Flammensee - Matthias Moor - E-Book

Flammensee E-Book

Matthias Moor

4,6

Beschreibung

Vor drei Jahren verschwand am Bodensee der sechsjährige Tim. Damals fiel der Verdacht auf Katharina Mink, die Mutter des Jungen. Als jetzt die gleichaltrige Martha verschwindet, ist Katharina die Letzte, die das Mädchen lebend gesehen hat. Während die Polizei auf die Spur eines rätselhaften Mannes gerät, ermittelt Privatdetektiv Martin Schwarz im Kreis der Familien. Dort stößt er auf ungeahnte Verstrickungen und Abgründe - und ein verstörendes Geheimnis ...

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Matthias Moor, Jahrgang 1969, lebt seit über zwanzig Jahren am Bodensee. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Gymnasiallehrer wie auch als freier Journalist in Konstanz. Er liebt den See mit seinen vielgestaltigen Landschaften. Wenn mal nichts anliegt, fährt er am liebsten mit seinem Boot zum Fischen hinaus.

Besuchen Sie den Autor auf www.matthias-moor.de.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die LiteraturagenturBeate Riess, Freiburg.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/sijole Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPIbooks GmbH, LeckISBN 978-3-86358-612-6 Bodensee Krimi Originalausgabe

The truth is rarely pure and never simple.

Prolog

Am Ufer, direkt am Wasser, blieb sie stehen.

Hinter ihr das große, hölzerne Kreuz.

Es war ein Tag, als ob die Sonne gestorben wäre.

Die Angst… Plötzlich spürte sie, wie sie kam, unaufhaltsam: wie der Puls sich beschleunigte, das Herz schneller schlug, die Knie leicht zu zittern begannen…

Sie hatte Mühe, das Atmen zu kontrollieren.

Der See war schwer und eisengrau. Kalte Winterluft. In unbestimmter Entfernung verschwammen Wasser und Nebel zu einem Nichts. Darin verlor sich ihr Blick. Der dumpfe Klang eines Schiffshorns aus dem Nirgendwo.

Kalte Schauer auf der Haut, Schweiß auf der Stirn, ihre Muskeln spannten sich, sie wollte rennen!

Doch sie zwang sich, stehen zu bleiben…

In das Nichts zu blicken…

Alles still.

Sie schloss die Augen.

Was wohl kommen würde?

Für einen Moment sah sie nichts und hörte nichts als ihr Atmen.

Und dann plötzlich… Plötzlich war der Sommer da.

Der Ruf eines Kindes…

Nach einer Weile öffnete sie die Augen.

Allmählich beruhigte sich der Puls, entspannte sich ihr Körper, ging der Atem wieder ruhig.

Hier war es passiert, genau vor einem halben Jahr.

Da war das Strandbad voller Menschen gewesen.

Schon wollte sie gehen, da nahm sie am Boden eine Bewegung wahr. Eine Maus huschte voller Angst zwischen ihren Füßen herum.

Sie lächelte und regte sich nicht.

So ungeschützt, dachte sie.

Jetzt kauerte sich das kleine Tier an ihren rechten Stiefel, auf den Uferkies, als suche es Schutz. Niedliche kleine Knopfaugen, graubraunes Fell. Sie hielt den Atem an.

Langsam drehte sie den Kopf.

Keine zehn Meter von ihr entfernt stand ein Fuchs. Wie erstarrt. Sie erschrak. Sein rostrotes Fell war wie ein Feuer in dem allumfassenden Grau. Das Raubtier fixierte sie, mit aufgestellten Ohren und halb geöffneter Schnauze, als wäre es zum Sprung bereit.

In der kalten Luft war sein Atem zu sehen.

Sie zischte laut und riss ihre Arme nach oben. Sofort verschwand der Fuchs im Schilf. Sie blickte auf die Maus. Noch immer kauerte sie neben ihrem Stiefel.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte sie sanft.

Doch das kleine Tier blieb, wo es war.

»Geh!«, sagte sie, strenger, als sie eigentlich wollte.

Nichts geschah.

Da stupste sie die Maus mit ihrer Stiefelspitze an.

»Du kannst jetzt gehen!«, wiederholte sie.

Doch das Tier wollte nicht weichen.

Da stieg eine Wut in ihr hoch, unermesslich und wild.

Langsam hob sie ihren Stiefel und trat mit dem breiten Absatz fest auf die Maus.

Mit weit mehr Kraft, als sie eigentlich gebraucht hätte, drückte sie den kleinen Körper in den nassen Kies und drehte dabei ihren Absatz hin und her.

Als gälte es, das tote Tier möglichst tief in den Grund zu pressen.

Sie blinzelte und sog schnell Luft durch die Nase.

Die Wut verschwand, so schnell, wie sie gekommen war.

Sie drehte sich um und ging ein paar Schritte vom Ufer weg.

Jetzt stand sie direkt vor dem hölzernen Kreuz. Jesus blickte mit einem schmerzverzerrten, weltabgewandten Gesicht in den Himmel. Sein Körper war dürr, blutig und ausgezehrt.

Lange musterte sie ihn.

Dann, mit Tränen in den Augen, sah sie vor sich aufs Gras und säuberte darin den Absatz von Blut und Fleischresten. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, wandte sie sich ab und ging in Richtung Parkplatz.

Sie versuchte ein Lächeln.

Der Frieden würde nie wieder kommen.

Aber irgendwie musste das Leben weitergehen.

Doch so war es nicht.

Sie spürte die Wucht des Aufpralls, dann den Schmerz.

Sie hörte die Schüsse und verstand.

Zwei Kugeln durchbrachen ihren Schädel.

Zwei durchschlugen das Herz.

Während sie zu Boden sank, suchten ihre Augen noch, wunderte sie sich, dass niemand zu sehen war.

War er das?

Dann sah sie das Kind. Ganz klar. Ganz deutlich.

Es lief lachend auf sie zu und streckte die Arme nach ihr aus.

Sie würde es gleich in den Arm nehmen und niemals wieder gehen lassen.

1

Donnerstag, 1.August

Der See hatte ein Blau, als wäre der Himmel hineingefallen. Wolfgang Mink lächelte und ließ seinen Blick schweifen. Keine zwei Stunden war er fort gewesen: in Ruhe einen Kaffee trinken, ein paar dringende Mails beantworten, ein wenig für sich sein.

Am anderen Ufer lag das Städtchen Überlingen mit seinem hellgrauen Sandsteinmünster und den roten Stadthausdächern, den Weinhängen, den sanften, dunkelgrün bewaldeten Hügeln… Im Süden erkannte er die Klosterkirche Birnau. Darunter, direkt am Ufer, lag der »Winzerhof«, ihr Hotel. Hier, einige Kilometer entfernt, das Dingelsdorfer Strandbad mit den satten Wiesen und schattenspendenden Bäumen…

Er hörte Kinderlachen, Stimmengewirr, eine schimpfende Mutter, Wasserplanschen. Sommerbadestrandgeräusche. Ein perfekter Tag. Das für den Nachmittag angekündigte Gewitter war noch nicht zu sehen. Warum war er eigentlich fortgegangen?

Wolfgang Mink lächelte noch immer. Es gab Momente, in denen das Leben fast angenehm war. Früher hatte er den Bodensee geliebt, wie auch seine Frau Katharina. Schon als Kind hatte er mit seiner Familie immer hier Urlaub gemacht, obwohl sie gar nicht weit entfernt, in Pfullendorf, lebten.

Da rief ein Vater nach seinem Kind, und Minks Lächeln verschwand. Kurz schloss er die Augen.

»Tim!«, flüsterte er. Es gibt keinen Frieden mehr, dachte er, niemals und nirgends. Er atmete schwer.

Er blickte auf und sah Verena Steinfort. Sie kam vom Joggen und ging auf seine Frau zu. Katharina Mink lag in ihrem Liegestuhl, als wäre sie mit ihm verwachsen. Warum hatte er sie damals geheiratet? War es der Glamour? Ihre Schönheit? Oder doch die innere Verwandtschaft zwischen ihnen, diese verborgene Verletzlichkeit, die damals nur in seltenen Momenten aus ihren großen dunklen Augen sprach?

Diese Wut stieg wieder in ihm hoch.

Eine quälende Ahnung, die ihn schneller gehen ließ.

Er hätte auf seine Zweifel hören sollen damals.

Verena Steinfort stand neben Katharinas Liegestuhl, hatte die Hände in ihre Hüften gestemmt und blickte zum Strand.

Scheinbar ganz ruhig.

Eine schöne Frau.

Obwohl sie joggen gewesen war, saß ihr blonder Pagenschnitt perfekt.

»Alles in Ordnung?«, fragte Wolfgang Mink besorgt, als er einige Schritte hinter ihr stand. Er war leicht außer Atem.

Verena drehte sich um, und als er ihr Gesicht sah– die weit geöffneten Augen, diesen fahrigen Blick–, da wusste er schon, was sie sagen würde.

»Martha!«, sprach sie ernst. Schweiß rann in dünnen Bändern von ihrer Stirn. »Wo ist Martha?«

Wolfgang Mink wurde für einen Moment ganz starr. Sein Blick ging zum Strand; dorthin, wo Martha vor zwei Stunden zufrieden gespielt hatte. Sprang von Kind zu Kind. Doch Martha war nicht da.

Und Katharina reagierte nicht. Noch immer waren ihre Augen geschlossen.

»Katharina!« Er beugte sich zu ihr, aber sie schien nichts wahrzunehmen.

»Katharina!«, rief er und rüttelte an ihren nackten Schultern.

Nichts. Ihre Haut war eigentümlich kühl. Oder kam ihm das nur so vor, weil er schwitzte?

Mink presste die Lippen zusammen und atmete tief ein.

Verena Steinfort stand neben ihm. Sie hatte sich umgedreht und suchte mit den Augen den Kinderspielplatz hinter ihnen ab.

»Verdammt, wach auf!« Er schrie jetzt. Lauter, drängender und wütender, als er eigentlich wollte.

»Wolfgang!« Verena fuhr herum. Ihre Blicke trafen sich. Vorwurfsvoll sah sie ihn an. Auch in dieser Situation hielt sie zu Katharina, sorgte sich um sie. In diesem Moment! Diese Freundschaft hatte Wolfgang Mink nie verstanden.

Da endlich eine Regung…

Katharina blinzelte…

Wo war sie wieder gewesen? Was ging in ihr vor?

»Wo zum Teufel ist Martha? Du solltest auf Martha aufpassen, verflucht noch mal!«

Er spürte Verenas befremdeten Blick. Der Hass in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Katharina schien jetzt ohne Schwierigkeiten die Augen offen halten zu können. Auf einmal! Sonst klagte sie stets über die grelle Sonne, suchte immer Schatten und trug eine Sonnenbrille. Irgendetwas stimmte nicht.

»Lass sie, bitte«, meinte Verena und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Wie konnte sie so ruhig sein? Sie wirkte konzentriert, gefasst. Wie unbeteiligt. War das nicht ungewöhnlich?

Doch als Verena Steinfort sich zu seiner Frau beugte und ihre Hand nahm, sah er, dass sie zitterte.

»Katharina, wo ist Martha? Du solltest nach ihr sehen!«

Auch in ihrer scheinbar ruhigen Stimme nahm er das Zittern wahr.

Dann schien Katharina zu verstehen. Ihre Augen weiteten sich. Das Sonnenlicht schmerzte sie offenbar überhaupt nicht mehr.

»Martha! Oh mein Gott!«

Katharina sprach langsam, wirkte immer noch leicht abwesend, als wäre sie aus einem schweren Schlaf erwacht.

Sie blickte zum Strand.

Plötzlich stand ihr der Schrecken im Gesicht.

»Was hab ich nur getan!«, flüsterte Katharina. »Was hab ich nur getan?«

Wo ist sie gewesen?, fragte sich Wolfgang Mink. Welche Gedanken haben sie wieder in eine andere Welt gebracht? Die Mutter? Tim? Ruth? Er seufzte.

Verena Steinfort ließ die Freundin los und richtete sich auf. Sie blickte zu Katharina, dann zu ihm.

Das blanke Entsetzen.

Für einen Moment fürchtete Wolfgang Mink, dass Verena zusammenbrechen würde.

Dann ballte sie die Hände zu Fäusten.

»Wir müssen etwas tun!«, sagte sie bestimmt. »Wir müssen sofort etwas tun, Wolfgang!«

Wolfgang Mink nickte. »Verena, du gehst zum Kiosk und zum Spielplatz. Sieh dich dort noch einmal kurz um. Wenn Martha da nicht sein sollte, suchst du sofort den Bademeister. Er soll über Lautsprecher durchsagen, dass Martha vermisst wird und wie sie aussieht. Die Leute sollen beim Suchen helfen! Und niemand soll das Strandbad verlassen, bis sie gefunden ist. Hörst du? Er selbst soll sich darum kümmern, dass an den Ausgängen Leute stehen und niemand hinauskann. Ich schaue unten am Strand, und wenn Martha da nicht ist, rufe ich die Polizei an. Und Minister Volz.«

Verena Steinfort nickte. Sie ging sofort in Richtung Kiosk.

Wahrscheinlich spielt Martha am Spielplatz, dachte er. Sicher ist alles gut.

Katharinas Liegestuhl befand sich keine zwanzig Meter vom Strand entfernt, im Schatten zweier Bäume. Als er vor etwa anderthalb Stunden gegangen war, spielte Martha mit ihren Sandkastensachen unten am Ufer. Seicht war das Wasser hier; ein-, zweihundert Meter konnte ein Kind bequem hinauswaten, bevor die Tiefe kam. Martha konnte gut schwimmen. Ertrunken war sie sicher nicht.

Noch einmal ließ Wolfgang Mink seinen Blick über die riesige blaue Wasserfläche gleiten. Kinder spielten Ball, planschten im Wasser, andere gruben mit Plastikschaufeln im Kies. Unbeschwertheit überall. Ein Mann warf einen Tennisball in den See hinaus, und ein kleiner Hund jagte bellend hinterher.

Da sah er etwas.

Weit draußen im See, ein Mädchen mit hellbraunen Haaren, das hinausschwamm.

»Martha«, sagte er zu sich.

»Martha!«, rief er so laut, dass die Umstehenden sich zu ihm umdrehten. Er rannte los, mit seinen Segelschuhen ins Wasser hinein, hin zu dem Kind.

»Martha!«, schrie Mink, und in seiner Stimme lagen Hoffnung wie Verzweiflung.

Der See war flach hier, aber durch das aufspritzende Wasser beim schnellen Laufen waren seine Shorts und sein Sommerhemd schon nass.

Fünfzig Meter war er sicher schon gelaufen, das Kind jetzt nicht mehr weit von ihm entfernt.

Da stellte es sich auf, drehte sich um und blickte zu ihm.

Wie angewurzelt blieb Mink stehen. Er keuchte. Das war nicht Martha, auf keinen Fall. Martha trug einen schwarz-gelben Badeanzug, das Kind hier einen roten. Und das Gesicht…

Mink fühlte sich plötzlich unendlich schwer. Er merkte, dass ihn die anderen Badenden skeptisch ansahen.

»Ich passe auf, geht ihr los!«, hatte Katharina gemeint.

Gelächelt hatte sie. Es schien doch alles in Ordnung zu sein mit ihr. Verena wollte zum Joggen, er ein wenig für sich sein. Die Arbeit rief. Warum auch nicht? Die Vertragsverhandlungen mit Daimler zogen sich hin. In den letzten Jahren war seinem Unternehmen eine Konkurrenz in Bulgarien erwachsen. Und jetzt wollten die Einkäufer von Daimler mächtig auf die Preise drücken.

Katharina hatte Fortschritte gemacht in den letzten Monaten; lange war sie nicht mehr in diese Art Trance geraten, in welcher sie der Welt zu entgleiten schien. Seit Monaten nahm sie ihr Antidepressivum nicht mehr. Der Therapeut hatte gemeint, dass man ihr unbedingt Verantwortung übergeben sollte.

Martha war nirgendwo zu sehen.

Damals war es kalt gewesen, der See grau und verloren.

Vor drei Jahren war ihr Sohn Tim nicht vom Spielen zurückgekehrt, keine zehn Kilometer von hier entfernt. Und seitdem nicht wiedergekommen.

Katharina hatte in den Tagen danach stundenlang im Garten des Hotels gestanden und auf den See hinausgestarrt. Warum? Was hatte sie dort gesucht?

Er blickte vor sich aufs Wasser.

Dann vernahm er die Stimme aus dem Lautsprecher. Verena hatte den Bademeister schnell überzeugen können. Mit nervöser, aber fester Stimme sagte er, dass ein sechsjähriges, schlankes, braunhaariges Mädchen namens Martha vermisst werde.

»Die Eltern des Kindes bitten um Ihre Mithilfe bei der Suche! Rufen Sie Ihre Kinder zu sich. Sollten Sie Martha finden, bringen Sie das Kind bitte zum Kiosk des Strandbads. Ich möchte Sie weiterhin bitten, das Gelände bis zum Eintreffen der Polizei nicht zu verlassen.«

Wolfgang Mink sah, wie die Menschen um ihn herum innehielten. Für einen Moment schien die Welt einzufrieren. Kurz darauf riefen Mütter nach ihren Kindern, einige liefen aus dem Wasser in Richtung Strand, und neben sich sah er zwei Jugendliche, die mit prüfenden Blicken die Wasserfläche absuchten. Am Horizont waren dunkle Wolken zu erkennen.

Mink nahm sein Smartphone aus seiner Hemdtasche und wählte110. Er würde schnell sprechen und den Beamten nicht zu Wort kommen lassen. Er dachte an damals, vor drei Jahren, kurz nachdem Tim vom Spielen nicht zurückgekehrt war. Er hatte die Polizei verständigt, doch der Beamte der Notrufzentrale war ihm mit Beschwichtigungen und Zweifeln begegnet.

Das würde er nicht noch einmal ertragen.

Mink schloss die Augen, um sich besser zu konzentrieren.

Mit viel zu festem Griff hielt er sein Smartphone, nannte seinen Namen und dass im Dingelsdorfer Strandbad vor wenigen Minuten Martha Steinfort– ein sechsjähriges schlankes Mädchen mit schulterlangen hellbraunen Haaren– verschwunden sei; eine sehr gute Schwimmerin. Dass er ein Freund der Eltern des verschwundenen Kindes und mit dem Wirtschaftsminister des Landes gut bekannt sei. Dass er dringlich um eine sofortige und umfassende Suchaktion bitte und die Polizei für jede Verzögerung haftbar machen, dass er nach Beendigung des Gesprächs sofort mit dem Minister Kontakt aufnehmen werde.

»Hören Sie«, sagte er mit brüchiger Stimme, »vor drei Jahren ist mein Kind Tim Mink spurlos am Bodensee verschwunden und bis heute nicht wieder aufgetaucht. Es hat damals mehrere Stunden gedauert, bis überhaupt ein Polizist aufgetaucht ist.«

Kurz war es still. Mink glaubte, dass der Beamte wusste, mit wem er sprach. Und dass er sich an den Fall Tim Mink erinnerte.

»Wir werden umgehend alles Notwendige veranlassen und schicken sofort jemanden vorbei«, entgegnete der Beamte mit ernster und nüchterner Stimme.

Wolfgang Mink schluckte und öffnete die Augen.

Der Beamte hatte aufgelegt.

Überall auf dem Gelände des Strandbads liefen jetzt suchende Badegäste umher. Wolfgang Mink sah, dass einige junge Männer eine Kette gebildet hatten und durch das hüfttiefe Wasser weiter draußen wateten.

Doch Mink wusste, dass Martha nicht einfach so ertrunken war. Er ging weiter, am Strand entlang, prüfte jedes Kindergesicht und ließ den Blick immer wieder über die riesige Wasserfläche gleiten.

Irgendwo da draußen war vermutlich Tim verschwunden. Womöglich lag er noch immer in den Tiefen des Sees. Und jetzt Martha. Das konnte kein Zufall sein. Sollte sein Instinkt ihn damals doch nicht getrogen haben?

Katharina…

Das Blut, die Hunde, wie sie Hals über Kopf mit dem Wagen davonraste…

Wolfgang Mink nahm sein Smartphone und wählte die private Mobilnummer des baden-württembergischen Wirtschaftsministers Dr.Ernst Volz.

Mink kam gleich zur Sache, erläuterte, was vorgefallen war, und betonte, dass er auf die Freundschaft des Ministers setzen müsse. Dass damals, vor drei Jahren– wie er, Volz, ja wisse–, die Polizei völlig nachlässig und viel zu langsam reagiert habe. Dass die Beamten erst nach mehreren Stunden eingetroffen und ein Hubschrauber erst am folgenden Tag für nötig erachtet worden sei. Dass man ihnen am Telefon in einem herablassenden und gleichgültigen Ton mitgeteilt hatte, dass man ihre Sorgen zwar verstehe, aber eigentlich alle als vermisst gemeldeten Kinder früher oder später wieder auftauchten.

Dass damals vonseiten der Polizei erst beim Suchen nach einer möglichen Leiche nennenswerte Energie entfaltet worden sei.

Einer Leiche, die bis heute nicht aufgetaucht war…

Wenig später wusste Wolfgang Mink, dass sein Freund ihn verstanden hatte. Dass diesmal an nichts gespart werden, nichts unversucht bleiben würde.

Etwa zehn Minuten später hörte er das Nahen eines Helikopters. Mink war den Strand bis zum Ende abgelaufen, ohne Martha zu sehen. Das ohrenbetäubende Knattern kam ihm wie eine Befreiung vor. Wie ein riesiges Insekt, mit dem Kopf dem See zugeneigt, kroch der Flugkörper langsam durch die Luft. Seine Beziehungen zeigten offensichtlich Wirkung.

Mink machte kehrt und lief zurück, so schnell es ging. Bald war er außer Atem. Seit drei Jahren trieb er keinen Sport mehr und hielt sich beim Essen noch weniger zurück als früher.

Selbstmord auf Raten, hatte sein Arzt gemeint.

Außer Atem, schwitzend sah er vor dem Kiosk den Bademeister. Verena Steinfort saß in einem Liegestuhl. Ein Mann, der sich als Arzt vorstellte, kniete neben ihr und hielt ihre Hand. Verena schien wieder ganz ruhig, fast entrückt. Wolfgang Mink hockte sich neben sie, sprach leise und gefasst.

»Verena, es ist alles in die Wege geleitet. Ich habe mit Minister Volz telefoniert. Er wird alle Hebel in Bewegung setzen.«

»Ich habe sie im Stich gelassen«, sagte sie.

Wolfgang wusste nichts zu erwidern. Genau das hatte er damals auch empfunden.

Dann sah ihn Verena Steinfort bestimmt an. »Jetzt werde ich kämpfen!«

Sie stand auf. Sie war wie er. Wohl noch stärker.

Hätte er damals nur eine Frau wie Verena geheiratet.

»Sie sollten liegen bleiben!«, meinte der Arzt besorgt.

Wolfgang Mink lächelte, trotz allem.

»Sie werden diese Frau nicht aufhalten!«, sagte er zu dem Mann.

Dann ging er zum Bademeister.

»Wolfgang Mink mein Name«, stellte er sich vor. »Eigentümer von Mink Solutions, falls Ihnen das etwas sagt.« Der Bademeister sah ihn ehrfürchtig an. »Ich bin ein guter Freund der Mutter des verschwundenen Kindes und würde gerne behilflich sein, bis die Polizei eintrifft.«

Der Bademeister schien froh zu sein, dass eine offensichtliche Autorität ihm das Heft des Handelns aus der Hand nehmen wollte. Dankbar blickte der große, schlanke Mann hinab in die eindringlichen und selbstbewusst blickenden Augen des untersetzten und beleibten Unternehmers.

»Ist sichergestellt, dass niemand das Gelände verlassen kann?«

Der Bademeister wiegte unschlüssig den Kopf. Auf Mink wirkte er vollkommen überfordert und ahnte wohl, wie viele Tausend kritische Fragen ihm noch gestellt werden würden. Hatte er für ausreichende Sicherheit gesorgt? Hatte er das Wasser fest im Blick gehabt? Wo genau war er zur Zeit des Verschwindens des Mädchens gewesen? Und wer konnte das bezeugen? Mink wollte nicht in seiner Haut stecken, wenn Martha doch ertrunken sein sollte.

»Soweit es geht, Herr Mink. An den beiden Eingängen und bei den Zugängen zum Campingplatz habe ich Leute postiert. Aber am See unten gibt es nur Schilf. Wer unbemerkt entkommen will…«

Mink nickte. Falls es einen Entführer gab, würde er sicher schon längst über alle Berge sein. Auch wenn es aussichtslos war, ging er dennoch auf eine Gruppe Jugendlicher zu und wies sie an, den Uferbereich an beiden Enden des Strandbads zu kontrollieren und sich Entfernende in jedem Fall am Verlassen zu hindern. Egal, ob diese nun ein Kind hatten oder nicht.

Dann hörte er über die Lautsprecheranlage Verena Steinfort. Während sie mit zitternder, aber dennoch bestimmter Stimme sprach, sah er, wie die suchenden Menschen gebannt innehielten. Sie schaffte es, den Lärm des Helikopters zu übertönen.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin die Mutter des vermissten Kindes und möchte Sie bitten, Ihre Suchbemühungen fortzusetzen. Bitte bleiben Sie hier auf dem Gelände und achten Sie darauf, dass sich niemand entfernt, auch wenn diese Person kein Kind dabeihaben sollte. Für die jeden Moment eintreffende Polizei ist jede Zeugenaussage, jeder Einzelne von Ihnen von möglicherweise unschätzbarem Wert! Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Unterstützung.«

Dann brach ihre Stimme; Wolfgang sah, wie sie sich fallen ließ, kraftlos; wie der Arzt sie auffing.

Er würde ihr jetzt nicht helfen können. Der Arzt war ja bei ihr.

Da hörte Wolfgang Mink Sirenen. Er sah zum Eingang des Strandbads: Rettungs-, Notarzt- und Polizeiwagen fuhren kurz darauf hintereinander herein.

Sein Blick fiel auf Katharina. Sie hatte er in den letzten Minuten fast vergessen. Wie gelähmt lag seine Frau in ihrem Liegestuhl. Doch ihre Augen waren geöffnet. Er ging zu ihr.

»Kannst du Robert anrufen?«, fragte er verächtlich.

Katharina blickte nur starr, mit weit geöffneten Augen, hinaus auf den See.

Mink seufzte, nahm das Smartphone und wählte die Nummer von Marthas Vater und Verenas Mann. Robert Steinfort war segeln gegangen. Wahrscheinlich wartete er immer noch missmutig auf eine Brise.

Das Handy war ausgeschaltet. Wie immer.

Mink schüttelte den Kopf. Professor Dr.

2

Donnerstag, 1.August

Kriminalhauptkommissar Marek Hafen stieg mit ernster Miene aus seinem Wagen und ging in Richtung Kiosk. Ein untersetzter und beleibter Mann kam ihm entgegen. Der fixierte ihn auf eine Art, dass Hafen instinktiv seine Hände zu Fäusten ballte.

Wolfgang Mink. Natürlich erinnerte er sich. Und der Kommissar sah auch, wie die Vorgänge vor drei Jahren diesen Mann gezeichnet hatten.

Marek Hafen war alles andere als begeistert gewesen, als ihn vor einer halben Stunde der Anruf der Notfallzentrale erreichte: dass eine Martha Steinfort, sechs Jahre alt, im Dingelsdorfer Strandbad verschwunden sei.

Ein vermisstes Kind: Kein Polizist wünschte sich das. Und dann Steinfort. Natürlich hatte er diesen Namen noch im Kopf, war ihm der ganze Fall Tim Mink in unangenehm genauer Erinnerung.

Es gibt Fälle, dachte Hafen, die vergisst man nicht. Wenn ein Kind verschwindet und nie mehr auftaucht. Auch er war damals in der SOKO Tim gewesen, Gott sei Dank nicht in leitender Position.

»Es fehlt wieder ein Kind«, meinte Mink kalt und mit einem Hauch von Sarkasmus. Er trat nahe an den Kommissar heran, sein Ton war schneidend. Marek Hafen hörte die unendliche Wut in der Stimme und las für einen kurzen Moment eine Verzweiflung in Minks Blick, die ihn schmerzhaft berührte.

Der Kommissar schluckte. Ob Mink ihn erkannte?

Marek Hafen nickte bloß und zwang seinen Körper, sich zu entspannen. Fast mit Gewalt musste er seine Finger lösen. Der Mann vor ihm war immer noch voller Energie; eine imposante, Überlegenheit ausstrahlende Erscheinung. Hafen, der sich selbst als Alphatier sah, brauchte alle Anstrengung, um nicht einen Schritt zurückzutreten oder sich sonst irgendwie klein zu machen.

Mink wirkte noch fülliger als damals, das Gesicht hingegen schien kantiger, das schüttere kurze Haar um die Halbglatze war offensichtlich braun gefärbt, und tiefe Falten hatten sich in die Stirn, neben die Augen und in die Mundwinkel gegraben. Die hellblauen Augen waren immer noch klar und durchdringend.

»Martha Steinfort ist verschwunden«, fuhr Mink fort, und seine Stimme zitterte noch immer vor Wut. »Sechs Jahre alt. Genau wie mein Sohn. Tim Mink. Vor drei Jahren, Herr Kommissar. Keine zehn Kilometer von hier!« Wolfgang Mink wies mit der linken Hand in Richtung Bodman. »Verstehen Sie!« Plötzlich war quälende Verzweiflung in seiner Stimme.

»Es tut mir leid«, meinte Marek Hafen leise und senkte den Blick. Dieser Mann hatte allen Grund, verzweifelt und wütend auf die Polizei zu sein. Er würde Mink jetzt nicht konfrontieren und wäre auch bereit, manches einzustecken. Aus Mitgefühl. Und Scham.

Hafens Antwort schien den Unternehmer ein wenig entspannt zu haben.

»Wenigstens sind Sie schon hier«, meinte er.

Hafen zwang sich zu einem Lächeln.

Doch sofort änderte sich Minks Tonfall wieder, so als wäre Hafens Geste unangebracht gewesen.

»Was haben Sie bisher veranlasst, Herr…?«, fragte Mink fordernd und streng.

Der Kommissar ließ die Frage einen Moment in der Luft hängen. »Hafen, Kriminalhauptkommissar Marek Hafen. Leiter der Kriminalinspektion1 beim Polizeipräsidium Konstanz.«

Was er veranlasst hatte? Eine ganze Menge! Seit der Anruf gekommen war, hatte er keine ruhige Sekunde gehabt. Zwei Hubschrauber befanden sich bereits in der Luft, einer über dem Strandbad, ein zweiter über dem Bodanrück. Gott sei Dank hatten sich zwei wegen eines Einsatzes in Friedrichshafen befunden. Die Grenzen zur Schweiz waren dicht, und an strategischen Stellen am Bodanrück und vor Konstanz hatte er Straßenkontrollen eingerichtet. Die Wasserschutzpolizei hatte begonnen, Boote auf dem See und die Häfen zu kontrollieren. Auch die Schweizer und österreichischen Kollegen halfen mit. Einen engen Mitarbeiter und Freund hatte er mit der Funkzentrale betraut, sodass ihn alle wichtigen Informationen unverzüglich erreichten. Und ein Mantrailer-Hund, der die Witterung des Kindes aufnehmen sollte, war bereits unterwegs.

Aber sollte er das diesem Mann jetzt sagen, Bericht erstatten auf Befehl des großen Wolfgang Mink? Wirkte das nicht, als wäre die Polizei dem Unternehmer gegenüber rechenschaftspflichtig? Käme er so nicht in eine unterlegene Position?

Nein. Er musste gleich ein so sanftes wie klares Zeichen setzen, wie er sich, bei allem Respekt, die Machtverhältnisse in diesem Fall vorstellte.

Da vibrierte sein Funkgerät.

»Moment!«, sagte er in Wolfgang Minks Richtung und wandte sich ab.

Es war sein Mitarbeiter in der Zentrale, Tom König. Hafen merkte gleich an der Stimme, dass es wichtig war.

»Marek? Meldung des Hubschrauberpiloten über dem Bodanrück. Ein Mann mit einer schweren Tasche auf dem Rücken wurde beim Dingelsdorfer Ried gesichtet. Als er den Hubschrauber sah, ist er in ein Waldstück an den Teichen geflüchtet. Darin befindet er sich immer noch.«

Tom König zögerte einen Moment. »Der Pilot meint, es könnte ein Kind in der Tasche sein, von der Größe her kommt das hin.«

Hafens Augen weiteten sich. Er sah, dass Mink ihn beobachtete, und es schien, als erschrecke dieser kurz bei seinem Anblick.

»Und der Pilot ist sicher, dass der Mann immer noch in dem Wald steckt?«

»Positiv. Um den Wald herum sind eine Lichtung und die Teiche. Alles gut einsehbar.«

»Verstärkung ist unterwegs?«

»Zwei Streifenwagen sind auf dem Weg. In ein paar Minuten werden sie da sein.«

Hafen sah Richtung See. »Verdammte Scheiße, Tom! Er soll mit seinem Heli genau über der Stelle bleiben! Schick mir den zweiten Hubschrauber vom See hierher. Er soll mich auf dem Fußballplatz südlich vor dem Strandbad abholen. Sofort!«

Dann nahm er das Funkgerät von seinem Mund.

»Wir haben etwas«, sagte er zu Mink. »Ich muss fort.«

Der Unternehmer blickte ihn überrascht an.

»Sie halten sich bereit. Wir sprechen spätestens heute Abend im Präsidium.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging Hafen schnell in Richtung Ausgang. Die Machtfrage ist wohl vorläufig geklärt, dachte er. Der Kommissar sah, dass der Heli vom See abzog und in Richtung Sportplatz flog. Er spürte einen Regentropfen auf der Haut und schaute nach oben. Der Himmel war schon dunkel. Wenn ein Gewittersturm kam, würden sie nicht fliegen können. Und wenn es stark regnete, würde der Mantrailer-Hund nichts wittern.

»Verfluchte Scheiße«, zischte er.

Marek Hafen ging los und wandte sich über Funk wieder an Tom König. »Du rufst sofort den Polizeipräsidenten an. Der soll uns das SEK und drei Hundertschaften besorgen. Dringend. Klär ihn auf, um wen und was es hier geht. Ich will die so schnell wie möglich und noch heute hier haben. Zur Not soll er den Landespolizeipräsidenten anrufen. Dann sieh zu, dass wir sofort mehr Leute zu diesen Teichen kriegen. So viele, wie es geht! Hat jetzt oberste Priorität, verstanden? Und schau dir Satellitenbilder von diesem Waldgebiet an. Wohin könnte er möglicherweise fliehen? Wo kann er am ehesten entkommen? Wir müssen ihn finden, bevor es dunkel wird!«

Marek Hafen fühlte sich zugleich schwer und leicht, als der Helikopter abhob. Leicht, weil er sich immer gern vom Boden löste und die Welt von oben sah. Schwer, weil ihm immer klarer wurde, um was es hier ging.

Vielleicht würde der Fall in der nächsten Stunde schon gelöst sein, und er könnte heute Abend mit seiner Frau den Sieg mit einem großen T-Bone-Steak und einer Flasche Rotwein feiern.

Vor drei Jahren hatte die SOKO Tim Mink auf ganzer Linie versagt: Weder die Leiche noch ein Täter konnten gefunden werden. Und jetzt war Martha Steinfort verschwunden, das Kind der besten Freundin und ehemaligen Anwältin Katharina Minks. Dr.Verena Steinfort: »Die Eiserne Lady« hieß sie damals im SOKO-Jargon.

Da vibrierte sein Handy. Eine Stuttgarter Nummer. Marek Hafen grinste. Klar, der Landespolizeipräsident. Den Anruf hatte er erwartet. Natürlich ließ Wolfgang Mink seine Kontakte spielen. Im ersten Moment wollte er den Anruf wegdrücken, aber er brauchte jetzt Dr.Niklas Hauschild.

»Hafen!«, sprach Hauschild laut ins Telefon. Er klang hocherregt und zugleich erleichtert, dass er den Kommissar erreicht hatte. Doch das Knattern der Rotoren war so laut, dass Hafen ihn kaum verstand.

»Lauter. Ich bin im Hubschrauber!«

Hauschild schrie fast. »Wir richten sofort eine SOKO ein. Ich will, dass Sie das übernehmen. Der Fall hat oberste Priorität!«

»Wir sind grad im Einsatz. Nur kurz: Ich brauche ganz großes Kino hier. Hundertzwanzig Mann für die SOKO, und ich such mir die Leute aus. Dazu das gesamte SEK, am besten sofort, allerspätestens für siebzehn Uhr. Einen dritten Heli und mehr Boote auf dem See. Und ich brauch drei Hundertschaften zur Gebietserkundung. Alles so schnell wie möglich, spätestens heute Abend. Geht das in Ordnung?«

Hafen stellte sich vor, wie Hauschild schluckte und ihm der Schweiß von der Stirn lief. Er wusste, woran der Landespolizeipräsident dachte. Dass damals, beim Verschwinden Tim Minks, die Ressourcen viel zu zögerlich und viel zu spät bewilligt worden waren. Und dass Hauschilds Vorgänger vor allem deshalb abdanken musste.

Darum wusste der Kommissar, dass er diesmal alles bekommen würde. Hier ging es nicht nur um ein vermisstes Kind aus der baden-württembergischen Oberschicht mit besten Verbindungen in die Landespolitik, hier ging es auch um die Wiederherstellung der Ehre der baden-württembergischen Polizei.

Und um den Posten von Dr.Niklas Hauschild.

»Ich sehe, was ich machen kann!«, rief Hauschild. »Hafen, wenn Sie das Kind lebend finden, können Sie nach mir Landespolizeipräsident werden!«

Hafen lachte. »Danke. Brauch ich nicht. Zwei Monate Urlaub sind mir lieber.«

Dann drückte er Hauschild weg.

Schon von Weitem sah der Kommissar den zweiten Helikopter, der auf der Stelle knapp über dem Wald stand. Vom Westen her kamen bedrohlich dunkle Wolken. Vereinzelte Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe, und an den unruhigen Flugbewegungen erkannte er den aufkommenden Wind.

»Gibt das ein Problem?«, fragte Hafen und zeigte zum Himmel.

Der Pilot schüttelte den Kopf. »Das Gewitter soll ruhig kommen.«

Hafen nickte. Zu seiner Enttäuschung stellte er fest, dass das Waldgebiet zwischen Dingelsdorf, Dettingen, Allensbach und Konstanz größer und zusammenhängender war, als er es sich immer vorgestellt hatte. Der Kommissar schätzte die Ausdehnung auf etwa vier mal vier Kilometer. Es nahm fast die gesamte Breite des Bodanrück ein. Bodanrück, so hieß der hügelige und waldreiche Landstrich, der als große Halbinsel zwischen Überlinger See und Untersee lag. Dieses Waldgebiet bis zum Abend zu umstellen oder gar zu durchsuchen, würde praktisch unmöglich sein.

Sie mussten diesen Mann jetzt kriegen. Wer auch immer es war.

Ob er plante, bis zur Dunkelheit im Schutz des Waldes zu bleiben? Hatte er hier irgendwo sein Versteck? Wollte er so die Straßensperren umgehen? Oder war er zunächst mit dem Auto geflohen und dann auf eine Straßensperre getroffen?

Sie würden am Waldrand nach einem Wagen suchen müssen.

Ob das Kind noch lebte? Es war schwer vorstellbar, dass der Fremde ein lebendes Mädchen in einer Tasche transportierte. Es würde sich wehren und strampeln und schreien. Vielleicht hatte er es betäubt. Hoffentlich.

Und vielleicht befand sich etwas ganz anderes in der Tasche. Aber er musste dieser Spur nachgehen.

Schließlich hatten sie die Stelle erreicht. Der zweite Helikopter stand keine dreißig Meter über einer Lichtung, am Nordufer von einem der Teiche, die durch einen schmalen Damm voneinander getrennt waren. Der Lärm der Rotoren musste für den versteckten Mann unerträglich sein. Abgesehen von der Lichtung war das kleine Moorgebiet von dichten Wäldern umgeben. Es zu durchkämmen würde Tage dauern.

Dann meldete sich der Pilot des anderen Hubschraubers über Funk. »Wir vermuten ihn in der Baumgruppe unter uns.«

Marek Hafen sah hinunter. Es handelte sich um eine Gruppe eng aneinanderstehender Weiden. Als wäre ein schwerer Sturm aufgezogen, peitschten die Zweige der Bäume und Büsche sowie die Schilfhalme am Teichufer vom Wind der Rotoren wild hin und her. Auch die in einiger Entfernung stehenden großen Fichten schwankten.

Hafen erkannte einen Graben, der sich durch den Weidenhain zog; das Gelände sah sumpfig aus. Er zweifelte, ob der Pilot das Gebiet tatsächlich so gut überblicken konnte, dass ihm ein Fliehender auffallen würde. Der Uferbereich war dicht mit Schilf und Buschwerk bewachsen.

»Wie sah er aus? Was habt ihr?«, sprach Hafen ins Funkgerät.

»Wahrscheinlich männlich, eher klein, mit dunkler Schirmmütze. Drahtig und überraschend schnell. Olivgrüne Armeekleidung. Ein geübter Läufer, wie es scheint. Trug eine große graue Reisetasche auf dem Rücken. Darin scheint etwas Schweres gewesen zu sein.«

»Wie habt ihr ihn entdeckt?«

Obwohl Hafen Kopfhörer trug, glaubte er schreien zu müssen, dass der andere ihn auch verstand.

»Er saß in der Hocke regungslos in der Uferböschung. Gar nicht weit von den Weiden entfernt, zwischen denen er jetzt vermutlich steckt. Ich habe ihn eher zufällig gesehen. Mir ist die schwarze Mütze aufgefallen. Er hat wohl gedacht, dass man ihn nicht erkennen kann. Als ich dann über ihm stehen blieb und runterging, lief er sofort los.«

Es würde passen, dachte Hafen. Er sah in Richtung Strandbad. Es war gut zu erkennen und etwa zwei Kilometer entfernt. Wahrscheinlich hatte der Entführer den Schutz des Waldes gesucht, und dieser hier war der nächste. Doch was war mit dem Kind?

»Noch etwas…« Der Pilot zögerte.

»Was?«

»Er hat nicht aufgeschaut. Das hat mich gewundert. Wir waren eine ganze Weile über ihm, aber er hat kein einziges Mal nach oben geguckt.«

Hafen nickte. »Er behält die Nerven. Das ist der Entführer. Ich bin mir sicher.«

»Wir bekommen Verstärkung!«, rief der Pilot neben ihm.

Hafen erkannte zwei Streifenwagen, die sich auf verschiedenen Waldwegen von Norden und Osten dem Ried näherten.

Warum Blaulicht?, dachte Hafen. Hoffentlich hatten die Kollegen ihre Sirenen ausgestellt.

»Gib mir eine Funkverbindung zu den Streifenwagen«, sagte er dem Kollegen in der Funkzentrale.

»Klar. Schieß los!«, meldete sich Tom König.

Hafen lächelte. Auf seinen Freund war Verlass. König dachte immer, was er dachte, allerdings ein paar Sekunden früher.

Gerade wollte Hafen zu sprechen beginnen, da löste sich eine Gestalt aus den Weiden.

»Da unten!«, rief der Pilot und zeigte auf den Fliehenden.

Die Idioten haben die Sirenen an, dachte Hafen. Er weiß, dass er verschwinden muss.

Der Mann rannte jetzt ohne Deckung über die Lichtung. Er lief genau auf die Stelle zu, wo die Wege zusammenliefen, auf denen sich die Polizeiwagen näherten. Warum tat er das? Hatte er sie doch nicht bemerkt? Waren die Sirenen aus?

Hafens Blick fiel auf den Damm zwischen den Teichen. Er war von Büschen und Schilf gesäumt und keine vier Meter breit. Auf dem Damm war ein Fußweg. Möglicherweise wollte er dort hin. Wenn er den Damm erreichte, konnte er in Richtung Südwesten verschwinden. Eigentlich seine einzige Chance.

Hafen wunderte sich, wie schnell dieser Mann rannte. Hatte er in seinem Versteck auf das Gewitter gewartet, damit die Hubschrauber sich verzogen? Er weiß, dass die Wagen kommen, dachte er.

»Bleiben Sie hinter ihm, immer hinter ihm, und gehen Sie so weit runter wie möglich!«, befahl Hafen über Funk dem Piloten des anderen Hubschraubers. Der Mann reagierte sofort.

»Und wir fliegen zu dem Dammweg. Sie landen direkt darauf. Wir sperren ihn ab.«

Erstaunt sah der Pilot Hafen an.

»Der Wind ist schon sehr stark, ich…«

Der Mann brach ab. Aus Hafens Blick las er, dass es nichts zu diskutieren gab.

Der Pilot schwenkte in Richtung Damm. Rasch verloren sie an Höhe. Die Maschine schwankte stark, doch der Pilot verstand sein Handwerk.

Wieder tanzten Büsche und Schilf; der Rotorenwind warf im Teich Wellen auf. Enten suchten erschrocken das Weite. Immer tiefer sanken sie hinab. Der Pilot hatte eine Stelle gewählt, wo keine Büsche wuchsen.

Als sich der Hubschrauber knapp über dem Damm befand und sich langsam senkte, sah Hafen den Mann. Er war auf dem Dammweg bereits einige Meter in ihre Richtung gelaufen und stand jetzt unschlüssig da, keine fünfzig Meter von ihnen entfernt. Er blickte abwechselnd hinter sich und zu ihnen.

Marek Hafen hatte also richtiggelegen. Der Fremde mit der Tasche wollte auf die andere Seite.

Hab ich dich, dachte der Kommissar.

Die Kufen des Helikopters berührten fast den Boden. Hafen schnallte sich ab. Er würde sich dem Mann entgegenstellen, falls er doch versuchen sollte, an ihm vorbeizukommen. Er würde ihn nicht vorbeilassen. Warum hatte er gezögert? Wäre er gerannt, hätte er den Damm vielleicht noch überqueren können.

Hinter dem Mann erkannte Hafen das flackernde Blaulicht eines Streifenwagens, der sich auf der anderen Seite des Teichs rasch näherte. Der Mann hatte verloren. Hafen sah, wie er sich noch einmal umblickte. Da hielt der Wagen an, die Türen wurden geöffnet.

Der Pilot war geschickt; der Heli stand jetzt quer auf dem schmalen Damm. Hafen zog seine P2000 und öffnete die Tür.

»Passen Sie auf Ihren Kopf auf!«, rief der Pilot ihm zu.

Hafen sah kurz zu den kreisenden Rotoren dicht über seinem Kopf und sprang hinaus. Die starken Luftwirbel ließen ihn schwanken. Breitbeinig stellte er sich vor dem Hubschrauber in den Weg, beugte seinen Oberkörper leicht nach vorne und richtete seine Waffe auf den Läufer.

Was macht er jetzt?, dachte Hafen. Weitere Wagen würden bald hier sein. Und rechts und links von ihm lagen die Teiche. Er könnte in das moorige Wasser springen, vermutlich waren die Teiche flach, aber natürlich würden sie ihn trotzdem bekommen.

Er saß in der Falle.

Für einen Moment sah sich Hafen in seinem Wohnzimmer sitzen, ihm gegenüber seine Frau mit einem stolzen Lächeln, vor sich auf dem Teller ein dickes Steak. Medium rare.

Da begann der Mann zu rennen.

Direkt auf ihn zu.

Kein einziges Mal hatte er bisher aufgeblickt. Hafen sah nichts als diese schwarze Baseballkappe mit dem ungewöhnlich langen Schirm. Offensichtlich hielt der Fremde sein Gesicht absichtlich zu Boden.

Unbeirrt rannte er auf ihn zu, verfolgt von zwei Beamten.

»Bleiben Sie stehen!«, schrie Hafen, so laut er konnte. Doch wahrscheinlich war in dem Lärm nichts zu hören.

Der Mann war keine dreißig Meter mehr entfernt und näherte sich rasch. Hafen musterte ihn genau. Sollten sie ihn wider Erwarten verlieren, wollte er sich möglichst viel von ihm einprägen. Es war ein kleiner, stämmiger Mann. Aufgrund seiner Schnelligkeit und Kraft wirkte er jung. In den Zwanzigern oder Dreißigern. Er hatte die Träger der Tasche auf die Schultern gespannt und trug sie wie einen Rucksack auf dem Rücken.

Sie musste schwer sein. Wie viel wog ein sechsjähriges Kind? Zwanzig Kilo? Der Mann selbst wog vielleicht siebzig. Sein Oberkörper war beim Rennen weit nach vorne gebeugt; an den kraftvollen Bewegungen der Beine, wie der Fremde sie mit Macht gegen den Boden drückte, erkannte Hafen das Gewicht der Tasche. Doch wer weiß, was sich wirklich darin befindet, dachte er.

»Bleiben Sie stehen!«, schrie Hafen noch einmal. Er schoss in die Luft, doch darauf reagierte der Flüchtende nicht. Hafen zielte auf den rechten Oberschenkel. Keine fünfzehn Meter trennten sie noch.

Du musst jetzt schießen, dachte er. Das Recht sah vor, dass er von der Schusswaffe Gebrauch machen durfte, wenn eine Person, die eines Verbrechens dringend verdächtig war, fliehen wollte.

War der Mann überhaupt dringend verdächtig?

»Schieß ihm in den Oberschenkel!«, sagte er leise zu sich.

Doch er konnte nicht. Zweifel lähmten seine Hand. Noch nie hatte er auf jemanden geschossen. Was, wenn sich das Kind in der Tasche befand und noch lebte? Der Mann sich plötzlich bewegte und er das Kind traf? Was, wenn es gar nicht der Entführer war? Wenn sie nur einen Dieb oder Wilderer oder einen verwirrten Penner aufgeschreckt hatten?

»Halt!«, schrie Hafen. Er würde sich ihm entgegenstellen und ihn aufhalten. Der Dammweg war schmal. Der Mann hatte die schwere Tasche, er würde sich gewiss nicht gegen ihn durchsetzen! Der Kommissar stellte sich seitlich hin und neigte den Oberkörper weit vor. Gleich würde er mit beiden Armen ausholen, all seine Kraft würde er in den Hieb legen.

Abrupt stoppte der andere ab. Dicht vor dem Kommissar. Das hatte er nicht erwartet. Für einen kurzen Moment sah der Mann auf, und Hafen zögerte.

Er ist viel älter, dachte er und schlug zu spät zu. Mit dem linken Arm stoppte der Mann seinen Schlag, im selben Augenblick spürte Hafen den Fausthieb an seiner Schläfe. Er hatte eine solche Wucht, dass Hafen das Gleichgewicht verlor. Er fiel zu Boden.

Hafen war kurz benommen. Als er die Augen öffnete, war der Unbekannte schon um den Heli herumgelaufen. Die Augen hatte er nicht gesehen, aber der Mann hatte ungewöhnlich schmale Lippen und einen breiten Mund. Faltige, braun gebrannte Haut. Der Fremde roch nach Erde und Schweiß. Ein eigenartig schwerer, herber Geruch.

Hafen schüttelte seinen Kopf und richtete sich auf; die Kollegen waren da. Ein junger Polizist hielt neben ihm und sah ihn bestürzt an. »Alles in Ordnung?«

»Hinterher! Aber nicht schießen! Das Kind ist vielleicht in der Tasche!«, rief Hafen, und die Männer liefen weiter.

Sie würden ihn schon bekommen. Er konnte nicht einfach auf einen Menschen schießen, von dem er bisher nur wusste, dass er fliehen wollte und etwas Schweres trug. Er würde sich das sonst immer vorwerfen. Er hätte das Kind gefährden können. Er hatte richtig gehandelt, auch wenn sie ihn jetzt verlieren sollten.

Ein krachender Donner war zu hören. Der Fremde rannte weiter auf einem breiten Waldweg.

Warum war er so schnell? Woher kam diese Kraft?

Der Heli hob ab. Hafen sah, wie der Wind ihn kurz mit sich trug. Das Gewitter kommt, dachte Hafen. Auch am Boden waren jetzt kräftige Böen zu spüren, und es hatte zu regnen begonnen. Wie der andere Hubschrauber nahm er die Verfolgung des Flüchtenden auf.

Ein Streifenwagen fuhr mit hohem Tempo auf dem Dammweg. Der Fremde hatte einen Vorsprung von vielleicht dreißig Metern.

Der Kommissar begann zu laufen, keuchend und schwitzend, aber seine Kräfte schwanden. Der Schweiß brannte in seinen Augen, die Schläfen pochten und schmerzten. Anfang fünfzig, neunzig Kilo bei eins zweiundsiebzig: Er war nicht der Spezialist für Verfolgungsjagden.

Gott sei Dank waren die anderen Beamten jung.

Er sah, wie sie die Distanz zu dem Fremden verringerten.

Der Streifenwagen überholte ihn.

Vielleicht noch zwanzig Meter.

Da verließ der Mann den Weg und lief, nein, sprang in den Wald. Die anderen folgten.

Wenig später befand sich Hafen an der Stelle, wo der Fremde den Weg verlassen hatte. Der Wald war hier ungewöhnlich dicht, ein Dickicht aus kleinen, eng beieinanderstehenden, dünnen, etwa mannshohen Buchen. Das Fortkommen war kaum möglich; ein fast undurchdringlicher Blätterwald. Die Hubschrauber über ihm würden den Mann in diesem Gewirr nicht verfolgen können.

Er sah die Kollegen nicht, und in dem Getöse der Rotoren war auch nichts zu hören. Hafen drückte sich hinein ins Dickicht, doch nach wenigen Metern blieb er erschöpft stehen. Äste hatten sein verschwitztes Gesicht zerkratzt, er stolperte immer wieder; er schaffte es einfach nicht mehr, sich durch das Gewirr hindurchzukämpfen.

Scheiße, dachte Hafen. Er hatte ein ungutes Gefühl. Der Regen war jetzt stark. Der Fremde schien genau zu wissen, was er tat.

Hafen ballte seine Hände zu Fäusten. Sollten sie ihn verlieren, würde er dieses Waldstück umgraben lassen!

Sie waren so dicht dran gewesen… Hätte er schießen sollen? Ein platzierter Schuss in den Oberschenkel, was sollte schon passieren? Und die Kollegen hatten gesehen, wie er versagt hatte. Es würde die Runde machen.

Dieser eigenartige Geruch kam ihm wieder in den Sinn. So einen schweren, herben, lehmigen Geruch hatte er bisher noch bei keinem Menschen wahrgenommen. Hafen dachte an einen Bauern oder Waldarbeiter. Jemand, der immer draußen war.

Er griff zu seinem Funkgerät. Er würde alle verfügbaren Leute hier in dieses Waldgebiet schicken. Und die Waldränder und Wege im Umkreis von einem Kilometer sperren lassen.

3

Donnerstag, 1.August

Wolfgang Mink war zehn Minuten zu früh. Nur zu gut konnte er sich an das Konstanzer Polizeipräsidium erinnern. Der restaurierte Bau befand sich in einer ehemaligen Kaserne aus der Kaiserzeit an einem großzügigen und ruhigen Platz in unmittelbarer Nähe zum Seerhein. Der Anblick des Gebäudes, der muffige Geruch in den kargen Dienstzimmern, die Fragen der Beamten waren ihm damals zur Qual geworden.

Als er mit einem leichten Widerwillen das Büro des Leiters der Kriminalinspektion1 betrat, sah er Hauptkommissar Hafen. Der kleine, massige Mann mit Halbglatze sowie Schnauz- und Kinnbart saß vor einem Berg Fastfood und hielt einen großen Burger in den Händen. Sein Mund und sein Oberlippenbart waren mit dunkler Soße bekleckert, die Füße auf den Schreibtisch gelegt.

»Kommen Sie rein, Herr Mink!«, sagte der Mann freundlich und zwinkerte ihm zu.

Für einen Moment spürte Wolfgang Mink Wut in sich aufsteigen, doch dann erinnerte er sich daran, dass er ja zu früh kam und auch ein Kommissar irgendwann einmal etwas zu sich nehmen musste. Mink kannte die ungemein beruhigende Wirkung von deftigem Essen nur allzu gut. Er mochte den Geruch von Frittiertem.

»Setzen Sie sich!«, meinte der Hauptkommissar, ohne die geringste Spur von schlechtem Gewissen zu zeigen. Stattdessen biss er beherzt in seinen Burger. Double Steakhouse, dachte Mink, gute Wahl. Er blickte auf die kleinen Kartons auf Hafens Tisch: Pommes, Onion Rings, Chili Cheese Nuggets und noch ein weiterer Burger. Alles auch sein Geschmack. Dazu ein großer Softdrink. Mink tippte auf Cola und konnte ein starkes Hungergefühl nicht verhehlen, auch wenn es ihm unangemessen erschien.

»Probieren Sie mal. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Snack vertragen.«

Marek Hafen schob ihm den Karton mit frittiertem Chilikäse hin. »Sie können auch meinen zweiten Burger haben.«

Mink musste lachen.

»Danke. Sehr freundlich. Hab keinen Hunger.«

»Sie lügen«, meinte Hafen. Und nach einer Pause: »Ich brauch das. Ist mein Sprit. Hält mich am Leben. Aber nicht mehr lange, meint mein Arzt, wenn ich so weitermache.«

»Wahrscheinlich haben wir den gleichen Arzt«, erwiderte Mink seufzend. »Ich glaube, der taugt nix.«

Und nach einem kurzen Moment: »Ich darf wirklich?«

Der Kommissar nickte.

Mink konnte nicht anders und nahm sich ein Stück Käse. Er schloss die Augen und biss hinein. Es tat gut.

Schon im Strandbad hatte Marek Hafen einen patenten Eindruck hinterlassen. Es hatte ihn beeindruckt und, in Gedanken an Tim, wütend gemacht, mit welcher Energie dieser Kommissar die Suche nach Martha betrieb. Der Mann schien auf Zack zu sein und Menschen führen zu können. Das Einzige, was ihn irritierte, war, dass der Name Wolfgang Mink den Kommissar überhaupt nicht zu beeindrucken schien. So als wüsste er nicht, dass er einen einflussreichen und sehr vermögenden Mann vor sich hatte.

Es war jetzt neunzehn Uhr. Vor vier Stunden hatten sie Marthas Verschwinden bemerkt. Nachdem Marek Hafen seinen Double Steakhouse verspeist und mit einer Serviette die Soßenreste aus seinem Bart entfernt hatte, holte er eine Schachtel Marlboro aus seiner Hemdtasche.

»Auch eine?«, fragte der Kommissar und hielt ihm die Packung hin.

Mink hatte große Lust auf eine Zigarette, aber erst vor Kurzem mit dem Rauchen aufgehört. Auf Anraten seines Hausarztes. »Wenn das so weitergeht, Wolfgang, wirst du mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundneunzig Prozent keine sechzig.« Herzinfarkte und eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung galten als Erblast seiner Familie. Und er war schon dreiundfünfzig.

Mink lächelte angestrengt. »Danke. Später vielleicht.«

Dann brachte Marek Hafen ihn auf den neusten Stand der Ermittlungen.

Innerhalb von dreißig Minuten nach seinem Anruf seien Polizeisperren an allen vom Strandbad wegführenden Straßen eingerichtet und jedes vorbeikommende Fahrzeug angehalten und gegebenenfalls untersucht worden. Zwei Helikopter überflogen Bodanrück und See, ein dritter war unterwegs nach Konstanz. Die Wasserschutzpolizei nahm Motoryachten, Segel- und Angelboote in Augenschein, örtliche Polizeikräfte kontrollierten die Häfen, auch die Schweizer und österreichischen Kollegen waren im Einsatz. Polizeitaucher und freiwillige Sporttaucher suchten im See zwischen Wallhausen und dem Klausenhorn nach einem toten Kind. Die Grenzen zur Schweiz waren praktisch dicht: Jeder Wagen und jede Person wurden überprüft.

Zurzeit, so Kommissar Hafen, gebe es an allen Grenzübergängen Wartezeiten von mindestens zwei Stunden. Auch habe er das Strandbad von einem Mantrailer-Hund absuchen lassen, allerdings ohne Ergebnis: Der heftige Regen des Nachmittags hatte wohl alle Spuren verwischt.

»Und als Sie so dringend wegmussten, was war da?«, fragte Mink.

Hafen zuckte mit den Schultern. »Fehlalarm. Leider.«

Mink ahnte, dass der Kommissar nicht die Wahrheit sagte, wollte aber nicht nachhaken. Für einen Moment hatte der Kommissar unsicher auf ihn gewirkt. Vielleicht war die Polizei schon weiter, als Hafen sich anmerken ließ. Vielleicht wollte er nicht zu früh Hoffnungen wecken.

In einem energischen Ton, der Hafens Stolz und auch seine Eitelkeit verrieten, erzählte der Kommissar jetzt, dass bereits der Aufbau einer Sonderkommission im Gange sei, die hundertzwanzig ausgewählte Kriminalbeamte von verschiedenen Polizeidienststellen des Landes umfassen werde; auch Spezialisten des Landeskriminalamtes seien unterwegs nach Konstanz. Drei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei würden noch an diesem Abend beginnen, den Bodanrück intensiv abzusuchen.

»Wir werden jeden Quadratzentimeter in einem Umkreis von vierzig Kilometern durchwühlen!«, ergänzte der Kommissar.

Nachdem er sich eine weitere Zigarette angezündet hatte, hielt er Wolfgang Mink die Schachtel noch einmal mit einem Augenzwinkern hin.

»Scheiß drauf, danke«, sagte Mink und griff zu. Das hier war schließlich eine Ausnahmesituation. Der Kommissar gab ihm Feuer, und er nahm einen tiefen Zug. Mink schloss die Augen und genoss den Geschmack des Rauchs. Auch glaubte er sofort die entspannende Wirkung des Nikotins zu spüren.

Marek Hafen fuhr fort: Mehrere Beamte hätten bereits begonnen, systematisch die Badegäste sowie die Anwohner von Dingelsdorf und Wallhausen, die Ortschaften in unmittelbarer Nähe des Strandbades, zu befragen. Mit jedem Anwohner sollte gesprochen, jedes Haus, jede Gartenhütte überprüft werden. Auch werde jeder Campingwagen, jedes Wohnmobil, jedes Zelt auf dem am Strandbad angrenzenden Campingplatz durchsucht und jeder Gast befragt.

Wolfgang Mink wusste noch, warum. Von damals. Die meisten Kindesentführer mordeten in ihrer Region: Wo sie geheime Wege und Verstecke kannten und sich sicher fühlten; wo sie allzu oft ein unauffälliges Leben als guter Nachbar und aktives Gemeindemitglied führten.

Und er wusste auch, dass mit jeder Minute ohne Spur Marthas Chancen sanken. Unauslöschlich eingebrannt hatten sich ihm die Zahlen. Sexualstraftäter missbrauchten und töteten entführte Kinder zu fast fünfzig Prozent innerhalb der ersten beiden Stunden nach dem Verschwinden. Fast achtzig Prozent starben innerhalb der ersten drei, über neunzig Prozent innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden.

Ob die Polizei diesmal von einer Entführung ausging?

»Beeindruckend, Herr Hafen. Aber ist das nicht alles ziemlich sinnlos?« Mink wollte sehen, wie leicht sich der Kommissar provozieren lassen würde.

Der Kommissar hob die Augenbrauen und atmete den Rauch seiner Marlboro langsam aus. »Warum meinen Sie?«

»Na ja. Um fünfzehn Uhr haben wir gemerkt, dass Martha verschwunden ist. Um dreizehn Uhr dreißig haben wir sie in der Obhut meiner Frau gelassen. Wie lange meine Frau… unaufmerksam war, wissen wir nicht.«

Marek Hafen sah ihn schweigend an. Ob der Kommissar sein Spiel durchschaut hatte?

»Möglicherweise«, fuhr Mink fort, »ist Martha schon um dreizehn Uhr vierzig entführt worden. Wahrscheinlich ist sie schon irgendwohin gebracht worden, bevor wir ihr Verschwinden überhaupt entdeckt haben. Vielleicht ist der Täter mittlerweile in Stuttgart oder Zürich oder im Schwarzwald.«

»Im Schwarzwald? Ach so?«, erwiderte Hafen und schwieg kurz. »Möchten Sie einen Kaffee, Herr Mink?«

»Gern!« Mink lächelte.

Dieser Kommissar hob sich angenehm von Gregor Weinbrenner ab, der vor drei Jahren die SOKO Tim Mink geleitet hatte. Ein dominanter, aufdringlicher Typ, der auf so eine Provokation aggressiv reagiert und den Einsatz gerechtfertigt hätte. Dieser Hafen war, trotz seines Kettenrauchens, gelassener, souveräner. Und klüger.

Der Kommissar bestellte über das Telefon zwei Kaffee. Dann bat er Mink, ihm genau zu erzählen, wie sie den Tag bis zum Verschwinden Marthas verbracht hatten.

Wolfgang Mink hatte sich dazu schon Notizen gemacht und holte den Zettel jetzt aus seiner Hemdtasche. Mink erzählte vom gemeinsamen Frühstück im Hotel nahe Überlingen und wie er dann Robert Steinfort und die Kinder– Ruth Mink, Sarah und Sebastian Steinfort– zur Segelschule gefahren habe, während seine Frau Katharina im Hotel blieb, um an ihrer neuen Rolle zu arbeiten. Die Jugendlichen machten zusammen einen Segelkurs in Überlingen, der jeden Vormittag von neun bis zwölf Uhr stattfand. Robert Steinfort hatte sich für den ganzen Tag eine kleine Segelyacht gemietet und wollte allein auf den See. Die kleine Martha Steinfort war von einer Kinderbetreuerin abgeholt worden. Mehrere Hotels hatten sich zusammengeschlossen, um eine Tagesbetreuung für Kinder anzubieten. Morgens wurden sie von einem Shuttlebus abgeholt und zum Mittagessen oder auch später wieder zurückgebracht. Verena Steinfort hatte vor, allein spazieren zu gehen.

Gegen zwölf Uhr, nachdem Martha von der Kinderbetreuung zurückgebracht worden war, hatte er sich mit Verena Steinfort und seiner Frau in der Hotellobby getroffen, um gemeinsam ins Dingelsdorfer Strandbad zu fahren. Seine Tochter Ruth, Sarah und Sebastian Steinfort wollten gemeinsam ins Überlinger Strandbad. Die drei verstanden sich gut. Deshalb waren sie mit zwei Autos gefahren– Katharinas Porsche Cayenne und Verena Steinforts AudiQ7–, um die Kinder in Überlingen abzusetzen und auf dem Rückweg wieder abzuholen.

Im Dingelsdorfer Strandbad hätten sie sich einen Platz gesucht und zunächst gemeinsam gebadet. Um dreizehn Uhr dreißig wollte Verena Steinfort joggen und fragte Katharina, ob sie für eine Stunde auf Martha aufpassen könne. Als Verena losgelaufen war, spazierte er, Wolfgang, mit seinem Laptop ins nahe gelegene Wallhausen, um ein wenig Bewegung zu haben, einen Kaffee zu trinken und ein paar Mails zu beantworten. Als er gegen fünfzehn Uhr ins Strandbad zurückkehrte, begegnete ihm Verena Steinfort, die gerade vom Joggen kam. Wie er hatte auch sie sich etwas verspätet. Dann gingen sie zurück zum Platz und entdeckten, dass Martha nicht mehr da war.

Hafen hatte aufmerksam zugehört und sich einiges aufgeschrieben. Jetzt schwieg er, sah Mink lächelnd an und nahm noch ein paar tiefe Züge.

»Herr Mink, ich möchte offen mit Ihnen sein. Wie Sie gehen wir von einer Entführung aus. Wir haben tatsächlich auch einige Anhaltspunkte dafür. Haben Sie Verständnis, dass ich dazu noch nichts sagen kann. Aber ich hoffe, ich konnte Sie überzeugen, dass wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften in diese Richtung ermitteln. Dennoch muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen, die Ihnen unangenehm sein werden.«

Marek Hafen senkte den Blick. Was Hafen gerade gesagt hatte, war Mink ehrlich vorgekommen.

Der Kommissar fuhr fort. »Ich kann mich noch gut an den Fall Tim Mink erinnern. Ich war Mitglied der SOKO Tim, wenn auch nicht in leitender Funktion. Ich weiß, dass damals bei den Ermittlungen schwere Fehler gemacht worden sind und vor allem Ihre Frau und Sie die Folgen tragen mussten.«

Hafen hielt kurz inne. Offenbar suchte er nach den passenden Worten. Oder spielte er das nur?

Wolfgang Mink bemerkte, wie sich seine Rückenmuskeln unwillkürlich anspannten und er sich aufrichtete. Plötzlich schien ihm alles klar. Es ging um Katharina, natürlich. Gleich würde er nach ihr fragen.

Mink spürte Schweißtropfen auf seiner Stirn. Das Rauchen, das Fastfood– war das Hafens Strategie, ihn für sich einzunehmen? Sein Vertrauen zu gewinnen? Wie hatte er nur so naiv sein können!

Er sah zu Hafen, dem die Regungen seines Körpers nicht entgangen zu sein schienen. Er musste Vorsicht walten lassen. Dieser Polizist war smart. Und er schien viel feinfühliger zu sein, als er wirkte.

»Was wollen Sie wissen, Herr Hafen?«

Wolfgang Mink bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. Vielleicht hatte der Kommissar ja noch nicht bemerkt, dass er seine Strategie durchschaute. Mink beobachtete ihn aufmerksam. Er war sich sicher, dass der Kommissar ahnte, was er dachte.

Hafen fuhr mit seiner Hand über den Bart.

Eine spontane Geste? Oder inszeniert? Sollte Mink glauben, dass ihm das Sprechen schwerfiel? Dass er mit seiner Familie mitfühlte und sich bei dem, was er jetzt fragen sollte, unwohl fühlte?

»Ich spiele mit offenem Visier, Herr Mink. Ich verstehe vor allem eines nicht: Warum haben Frau Steinfort und Sie es Ihrer Frau zugemutet, auf Martha beim Baden aufzupassen? Warum ist nicht jemand von Ihnen dabeigeblieben? Nach meinen Informationen ist Ihre Frau schwer depressiv.«

Mink rang um Kontrolle. Unwillkürlich formte er seine Hände zu Fäusten und presste sie zusammen. Sollte er überhaupt antworten? Er würde sofort seinen Anwalt anrufen müssen. Und den Minister.

»Herr Hafen, meine Frau war nach dem Verschwinden Tims für einige Wochen in einer psychiatrischen Klinik. Danach begann sie eine psychoanalytische Behandlung und hat nach Aussagen ihres Therapeuten sowie nach meinem Empfinden bedeutende Fortschritte gemacht. Die Erkrankung meiner Frau ist im Übrigen weitgehend auf das fahrlässige Handeln Ihrer Kollegen zurückzuführen. Weil Sie nicht weiterwussten, haben Sie meine Frau einer gierigen Presse zum Fraß vorgeworfen!«

Minks Stimme war durchdringend, auch bändigte er seinen Zorn bewusst nicht. »Und, Herr Hafen, das werde ich nicht noch einmal zulassen. Glauben Sie mir! Fragen Sie nach, was damals mit Weinbrenner passiert ist!«

Er machte eine Pause und erwartete, dass der Kommissar jetzt die damaligen Ermittlungen verteidigen oder selbst aufbrausen würde.

Aber Marek Hafen blieb ruhig und sah ihn einfach nur an.

Mink überlegte kurz, einfach aufzustehen und zu gehen. Doch dann dachte er an Verena und Robert Steinfort. Damals hatten die Freunde zu ihnen gestanden. Und noch immer taten sie es. Vor allem Verena. Sie hatte sofort zugestimmt, die Minks noch einmal an den Bodensee zu begleiten. Nach dem Alptraum vor drei Jahren. Es ging jetzt nicht nur um Katharina, sondern auch um Martha. Und Tim. Noch immer wusste niemand, was eigentlich in jenem November passiert war. Und dieser Kommissar schien trotz allem patent. Wahrscheinlich würden sie im Zuge der Ermittlungen auch den alten Fall noch einmal aufrollen.

Natürlich, beruhigte sich Mink, er muss so fragen.

Leicht widerwillig fuhr er fort. »Meine Frau hat seit einigen Monaten keine schweren Depressionen mehr. Sie arbeitet sogar wieder. Das Antidepressivum hat sie bereits seit einem halben Jahr abgesetzt. Sie treibt ein bisschen Sport, sie kümmert sich um unsere Tochter Ruth, sie wollte sich in diesem Urlaub ein letztes Mal der Vergangenheit stellen. Deshalb sind wir wieder an den Bodensee gefahren. Ihretwegen und auch wegen Ruth. Meine Frau ist eine erwachsene und selbstverantwortliche Frau und keine debile Psychopathin. Außerdem versteht sie sich mit Martha blendend. Die beiden haben ein sehr inniges Verhältnis.«

Hafen nickte und zog tief an seiner Zigarette.

»Das leuchtet mir ein, Herr Mink.«

Wieder schien der Kommissar zu zögern, um die richtigen Worte für seine Frage zu finden.

»Bitte entschuldigen Sie die intime Frage. Wie würden Sie die Beziehung zu Ihrer Frau beschreiben?«

Mink zögerte. Wie ein Messer schnitt die Frage in sein Herz. Was sollte er sagen? Dass sie seit drei Jahren nebeneinanderher lebten? Dass seit Tims Verschwinden Katharina praktisch kein Wort mehr mit ihm gesprochen hatte?

Dass sie ihn nicht beachtete.

Verachtete.

Dass er sie nicht mehr berühren durfte.

Und dass er sich seinen Bedarf an Zuwendung anderswo holte. Holen musste.

Dass ihn jedes Mal Wut und Angst und Schmerz ergriffen, wenn Ruth in den Ferien vom Internat nach Hause kam und er spürte, wie das fünfzehnjährige Mädchen unter der eisigen Atmosphäre litt.

Dass er sich immer wieder fragte, unter Qualen fragte, ob Ruths psychische Probleme von Katharinas schizophrener Mutter herrührten oder doch von ihrer kaputten Ehe? Sie hätten keine Kinder zeugen sollen!

Und Ruth durchschaute alles.

Dass die Mutter sich ihr zuliebe zu ein bisschen Konversation zwang. Dass die Mutter eigentlich kein Interesse am Leben der Tochter hatte. Dass Katharina an ihrem eigenen Leben kein Interesse mehr zu haben schien.

Und natürlich wusste Ruth, dass er sich in die Arbeit stürzte, um zu vergessen. Und dass er Tim insgeheim immer mehr geliebt hatte als sie.

Tim war anders. Fröhlich und offen.

So schien es zumindest.

Ob Ruth fühlte, dass er sich vor seiner Tochter versteckte? Er sich vor dem schwierigen Kind eigentlich immer versteckt hatte, obwohl er es liebte?

Dass er insgeheim sein Fleisch und Blut für genauso unheilbar krank hielt wie seine Frau und deren Mutter?

Ob die Tochter auch spürte, dass er es oft bereute, Katharina geheiratet zu haben? Und Kinder in die Welt gesetzt zu haben.

Dass er manchmal glaubte, Katharina habe seinen Sohn getötet.

»Ich liebe meine Frau und meine Tochter, Herr Hafen«, antwortete Wolfgang Mink.

4

Donnerstag, 1.August