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Flaschensammler sind mittlerweile fester Bestandteil unseres Stadtbildes. Und doch wissen wir nichts über sie. In einem unorthodoxen Forschungsprojekt machten Studierende der Hochschule München das eigentlich Naheliegende: Unter der Leitung der Sozialwissenschaftler Philipp Catterfeld und Alban Knecht sprachen sie Münchener Flaschensammlerinnen und Flaschensammler auf der Straße direkt an – mit Erfolg! Denn diese erwiesen sich schnell als auskunftsfreudig – und die Studierenden als hochmotiviert: Sie führten mehr als 30 Interviews und unterzogen sich dabei aufschlussreichen Selbstversuchen. Sie beschrieben ihre Beobachtungen, transkribierten die besten O-Töne und stellten wagemutige Thesen auf. Sie sprachen mit jungen Immigranten, die vom Flaschensammeln leben, und deutschen Rentnern, die noch den Pfennig ehren. Ihre Berichte erzählen von stolzen und schamhaften Flaschensammlern, von Hobbysammlern, Sammelprofis und Sammelsüchtigen, von Einzelgängern und Flaschensammlerfamilien und von Mama Afrika. Die Analyse des Flaschensammelns weist dabei weit über sich hinaus: Eine Klasse der Unterversorgten räumt die Reste des in der Öffentlichkeit feiernden und trinkenden Mittelstands ab – und unser Umweltbewusstsein goutiert es.
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Seitenzahl: 239
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Flaschensammeln. Eine Einführung
Alban Knecht und Philipp Catterfeld
Flaschensammler-Winter
Eine Stunde aus dem Leben eines Flaschensammlers
Inna Baklanova
Dasein als Flaschensammlerin. Ein Selbstversuch
Loreto Gómez del Valle
Konfliktherd Marienplatz
Markus Brandstetter und Viviane Jaekel
Nicht-Haben oder Sein
Sabrina Pietsch
»Wir sind Rentner, wir zählen eh schon nimmer«
Daniel Fogel
Flaschen statt Stütze
Leonie Elsholz
»Also mein Freund und ich sind Akademiker«
Stefan Flechsler und David Gruber
66 Cent. Ein Selbstversuch
David Gruber und Stefan Flechsler
»Ich hab’ richtig Spaß am Leben«
Hannah Kreie und Cornelius Kammerl
Flaschensammler-Sommer
Die »armen« Flaschensammler. Motive und Glaubwürdigkeit
Carolin Baderschneider
Schämen und Fremdschämen. Drei Perspektiven am Mülleimer
Lena Rudel und Sarah Schneider
Scham und Körpersprache
Patricia Rein und Susanne Wagner
Das Verdecken des Schamgefühls
Kim Klussmann
»Der Hauptgedanke ist Achtsamkeit«
Alban Knecht
In der Perspektive der anderen
Franziska Gross
»Arbeit … für Essen, Kinder«. Migrierte Flaschensammler
Tetyana Breurosh
Von Teams und Einzelkämpfern
Daniela Meinert
Flaschensucht
Nadina Alajbegovic
»Sonst hätt’ er mich halb totgeschlagen«
Christian Landbeck und Sven Maurer
»Ich lass’ mir die Flaschen hochreichen«
Aylina Stoßberger und Viktoria Friedel
Mama Afrika. Die umstrittene Flaschenkönigin Münchens
Aylina Stoßberger und Viktoria Friedel
Pfand, Konsum und Armut. Warum Flaschensammeln?
Philipp Catterfeld und Alban Knecht
Anhänge
Interviewleitfaden
Interviewpartner des Flaschensammler-Sommers
Tipps zum Weiterlesen
Alban Knecht und Philipp Catterfeld
Die Idee uns mit Flaschensammlerinnen und -sammlern1 zu beschäftigen, kam uns schon vor zwei oder drei Jahren. Obwohl sie mittlerweile fester Bestandteil des Stadtbildes sind, ist wenig über sie bekannt. Schon lange vor unserer wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihnen fiel uns auf, dass es scheinbar arme, aber auch nicht so arme Flaschensammler gibt. Ihr Fleiß, ihre Unermüdlichkeit, ja das schier aussichtslos erscheinende Unterfangen vom Flaschensammeln zu leben, nahm uns von Anfang an für sie ein.
Wir haben dann so wild über mögliche Zusammenhänge und Ergebnisse spekuliert, und uns – als verspielte Soziologen – so an unserer Idee, Flaschensammler zu beobachten, ergötzt, dass uns das Vorhaben plötzlich verdächtig vorkam. Wieso eigentlich Flaschensammler beobachten? Hat es den Charme der Sozialreportage der vorletzten Jahrhundertwende, als Jack London das gruslige East End erforschte, oder gar der Geschichten von Charles Dickens? Produzieren wir nur aufs Neue das schaurig-schöne Gefühl des Bürgergruselns?
Nichtsdestotrotz haben wir uns gefreut, als sich die Möglichkeit auftat, eine Forschungswerkstatt an der Hochschule München mit Studierenden der Sozialen Arbeit für ein Lehrforschungsprojekt zu nutzen. Mit zwei Gruppen forschten wir zunächst ein Wintersemester und dann ein Sommersemester über das Flaschensammeln in München. Unsere erste Idee ging dahin, dass die Studierenden Interviews mit Flaschensammlern führen sollten, die wir dann gemeinsam auswerten könnten. Als methodischen Ansatz entschieden wir uns für »Das verstehende Interview«, wie es der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann in seinem gleichnamigen Buch2 darlegt. Der Vorteil dieser Methode, die die Datenerhebung (also die Art der Interviewführung) und die Datenauswertung (eine bestimmte Form der Inhaltsanalyse) verbindet, liegt darin, dass sie zum einen robust ist, zum anderen eine gewisse Leichtigkeit ausstrahlt.
Als robust kann die Methode gelten, weil die Schwierigkeiten, die die Interviewführung für Neulinge mit sich bringt, im verstehenden Interview nicht als Problem gesehen werden, sondern als produktive Chancen. Kaufmann schätzt eine »objektive« Haltung der Interviewer, die die Interviewten möglichst neutral befragen und sie in keiner Weise beeinflussen, als illusorisch ein – er plädiert stattdessen für eine empathische, sich auf den Austausch einlassende Haltung der Interviewer, die versuchen sollten, ihr jeweiliges Gegenüber umfassend zu erfassen und zu verstehen.3 Um trotz dieses subjektiven und individuellen Zugangs die Vergleichbarkeit der Interviews zu gewährleisten, rät er dazu, einen Interviewleitfaden auszuarbeiten. An diesem Interviewleitfaden können sich die Studierenden solange festhalten, bis das Interview eine eigene Dynamik entwickelt.4 Kurz: Außer nicht zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen, können die Studierenden nichts verkehrt machen.
Als wir Ende Oktober 2013 gemeinsam mit den Studierenden des ersten Kurses in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs das erste Mal »ins Feld« gingen, waren wir trotzdem ziemlich aufgeregt. Denn dass es ziemlich leicht ist, Flaschensammler zu einem Interview zu bewegen, musste sich damals erst noch herausstellen. Zunächst ging es erst einmal darum, sie überhaupt anzusprechen. Ein verbales Anschleichen, wie wir es im Seminar anfangs in Erwägung gezogen hatten – nämlich sie etwa über das Thema Wetter in ein Gespräch zu verwickeln – erwies sich als zu gewollt und unauthentisch. Nach und nach »stellten« wir die Flaschensammler einfach. Hatten wir sie beim Sammeln beobachtet, sprachen wir sie mit den Worten »Sammeln Sie Flaschen?« direkt an.
Neben der Robustheit liegt der zweite Vorteil des »Verstehenden Interviews« in einer gewissen Leichtigkeit dieses methodischen Zugangs. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema vor Beginn der Interviews kann zwar zielführend sein, ist aber nicht unbedingt nötig. In beiden Semestern erfolgte der erste Feldzugang nach wenigen Unterrichtseinheiten. Die Studierenden machten so schon früh und auf fast spielerische Weise »im Feld« ihre ersten Erfahrungen, die jeweils in eine zweite Version des Interviewleitfadens einflossen. Theoretische Forschungsinteressen konnten hier gegebenenfalls, angereichert durch die Erfahrungen der ersten Interviews und parallel zu weiteren Interviews, vertieft werden. Diese Vorgehensweise kam uns auch angesichts des engen zeitlichen Rahmens entgegen.
Da wir keine Erfahrung mit dem Feldzugang hatten und auch kaum Ideen, welche Themen sich als bedeutend und interessant herausstellen sollten, bestanden die Herausforderungen des ersten Semesters überwiegend in der darstellenden Beschreibung des Flaschensammelns. Gemeinsame Zeitungslektüre und Seminardiskussionen führten zu den ersten Fragen: Wieso sammeln Flaschensammler Flaschen und gehen nicht anderen Beschäftigungen nach? Welche Begründungen geben sie dafür an und zu welchem Grad kann man ihren Aussagen dazu vertrauen? Selbstversuche stellten sich als wichtige, wenn auch methodisch kaum gesicherte Ergänzungen zu den verstehenden Interviews heraus, quasi als logische Verlängerungen des Verstehens. Das Schamgefühl beim Flaschensammeln wurde ein Thema. Flaschensammeln als Sucht blitze in dem einen oder anderen Interview als Thema auf und wurde von jenen, die sich Selbstversuchen unterzogen, als möglich erachtet.
Die Ergebnisse des ersten Durchgangs konnten für den Einstieg ins zweite Semester, das Sommersemester, genutzt werden, zumal wir die gewonnen Ergebnisse des ersten Semesters nicht verschweigen wollten – etwa um den Studierenden des zweiten Semesters eine gleiche Unbefangenheit und Naivität zuzugestehen. Die Interviews des Sommersemesters, die im Anhang einzeln angeführt sind, sind länger ausgefallen; auch wurden mehr Frauen interviewt. Bei der Analyse der Daten entschieden sich die Studierenden nun schneller für einzelne Themen, wie etwa Scham, oder schränkten ihre Forschung auf bestimmte Gruppen, wie Familien oder migrierende Flaschensammler, ein. Auch die Idee, dass die Studierenden mit den Interviews einen gemeinsamen Datenpool schaffen, der dann von allen für spezielle thematische Auswertungen (über die verschiedenen Interviews hinweg) genutzt werden kann, funktionierte in diesem Semester besser. Vielleicht waren die Studierenden auf dem mittlerweile erlangten Erkenntnisniveau eher bereit, nicht nur überwiegend darzustellen, sondern die Aussagen der verschiedenen Flaschensammler auch freier miteinander zu vergleichen und zu analysieren. Denn während Kaufmann bei seinen Analysen vereinfacht gesagt mit Gliederung, Karteikarten und oft wiederholtem Anhören der Interviews zu generalisierbaren Aussagen im Sinne der Grounded Theory zu kommen hofft, wurde bei uns in dieser Phase zunehmend mit Hypothesen aus dem Wintersemester gearbeitet.
Für die Darstellung der Interviews in diesem Buch haben wir mit verschiedenen Formen experimentiert. Einige Interviews wurden transkribiert und für den Abdruck (nicht für die Auswertung) – zugunsten besserer Lesbarkeit – verändert. Der Bedarf solcher Überarbeitungen entsteht dadurch, dass spontane Sprache normalerweise unorganisiert wirkt, wenn sie eins zu eins transkribiert wird. Halbe Sätze, abgebrochene Sätze und Sätze, die anders zu Ende geführt werden, als zu Beginn geplant, fallen beim Reden kaum auf, irritieren aber beim Lesen. Die Studierenden bekamen dafür nach und nach ein Gefühl und sie lernten nebenbei, was für hochgradig artifizielle – weil stark nachbearbeitete – Produkte in Zeitungen oder Zeitschriften abgedruckte Interviews sind. Bei den eher analytischen Texten, die sich ja gerade auch auf Wiederholungen, Widersprüche und Brüche in den Interviews stützen, ging es uns immer darum, hypothetische Spekulationen von belegbaren Aussagen deutlich zu unterscheiden. Besonders wichtig wurden hierbei auch die Diskussionen im Seminar, bei denen die unterschiedlichen Thesen und Erfahrungen miteinander verglichen wurden. Nicht nur eine Studentin und ein Student empfanden dieses oft spekulative Reden erstmal als endlose, ermüdende Qual und erst viel später als wichtigen und erhellenden Baustein für den eigenen Text. Denn nicht jeder Satz und jede These ist mehr wert als eine Pfandflasche. Und wenn wir nach vier Stunden Seminar ein paar kleine Erkenntnisse gefunden hatten, waren wir glücklich.
Natürlich ist dann nach zwei Semestern mit insgesamt 35 Studierenden doch einiges zusammengekommen. Wir danken Nadina Alajbegovic, Carolin Baderschneider, Inna Baklanova, Tibor Berta, Markus Brandstetter, Tetyana Breurosh, Barbara Deak, Leonie Elsholz, Stefan Flechsler, Daniel Fogel, Viktoria Friedel, Nicole Gamböck, Loreto Gómez del Valle, Franziska Gross, Julia Großmann, David Gruber, Viviane Jaekel, Cornelius Kammerl, Kim Klussmann, Hannah Kreie, Christian Landbeck, Miriam Maier, Sven Maurer, Daniela Meinert, Jennifer Montag, Alexandra Niedermeier, Galyna Pavlov, Sabrina Pietsch, Imke Rautmann, Patricia Rein, Lena Rudel, Sarah Schneider, Aylina Stoßberger, Ekaterina Tolstonosova und Susanne Wagner sehr dafür, dass sie ihre Interviews und Beiträge für diesen Band beigesteuert haben. Für Anmerkungen und Kommentierungen des Manuskripts danken wir Michaela Neumayr, Ulrich Hofmeister, Jessica Richter und Julia Steuber.
1 In der Folge wird im Buch bei Berufsbezeichnungen die männliche Form stellvertretend für Frauen und Männer verwendet. Insbesondere im Wintersemester wurden tatsächlich fast ausschließlich Männer interviewt, Frauen stellten in diesem Zeitraum eine deutliche Minderheit dar. Dies hatten wir den Studierenden des Sommersemesters mitgeteilt, die dann auch viele Interviews mit Frauen führten.
2 Kaufmann, Jean-Claude (1999): Das verstehende Interview. Theorie und Praxis. Konstanz: UVK.
3 Ebd., S. 25
4 Ebd., S. 65
Inna Baklanova
Ein Mann Mitte 50 wartet bei Rewe vor den Flaschenautomaten. Beide Automaten sind voll und nehmen keine Flaschen mehr an. Der Mann hat gerade zwei eingeworfen und müsste noch zwei loswerden. Die Zeit vergeht … – ich beobachte ihn unauffällig und warte, ob er dann auch etwas einkauft oder doch nicht. Der Mann mit dem Dreitagebart sieht gepflegt aus. Er hat eine saubere Markenjacke und Jeans an. In der Hand hält er zwei Mehrweg-Einkaufstaschen. Pfandbon abgeben, Geld in den Geldbeutel rein, ohne Einkäufe raus und schon wieder auf dem Weg nach …
»Entschuldigung, darf ich Sie was fragen?«, platzt es aus mir heraus. Wenn nicht jetzt, wann dann?! »Ja, was?« Der große Mann beugt sich zu mir runter, sieht aber in eine andere Richtung. »Sammeln Sie Flaschen?«, flüstere ich unsicher, versuche aber Augenkontakt herzustellen. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf: Wie komme ich denn überhaupt auf so was? Er wird mich doch gleich anschreien. Es ist so peinlich, ältere Leute so was zu fragen! Er sieht doch ganz normal aus! Wie kann ich diese unverschämte Frage rechtfertigen? Es kommt eine klare Antwort zurück: »Ja!« Der unbekannte Flaschensammler sieht mir fragend in die Augen. »Ich bin Studentin der Hochschule Pasing und nehme an einem Forschungsprojekt zum Thema Flaschensammeln teil. Würden Sie mir ein paar Fragen beantworten?« »Gerne, aber die Zeit bleibt ja nicht stehen«, lächelt er mich freundlich an und fängt trotzdem an, mir seine Geschichte zu erzählen. Wir gehen zur Seite. Doch ich merke seine innere Unruhe, biete ihm an, weiter zu laufen, frage, ob ich ihn begleiten dürfte.
Herr M. ist 56 Jahre alt. »Ich bin Diplomingenieur«, sagt er stolz und gleichzeitig verschämt. Seine ehemalige Firma, die einmal Millionen-Geschäfte gemacht habe, ist Pleite gegangen. Nachdem er erfahren hatte, dass es der Firma nicht mehr so gut gehe, hat er versucht, einen neuen Job zu finden. Doch da ist er schon über 50 gewesen. Wie viele Flaschensammler von heute hatte er auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Seit knapp zwei Jahren lebe er nun vom Arbeitslosengeld II: »Um die 310 Euro sind es im Monat. Zum 14. des Monats habe ich bereits kein Geld auf dem Konto. Was sind 310 Euro für München? Ich sammle, weil ich das Geld brauche! Wenn ich am Tag meine drei bis vier Euro nicht bekomme, dann habe ich am Abend auch nichts zum Essen.« Und nach einer kurzen Pause: »Morgen kommt zum Beispiel das Geld vom Jobcenter. Dann nehme ich mir zwei Tage frei. Ich brauche auch etwas Ruhe. Aber am Samstag gehe ich wieder los. Samstags habe ich die besten Einnahmen. Sonntags und montags geht gar nichts voran. Trotzdem sammle ich auch sonntags und montags. Mein Magen möchte jeden Tag gefüllt werden.«
»Ja, das ist ein harter Job!«, sage ich. »Das ist kein Job. Das ist nur eine Notlösung, die aber dreckig, ekelig, abwertend, verabscheuenswürdig und Menschen erniedrigend ist. Wenn ich eine Festanstellung hätte, wo ich genug Geld verdienen würde, so dass es dann auch nicht mit Hartz IV aufgestockt werden müsste, würde ich sofort aufhören. Ich schreibe vormittags meine Bewerbungen und verschicke sie in diesem Informationszentrum bei der Agentur. Und am Nachmittag gehe ich dann jeden Tag sechs Stunden Flaschen und am liebsten Red Bull-Dosen, sammeln. Manchmal bekomme ich sogar fünf Euro am Tag! Aber das ist eher selten der Fall.«
Wir gehen an der Sankt-Peter-Kirche vorbei in Richtung Marienplatz. Herr M. schaut zuerst in jede Mülltonne rein. Wenn er meint, dass unter dem Müll eine Pfandflasche liegen könnte, greift er mit seiner nackten Hand ohne jegliches Hilfsmittel in den Abfallbehälter: »Das Schlimmste, was uns passieren konnte, ist diese doofe Idee, leere Flaschen und Dosen auf oder neben den Müllbehälter zu stellen! So kann jede Hausfrau, die auf dem Weg zum Einkaufen ist, eine beim Vorbeigehen mitgehen lassen. Sie würde nie im Leben im Müll rumwühlen, das hat sie nicht nötig, und so kann sie unbemerkt bleiben. Seit diese Methode praktiziert wird, verdiene ich am Tag fast um die Hälfte weniger.«
Der Mann hat zwar etwas zittrige Hände, wirkt aber sehr entspannt. Ich genieße unsere Unterhaltung. Wir rennen nicht, sondern gehen in mittlerem Tempo. Ich versuche mein Tempo seinem anzupassen, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Ab und zu wirft er einen Blick auf die Uhr: »Wir sind gut in Zeit«, sagt er. Herr M. sieht mich an, bemerkt meine vor Kälte rot gewordene Nase, die ich ständig mit einem Taschentuch putzen muss. »Heute ist es zwar frisch, aber es geht noch. Im Winter ist es dann nicht mehr lustig. Bei Minustemperaturen sind die gleichen Routen viel anstrengender. Ich bin viel an der frischen Luft. Einerseits ist das gut. Ich laufe viel, 30 Kilometer am Tag mindestens. Es sollte gesund sein. Aber ich verbrauche viel Energie und kriege dann am Abend einen Riesenhunger. Und meine Knie tun immer wieder weh. Es ist wohl doch zu viel Bewegung für so einen alten Mann wie mich«, lächelt er.
Auf dem Marienplatz treffen wir einen anderen Flaschensammler mit einem langen Stab und mehreren Plastiktüten in der Hand. »Den kenne ich. Wenn er schon hier ist, brauchen wir hier oben gar nicht weiter zu laufen. Er ist immer sehr schnell unterwegs, achtet nicht auf die Menschen. So bin ich nicht. Mir ist es hier zu hektisch. Wir zwei fahren nun mit der U-Bahn Richtung Großhadern.« Im Zug ist es relativ ruhig und jeder bekommt mit, wovon die anderen reden. Ein wichtiges Detail seiner Routen-Planung verrät Herr M. noch: »Es gibt wenige U-Bahnhöfe mit öffentlichen Toiletten. Ich muss meine Routen so legen, dass ich in gewissen Zeitabständen ein WC auf meinem Weg habe.«
»Haben Sie eine Fahrkarte?«, frage ich ihn vorsichtig. »Ja, klar! Ich bin jeden Tag mit der U-Bahn unterwegs.« »Manche fahren aber ohne Fahrkarte. Sie kostet ja Geld!?« »Das machen sie höchstens drei Mal. Danach gibt’s eine Strafanzeige, was dann auch im polizeilichen Führungszeugnis steht. Heutzutage braucht man in jedem Job das polizeiliche Führungszeugnis, und ich möchte so schnell wie möglich eine Arbeit finden. Die Monatskarte kostet zwar nicht wenig, 28 Euro, aber es ist mir wichtig, dass ich mich nicht strafbar mache.«
Am Goetheplatz steigen wir aus, überprüfen alle Mülleimer und gehen nach oben. Bis jetzt haben wir keine einzige Flasche gefunden. Doch Herr M. ist optimistisch: »Ich habe vier Routen. Wenn die eine nichts bringt, dann mache ich die zweite. Wenn auch sie leer ausgeht, dann die dritte. Spätestens nach der vierten habe ich für mein Abendessen genug Geld.«
»Nun gehen wir zum Hotel Easy Palace. Dort kann man oft mehrere Red Bull-Dosen finden«, sagt er hoffnungsvoll. Leider finden wir dort gar nichts und gehen zurück zur U-Bahn. Links von uns ist ein neues Restaurant. »Hier schmecken die Pommes am besten. Die sind richtig dick und saftig. Manchmal laden mich Bekannte von mir, eine ehemalige Kollegin und ihr Mann, hierher zum Essen ein. Und wenn ich so wie jetzt vorbei laufe, kriege ich einen großen Hunger. Burger schmeckt hier ausgezeichnet! Aber wenn ich am Abend meine vier Euro habe, bereite ich mir selber zu Hause einen Burger zu. Der schmeckt auch gut.«
Herr M. erzählt mir, er überlege seit längerer Zeit ein Buch über seine Erfahrungen und Erlebnisse als Flaschensammler zu schreiben. Er habe verschiedene Sachen in dieser Zeit gefunden: »Was die Leute alles wegwerfen heutzutage! Da wundere ich mich schon gar nicht …« Plötzlich wird er still und hebt triumphierend eine Fanta-Dose auf. Ich sehe, wie sehr er sich darüber freut, eine 25-Cent-Dose zu finden: »Sagte ich doch: Es wird schon werden!«
Noch bevor wir in die U-Bahn hinuntergehen, machen wie einen kleinen Abstecher zur Mülltonne vor dem McDonald’s am Goetheplatz. »Da ich leider rauche, freu’ ich mich auch über gute Zigarettenkippen. Das ist besser als gar nichts«, sagt er und nimmt eine Kippe aus dem Aschenbecher vor dem McDonald’s. An einem Tisch sitzen zwei junge Frauen. Die eine verdreht ihre Augen und schaut dann empört zur Seite. Erst jetzt bin ich wieder in unserer Wirklichkeit, aufgeweckt wie von kaltem, ins Gesicht geschüttetem Wasser. Tausende Gedanken schießen mir wieder durch den Kopf. Heiß wird es mir. Scham: Glauben die beiden jetzt, dass ich auch nach Flaschen und Kippen suche? Die ganze Strecke bis hierher habe ich die Leute um uns herum nicht wirklich wahrgenommen. Es hat mich überhaupt nicht interessiert, was wer von mir neben Herrn M. gedacht hat. Ich war so glücklich, so einen interessanten Gesprächspartner gefunden zu haben, und war völlig in seiner Welt. Er findet es zwar eklig, macht es aber jeden Tag, um am Abend etwas Leckeres zu essen. Das ist seine Wirklichkeit. Plötzlich werde ich von seiner lebendigen Stimme aus meinen Gedanken gerissen: »Das ist aber toll! 25 Cent sind das! Es wird noch besser!« Er nimmt eine große Cola-Flasche vom Tisch, in der etwas Wasser drinnen ist und freut sich sehr über diese Beute. Ich freu’ mich mit ihm und bin schon wieder ganz bei ihm. Er zündet die frisch gefundene Kippe an und wir bleiben kurz vor dem U-Bahn-Abgang stehen.
Unsere nächste Station ist die Poccistraße. Oben sind das Kreisverwaltungsreferat und das MVV-Kundencenter. »Eine tolle Station«, sagt Herr M., dreht sich um und sucht nach mir. Ich quetsche mich durch die Menschenmenge: »Alles in Ordnung. Ich bin hier!« »Ja, es ist viel los hier. Aber es ist nicht so schlimm wie am Sendlinger Tor«, grinst er. Doch hier haben wir keinen Erfolg. Für mich wird es langsam entmutigend. »Da war schon einer schneller als ich«, stellt er fest, wirft einen Blick auf die Uhr und als ob er meine Enttäuschung spürt und mich beruhigen möchte: »Wir sind gut in der Zeit.«
In der Implerstraße fahren wir wieder die Rolltreppe hinauf, begutachten nur einen Mülleimer und fahren wieder hinunter auf die andere Seite des Bahnsteigs. »Sehen Sie diesen Mann mit der orange Weste? Das sind meine schlimmsten Feinde.« Zum ersten Mal spüre ich richtige Bitterkeit in seiner Stimme. »Manchmal wenn er mich sieht, fängt er an, von Mülleimer zu Mülleimer zu rennen und nimmt dann nur den großen Müll heraus, damit ich bloß keine Flasche abkriege.« Ich beobachte »den Mann mit der Weste« vom Zwischengeschoss. Er geht nach unten und fährt mit der U-Bahn weg. Ich juble, und wir nehmen die Rolltreppe nach unten. »Es gibt aber auch nette Müllmänner«, sagt Herr M. »Außerdem brauchen wir sie auch, denn wenn ein Müllbehälter zu voll ist, grabe ich die Sachen nicht aus. Nein, das mache ich nicht! Müll gehört in den Mülleimer und nicht um ihn herum!«
Aus einem Mülleimer fischt Herr M. eine kleine Glasflasche und überlegt laut: »Hm, die kenne ich gar nicht. Ein ›V‹ steht drauf. Was ist denn das für ein Getränk? Keine Einwegflasche. Das ist gut. Normalerweise nehme ich keine Glasflaschen. Sie sind zu schwer und bringen nur 8 Cent. Aber heute nehme ich alles mit. Heute habe ich wenig Glück.«
Als wir erneut auf die andere Seite des Bahnsteigs wollen, stelle ich fest, dass die Rolltreppe nicht geht. Herr M. steigt die Treppe hinunter und ich sehe, wie schwer es ihm fällt. »Die ist seit vorgestern kaputt. Das ärgert mich so sehr! Meine Knie spüren jede Stufe.« Die U-Bahn kommt, wir laufen ihr hinterher. Ich flitze schnell zum ersten Mülleimer, schreie ihm zu: »Der ist leer!« und springe hinter ihm in die U-Bahn. »Das mache ich eigentlich nie – der U-Bahn hinterher zu laufen«, gibt er zu und wir lachen.
Neben uns steht eine Frau mit zwei Kindern. Ich blicke auf die Uhr – die Zeit verging rasend. Nun bin ich in meiner Wirklichkeit: Ich darf meinen Sohn nicht zu spät abholen – wir müssen zum Schwimmkurs und danach noch die Hausaufgaben fertig machen, wenn er sie nicht im Hort geschafft hat. Ich bedanke mich bei Herrn M. für diese Erfahrung, wünsche ihm viel Glück und verabschiede mich von ihm. Er fährt weiter Richtung Klinikum Großhadern, und ich muss zurück zum Marienplatz.
Auf dem Weg nach Hause geht mir meine »Reise« in eine andere Wirklichkeit nicht aus dem Kopf. Nach und nach entstehen neue Fragen, die ich so gerne gestellt hätte. Diese Geschichte ist nur die Spitze von einem Eisberg, nur ein kleines Stück von einer der bewährten Routen eines Flaschensammlers, die im Laufe der Jahre geplant und umgeändert wurden. Einem Laien würde es vielleicht sinnlos oder merkwürdig erscheinen, dass man einen näher liegenden Mülleimer weglässt und zu einem anderen sogar eine Treppe hinaufsteigt. Für einen Profi ist es ein sicherlich optimierter, aber harter Weg sich sein Essen zu verdienen!
Loreto Gómez del Valle
Ich habe mich entschieden, für eine Woche als »Flaschensammlerin« zu leben. Im Folgenden werde ich meine Erfahrungen und meine Erkenntnisse, die ich aus diesem Abenteuer gewonnen habe, schildern. Dazu muss ich noch erwähnen, dass ich Spanierin bin. In Spanien gibt es keine Flaschensammler, weshalb mir dieses Phänomen als ein interessantes Lernthema erschien. Ich habe nicht viele Flaschen sammeln können, aber im Wesentlichen ging es mir um das Gefühl, das man beim Ausführen der Tätigkeit hat. Für viele ist es vielleicht schon etwas Selbstverständliches, aber für mich, die ich noch nicht lange hier bin, wird es eine Herausforderung.
Montag, der 21. Oktober 2013
Mein erster Tag als »Flaschensammlerin«. Heute ist es nicht sehr kalt und die Sonne scheint. Dadurch fühle ich mich etwas besser, auch wenn ich immer noch etwas nervös bin. Ich habe drei Plastiktüten dabei und ich mache mich auf den Weg zum Stadtzentrum. Auf dem Weg zur S-Bahn fallen mir jeder Mülleimer und jede Ecke auf, an denen ich Flaschen finden könnte. Ich lebe in Solln und merke, dass diese Nachbarschaft sehr sauber ist und ich keine einzige Flasche finde. An der S-Bahnstation sind nicht viele Leute und ich schaue in die Mülleimer am Café. Ich finde sofort zwei Plastikflaschen. Aber wird es wirklich so einfach sein, wie es jetzt scheint? Ich höre Leute kommen, höre sofort auf zu suchen und steige in die S-Bahn. Es ist ein unangenehmes Gefühl beim Suchen im Müll beobachtet zu werden. Ich denke, es wird schwierig wegen des Schamgefühls, wenn ich im Stadtzentrum Flaschen sammle, mit all den Leuten um mich herum.
Als ich im Stadtzentrum ankomme, entscheide ich mich am Hauptbahnhof auszusteigen. Es ist ein Ort, an dem ich immer viele Leute beim Essen und Trinken gesehen habe. Jedoch habe ich nicht viel Glück bei meiner Suche dort, denn anscheinend suchen die Leute, die dort trinken, auch nach Flaschen. Glücklicherweise finde ich am Eingang der Commerzbank eine leere Bierflasche. Eigentlich wollte ich in den Mülleimern der Tramstationen suchen, doch mein Schamproblem wurde erst einmal zu groß. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, in eine ruhigere Gegend zu gehen. Über den Karlsplatz gelange ich zum Alten Botanischen Garten. Ich gehe durch den ganzen Park und entdecke nur eine Bierflasche unter einer Bank. Da sehe ich einen Mann, um die 50 Jahre alt. Ich möchte ihn nicht stören oder ihm die Flaschen wegnehmen, also drehe ich mich um und gehe zurück zum Karlsplatz. Ich gehe herunter in den S-Bahnbereich und schaue in die Müllbehälter. Zu meinem Glück finde ich zwei kleine Flaschen in einem der Behälter und sie sind leicht herauszunehmen – also nehme ich sie schnell mit.
Ich gehe in Richtung Rathaus zum Marienplatz. Hier sind viele Menschen. Die Mülleimer sind mit Essensresten und Plastik gefüllt. Es ist nicht angenehm darin rumzuwühlen, aber ich habe eine leere Flasche gesehen. Nachdem ich es geschafft habe, an den Überresten der Pommes mit Mayonnaise vorbei zu kommen, erreiche ich sie endlich.
Ich schaue auf die Uhr, und es sind schon drei Stunden vergangen. In meiner Plastiktüte habe ich sechs Flaschen. Ich gehe nach Hause, denn ich denke, für den ersten Tag ist es genug.
Dienstag, der 22. Oktober 2013
Es regnet heute und ich habe vergessen, wie wichtig gutes Wetter ist, wenn man im Freien arbeitet. Ein regnerischer Tag macht die Sache also nicht besser. Da ich mich schon im Stadtzentrum befinde, überlege ich mir, es einmal in Pasing zu versuchen. Genauso wie gestern schaue ich auf dem Weg zur S-Bahnstation in die Mülleimer und Ecken – ohne Erfolg. Der Regen hört glücklicherweise auf, als ich in Pasing ankomme. Ich streife über die Bahnsteige auf der Suche nach »Schätzen«. Bahnsteig eins und zwei, drei und vier und fünf und sechs. – Ich habe schon drei Plastikflaschen und zwei Glasflaschen. Glück gehabt? Ich musste wieder im Müll wühlen. Darüber hinaus habe ich vorher nicht an Plastikhandschuhe gedacht. Im-Müll-Wühlen macht dreckig. Beim nächsten Mal werde ich mich besser vorbereiten. Direkt vor dem Bahnhof, wo der Burger King ist, sehe ich eine Gruppe von Jugendlichen, die trinken. Ich laufe langsam in ihre Richtung und zu meiner Überraschung gehen sie gerade weg. Zwei von ihnen nehmen ihre Flasche mit, aber der Dritte stellt sein Bier auf den Stufen ab. Ich fühle mich wie eine Jägerin im Dschungel. Ich nähere mich unauffällig und setzte mich neben die Flasche und pack’ sie schnell in meine Tüte.
Seit drei Stunden laufe ich durch die Straßen. Pasing stellte sich als gute Idee heraus, da ich aufgrund der vielen Baustellen drei weitere Plastikflaschen gefunden habe. An einer Bushaltestelle finde ich zwei weitere Flaschen. Eine alte Dame schaut mich an. Fragt sie sich, warum eine so junge Frau den Müll durchsucht? Oder denkt sie nur, wie dreckig ich aussehe?
Ich arbeite nun schon einige Stunden und ich muss nun zum Deutschkurs, also gehe ich zur S-Bahn. Ich zähle meine Schätze für heute: Acht Plastikflaschen und drei Glasflaschen. Auf dem Weg denke ich über die Arbeit nach und mir fällt auf, dass sie viel Zeit und Mut erfordert. Zumindest für mich. Außerdem verhindert mein Schamgefühl, dass ich besser suche. Das wäre ein großes Problem, wenn ich wirklich eine Flaschensammlerin wäre.
Mittwoch, der 23. Oktober 2013
Ich habe heute Unterricht bis zum Nachmittag. Danach will ich vom Hauptbahnhof bis zum Isartor laufen. Da es dann schon dunkel wird, hoffe ich, die Dunkelheit erleichtert mir meine Arbeit etwas. Würde ein Flaschensammler genauso denken oder sind sie schon zu sehr an ihre Arbeit gewöhnt? Dieses Mal habe ich mir Plastikhandschuhe und eine Küchenzange gekauft. Nach dem Unterricht beginne ich also meine Suche und begebe mich zu Fuß zum Hauptbahnhof. Es ist dunkel, allerdings finde ich nichts zwischen Hauptbahnhof und Marienplatz. Ich gehe zum Viktualienmarkt. Hier sind nicht viele Leute, darum ziehe ich meine Handschuhe an und fange an, mit der Zange in den Mülleimern zu wühlen. Es ist ein sehr unangenehmes Gefühl und es stinkt ungemein. Letztlich bringt mir mein Mut vier Flaschen ein. Das