Frau und dann seinen Kindern beim Absteigen. Theresa kümmerte sich um ihre Kinder, die ihrer Enttäuschung freien Lauf machten, dass der Ausflug so schnell beendet war. Ein Kindermädchen kam Theresa entgegen und übernahm Irus und Ira, während sie mit Iranus und dem Boten in den Palast lief. Dort bot Theresa dem Reiter eine kleine Stärkung an, die dieser gerne annahm. Anschließend setzten sie sich gemeinsam an einen Holztisch und der Bote fing an zu erzählen, was in Sahlina passiert war und dass der König den Tod seines Sohnes Algor betrauerte, der in Sahlina, wie viele andere auch, den Tod gefunden hatte. Der Reiter berichtete von den Wesen, die durch die Lüfte flogen und sie angegriffen hatten. Der Schock saß tief. Der Bote klapperte immer noch mit den Zähnen, wenn er von den fliegenden Kreaturen erzählte.

Iranus und Theresa konnten mit der Beschreibung der Wesen wenig anfangen. Auch sie wussten nicht, wo die beschriebenen Kreaturen herkamen.

„König Hiastir bittet Euch darum, ihm Männer zu schicken. Mein Gebieter muss seine Streitmacht auffüllen, um diese fliegenden Frauen zu besiegen. Der König folgt ihnen.“

„Aber wir verfügen über keine Waffen“, wandte Iranus ein.

„König Hiastir hat, wie seine Vorfahren auch, verboten, dass in Ostlande Schwerter und Speere geschmiedet werden. Wie können wir ohne Waffen dem König nützlich sein?“, ergänzte Theresa sich erkundigend.

„König Hiastir bittet nur um eine entsprechende Anzahl an Männern. Die notwendige Ausrüstung werden Eure Krieger von ihm erhalten. In Imra und Sahlina verfügen wir über ausreichend Waffen. Es fehlen uns einzig die Ritter, die sie im Kampf führen.“

„Welche Zahl hat König Hiastir genannt?“

„König Hiastir fordert wenigstens Eintausend Mann, Königin Theresa. Weitere Männer sind jederzeit willkommen. Der König lässt ausrichten, dass sie nach meinem Eintreffen unverzüglich in Marsch gesetzt werden müssen.“

„Gebt uns wenigstens zwei Mondtage, Bote. Wir müssen die notwendigen Vorbereitungen treffen“, meinte Iranus nachdenklich. „Ich werde mit ihnen gehen und sie anführen.“ Iranus erhob sich. „Entschuldigt mich.“ Mit schnellen Schritten verließ er den Saal.

Zwei Mondtage später waren nahezu alle Untertanen vor die mächtige Stadtmauer gezogen, um Abschied zu nehmen. Den Männern war die Lillie gereicht worden, die diese voller Stolz angeheftet trugen. Bei den Ostländern galt das Meereskraut als widerspenstige Pflanze, die jeden Sturm überlebte und wie Unkraut niemals tot zu machen war. Selbst an Land konnte die Pflanze monatelang als totes Geäst überleben. Kam es danach mit Wasser in Kontakt, schlug es Wurzeln, bildete neue Triebe und bekam prächtige blaurote Blüten.

Eintausend Ritter saßen auf ihren Pferden vor dem Stadttor. Unbewaffnet. Der einzige Mann, der ein Schwert trug, war Iranus. Er führte ein altes Schwert mit sich, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Iranus drückte seine Kinder und umarmte dann seine Frau.

„Lass unser Heer mit den an uns gelieferten Waffen ausrüsten. Ich habe Anweisungen hinterlassen, damit du während meiner Abwesenheit regieren kannst, Theresa. Entscheide du, wann es notfalls zum Äußersten kommen wird. Die Männer sind bereit, sie werden dir in die Schlacht folgen“, flüsterte er ihr nur für ihre Ohren bestimmt zu.

Theresa küsste Iranus zum Abschied. Iranus stieg in den Sattel seines Grauschimmels auf und ritt vorne weg. Seine Kinder winkten ihm nach, wie er im Umdrehen sah. Die Ritter folgten, während der Bote neben Iranus galoppierte. Das Volk hingegen bedachte das Heer mit Wünschen für eine gesunde Heimkehr.

Als die Streitmacht am Horizont verschwunden war, führte Theresa ihre Kinder und Untertanen in die Königsstadt zurück. Insgeheim ahnte die Königin, dass die Zeit für Veränderungen gekommen war.

191. Seenlande

5. Zeitalter von Aan, 99. Mondjahrhundert, 40. Mondphase

Selen, Oskar und Merkur hatten Lydia verkleidet. Lydia sah wie eine alte, gebrechliche Frau aus. Damit die Verkleidung echt wirkte, lief sie gebückt mit einem Stock, den sie stützend beim Gehen aufsetzte. Selen hatte sich die Haare gefärbt. Sie waren feuerrot. Die junge Frau hatte mittels einer Hennapflanze die Farbe hergestellt und sie in ihre Haare eingefärbt. Dazu trug sie eine graue Tunika. Auch Lydia war einfach angezogen.

Über unbefestigte Wege lief das Quartett nach Seestadt. In den letzten Mondtagen hatte es immer wieder geregnet. Der Boden war aufgeweicht und überall hatten sich Pfützen gebildet. Ihre Schuhe waren schnell durchnässt gewesen, so dass sie nun barfuß wanderten, was Lydia lediglich aus ihrer Kindheit kannte.

Um Seestadt unbemerkt betreten zu können, brauchte es nicht viel. Es war Markttag in der Stadt und Karren mit gefangenem Fisch, der bereits geräuchert oder gerade frisch gefangen war, wurden in die Stadt geschoben oder von Pferden gezogen.

Der Markttag war eines der Ereignisse in dem kleinen Land, welches viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Hier trafen Familienmitglieder aufeinander, hier feilschte man um die besten Waren, die mit einfachen Booten in die Stadt gebracht wurden, hier wurden Stoffe und Tücher verkauft und auf dem Tiermarkt wechselten Zwei- und Vierbeiner ihre Besitzer. Aus den bunten Marktständen erklangen Stimmen von Händlerinnen und Händlern, die ihre Waren anpriesen. Viele Stände boten Leckereien an und Taler wechselten die Besitzer.

Lydia hockte auf einem Ochsenkarren, auf dem Schweine in die Stadt transportiert wurden. Sie hatte ihre nassen, wendegenähten Schuhe wieder an, während Selen barfüßig ging. Ihre Begleiter trugen die für das Seenland typischen Holzschuhe, wobei die meisten Menschen im Seenland überhaupt keine Schuhe trugen, da sie oft stundenlang im Wasser arbeiteten.

Als alte Frau auf einem hinteren Brett eines Ochsenkarrens sitzend, wurde Lydia von den Wachposten, die durch die Gassen und über die Märkte patrouillierten, nicht näher beachtet. Die Männer suchten eine junge Königin, keine alte Frau. Selen hatte ihre Haare unter einer grünen Haube versteckt, wobei das satte Rot hervorragend zum Grün leuchtete.

Lydia musste sich eingestehen, dass Selen eine hübsche Frau war. Zwar von kräftiger Statur, da sie körperlich hart arbeitete, aber dennoch schlank. Gemeinsam näherte sich die Gruppe dem Haus der Sterne von Seestadt. Der Bau war aus Holz und Lydia spielte ihre Rolle als alte Frau großartig.

„Bitte, mein Kind, hilf mir beim Gehen!“, bat sie so laut, dass zwei Stadtwachen den Frauen aus dem Weg gingen. Selen nahm Lydias Hand und gemeinsam liefen sie auf die offenen Holztüren des Hauses der Sterne zu. Bevor Selen eintrat, ließ sie ihren Blick über den Vorplatz schweifen. Markus und Oskar trollten sich zu einer alten verknöcherten Buche. Dort lehnten sie sich gelangweilt an den Baumstamm und sicherten sie ab. Ihre Freunde unterhielten sich und beobachteten zugleich aufmerksam ihre Umgebung. Markus nickte Selen stumm zu, die daraufhin in das Haus der Sterne eintrat, und Lydia folgte.

Im Inneren des Gebäudes war es kühl und recht dunkel. Die Holzbänke waren leer. Wenn niemand starb, heiratete oder eine Krönung abgehalten wurde, wurde das Gebäude wenig benutzt. Lydia gab Selen ein Zeichen näher zu treten und die beiden Frauen liefen schnurgerade auf den Altarstein zu.

„Das ist er also“, stellte Selen aufgeregt fest.

„Das ist er. Leor und ich haben uns hier ein zweites Mal nach unserem Versprechen in Aan die Treue geschworen. Der Altarstein wird uns zeigen, ob in deinem Blut die Blutlinie von König Angor fließt. Streck deine Hand aus.“

Selen reichte Lydia ihre linke Hand.

„Es könnte jetzt weh tun“, meinte Lydia und zog ein Messer.

„Tu es“, erwiderte Selen.

Lydia ließ die Klinge über Selens Finger gleiten und schnitt in die Haut. Sie drückte ihre Fingerspitze und das Blut lief an dem Finger zum Handrücken hinauf. Lydia hielt Selens blutige Hand über den Altarstein. Nichts geschah. War etwas schiefgelaufen?

Unsicher schauten sich die Frauen an. Auch mit einem weiteren Tropfen von Selens Blut entstand kein Licht.

„Das … das verstehe ich nicht“, stammelte Selen enttäuscht.

„Wenn wir keinen Lichtstrahl sehen, heißt das, dass König Angor nicht dein Vater war.“

„Das kann nicht sein. Mutter würde mich nie belügen!“

Lydia nahm das Messer und schnitt sich in ihren Finger. Der Blutstropfen traf den Altarstein. Gebannt warteten die Frauen ab. Aber auch bei Lydia tat sich nichts.

„Merkwürdig“, sinnierte Lydia verunsichert.

Hinter ihnen kam jemand klatschend in das Haus der Sterne.

„Welch großartige Vorstellung! Zwei Frauen, die vorgeben von königlichem Blut zu sein, aber in Wirklichkeit Lügnerinnen sind.“

Lydia kannte die Stimme. Sie fröstelte und auf ihrer Haut standen ihre Haare ab. Entsetzt drehte sie sich um und erhielt Gewissheit.

Leor stand breitbeinig in der Tür. Hinter ihm konnte sie einige Gardisten sehen, die den König begleiteten.

„Ihr dürft herauskommen.“

Die Frauen hielten sich zitternd fest und traten Leor entgegen, der den derb aussehenden Wachen einen Wink gab. Daraufhin nahmen diese Selen in Gewahrsam, während Leor Lydia im Vorbeigehen am Handgelenk festhielt.

„Du bist alt geworden, Weib“, wisperte er und starrte ihre Verkleidung verächtlich an. „Ich hatte gehofft, dich nie wieder zu sehen. Aber jetzt habe ich den Beweis, dass du eine Hochstaplerin bist. Ich dachte, dass ich die Tochter eines Königs geheiratet habe. Dabei scheine ich eine Gemeine geehelicht zu haben.“

„Du weißt, dass das nicht stimmt, Leor. Ich bin Lydia, älteste Tochter des Großen Hauses Aan.“

„Wenn du das bist, warum sehe dann ich keinen Lichtstrahl auf dem Altarstein?“

„Leor, hör auf. Ich weiß, wer ich bin!“

Brutal zerrte er sie nach draußen in das Sonnenlicht.

„Siehst du die Frau dort?“

Andra wartete unter der Buche und wirkte mit sich rundherum zufrieden. Was Lydia hingegen viel mehr schmerzte als Andra zu sehen, war die Tatsache, dass Merkur und Oskar leblos erhängt von den Ästen der Buche herabhingen. Ihre Leichen baumelten im Wind und Kinder zerrten an ihren Beinen. Schaulustige hatten sich eingefunden und umrundeten den Baum und den Eingang zum Haus der Sterne.

„Was geht hier vor, König Leor?“

Im Gehen hielt Leor inne. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, seinen Untertanen eine Erklärung zu geben. Nun aber musste er antworten, weil die Erhängung der beiden Männer und das Abführen der zwei Frauen Aufmerksamkeit erregte, was er zu verhindern versucht hatte.

„Die zwei Männer haben in den königlichen Seen gefischt. Es war ihnen verboten. Sie haben die Krone bestohlen. Auf Diebstahl steht wie ihr wisst der Tod.“

„Und die Frauen?“, erkundigte sich eine andere Stimme.

„Die Frauen sind … ähm, es sind ihre Weiber. Ich werde entscheiden, was mit ihnen geschieht.“ An die Wachen gewandt befahl er: „Bringt die Frauen fort!“

Leor lief voraus und ließ Lydia sowie Selen in den Palast führen. Als die Frauen hinter den Mauern und damit verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit waren, schleiften die Soldaten sie in das Kellergewölbe, was Lydias Meinung nach mehr einem Folterkeller entsprach und den sie bisher nicht kannte. Die gemauerten Wände waren blutgefärbt und es standen die merkwürdigsten Apparaturen herum, bei denen sich die Frauen nicht vorstellen konnten, wie und wozu sie genutzt wurden. Im Hintergrund stand eine Bodenluke auf. „Kommt mal beide her!“, wies Leor die Frauen an und der Kerkermeister schob Lydia und Selen an die Luke. Leor nahm eine Fackel von der Wand, die er durch die Luke in die Tiefe fallen ließ. Sie schlug zunächst auf einen Stein auf, bevor sie von diesem herunterkatapultiert wurde und auf dem Boden fiel, wo sie weiter brannte.

„Seht ihr, was dort unten ist?“

Die Frauen schlotterten vor Angst.

„Nein“, erwiderte Lydia. „Was soll das hier, Leor? Ich will hier weg! Lass mich endlich frei. Ich bin deine Gemahlin!“

„Nicht so schnell, Weib“, raunzte Leor Lydia verächtlich an. „Ich kenne dich nicht noch kenne ich deine Freundin. Ihr beide sucht doch etwas!“

„Warum sollten wir das gerade in diesem verfaulten Loch finden, Leor?“

„Tja, warum nur? Du musst da unten genauer hinsehen!“

Leor schob Lydia näher an die Luke, aber sie konnte immer noch nichts sehen. Als nächstes spürte sie Leors zupackende Hände an ihrem Rücken.

„Du hast mich verraten und entehrst unser Großes Haus! Treue haben wir einander geschworen. War es nicht so, Liebste?“, wisperte er in ihr Ohr.

„Leor, du machst mir Angst!“

„Wer bin ich, dass du einer dahergelaufenen Frau das Anrecht auf die Krone einräumst? Ich, du verlogenes Weibsbild, bin der König von Seenlande. Nur der König spricht Recht und entscheidet über jedwedes Begehr. Dein Vater meinte, dass du ein folgsames Weib sein würdest. Du hast ihn enttäuscht und mich hintergangen. Auf Verrat steht der Tod! Selbst für eine wie dich. Leb wohl, meine Königin“, flüsterte Leor und schubste Lydia durch die Luke.

Schreiend fiel die Königin in die Tiefe. Selen ahnte, was kommen würde. Sie wehrte sich nach Kräften und trat wild um sich. Mühelos ergriff der Kerkermeister sie und trug sie zappelnd zur Luke.