Flucht zum Crater Lake - Birgit Schmidt - E-Book

Flucht zum Crater Lake E-Book

Birgit Schmidt

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Beschreibung

"Du gehörst mir. Du verlässt mich nicht. Wo du auch hingehst, ich finde dich." Anna Behringer, eine erfolgreiche Ärztin, kann die brutalen Demütigungen ihres Ehemannes und Chefs Paul nicht mehr ertragen. Sie entschließt sich zur Flucht und nimmt den erstbesten Flug in die USA. Doch in der Einsamkeit Oregons kommt sie nur kurz zur Ruhe. Ahnungslos nimmt sie einen gesuchten Mörder in ihrem Auto mit und gerät so unter Mordverdacht. Jetzt ist ihr nicht nur Paul, sondern auch die Polizei auf den Fersen. Am wilden Rogue River trifft sie Bill, einen Native American Ranger. Er will Anna helfen, ihre Unschuld zu beweisen. Doch dann bricht ein verheerender Waldbrand aus, und eine Feuerwand treibt Jäger und Gejagte zum mystischen Crater Lake.

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Seitenzahl: 386

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The people who consider you weak have not yet noticed the wolf hiding behind your eyes nor the flames inside your soul.

(Nikita Gil)

Inhaltsverzeichnis

Flucht aus Deutschland

Im Nordwesten

Strafe Muss Sein

Der Puma

Du Verlässt Mich Nicht

Der Anhalter

Auf dem Polizeirevier

Jagdfieber

Im Gefängnis

Black Wolf

Der Unfall

Am Rogue River

Die Verfolger

Überwältigt

Entkommen

Verhaftet

Pauls Ankunft

Im Rogue River Siskiyou National Forest

Beckie'S Cafe

Jagd zum Hidden River

Der Einsame Wolf

Die Schatzkarte

Anna und der Wolf

Grey Owl

Gregs Flucht

Familie Wolf

Auf der Ranch

Im Police Office

Zum Crater Lake

Die Miles Ranch

Auf der Jagd

Der Kampf

Allein

Das Feuer

Abgehängt

Am Crater Peak

An den Vidae Falls

In der Felsengrotte

Auf den Fersen

In Sicherheit

Spurensuche

Die Entdeckung der Höhle

Crater Lake Lodge

Hinab zum See

Zum Cleetwood Cove Trail

Überraschende Begegnung

Zur Insel

Zu Spät

In den Tod

Die Legende von Mount Mazama

Aufklärung

Abschied

FLUCHT AUS DEUTSCHLAND

Ein schriller Ton gellte durch OP 3.

Anna sah die Nulllinie auf dem EKG-Monitor und erstarrte. »Häng noch zwei Blutkonserven an. Wir haben die Blutung gleich gestoppt«, sagte sie und presste den Doppeltupfer auf die Pulmonalarterie des polytraumatisierten Motorradfahrers, um dessen Leben sie seit vier Stunden mit ihrem Team kämpfte. »Klemme und Tupfer, schnell!«

Die OP-Schwester drückte ihr die Instrumente in die Hand.

»Die allerletzte Konserve ist durch«, sagte der Narkosearzt und lugte über die grüne Trennwand.

Dr. Anna Behringer sah ihn an. »Das ist nicht wahr! Ihr habt kein Blut mehr?«

»Er hat jede Blutkonserve aus ganz Frankfurt bekommen. Es tut mir leid, aber wir haben ihn verloren.«

Mit einem leisen Zischen atmete Anna hinter ihrem Mundschutz aus, um ihre Anspannung zu lösen. Sie starrte auf den muskulösen toten Körper des jungen Mannes auf dem OP-Tisch.

Du hast verloren, Anna. Alles versucht, aber verloren.

Sie schloss die Lider und schluckte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

Warum nur ist das Leben manchmal so ungerecht? Du hättest noch so viel Zeit haben können.

»Exitus um vier Uhr zwölf«, sagte der Anästhesist und stellte Beatmungsmaschine und Monitor ab.

Es war totenstill im Saal. Der gellende Ton hallte noch immer in ihren Ohren nach. Langsam öffnete sie die Augen und sah, dass sie den Doppeltupfer noch immer in der Hand hielt.

Reiß dich zusammen, du bist hier die Oberärztin und musst jetzt die anderen aufbauen.

Sie räusperte sich und reichte der OP-Schwester das Instrument. »Danke für die Unterstützung.« Dann nickte sie ihren beiden Assistenten, dem Narkosearzt und dem Anästhesiepfleger zu. »Wir haben alles getan, was möglich war, und müssen uns nichts vorwerfen. Ich danke euch für euren Einsatz.«

Sie trat vom OP-Tisch zurück, warf ihren OP-Kittel in den Abfall und betrat den Waschraum. Am Waschbecken sah sie im Spiegel die dunklen Ringe unter ihren Augen. Mit einem Ruck riss sie den Mundschutz ab, drehte den Wasserhahn auf und schüttete sich zwei Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Für einen Moment starrte sie auf das gurgelnd abfließende Nass. Genauso war ihr das Leben des Mannes durch die Finger geronnen. Notdürftig trocknete sie sich mit einem Papierhandtuch ab und betrat den Aufenthaltsraum. Erschöpft sank sie auf den erstbesten Plastikstuhl und goss sich einen lauwarmen Kaffee ein.

»Aussichtsloser Fall. Von Anfang an. War dir das nicht klar?«

Anna schaute hoch. Sie hatte ihren Mann nicht kommen gehört. »Wer hat dich informiert?«

Dr. Paul Behringer rümpfte die Nase und sah durch halbgeschlossene Lider auf sie herab.

»Ich bin der Chef dieser Abteilung. Ich weiß alles.«

Er lehnte lässig am Türrahmen, seine Hände steckten in den Taschen des hochgeschlossenen gestärkten Kittels.

»Reine Zeitverschwendung, diese OP. Hätte ich dir gleich sagen können, dass der das nicht überlebt.«

»Mit genügend Blutkonserven hätten wir ihn retten können.«

Paul zog den rechten Mundwinkel hoch, schüttelte den Kopf und pfiff leise durch den Lippenspalt. »Wann habe ich dich zu meiner Oberärztin gemacht? Vor zehn Jahren? Hast du immer noch nicht gelernt, die Realität richtig einzuschätzen? Idealismus ist was für Anfänger. Wieso hast du mich nicht dazu gerufen? Dachtest wohl, du kommst ohne mich klar?«

Anna schloss die Augen, zählte im Stillen bis drei und atmete bei jeder Zahl tief ein und aus.

Nicht hier und jetzt und nicht schon wieder! Warum lässt du mich nicht endlich in Ruhe?

Ein galliger Geschmack kroch über ihre Zunge.

Nicht einmal vor dem Tod hast du Respekt.

Sie öffnete die Augen und nahm den letzten Rest Energie zusammen, der in ihr steckte. »Wolltest du nicht erst morgen von deinem Kongress zurückkommen?«

»Nein, gestern. Hatte ich dir doch gesagt.«

»Wann willst du mir das gesagt haben?«

»Vorgestern am Frühstückstisch. Du hörst nie zu.«

Anna schluckte. »Ich bin hundemüde. Ich habe die halbe Nacht operiert und keine Lust, jetzt mit dir zu streiten.«

Paul verzog den Mund. Seine Oberlippe berührte die Nasenlöcher. »Typisch. Wenn du nicht mehr argumentieren kannst, bist du immer müde. Wenn ich nachts operiere, habe ich so viel Adrenalin, dass ich gleich weiterarbeiten kann.«

»Wann hast du denn das letzte Mal nachts operiert?«

In der Tasche ihres OP-Hemdes piepste das Telefon. Anna sah auf das Display. »Behringer hier. Was gibt’s, Schwester Iris?«

Die Stimme der Nachtschwester tönte durch den Raum. »Stadtrat Manthey ist tot. Ich habe ihn auf meiner letzten Runde vor der Übergabe gefunden. Da alle im OP standen, habe ich den diensthabenden Internisten gerufen. Der tippt auf Herzinfarkt.«

»Ich bin gleich bei Ihnen.« Anna steckte das Handy in die Tasche zurück und kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter.

»Was? Der Claus ist tot? Wie konnte das passieren?« Paul wartete nicht auf Annas Antwort, sondern drehte sich auf dem Absatz seiner glattgewienerten italienischen Nappa-Slipper um und marschierte voran auf die chirurgische Station. Die beiden diensthabenden Assistenten, die just in diesem Moment aus dem OP kamen, schlichen mit hängenden Schultern hinter ihm her.

Auf der Station wartete Schwester Iris vor Zimmer 113 mit der Krankenakte in der Hand. »Guten Morgen, Herr Chefarzt.« Sie schlug die Kurvenmappe auf. »Hier bitte, Herr Chefarzt.«

Behringer riss ihr die Kurve aus der Hand und zog die Stirn in Falten. »Er hatte eine simple Fraktur des Unterschenkels.«

Anna sah Paul fest an. »Die habe ich nach Standard versorgt. Dann haben wir ihn auf die Station in ein Privatzimmer gelegt, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte.«

Paul schnaubte. »Nach Standard! Wenn ich das schon höre! Es handelt sich hier schließlich um Stadtrat Manthey. Warum hast du ihn nicht auf Intensiv überwacht?«

»Dafür gab es keinen Anlass«, sagte Anna. »Einen Herzinfarkt hätte er jederzeit und überall kriegen können. Auch bei sich zu Hause im Bett.«

»Ist aber hier passiert. Und auf meiner Station. Das dulde ich nicht. In meiner Abteilung stirbt niemand.«

Seine Stimme hallte über den Flur. Nachtschwester Iris und die beiden Assistenten wichen zwei Schritte zurück und sahen betreten auf den Boden. Paul funkelte Anna an und legte ein paar Dezibel drauf.

»Hätte er auf Intensiv gelegen, lebte er noch. Deine Pflicht wäre es gewesen, regelmäßig nach ihm zu sehen.«

»Ich musste mich um den Motorradfahrer kümmern, den Manthey im Suff mit seinem fetten Mercedes von der Landstraße gefegt hat«, sagte Anna. »Das war meine Pflicht und nicht Sitzwache schieben bei einem betrunkenen Stadtrat.«

Mit einer Handbewegung wischte Paul ihren Einwand weg. »Unsinn! Motorradfahrer sind alles Raser, kennt man doch.«

Er hielt Schwester Iris die Kurve wieder hin. »Da. Ist seine Frau benachrichtigt?«

Die Nachtschwester nickte. »Soll ich Ihnen Bescheid sagen, wenn sie da ist, Herr Chefarzt?«

»Unverzüglich. Ich bin jetzt in meinem Zimmer. Mitkommen, Anna.« Er drehte sich um und rauschte den Gang hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.

Schwester Iris legte ihren rotgefärbten Bubikopf schief, presste die Lippen aufeinander und schenkte Anna einen Dackelblick.

Anna zuckte mit den Schultern. »Schon okay, Schwester Iris, kommen Sie gleich gut nach Hause.« Sie nickte ihr zu und folgte Paul mit müden Schritten.

In seinem Zimmer platzierte er sich in den schwarzen Ledersessel hinter einem überdimensionalen Schreibtisch, auf dem er die Aktenberge in bedrohlicher Höhe aufgetürmt hatte. Aus der obersten Schreibtischschublade zog er ein Päckchen Zigaretten und zündete sich eine Davidoff Classic Magnum an. Genüsslich nahm er einen tiefen Zug und stieß Anna den Rauch gezielt ins Gesicht.

»Ich will nur eins von dir wissen. Wie soll ich das seiner Frau erklären?« Paul stemmte die Hände an die Tischkante. »Da stirbt einer auf meiner Station und keiner merkt was. Ich fasse es nicht! Alles Amateure hier! Mit Sicherheit hängt uns irgendein verdammter Rechtsverdreher eine Klage an den Hals. Und dann die Presse. Ein gefundenes Fressen für die Schmierfinken!«

Anna hustete. Seit sie nicht mehr rauchte, vertrug sie Zigarettenqualm schlecht. »Denkst du nicht einen Moment an den toten Motorradfahrer? Er ist das Opfer, schon vergessen? Nur weil du mit Manthey Golf spielst, ist dein feiner Freund nicht automatisch ein Unschuldslamm. Er hat gesoffen und dann den Unfall verursacht. Er allein hat den Jungen auf dem Gewissen. Das ist die Wahrheit.«

Und er hat seine Strafe dafür bekommen. Von einer höheren Instanz.

Aber das sagte sie ihm jetzt besser nicht.

Paul nahm zwei tiefe Lungenzüge und verdrehte die Augen. »Dein ewiges Moralisieren geht mir schon lange auf die Nerven. Was ein richtiger Mann ist, der verträgt ein oder zwei Gläschen und ist selbstverständlich noch fahrtüchtig.«

»Wie bitte?«

»Du hast eben immer noch nicht kapiert, was wichtig ist.«

»Du meinst, wer wichtig ist.«

»Wenn deine Kompetenz nicht ausreicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen, werde ich mir einen anderen Oberarzt suchen. Du hättest mich unverzüglich informieren müssen. Dann wäre das nicht passiert.«

»Sonst interessiert es dich auch nicht, was hier läuft. Du turnst auf deinen Kongressen rum und überlässt mir die ganze Arbeit.«

»Das ist dein Job. Aber der überfordert dich offensichtlich.«

»Was sagst du da? Die ganze Zeit halte ich dir den Rücken frei, damit du dich vor Publikum im Rampenlicht sonnen kannst. Wenn du außer Haus weilst, habe ich die Verantwortung für die Abteilung und entscheide.« Anna erhob sich und schritt zur Tür.

»Irrtum. Ich bin der Chef und ich entscheide. Immer. Ob ich hier im Haus bin oder nicht.« Paul stand auf und verstellte ihr den Weg. »Auch als Oberärztin führst du gefälligst aus, was ich dir befehle. Klar?« Er packte sie am linken Unterarm, genau an der Stelle, an der er ihr vor zwei Jahren Elle und Speiche gebrochen hatte. Wie ein Stromstoß schoss ein stechender Schmerz von ihrem Handgelenk bis in die Schulter. Anna zuckte zusammen. Paul grinste und drückte fester zu.

»Hast du verstanden? Du entscheidest hier gar nichts.«

»Lass mich los. Du tust mir weh«, sagte sie und entriss ihm ihren Arm. »Mach deinen Kram heute alleine. Ich fahre jetzt nach Hause.«

»Das hilft dir auch nicht. Ich kriege dich schon dahin, wo ich dich haben will. Das weißt du genau.«

Zu Hause kochte Anna einen kräftigen Kaffee. Sie hatte versucht, ein wenig zu schlafen, aber sich nur hin und her gewälzt. Trotz des lauwarmen Sommerregens setzte sie sich auf die überdachte Terrasse und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Ich kann und ich will nicht mehr. Ich muss hier weg, weg von ihm.

Seit Stunden hämmerten diese Sätze in ihrem Kopf, genauso unerbittlich wie die Kopfschmerzen, die ihr seit dem Gespräch mit Paul das Denken zur Tortur machten. Sie fröstelte. Der heiße Kaffee wärmte sie ein wenig von innen. Wie ein Mantra wiederholte sie die beiden Sätze, erst flüsternd, dann immer lauter, und mit jeder Wiederholung fühlte sie, dass ihre Kraft und Entschlossenheit wuchsen.

Wie oft hatte sie in den vergangenen Monaten daran gedacht, Paul endlich zu verlassen, sich dann aber doch nicht getraut, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Nach seinem gewalttätigen Ausbruch vor zwei Jahren war sie Hals über Kopf zu ihrer Schwester Julia geflüchtet. Nur einen Tag später hatte er sie zurückgeholt und ihr gedroht: »Wag das nicht noch einmal! Eher bringe ich dich um, als dass du mich vor allen Leuten blamierst! Mich verlässt man nicht!«

In den darauffolgenden Monaten lebte sie wie auf einem Pulverfass. Sie achtete auf, dass ihr nicht der kleinste Fehler unterlief. Doch eines Tages hatte sie vergessen, seinen Tee rechtzeitig vorzubereiten, ein anderes Mal hatte sie die falsche Nudelsauce gekocht oder ausgerechnet das Hemd, das er am nächsten Tag anzuziehen beabsichtigte, nicht gebügelt. Zur Strafe erniedrigte er sie, indem er ihr den heißen Tee über den Oberschenkel goss, die Sauce auf die neue weiße Bluse schmierte und sämtliche Oberhemden aus dem Schrank riss und sie zwang, alles ein zweites Mal zu bügeln.

Jedes Mal sprach er zu ihr: »Du bist selbst schuld. Hättest du besser aufgepasst, müsste ich dich nicht bestrafen. Du weißt doch, ich liebe dich und möchte nur, dass du perfekt bist, damit ich stolz auf dich sein kann und mich alle um dich beneiden. Du wirst es schon noch lernen. Ich helfe dir dabei.«

Diesmal würde sie ihre Flucht besser planen. Nicht wieder zu Julia, sondern so weit weg wie irgend möglich. Weg aus Frankfurt und Umgebung, am besten ins Ausland. Den Flug durfte sie auf keinen Fall von zu Hause aus online buchen, zu groß war die Gefahr, dass er im Computer ihre Aktivitäten verfolgen konnte. In einer Stunde öffnete das Reisebüro um die Ecke. Genug Zeit, um das Nötigste zu packen. Aus dem Keller holte Anna ihren wasserdichten Wanderrucksack, den sie vor drei Jahren für die Tour auf dem Appalachian Trail im Osten der USA gekauft hatte. Knöchelhohe Wanderstiefel, zwei Trekkinghosen, ein paar Funktionsshirts, Unterwäsche, Socken und ein Fleece-Pullover – das reichte erst mal. Den Rucksack versteckte Anna im Schuppen hinter dem Rasenmäher. Dann suchte sie ihren Reisepass hervor, steckte die Kreditkarte ein und marschierte zum Reisebüro.

Vor der gläsernen Eingangstür blieb sie einen Moment stehen, vergewisserte sich, dass niemand anwesend war, den sie kannte, und betrat den Raum. Eine schlanke wasserstoffblonde Mittdreißigerin lächelte sie mit strahlend weißen Zähnen an und hängte ein Werbeplakat für Kreuzfahrten ins Schaufenster. »Einen wunderschönen guten Morgen. Wohin soll es denn gehen?«

»Guten Morgen. Ein Flug in die USA, egal wohin, nur so schnell wie möglich. Am liebsten heute noch. Oder morgen.«

Die Dame warf ihr einen verschwörerischen Blick zu, setzte sich an ihren Computer und stellte keine weiteren Fragen. Innerhalb von zehn Minuten fischte sie aus dem Angebot einen Flug heraus. »Sie haben Glück. Heute ist nichts mehr zu machen. Aber morgen. Um 13.30 Uhr. Nonstop von Frankfurt nach Seattle. Ein Platz am Gang ist noch frei.«

»Perfekt. Nehme ich.« Anna zahlte mit ihrer Kreditkarte. Von ihrem diesjährigen Winterurlaub in Florida war das Esta-Formular noch gültig, so dass sie keine weiteren Vorbereitungen mehr treffen musste.

Zu Hause bestellte sie für den nächsten Vormittag ein Taxi zum Flughafen. Paul würde sie erzählen, dass sie Kopfschmerzen oder Durchfall habe und auf keinen Fall imstande sei, in die Klinik zu kommen. Morgen war Freitag, sie würde ihm eine Nachricht hinterlassen, dass sie über das Wochenende zu ihrer Schwester nach Gießen gefahren sei. Wenn alles klappte, vermisste er sie erst am Montagmorgen, hoffentlich reichte ihr der Vorsprung.

Als Paul abends vom Dienst kam, lag Anna schon im Bett und stellte sich schlafend. Glücklicherweise ließ er sie in Ruhe und verzog sich ohne seine üblichen ironischen Kommentare ins Wohnzimmer.

In der Nacht träumte Anna, dass sie im fahlen Mondlicht auf einer einsamen Straße vor Paul wegrannte. Die dunkelgrauen Hauswände kippten bedrohlich zum regennassen Asphalt und kein einziges Licht erhellte die Fenster, die sie wie schwarze Löcher anstarrten. Immer näher kam sein riesiger Schatten und dann packte er sie am Arm. Verzweifelt kämpfte sie, um sich loszureißen, aber seine Faust hielt ihren Arm wie ein Schraubstock fest. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie. Schweißgebadet schreckte sie hoch und sah sich um.

Sie war allein im Zimmer.

Am nächsten Morgen steckte Paul seinen Kopf durch den Türspalt. »Bist du immer noch nicht aufgestanden?«

»Ich habe die halbe Nacht auf der Toilette verbracht. Ich kann heute unmöglich arbeiten.« Sie sah ihn nicht an.

Er brummte etwas Unverständliches und verschwand grußlos. Als sie den Motor seines Mercedes-Cabrios nicht mehr hören konnte, sprang Anna aus dem Bett, duschte zügig und zog sich an. Sie holte den Rucksack aus dem Schuppen und verließ das Grundstück durch eine schmale Tür im blickdichten Zaun an der Rückseite. Zwei Seitenstraßen weiter wartete sie an dem vereinbarten Treffpunkt auf das Taxi. Die stets neugierigen Nachbarn sollten Paul nicht vorzeitig irgendwelche Hinweise geben können. Doch der Fahrer verspätete sich. Nach einer Viertelstunde rief sie in der Taxizentrale an. »Hallo. Ich hatte einen Wagen zur Merzenstraße bestellt. Ich muss dringend zum Flughafen.«

»Augenblick. Ich frage eben den Fahrer.«

Anna blickte sich um. Jeden Moment konnte jemand, der sie kannte, um die Ecke kommen.

»Hören Sie? Der Fahrer meldet sich nicht. Ich schicke sofort einen anderen Wagen. Er wird in etwa zehn Minuten bei Ihnen sein.«

Das fing ja gut an. Zu allem Überfluss begann es auch noch kräftig zu regnen. Nach einer Viertelstunde bog das Taxi endlich um die Ecke.

»Zum Flughafen bitte. Schnell.«

Der junge Fahrer hatte zwar Rennfahrer-Ambitionen, aber der dichte Verkehr wälzte sich mühsam vor ihnen durch die Straßen. Auf der 661 hatte man schon wieder eine Tagesbaustelle eingerichtet, und alle zuckelten im Schneckentempo einspurig daran vorbei. Nervös rutschte sie auf dem Beifahrersitz hin und her und schaute ständig in den Außenspiegel. War das nicht Pauls Cabrio hinter ihnen?

Nach einer gefühlten halben Ewigkeit erreichten sie endlich das Abflug-Terminal. Am Automaten scannte Anna ihren Reisepass, druckte die Bordkarte für Flug LH490 aus und gab ihren Wanderrucksack auf. Als sie die Checkpunkte passierte, sah sie sich immer wieder um. Keiner der Männer hinter ihr sah Paul ähnlich. Endlich ertönte der Aufruf zum Boarding. Sie nahm neben einem jungen schwedischen Paar in der vorletzten Reihe Platz. Die beiden tauschten pausenlos Küsse aus und hielten Händchen. Wie lange war es her, dass sie und ihr Mann so verliebt und zärtlich miteinander umgegangen waren? Mit feuchten Händen beobachtete sie die Passagiere, die ihr Handgepäck verstauten. Hoffentlich tauchte er nicht noch auf, bevor sie deutschen Boden verließen!

Reiß dich zusammen! Jetzt hältst du es sogar für möglich, dass er sich Zugang zum Flugzeug verschafft!

Erst als die Maschine den Bodenkontakt verlor und der Pilot das Fahrwerk einzog, schlug ihr Herz allmählich langsamer. Sie hatte es geschafft.

IM NORDWESTEN

Knapp elf Stunden später landete die Boeing mit einem geschmeidigen Aufsetzmanöver auf dem Seattle Tacoma International Airport. Die übergewichtige Dame der Border Patrol an Schalter 3 fixierte Anna durch dicke Gläser einer schwarzumrandeten Brille. Sie speicherte Annas Fingerabdrücke, machte das obligatorische Foto von ihr und entließ sie nach der üblichen Frage nach dem Grund ihres Aufenthaltes in den Staaten mit einem stummen Nicken. Anna atmete auf. Diese Hürde hatte sie genommen. Das quietschende Gepäckband stellte ihre Ohren und Geduld auf eine harte Probe, denn ihr Rucksack trudelte erst mit der letzten Ladung Koffer und dem Sondergepäck ein. Wie jedes Mal hatte der Zoll ihr Gepäck geöffnet und den Inhalt kontrolliert. Anna grinste, wuchtete das zwanzig Kilo schwere Teil über die linke Schulter und verließ die Halle.

An der ersten Pick-up-Station stieg sie in einen Shuttlebus der Autovermieter und mietete bei Alamo einen weißen Chevy Tahoe. In dem geräumigen Full-Size-SUV würde sie die Campingausrüstung, die sie sich noch zulegen musste, bequem unterbringen, zur Not aber auch schlafen können.

Im Second Ascent Outdoor Shop in der Ballard Avenue erstand Anna die nötigen Camping-Utensilien, danach deckte sie sich mit Essensvorräten ein. Als sie den Issaquah Village RV Park ansteuerte, dämmerte es bereits. Im Office checkte sie bei einer freundlichen Mittsiebzigerin für eine Nacht ein, parkte den Chevy auf dem ihr zugewiesenen Stellplatz und brutzelte nur wenig später über der offenen Feuerstelle eine frische Regenbogenforelle. Beim Anblick der Cascade Mountains mit dem aufgehenden Mond am klaren Himmel atmete sie tief durch und fühlte endlich die ersehnte Ruhe. Die Forelle schmeckte hier viel besser als zu Hause. Nach dem Essen kroch Anna im Auto in den Schlafsack und fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf.

Im Traum saßen sie und Paul auf ihrer Hochzeitsreise am Strand von Maui und aßen köstliche Fischspezialitäten direkt vom Grill. Nachdem ein paar Klippenspringer zum Sonnenuntergang ihre Kunststücke vorgeführt hatten, blieben sie später allein in den Felsen zurück. Anfangs überschüttete Paul sie mit zärtlichen Küssen und streichelte ihre nackte Haut, doch schon nach kurzer Zeit packten seine Hände brutal zu.

»Du tust mir weh«, sagte sie, »bitte lass das.«

»Hab dich nicht so.«

»Ich mag das nicht.«

»Sei nicht so zimperlich.«

»Ich will das nicht.«

Paul drückte sie mit seinen Knien auf den Boden, hielt ihre Handgelenke fest und grinste. »Komm schon, wehr dich, macht doch viel mehr Spaß.«

Sie schüttelte den Kopf. »Mir aber nicht.«

Er sah sie einen Moment an und gab sie dann frei. »Los, lauf!«

»Wie bitte?«

Er stand auf und grinste. »Wir spielen ein Spiel. Du läufst weg und ich kriege dich.«

Im hellen Mondlicht fiel sein Schatten wie der eines Riesen in den Sand. Anna drehte sich um und rannte los, erst langsam, dann immer schneller. Doch weit kam sie nicht. Paul sprang ihr in den Rücken, warf sie der Länge nach in den Sand und riss ihren Kopf ruckartig nach hinten.

»Du kannst vor mir nicht weglaufen«, zischte er. »Ich kriege dich immer. Du gehörst jetzt mir. Hast du verstanden?«

STRAFE MUSS SEIN

Als Paul die Haustür öffnete, hörte er keinen einzigen Laut. Er stellte die Aktentasche in der Garderobe ab und lockerte den Knoten seiner feingepunkteten Seidenkrawatte. Auf dem Küchentisch entdeckte er einen gelben Klebezettel mit zwei lapidaren Zeilen: »Besuche Julia in Gießen. Bleibe übers Wochenende.« Keine Unterschrift.

Er knüllte das Papier zusammen und feuerte es in den Mülleimer. Im Wohnzimmer schüttete er sich einen doppelten Johnnie Walker ein und ließ sich auf die schwarze Ledercouch fallen. Nach zwei Schlucken zündete er sich eine Davidoff an und zog das starke Aroma tief in seine Lungen.

Du wagst es, so mit mir umzuspringen?

Seine rechte Faust knallte so heftig auf den gläsernen Couchtisch, dass die Vase mit den orangeroten Rosen klirrte. In einem Zug leerte er das Glas und fegte die Vase mit dem rechten Unterarm vom Tisch. Beim zweiten Whisky fiel ihm die morgige Chefarztfeier ein. Verdammt, jetzt stand er ohne Begleitung da.

Du stellst mich nicht bloß. Du nicht. Du wirst zu mir zurückkriechen wie ein geprügelter Hund. Dafür sorge ich.

Er presste die Lippen aufeinander und starrte in das leere Glas. Vor zwei Jahren hatte sich Anna schon einmal bei ihrer Schwester versteckt. Damals hatte sie die Mülltonnen wieder nicht in der richtigen Reihenfolge rausgestellt. Er hatte die Tonnen umgeworfen und sie gezwungen, den gesamten Müll vor den Augen der Nachbarn aufzusammeln. Strafe musste sein, damit sie daraus lernte. Hätte sie alles vorschriftsmäßig gemacht, wäre nichts passiert. Nachdem sie die Behälter korrekt an die Straße gestellt hatte, war Anna ins Auto gestiegen und zu Julia nach Gießen gefahren. Er hatte sie zurückgeholt, zu Hause zur Bestrafung grün und blau geprügelt und ihr dabei im Badezimmer den Arm gebrochen. Bei dem Gedanken daran ballte er die Hände. Dabei war er noch gnädig gewesen. Diese Strafe hatte sie mindestens verdient.

Genauso hatte er es schon als kleiner Junge mit ungehorsamen Tieren gemacht. Fritzi, sein Wellensittich, hatte nach ein paar Monaten dran glauben müssen. So viele Tricks hatte er dem Vogel beigebracht, und alle in der Familie hatten gestaunt, wie gut er mit dem Tier umgehen konnte. Als Fritzi aber an einem Nachmittag partout nicht wieder in seinen Käfig hüpfen wollte, verpasste er ihm eine Lektion. Stundenlang scheuchte Paul ihn im Zimmer umher, bis der arme Vogel völlig erschöpft vor seinen Füßen notlandete. Er hob den Widerspenstigen auf, hielt ihn fest in der Hand und guckte ihn streng an.

»Du warst böse.«

Der Vogel keuchte durch den geöffneten Schnabel und seine winzige rosa Zunge hob und senkte sich.

»Du hast nicht getan, was ich dir gesagt habe.« Langsam presste er Zeigefinger und Daumen an Fritzis Hals zusammen.

Ein schwaches Piepen.

»Ich muss dich bestrafen.« Genüsslich drückte er fester zu.

Es knirschte in seiner Hand, dann fiel Fritzis Kopf schlaff nach hinten. »Du bist selbst schuld.«

DER PUMA

Der Jetlag weckte Anna um vier Uhr in der Früh. Bei Sonnenaufgang aß sie eine Banane und einen Apfel und drehte anschließend eine Runde über den Campingplatz. Sie machte einige gymnastische Übungen an der frischen Luft, um den langen Flug aus den Gliedern zu schütteln, dann studierte sie die Straßenkarte und verließ den RV-Park Richtung Süden um kurz nach sieben. Im Einzugsbereich von Tacoma wechselte sie auf die Freeways 167 und 164, um dem gröbsten Verkehr auszuweichen. Über die Straße 410 bog sie in den wenig befahrenen Nordosten des Mount Rainier National Parks ein. Bereits aus der Ferne konnte Anna den weißblauen Gipfel des höchsten Berges der Cascade Range erkennen. Weit hinab reichte seine imposante Eismütze, dunkle Nadelwälder und helle Blumenwiesen umgaben ihn auf der unteren Hälfte und schufen einen eindrucksvollen Kontrast zu dem weiß leuchtenden Gipfel. Da die Sonne vom wolkenlosen Himmel strahlte, nahm sie die Serpentinen zum Sunrise Visitor Center und genoss die spektakulären Ausblicke auf der gemächlichen Fahrt. Auf dem White River Campground baute Anna an einem idyllisch gelegenen Plätzchen ihr Zelt auf. Sie packte einen Fleecepullover, ein paar Müsliriegel, zwei Äpfel, eine Wasserflasche und ein Fernglas in ihren Tagesrucksack und betrat am Ende des Campingplatzes den Glacier Basin Trail.

Trotz der Sonne war die Luft hier oben kühl und klar. Anna sog den intensiven Geruch der unzähligen Wildblumen und Gräser ein. Nach einer knappen Meile bog sie vom Hauptweg zum Emmons Moraine Trail ab. Der Gletscher hatte hier jadegrüne Teiche hinterlassen, und der Himmel leuchtete azurblau. Am Endpunkt des Wanderweges stand sie vor einem tiefen Taleinschnitt, den der Gletscher vor langer Zeit geformt hatte. Auf der gegenüberliegenden Talseite führte eine wohlgenährte Grizzlymutter ein blondes Junge den Hang hinauf. Immer wieder schaute sie sich nach ihrem Kleinen um. Das Bärenkind blieb dicht hinter ihr. Doch dann entdeckte Anna den Grund für die Nervosität der Bärenmutter. Ein mächtiger männlicher Grizzly folgte den beiden im Abstand von fünfhundert Metern. Anna zog ihre kleine Bärenglocke aus dem Rucksack und band sie oben an die Tragschlaufe, so dass es jetzt bei jedem Schritt klingelte. Von Meister Petz wollte sie auf keinen Fall überrascht werden. Mit dem Fernglas beobachtete sie die drei Bären eine Weile. Als die Mutter mit ihrem Nachwuchs über den Kamm verschwand, gab der Verfolger auf und kehrte um. Anna seufzte erleichtert und wanderte zum Abzweig zurück.

Auf dem Glacier Basin Trail kletterte sie stetig bergauf, bis nach drei Meilen ein Camp auftauchte, das Minenarbeiter laut Reiseführer im späten 19. Jahrhundert verlassen hatten. Mutter Natur überwucherte die rostenden Überbleibsel. Das sagenhafte Panorama lud zu einer Pause ein. Sie hockte sich auf einen warmen Felsen, packte zwei Müsliriegel aus und genoss die Ruhe.

Auf dem Rückweg nahm Anna den Abzweig zum Burroughs Mountain Trail. Der Weg war leicht zu finden, führte aber stetig bergan. Ihr Herz raste, sie keuchte und die Oberschenkel stachen mit jedem Schritt stärker. Am Hang unterbrachen drei Bergziegen ihre Mahlzeit und schauten neugierig auf sie herab.

»Für euch ist die Kletterei ein Kinderspiel. Ich hatte auch schon mal eine bessere Kondition. Tja, wenn man nichts für sich tut.« Sie stützte die Hände auf die Schenkel und pustete.

»Ändern wir jetzt. Und ein paar andere Dinge auch.«

Eine der Ziegen legte beim Klang ihrer Stimme den Kopf etwas schief, als ob sie ihr genau zuhörte. Anna musste lächeln. Der Weg zog sich länger hin, als sie vermutet hatte. Unmerklich hatte sich der Himmel komplett zugezogen. Der Wind frischte auf und trieb große, grauschwarze Wolken schnell voran, als sie den smaragdgrünen Shadow Lake erreichte. Anna setzte sich am Rand des Sees ins weiche Gras und verschlang den letzten Müsliriegel und einige Stücke Schokolade. Was für eine friedliche Stille auf dem Wasser lag! Lautlos segelte eine Eule über sie hinweg und verschwand in dem dunkelgrünen Kiefernwäldchen zu ihrer Linken.

Fast hätte sie den Schatten, der sich gegenüber am See katzengleich bewegte, nicht bemerkt. Sie presste das Fernglas an die Augen, suchte das gegenüberliegende Ufer systematisch ab und hielt den Atem an. Ein Puma! Das Tier maß etwa sechzig Zentimeter und sein Fell hatte am Rücken eine rötlichbraune, an der Brust eine fast weiße Färbung. Es trank am Ufer und schaute sich misstrauisch in alle Richtungen um. Die dunkle Schwanzspitze pendelte hin und her. Beim Anblick des wilden Tieres fühlte Anna einen Stich tief in ihr Herz und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Berglöwe entfernte sich einige Meter vom Wasser. Gebannt verfolgte sie seine Bewegungen, bis er zwischen zwei mannshohen Geröllfelsen stehenblieb. Irgendetwas schien ihn zu beunruhigen, doch den Grund vermochte Anna nicht zu erkennen. Behutsam verstaute sie die Bärenglocke in ihrem Rucksack, um ihn nicht durch das Klingeln aufzuschrecken und zu verjagen. Ohne mit der Rechten das Fernglas von den Augen zu nehmen, erhob sie sich in Zeitlupe und nahm mit der linken Hand den Backpack über die Schulter. Sie wich ein wenig vom Weg ab, schlug einen leichten Bogen über die satte Wiese und steuerte von Nordosten auf ihn zu. Die Katze schien mit den Vorderpfoten nach etwas zu graben oder Geröll beiseiteschieben zu wollen. Im weichen Moos schlich Anna lautlos näher, doch als sie unvorsichtigerweise an einen Stein stieß, rollte dieser ein Stück abwärts. Sie verharrte regungslos. Hatte er das Kullern gehört? Würde er sie angreifen? Aber der Puma beachtete sie gar nicht, sondern konzentrierte sich auf etwas direkt vor seinen Vorderpfoten. Minutenlang verweilte Anna etwa zwei Meter oberhalb von ihm. Erst hörte sie den Berglöwen leise maunzen, dann erklang ein klägliches Fiepen. War der Puma ein Weibchen? Und suchte sie ihr Junges?

Für einen Moment riss die Wolkendecke auf. Im rotgoldenen Licht der untergehenden Sonne sah die Berglöwin zu ihr herauf. Anna stand starr, den Mund geöffnet, bereit, zu schreien und einen Angriff abzuwehren. Doch die Katze duckte sich und wich vor ihr zurück. Nur ihren eigenen Herzschlag hörte Anna, kein Vogel zwitscherte, kein Insekt summte. Als ob in diesem Moment die gesamte Natur den Atem anhielt wie sie selbst.

Mit äußerster Vorsicht wagte sie sich zwei Schritte abwärts. »Ruhig. Ich tu dir nichts.«

Die Berglöwin stellte ihre Ohrmuscheln weit auf.

Noch drei Schritte.

»Hab keine Angst. Ist dein Kleines dort unten?«

Die Löwin neigte ihren Kopf leicht zur Seite, blieb jedoch an ihrem Platz. Anna beugte sich so weit vor, dass sie zwischen dem Geröll einen schmalen Felsspalt erkannte. Aus der Tiefe kam das jämmerliche Fiepen. Sie hockte sich dicht neben den Spalt und leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein. Ein Pumajunge stand auf den Hinterbeinen und kratzte mit den Vorderpfoten an den steilen Wänden. Es versuchte verzweifelt, aus der engen Höhle herauszuklettern, rutschte aber immer wieder zurück. Anna sah zu der Mutter, die nur drei Meter von ihr entfernt saß, und sie aufmerksam beobachtete.

»Ich hole dein Kleines heraus. Keine Sorge.«

Behutsam kniete sie nieder und griff in die Tiefe. Die spitzen Zähne des Jungen bohrten sich in ihre rechte Hand, und sie zog sie schnell wieder zurück.

»Verdammt. So wird das nichts.« Sie rieb die schmerzhafte Stelle an ihrer Hose. »Dein Kleines hat scharfe Zähne.«

Das Stöckchen neben ihrem Knie war die Lösung. Mit der linken Hand steckte sie das Holz langsam in die Grube. Sofort schnappte das Pumajunge zu. In dem Moment packte Anna mit ihrer Rechten in sein Nackenfell, zog das fauchende und strampelnde Bündel heraus und setzte es so vor sich auf den Erdboden, dass es seine Mutter direkt ansah. Das weiche Fell war braunbeige mit kräftigen dunkelbraunen Flecken. In fünf schnellen Sätzen sprang das Junge zu seiner Mutter und begrüßte sie überschwänglich. Die Berglöwin fuhr mit der Zunge zärtlich über den Kopf ihres Kleinen, sah Anna noch einmal kurz an und lief dann mit ihm davon. In wenigen Sekunden verschwanden die beiden aus ihrem Blickfeld.

Anna starrte ihnen nach, erste Wassertropfen benetzten ihre Wangen. Nach und nach setzte ein leichter Regen ein und kühlte ihr heißes Gesicht. Fast eine halbe Stunde saß sie unbeweglich da und sah vor ihrem geistigen Auge die beiden Pumas. In diesem Moment empfand sie sich eins mit ihnen und mit der Natur ringsum. Sie atmete tief ein und aus, und ihr Brustkorb schien zu eng zu sein. Ein Gefühl von Freiheit weitete ihr Herz.

Den restlichen Weg auf dem Wonderland Trail legte sie zügig im Licht des Mondes zurück. Erst kurz vor Mitternacht erreichte sie völlig durchnässt ihr Zelt, doch sie fühlte sich lebendig wie schon lange nicht mehr.

DU VERLÄSST MICH NICHT

Von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete Paul aus seinem Auto das beige geklinkerte Einfamilienhaus mit sorgsam gepflegtem Vorgarten. Hier achteten die Spießbürger peinlich darauf, dass alle ihren Rasen gleich hoch mähten. Die Haustür des Bungalows stand weit offen, und sein Schwager lud den Wocheneinkauf aus dem Kofferraum eines BMW-Kombis aus. Julia erkannte er hinter dem Küchenfenster, sie lief drinnen hin und her. Keine Spur von Anna.

Paul drückte die Davidoff aus und stieg aus seinem brillantblauen Mercedes SL 400 Roadster.

»Hallo, Thomas. Alles klar?« Er klopfte dem Schwager auf die Schulter. »Fährt eure Familienkutsche noch? Der hat doch schon mindestens sechs Jahre auf dem Buckel?«

»Hallo, Paul. Julia hat gar nicht erzählt, dass ihr uns heute besucht.«

»Ein spontaner Einfall. Wollte meinen Benz ein bisschen rollen lassen. Ist das ein Problem für euch?«

»Ach wo. Ich habe für eine Kompanie eingekauft. Los, pack mal mit an.« Thomas drückte ihm eine Kiste Mineralwasser in beide Hände.

Paul nahm die drei Stufen zur Eingangstür und stieß mit Julia zusammen. »Paul! Das ist ja eine Überraschung. Komm in die Küche. Wo ist denn Anna?«

Er stapfte schweigend hinter ihr her und stellte die Kiste unsanft auf dem terracottafarbenen Natursteinboden ab. In seiner Brust hatte eine unsichtbare Hand ein Zündholz angerissen.

Julia fixierte ihn von der Seite. »Du bist ja knallrot im Gesicht. War die Wasserkiste so schwer?«

Blöde Schnepfe. Nimmst du mich auf den Arm?

»Ist Anna noch nicht da?«

»Wieso?«

»Sie wollte dich doch besuchen.«

Julia schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Hm. Davon weiß ich nichts.«

Paul starrte sie wortlos an, zog sein I-Phone aus dem Jackett und wählte. »The person you are calling is temporarily not available. Please try again later.«

Verdammte Mailbox.

Julia zog die Stirn in Falten. »Was ist? Kannst du sie nicht erreichen? Habt ihr euch verpasst?«

»Temporarily not available.« Mechanisch wiederholte er die verhassten Worte und wandte sich zur Tür. »Muss ein Missverständnis sein.«

»Willst du schon wieder weg? Sie kommt bestimmt gleich.«

»Wohl kaum. Außerdem ist heute Abend großer Empfang in der Klinik. Ich fahre zurück.« Er nickte seinem Schwager zu, sprang ins Cabrio und ließ den Motor aufheulen.

Thomas sah Julia fragend an. »Merkwürdig, die Sache, findest du nicht?«

»Ich glaube, sie haben sich wieder gestritten und sie ist abgehauen. Es kam mir so vor, als ob er Anna bei uns sucht. Wie damals, weißt du noch?«

»Meinst du? Ruf sie doch an.«

»Er hat sie vorhin auch nicht erreicht. Schätze, sie hat das Handy ausgestellt.«

Thomas zuckte die Schultern. »Dann lass es. Ist ihre Sache, nicht unsere. Sie wird sich schon bei dir melden, wenn sie Hilfe braucht.«

Pauls Finger trommelten auf den Mahagoni-Schreibtisch. Nach fast zwanzig vergeblichen Anrufen bei Freunden bestand kein Zweifel mehr. Anna hatte ihn verlassen. Und sie hatte ihn angelogen. Vorgegeben, zu ihrer Schwester zu fahren, und sich dann feige aus dem Staub gemacht. Das waren gleich zwei schwerwiegende Vergehen auf einmal.

Verdammtes Miststück, das wird dir leidtun. Ich habe dich gewarnt. Ich habe dir gesagt, du verlässt mich nicht.

Im Schlafzimmer durchwühlte er ihren Kleiderschrank. Es schien nichts zu fehlen. Er knallte die Schranktür zu. Was hatte sie bloß mitgenommen? Wohin oder zu wem war sie geflüchtet?

Im Keller konnte er ihren Rucksack nicht finden. Und auch nicht die Wanderstiefel. Von einer Sekunde zur nächsten zog eine brennende Hitze seine Magenschleimhaut zusammen und kroch zentimeterweise nach oben in die Speiseröhre. Schwerfällig stieg er die Kellertreppe hinauf. Jeder Fuß wog einen Zentner. Rucksack und Wanderstiefel. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken wie ein Karussell. Er brauchte dringend etwas zur Beruhigung. Seine Kehle brannte wie nach einem ewig langen Marsch durch die Wüste. Das erste Glas Johnny Walker kippte er im Stehen hinunter, das zweite leerte er ebenfalls noch vor der Bar. Jetzt kam Johnny in allen Winkeln seines Körpers an. Ein wahrer Freund. Bis in die Finger- und Zehenspitzen durchflutete ihn eine wohlige Wärme. Mit dem dritten Glas Whisky ließ er sich auf die Couch fallen und zündete die letzte Davidoff aus der Schachtel an. Das leere Päckchen zerknüllte er und warf es gegen Annas Bild auf dem Kaminsims. Der Rahmen polterte zu Boden und das Glas zersplitterte. Mechanisch griff er zur Fernbedienung und stellte den Fernseher an.

Sollte er die Schlampe selber suchen oder die Polizei einschalten? Rucksack und Wanderstiefel. Wo wollte sie verdammt noch mal hin?

Auf 3Sat lief eine Naturdokumentation. Er starrte auf die brillanten HD-Bilder vom Winter im Yellowstone Nationalpark. Seine Gedanken wanderten zu ihrem Urlaub in den Staaten, als sie auf dem Appalachian Trail gewandert waren. Natürlich nicht die gesamten 3500 Kilometer, für die man fast ein halbes Jahr brauchte. In den knapp drei Wochen, die sie von Süden nach Norden zurücklegten, waren sie etliche Tage mutterseelenallein marschiert. Bei der Erinnerung daran schlug sein Herz schneller und er empfand eine körperliche Erregung. Obwohl sie sich in der Freiheit der Natur aufhielten, war Anna mehr denn je seine Gefangene, mit der er nach Belieben umspringen konnte. Wenn du mir nicht gehorchst, lasse ich dich hier in der Wildnis zurück und du wirst elendig krepieren, hatte er ihr gesagt. Und sie hatte gespurt. Machte sie einen Fehler beim Aufstellen des Zeltes, bestrafte er sie, indem sie die Nacht unter freiem Himmel schlafen musste. Schmeckte ihm die angerührte Trockennahrung nicht, ließ er sie an dem Tag hungern. Und als sie mit dem jungen Burschen aus Chicago, der glatt ihr Sohn hätte sein können, angeregt plauderte, packte er am Tag darauf ihren Rucksack mit extra viel Gewicht und zwang sie, ihn über zwanzig Kilometer zu schleppen. Strafe musste eben sein, so einfach war das. Du bist selbst schuld, hatte er ihr immer wieder sagen müssen.

Genüsslich ließ er den dritten Whisky die Kehle hinabrinnen und wählte die 110. Die Dame in der Polizeizentrale klang mitfühlend und verständnisvoll und bat ihn, schnellstmöglich in die Wache zu kommen. Er sah auf die Uhr. Genauso würde er es machen. Sollten sich erst mal die Bullen kümmern. Auf dem Weg zur Chefarztfeier fuhr Paul zur nächsten Polizeidienststelle. Er steckte zwei Pfefferminzbonbons in den Mund, betrat die Wache und gab eine Vermisstenanzeige auf.

Es fand mal wieder die übliche Beweihräucherung unter Kollegen statt. Jeder pries die eigene Abteilung. Paul musterte die Anwesenden von oben herab. Er wusste es besser. Nur mit seinen Operationen verdiente das Krankenhaus eine Menge Geld. Künstliche Gelenke brachten viel ein, und Ruhm dazu. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten. Er war der Beste, der Größte und der Wichtigste. Geriatrie – Firlefanz. Urologie – dafür gab es nur Kleingeld. Gynäkologen – Möchtegern-Chirurgen. Neurologie und Psychiatrie – Laberfächer. Internisten – Pillenzähler. Unfallchirurgen und Orthopäden – das waren die leibhaftigen Helden. Er allein bewahrte mit seiner Abteilung das Krankenhaus vor dem Konkurs, und zwar schon seit Jahren.

Demonstrativ sah Paul auf seine goldene Rolex am rechten Handgelenk. Der Zeiger kroch auf Mitternacht zu. Zeit, die Langweiler mit ihren aufgeblasenen Geschichten zu verlassen. Auf dem Weg zur Tür steuerte Klinikdirektor Mehrmann auf ihn zu. »Sie wollen doch nicht schon gehen, Dr. Behringer?«

»Es wird Zeit, Dr. Mehrmann.«

»Schade. Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, Ihnen noch einmal persönlich zu danken. Ihre Abteilung ist die wichtigste Stütze unseres Hauses, das kann ich gar nicht genug betonen.«

Das lief runter wie Öl. »Schönen Abend noch und auf Wiedersehen, Dr. Mehrmann.« Paul schenkte dem Direktor ein breites Gewinnerlächeln und drückte ihm die Hand.

Auf dem Parkplatz empfingen ihn die ersten Regentropfen. Eilig schloss er das Verdeck seines Roadsters und brauste nach Hause, ohne sich um die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu kümmern.

Im Wohnzimmer riss er ein neues Zigarettenpäckchen auf und goss sich einen Drink ein, den er sogleich hinunterkippte. Johnny Walker und das starke Davidoffaroma weckten im Nu seinen Jagdinstinkt.

Okay, du willst es so haben. Wir werden ja sehen, wer von uns beiden das Spiel gewinnt.

Da hatte das Miststück doch tatsächlich versucht, ihn auszutricksen. Aber nicht mit ihm. Den zweiten Whisky leerte er ebenfalls in einem Zug. Er donnerte das Glas auf den Couchtisch.

Das wirst du bereuen. Du wirst vor meinen Füßen kriechen und um Gnade winseln.

Die Uhr schlug zwei. Abwesend starrte er auf das Whiskyglas. Seit er sich erinnern konnte, hatte er seine eigenen Entscheidungen getroffen. Seine Mutter hatte er irgendwann damit zur Weißglut getrieben. Anfangs freute sie sich, dass er nach dem frühen Tod seines Vaters schnell selbstständig wurde. »Mein großer Junge«, sagte sie mit Tränen in den Augen, als er sechs Jahre zählte. »Der ist schon so erwachsen. Nimmt mir vieles ab.« Doch später ließ er sich immer weniger von ihr sagen und genoss es, über andere zu bestimmen. Erst nur über Tiere, dann über Menschen. Er allein entschied, wer bei ihm bleiben durfte und wer gehen musste, wer leben durfte und wer sterben musste.

Mieze, das kleine getigerte Kätzchen, das ausgebüxt war, fing er mit einer Drahtschlinge, die er vor dem Futternapf verdeckt ausgelegt hatte. Er legte ihm die Schur um den Hals und schaute es streng an. »Du warst böse.« Mieze zappelte und miaute, doch er zog die Schnur so weit zu, dass es gerade noch atmen konnte und warf das Kätzchen aus dem Fenster hinab in die randvolle Regentonne, die direkt darunter stand. »Du hast nicht gehorcht und bist weggelaufen. Ich muss dich bestrafen.« Interessiert sah er zu, wie das Tier hektisch strampelte, um sich am Rand des Regenfasses festzuhalten und hochzuziehen, doch es ertrank langsam. »Du bist selbst schuld«, sagte er, zuckte die Schultern und notierte die Zeit, die es gedauert hatte, bis Mieze unterging. Damals war er acht Jahre alt. Dann gab es da Fred, den Nachbarsjungen, der nicht mehr mit ihm spielen wollte und sich einen anderen Freund suchte. Wenige Tage später stürzte er schwer mit seinem Fahrrad und landete für Wochen mit einem komplizierten Beinbruch im Krankenhaus. In der Nacht zuvor war Paul in den Nachbarsschuppen geschlichen, hatte die Kette am Rad gelockert und am nächsten Tag aus einem sicheren Versteck schadenfroh den Sturz beobachtet. Da war er zehn Jahre alt.

In der Pubertät hatte er ständig neue Freundinnen, keine blieb länger bei ihm. Folgten sie nicht seinem Willen, gab er ihnen den Laufpass und erzählte niederträchtige Geschichten über sie. Zu diesem Zeitpunkt gab es seine Mutter endgültig auf, Einfluss auf ihn nehmen zu wollen und widmete sich schon tagsüber ihrer Flasche Kognak. Im Studium und später im Job verfeinerte er seine Techniken. Intelligenz und Skrupellosigkeit ebneten ihm den Weg zu einer beachtlichen Karriere in einem Beruf, in dem es seit jeher auf Ellbogen ankam. Er war der geborene chirurgische Chef, den die Patienten anhimmelten und die Untergebenen fürchteten. Anna, talentiert, fleißig und ehrgeizig, förderte und formte er, und sie nahm es willig an. Ihr Bestreben, im Job alles perfekt zu machen und dadurch Erfolg zu haben, nutzte er schamlos aus. Dirigierte er sie anfangs nur im Krankenhaus nach Belieben, drangsalierte er sie später, als sie ein Paar geworden waren, auch daheim. Doch eines Tages fing sie an aufzumucken. Es war ein schleichender Prozess. Er hatte es erst gar nicht bemerkt, so selbstgewiss und unantastbar fühlte er sich in seiner Rolle als Chef in der Klinik und zu Hause. Indem sie anfing, ihm Widerworte zu geben, zwang sie ihn, bei ihr eine härtere Hand anlegen. Damals fand er auch Gefallen daran, auf die Jagd zu gehen. Während seine Jagdkumpane sich freuten, einen Hirsch vom Hochsitz aus zu erlegen, beobachtete er die ahnungslosen Tiere beim Äsen und wartete genüsslich. Es war ein Spiel für ihn, ein wunderbarer Nervenkitzel. Lauf doch! Wenn du wegläufst, töte ich dich, sagte er zu sich und bei der kleinsten Bewegung des Wildes klopfte sein Herz schneller, doch er wartete geduldig. Lief das Tier schließlich davon, war der rechte Moment für ihn gekommen, und mit einer tiefen inneren Befriedigung setzte er den tödlichen Schuss. Nie verfehlte er sein Ziel, auch nicht in großer Entfernung oder bei schlechter Sicht.

Niemand konnte ungestraft vor ihm weglaufen.

Er ballte die Faust. Den kümmerlichen Rest Whisky trank er direkt aus der Flasche. Wohin wollte sie?

Du wirst mir nicht entkommen. Ich finde dich überall. Und dann Gnade dir Gott.

Er zermalmte den Zigarettenstummel im Ascher mit seinem Daumen.

DER ANHALTER

Am Morgen prasselte ein warmer Sommerregen gleichmäßig auf das Zeltdach. Hier im Nordwesten regnete es oft und ausgiebig. Auf dem Gaskocher brühte Anna einen kräftigen Kaffee, dazu aß sie zwei Bananen. Gegen Mittag ließ der Regen endlich nach und sie packte ohne Eile die wenigen klammen Habseligkeiten und das Zelt ein. Später fuhr sie auf der 410 gemächlich in östlicher Richtung hinauf zum Chinook Pass. In fast 1600 Meter Höhe parkte sie den Chevy am Straßenrand und genoss den prächtigen Ausblick. Wind kam auf und vertrieb die grauen Regenwolken, dann kämpfte sich die Sonne durch die Wolkenfetzen und erwärmte mit jeder Minute die Luft und ihre Muskeln. Eine Wohltat nach der kühlen Feuchtigkeit am Morgen. Übermütig spielten zwei Murmeltiere zwischen den Felsen Fangen, und ein Golden Eagle drehte stumm in großer Höhe seine Runden. Als er sich immer tiefer schraubte, verschwanden die beiden Nager eilig in einem sicheren Versteck. Anna lächelte. Genauso musste man es machen. Wenn der Jäger über einem kreiste, schnell verbergen in einer Höhle.

Von Osten näherte sich eine hagere Gestalt mit schlurfendem Schritt. Der sonnengebräunte Mann mittleren Alters trug einen langen abgewetzten Ledermantel von undefinierbarer Farbe. Unter dem breitkrempigen dunkelbraunen Lederhut wucherte ein struppiger Fünftagebart, zwei tiefliegende blassblaue Augen musterten jedoch wachsam die Umgebung. Der löchrige Rucksack hatte auch schon bessere Tage gesehen. Mit geübtem Blick erkannte Anna, dass das Schlurfen von einem leichten Hinken herrührte, er zog das rechte Bein etwas nach. Sein linker Arm steckte in einer schmutzigen Schlinge.

Er blieb vor ihr stehen und stellte den Rucksack ab.

»Hallo, Lady! Wo soll’s hingehen?«

»Warum fragen Sie?«

»Könnten Sie mich ein Stück mitnehmen?«

Anna sah auf ihre Uhr. Halb vier.

»Ich weiß noch nicht genau, wo ich hinfahre.«

»Kein Problem. Bin frei wie ein Vogel. Fliege mal hierhin und mal dahin.«

»Und woher kommen Sie?«

Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.