Flüsternde Rufe - Lukas Kus - E-Book

Flüsternde Rufe E-Book

Lukas Kus

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Beschreibung

Nach einem heftigen Streit wird der Jugendliche Donny von seiner Mutter herausgeworfen und landet schließlich bei seinem Vater, den er noch nie getroffen hat, in der Kleinstadt Blumdamm. Nach einiger Zeit gewöhnt er sich an sein neues Umfeld und seine neue Schule. In den Bohde-Brüdern, Marc und Phil findet er schnell Freunde. Doch dann wird die Stadt von seltsamen Mordfällen erschüttert. Als die Jungen von unheimlichen Visionen heimgesucht werden und daher auf eigene Faust Nachforschungen anstellen, geraten sie in Gefahr. Denn der Mörder ist offenbar kein menschliches Wesen.

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Buchbeschreibung:

Nach einem heftigen Streit wird der Jugendliche Donny von seiner Mutter herausgeworfen und landet schließlich bei seinem Vater, den er noch nie getroffen hat, in der Kleinstadt Blumdamm. Nach einiger Zeit gewöhnt er sich an sein neues Umfeld und seine neue Schule. In den Bohde-Brüdern, Marc und Phil findet er schnell Freunde. Doch dann wird die Stadt von seltsamen Mordfällen erschüttert. Als die Jungen von unheimlichen Visionen heimgesucht werden und daher auf eigene Faust Nachforschungen anstellen, geraten sie in Gefahr. Denn der Mörder ist offenbar kein menschliches Wesen.

Über den Autor:

Lukas Kus wurde in Hamm geboren. Geschichten sind seine Leidenschaft. Er betrachtet den US-amerikanischen Autor Stephen King als literarisches Vorbild. Heute lebt und schreibt er in Rostock.

Prolog

Die ländlichen Straßen erstreckten sich in dieser Nacht in eine unendliche Dunkelheit. Spärlich platzierte Laternen warfen ein blasses Licht auf den Asphalt, das nur einen kleinen Teil der Wege erhellte. Die Düsternis, von dichten Bäumen und unbesiedelten Feldern flankiert, verstärkte dieses gewisse Gefühl der Einsamkeit. Das Viertel wirkte verlassen und still, nur das ferne Heulen des Windes und das Zirpen der Insekten bildeten eine schwache Geräuschkulisse. Der Himmel war von dunklen Wolken durchzogen, die den Mond und die Sterne verdeckten und so jegliches natürliche Licht von oben blockierten. Dieses Schattenspiel ließ die Straßen geradezu bedrohlich erscheinen.

Aber das interessierte sie gar nicht. Was sie interessierte, war nur der Ruf. Jemand verlangte nach ihr, das spürte sie ganz deutlich. Sicher, der Ruf war nicht wirklich da, jedenfalls nicht auf einer physischen Ebene. Aber er war nun einmal doch da, allerdings vielmehr in ihrem Kopf.

Ja, sie wurde gerufen, seit Wochen schon. Jeden Abend, jede Nacht. Anfangs hatte sie es nicht wahrnehmen wollen, aber mit der Zeit wurden diese sehnsüchtigen – so fühlten sie sich für sie an – Rufe immer energischer. Und sie waren anziehend. Sie lockten sie an. Anders war es nicht zu beschreiben. Es war, als versprächen sie ihr irgendetwas. Vielleicht würde jetzt endlich wieder etwas Besserung in ihr wahrhaft fürchterliches Leben kommen. Das musste es einfach bedeuten. Sie musste dem Ruf folgen, das fühlte sich für sie wie das einzig Richtige an. Genau genommen konnte sie gerade an nichts anderes denken. Alles Weitere in ihrem Gehirn war wie versiegelt. Nur den Ruf nahm sie jetzt wahr.

Es kam aus dem Westen. Zwar war das akustisch nicht wirklich auszumachen, aber ihr Instinkt sagte es ihr. So schlenderte sie in jene Richtung, vorbei an den Häusern, über das Feld, und schließlich in den angrenzenden Wald hinein. Sie war richtig gelaufen, denn hier war der Ruf so stark wie nie zuvor.

Das Waldstück wirkte wie ein undurchdringliches schwarzes Loch, das jede Spur von Licht verschlang. Dicke, knorrige Bäume ragten in den Himmel, kein Schimmer drang durch das dichte Blätterdach, und die Dunkelheit war fast greifbar.

Plötzlich, während sie sich durch das Dickicht bewegte, überkam sie ein eigenartiges Gefühl, eine unwirkliche Präsenz, die man nicht definieren konnte. Ein eisiger Hauch strich über ihre Haut, und ein unheimliches Flüstern schien in den Blättern zu verweilen, obwohl kein Wind wehte.

Eine enorme und surreale Kraft umschloss sie, unsanft, wie die Klauen eines Raubtieres. Es war, als ob man sie ergriff, doch sie konnte nichts sehen. Ein Schauer durchzog sie, als sich diese Macht um sie legte, sie packte und festhielt, ein Gefühl, das jenseits aller Realität zu liegen schien.

Sie kämpfte, versuchte, sich zu wehren, doch die Kraft war unvertraut stark. Es war, als ob etwas sie zu sich ziehen wollte, tief in die Dunkelheit, an einen Ort, von dem sie mit einem Mal wusste, dass sie ihn nie hätte erreichen sollen.

Sie wollte schreien, nach Hilfe, aber ihre Stimme versagte. Kein Wort kam aus ihrem Mund heraus.

Dann war sie verschwunden.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1 Blumdamm

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil 2 Finstere Visionen

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 3 Das Wehklagen eines Schlägers

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil 3 Die ganze Wahrheit

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Teil 4 Kampf gegen die Herrscherin

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Nachwort

Teil 1 Blumdamm

Kapitel 1

Der Himmel, den Donny durch das Zugfenster sehen konnte, war wolkenverhangen, nur hin und wieder strahlte die Sonne durch eine der wenigen Lücken und ließ ihn kurz blinzeln. Die Landschaft draußen zog an ihm vorbei wie eine flüchtige Erinnerung: endlose Felder, die sich in Wellen erstreckten, vereinzelte Gehöfte, die wie kleine Inseln in einem grünen Meer erschienen, und Wälder, die das Bild immer vorübergehend verdunkelten. Der Zug ratterte über alte, heruntergekommene Eisenbahnbrücken – das machte Donny einmal mehr klar, wie wenig befahren und irrelevant diese Strecke war. Vorbeiziehende Dörfer, deren rote Ziegeldächer sich in der Ferne verloren, erweckten die Illusion von Miniaturwelten, die sich im Vorübergleiten der Zeit auflösten. Ab und zu tauchten Bäche auf, die sich schlängelnd durch die Landschaft zogen. Entlang der Uferlinien reckten sich Schilffelder nach oben, während Reiher über das Wasser glitten.

Donny spürte, wie sich die Ruhe der ländlichen Szenerie allmählich in sein Inneres schlich, begleitet vom rhythmischen Klopfen der Räder auf den Gleisen. Aber dieses Gefühl verschwand sogleich, als er wieder dran dachte. Der Streit. Dieser heftige Streit, wegen dem seine Mutter ihn herausgeworfen hatte. »So ein Mist«, murmelte der Junge, als er alleine in dem Waggon saß, und fuhr sich frustriert mit den Händen durch die nussfarbenen Haare, die durchaus mal wieder einen Schnitt hätten gebrauchen können.

Bei dem Gerichtsprozess hatten sie später entschieden, ihn zu seinem Vater zu schicken, der in einer unbedeutenden Kleinstadt namens Blumdamm wohnte. Und genau dorthin fuhr er in diesem Moment. Donny lachte bei dem Gedanken bitter auf. Bis zu jenem Tage hatte er nicht einmal von der Existenz seines Vaters gewusst. Er fragte sich, warum seine Mutter nie von ihm erzählt hatte. Nun, sie hatte ihn im Prinzip belogen, um es brutal auszudrücken.

Er war zwiegespalten. Einerseits verspürte er natürlich eine Wut auf sie. Immerhin hatte sie ihn im Stich gelassen, anders konnte man es nicht sagen. Andererseits hatte er nie aus seiner Heimatstadt und von seinen alten Schulfreunden weggewollt. Doch eigentlich hatte es jetzt keinen Sinn, noch weiter darüber nachzudenken. Er war schon auf dem Weg in sein neues Leben. Er musste damit klarkommen, mit einem neuen Umfeld, einer neuen Schule und allem anderen, ob es ihm passte oder nicht.

»Entschuldigung«, holte ihn eine Stimme aus seinen Gedanken zurück in die Realität. Er drehte sich zur Seite. Die Schaffnerin stand dort. »Wir verspäten uns leider, etwa dreißig Minuten. Es gab ... technische Probleme. Du bist der letzte Fahrgast, der noch im Zug ist. Aber wir bringen dich schon noch an dein Ziel, keine Sorge.«

»Ist in Ordnung«, sagte er, dachte dabei allerdings: Man kennt’s ja nicht anders.

»Gut. Verzeihung für die Umstände, ja?« Die Frau nickte ihm zu und ging den Weg, den sie gekommen war, zurück.

Als sie weg war, seufzte er. Ob dieser Dieter Fichtner – so hieß sein Vater anscheinend – wohl auf ihn warten würde? Sie hatten in den letzten Tagen nur ein paarmal E-Mail-Kontakt gehabt und die Zeit ausgemacht, an der sie sich heute am Bahnhof treffen wollten. Aber Donny hatte keine Handynummer, er konnte ihn jetzt nicht über die Verspätung informieren. Allerdings, so fiel es ihm dann ein, wäre es ohnehin unwahrscheinlich gewesen, dass er hier Empfang gehabt hätte.

Donny stürzte in seine Gedankenwelt, nachdem er wieder eine Weile starr aus dem Fenster gesehen hatte. »Verschwinde aus meinem Haus, du wohnst hier von jetzt an nicht mehr, du egoistisches Arschloch!«, hatte sie ihn an jenem Abend angebrüllt. Seine Mutter. Seine verräterische Mutter. Sie hatte ihm alles eingebrockt. Er schloss die Augen und wollte verzweifelt von diesen Gedanken wegkommen.

Ziemlich genau eine halbe Stunde später weckte die Zugansage ihn aus seinem Schlummer: »Nächste Station: Blumdamm. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.« Er fuhr zusammen, riss die Augen auf, holte hektisch seinen Koffer von der Gepäckablage und huschte damit zu den Türen.

Als der Zug seine Geschwindigkeit verringerte, um am Gleis anzuhalten, konnte er einen ersten Blick auf sein neues Zuhause werfen: Ein langgezogenes Bild, das sich vor seinem Auge von selbst nach rechts zog, präsentierte eine Gemeinde, umgeben von üppigem Grün und einer Aura von geradezu friedlicher Abgeschiedenheit. Die Sonne schien auf die roten Ziegeldächer der Häuser und Blumenbeete an den Gehwegen und in den Vorgärten verliehen der Szenerie einen Hauch von Farbe. Der Bahnhof von Blumdamm wirkte eher bescheiden, mit einem hölzernen Schild, welches den Namen der Stadt trug, und vielleicht drei bis vier Menschen, die auf jemanden warteten. Das verwunderte ihn, war er schließlich der einzige verbliebene Fahrgast. Aber möglicherweise fuhr der Zug ja doch noch woandershin, und diese Leute waren im Begriff einzusteigen.

Als Donny aus dem Zug stieg, wurde er von einer leichten Brise begrüßt, die den Duft des Spätsommers mit sich trug. Diese Idylle stand in starkem Kontrast zu Donnys inneren Turbulenzen. Er fühlte sich wie ein Fremder in dieser scheinbar friedlichen Umgebung, und sein Blick suchte nach einem Zeichen von Dieter.

Als er aus dem Bahnhof trat, erkannte er eine Person, die auf ihn zukam – ein Mann mittleren Alters mit Dreitagebart, bereits ergrauendem Haar und einer gewissen Gelassenheit in seinem Gang. »Daniel?« Der Mann lächelte unsicher und streckte die Hand aus. »Du bist es, oder?« Also hatte er auf ihn gewartet.

Er ergriff die Hand. Sie schien zu zittern. »Ja, ich bin’s. Aber nenn mich Donny. So nennen mich alle. Dann musst du wohl Dieter sein. Schön dich kennenzulernen.«

»Ebenso. Zum Glück konnte ich mir heute bei der Kripo freinehmen, um dich abzuholen.«

»Du hast ja gar nicht erwähnt, dass du Polizist bist.«

Dieter lachte leise und zögerlich. »Ja, ähm ... Also ... Vielleicht habe ich es vergessen.«

Donny bemerkte es schnell. Diesem Mann war es leicht unangenehm, seinen vierzehnjährigen Sohn nach so vielen Jahren zum ersten Mal zu sehen. Nein, nicht nur das. Er hatte beinahe Angst davor.

»Mein Dienstwagen steht ein paar Meter weiter entfernt«, sagte Dieter. »Ich habe mir heute etwas früher freigenom-men, um dich abzuholen. Sollen wir ... dann gehen? Ich würde dir ja noch was zu trinken kaufen, aber der Verkaufsautomat am Gleis ist schon lange defekt.«

So ist es wahrscheinlich häufiger an unwichtigen Bahnhöfen, der wird sicher nicht so schnell repariert, dachte Donny, aber er sagte nur: »Gut, lass uns gehen.«

Sie gingen ein paar Meter weiter, wo ein VW auf sie wartete. Gemeinsam beluden sie den Kofferraum mit dem Gepäck. Dieter öffnete die Türen und stieg ein. »Alles klar. Soll ich dir ein bisschen die Stadt zeigen, bevor wir nach Hause fahren?«

»Ach, klar. Warum nicht?« Donny setzte sich auf den Beifahrersitz. Dann fuhr der Wagen vom Parkplatz herunter.

»Okay ... Also ... Dann fahren wir mal ... Oder?« Dieter wirkte irgendwie unsicher und überfordert. Donny fragte sich, wie dieser Mann sich wohl gerade fühlte, nachdem er seinen Sohn – möglicherweise hatte ja auch er nicht von dessen Existenz gewusst, das konnte Donny nicht sagen – heute zum vermutlich ersten Mal sah.

Bunte Blumenranken schlängelten sich um die Laternenpfähle auf den Straßen von Blumdamm, während alte Gebäude mit geschnitzten Veranden und filigranen Fensterläden den Weg säumten. Ein paar Kinder spielten auf einem nahegelegenen Spielplatz. Ursprünglich hatte Donny wenig Lust auf einen neuen Wohnort gehabt, aber was er jetzt sah, das musste er eingestehen, gefiel ihm durchaus. Vielleicht war das hier ja doch eine ganz schöne Gegend.

Dieter lenkte den Wagen durch die verschlungenen Straßen. Überall schienen die Bewohner einander zu kennen. Grüße und freundliches Nicken begleiteten ihre Fahrt, während sie an Cafés und kleinen Läden vorbeifuhren. »Die Hauptstraße«, erklärte Dieter und wies mit einer Geste auf die gepflasterten Bürgersteige. »Hier findest du das Wichtigste: von Lebensmittelgeschäften oder einem Supermarkt bis hin zu ein paar Einzelhändlern. Oh, und da drüben ist die Bibliothek. Also, falls du dich für Bücher interessierst, kannst du ja mal vorbeischauen.«

Donny betrachtete alles aufmerksam, obwohl seine Gedanken immer wieder zu dem unbehaglichen Treffen mit seinem Vater zurückkehrten. Dieter schien bemüht, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, doch seine Unsicherheit war spürbar. Eine unbeholfene Stille umgab sie, die nur von der Musik im Radio unterbrochen wurde, die leise im Hintergrund lief.

»Und das hier ist der Park von Blumdamm«, fuhr Dieter fort, bog in eine schmale Straße ein und deutete auf einen kleinen grünen Platz mit Springbrunnen und Bänken. »Ein ganz netter Ort, um sich zu entspannen. Vielleicht magst du später mal herkommen.«

Donny nickte knapp, fühlte sich jedoch nicht bereit, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen. Die Eindrücke der neuen Stadt verschwammen vor seinen Augen, als sein Verstand noch immer mit den Emotionen der letzten Tage kämpfte. »Gibt es sonst irgendwelche weiteren Orte, wo man was unternehmen kann?«, fragte er, um nicht völlig abwesend zu wirken.

»Nun, mit dem Auto kommen wir nicht hin, aber von der Hauptstraße aus geht es in die kleine Fußgängerzone. Vielleicht glaubst du mir nicht, allerdings haben wir dort tatsächlich ein Kino. Ach, und dann ist da natürlich noch das archäologische Museum am Stadtrand. Wenn du sowas magst, lohnt sich das echt. Der Besitzer ist wirklich mit Herz und Blut an der Sache dran. Und das merkt man auch.« Dieter blieb kurz still, er schien zu überlegen, was er als Nächstes sagen sollte. Seine Unsicherheit von vorhin war offenbar zurück. »Und, äh ... Hast du denn ... noch weitere Fragen?«

»Nee, ist schon gut.« Donny versuchte zu lächeln.

»Okay. Soll ich dir noch zeigen, wie du zum Museum kommst?«

»Ach, das finde ich schon heraus.«

»Super.«

Donny fiel auf, dass er müde war. »Sollen wir dann?«

»Sicher«, sagte Dieter. »Oh, Moment! Fast vergessen. Ich würde sagen, wir fahren noch kurz an deiner neuen Schule vorbei, wenn es dir nichts ausmacht? Das neue Schuljahr beginnt doch schon übermorgen, glaube ich.«

»Ja, vielleicht.«

Dieter lenkte den Wagen weiter durch die Gassen und bog schließlich in eine breitere Straße ein. Dort, am Ende, ragte ein Gebäude auf, das etwas größer als die anderen war. Die Schule. Es war ein Bauwerk aus dunkelrotem Backstein, das von einer gemähten Rasenfläche umgeben war. Hohe Fensterreihen ließen das Tageslicht in die langen Korridore strömen, und ein Eingangsportal aus Holz bildete den Haupteingang. Vor dem Schulgebäude standen einige Fahrradständer, die heute – noch waren die Sommerferien ja nicht vorbei – natürlich nicht gefüllt waren.

Dieter parkte den Wagen am Straßenrand und deutete auf das Gebäude. »Das ist also die Oskar-Grauberg-Schule, benannt nach einem langjährigen Bürgermeister Blumdamms. Von 1950 bis 1972, wenn ich mich nicht vertue.« Dieter sah Donny an. »Komisches Gefühl, so mit neuem Zuhause und neuer Schule? Na ja, mach dir erstmal keine Sorgen. Ich wette, du wirst dich schnell einleben und Freunde finden.« Donny konnte dabei in den Augen Folgendes lesen: Ich hoffe, ich habe jetzt das Richtige gesagt.

»Ich will es jedenfalls versuchen«, erwiderte er.

»Ich denke, die Bachschule muss ich dir nicht zeigen, oder? Die ist die einzige andere Schule in der Stadt. Es ist die Grundschule, die sollte dich in deinem Alter also wenig interessieren. Du bist ja schon ... ähm ... Ja, du bist ...« Dieter kratzte sich sichtlich verlegen am Kinn.

»Vierzehn«, vervollständigte Donny grinsend.

»Richtig. Mit der Schule ist übrigens alles geklärt. Deine Klasse ist die 8b. Solltest du sie nicht direkt finden, kannst du dich einfach am Lehrerzimmer melden. So wurde es mir gesagt.«

»Danke.«

»Kein Problem. Ach ja, eine Sache noch. Ich weiß ja nicht, wie es in Zukunft bei dir aussieht und ob du irgendwann zu deiner Mutter zurückgehst, falls ihr euch ...« Er brach den Satz abrupt ab und räusperte sich, aber es war klar, dass er »vertragt« sagen wollte. »Nun, also, für den Fall, dass du lange hierbleibst, solltest du etwas wissen: In Blumdamm gibt es keine Schule, an der du Abitur machen kannst. Dafür sind wir wohl zu klein. Wenn du nach der zehnten Klasse weiter zur Schule gehen möchtest, wirst du leider pendeln müssen.«

»Tja, dann ist das wohl so.«

»In Ordnung. Fahren wir nach Hause.«

Schließlich kehrten sie zum Ausgangspunkt zurück. Die entspannte Fahrt war vorbei, und das bevorstehende Treffen mit Dieter in einem privateren Kontext ließ eine unangenehme Spannung in der Luft hängen. Als sie sich der Siedlung näherten, in der Dieter wohnte, machte Donny sich bereit für das, was kommen würde – ein neues Zuhause, ein neues Leben und ein Vater-Sohn-Verhältnis, das noch ganz am Anfang stand.

Der Wagen glitt durch die Wohnviertelstraßen. Sie waren von ein paar kleineren Bäumen gesäumt, deren Blätter im sanften Wind des Spätnachmittags raschelten. Die Häuser hier waren keine imposanten Wohnkomplexe wie in der Großstadt, sondern eher gemütliche Häuschen mit gut gepflegten Vorgärten. Kinder spielten auf Bürgersteigen oder fuhren mit Fahrrädern durch die Seitenstraßen. Die Nachmittagssonne warf ihr Licht auf die Gärten.

Dieter lenkte den Wagen an einigen Wiesen vorbei, auf denen Menschen spazierten oder auf Bänken saßen und plauderten. Die Häuser hier hatten einen traditionellen Touch mit gepflegten Fassaden und Blumenkästen an den Fenstern. Es schien, als ob sich die Zeit hier langsamer bewegte, und eine gewisse Ruhe und Gelassenheit umgab die ganze Siedlung.

Als sie an Dieters Residenz vorbeifuhren, konnte Donny einen flüchtigen Blick darauf werfen. Es war ein zweistöckiges, weiß gestrichenes Haus mit einer Veranda. Der Vorgarten allerdings war weitaus weniger hübsch als die anderen. Das Unkraut hätte wohl mal wieder gezogen werden können und ansonsten blühte hier überhaupt nichts. Dieter parkte den VW in der Einfahrt. Sie stiegen aus.

»Gut, äh, dann will ich dir mal alles zeigen, oder?«, sagte Dieter, als sie das Haus betraten. »Komm mit.«

Er führte Donny durch die den Eingangsbereich in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit einigen Möbeln und hellen Farben gestaltet war. Große Fenster ließen viel Tageslicht herein und boten einen Blick auf die Straße vor dem Haus. Ein Sofa und ein Sessel standen an einem niedrigen Glastisch, auf dem Bücher, eine Zeitung und irgendwelche Dokumente lagen. Von den Sitzplätzen aus konnte man direkt auf einen Fernseher gucken.

Dann führte eine Tür in die Küche. Hier herrschte eine gewisse Ordnung, obwohl man erkennen konnte, dass Dieter vor ihrem Eintreffen hektisch aufgeräumt hatte. Die Küchengeräte waren modern, und auf der Arbeitsplatte stand eine Kaffeemaschine. Durch die Küche gelangte man auch auf die Veranda, die mit ein paar Stühlen und einem kleinen Tisch ausgestattet war.

Eine Treppe auf dem Flur führte zum Obergeschoss. Oben gab es drei Schlafzimmer. Dieter zeigte Donny ein Zimmer, das klein, aber ordentlich war. Ein Bett mit weißem Laken stand in der Ecke; ein Schreibtisch mit einem Laptop darauf und ein Kleiderschrank vervollständigten die Einrichtung. Es war offensichtlich, dass Dieter versucht hatte, das Zimmer möglichst gemütlich herzurichten, aber ihm dafür nur wenig Zeit geblieben war. Donny stellte seinen Koffer hier ab.

Ein weiteres Schlafzimmer war Dieters eigenes. Es war geräumiger und befand sich neben dem Bad. Fotos von ihm selbst in Gruppen mit anderen Männern, vielleicht seine Kollegen, waren an den Wänden zu sehen, und auf einem Schreibtisch lagen einige Akten neben einem Computer. Dies hier schien gleichzeitig als Arbeitszimmer zu fungieren.

Das dritte Zimmer war ein Gästezimmer. Es sah sauber und aufgeräumt aus, wenngleich es etwas spärlich ausgestattet war. Eine Kommode, ein Bett und ein paar leere Regale füllten den Raum.

Dieter zeigte Donny das Badezimmer, das recht modern und funktional eingerichtet war. Dann führte er ihn noch einmal auf die Veranda, ging kurz in die Küche zurück und brachte ihnen Limonade. Zu dieser Zeit dämmerte es bereits allmählich und der Himmel färbte sich karmesinrot.

Sie stießen an.

Donny wusste nicht, was er in diesem Moment sagen oder fragen sollte. Es war einfach zu seltsam, jetzt bei einem Mann zu wohnen, den er noch nie gesehen hatte, der aber scheinbar sein Vater war. Er trank langsam seine Limonade.

»Auf jeden Fall«, fing Dieter irgendwann an, »ist es schön, hier mal nicht immer nur alleine zu sein, weißt du?« Er zitterte wieder, als er das sagte.

»Du bist also nicht verheiratet?«, fragte Donny schließlich. Danach war er nicht sicher, ob diese Frage nett gewesen war.

»Nein, irgendwie hat es sich nicht ergeben.«

Warum hat Mama nie über dich geredet und warum bist du nie zu Besuch gekommen?, wollte Donny jetzt eigentlich fragen, aber er traute sich nicht. Daher ließ er es sein.

»Falls du es dich gefragt hast, du kannst mich nennen, wie du willst. Ob ... äh ... ›Dieter‹ oder ... na ja ... ›Papa‹. Mir ist alles recht.« Er atmete erschöpft aus und griff sich hastig das Glas mit der Limonade. Diesem Mann schien die Situation wirklich peinlich zu sein. Vermutlich bereute er es inzwischen stark, seinen Sohn nie zuvor getroffen zu haben, und nun schämte er sich dafür.

Donny nickte.

»Leider muss ich dir sagen, dass ich oft nicht zu Hause sein werde. Meine Arbeit ... kostet viel Zeit.« Erklärte das womöglich den ungepflegten Garten und die Hektik beim Aufräumen des Hauses?

»Passiert in diesem Ort denn so viel?«, wollte Donny wissen. Das konnte er sich kaum vorstellen. »Hier wirkt es doch eigentlich sehr friedlich.«

Dieter schüttelte den Kopf. »Von ein paar kleinen Dingen mal abgesehen. Doch deswegen werden wir oft in die angrenzenden Gemeinden gerufen, wenn sie dort Hilfe brauchen, musst du wissen. Und sowas zieht sich immer hin. Aber im Moment beißen wir uns sogar auch an einem komplizierteren Fall hier in der Stadt die Zähne aus.«

»Was genau meinst du?«

»Seit einer Woche suchen wir jetzt schon ...« Er hielt inne und stand auf. »Oder warte, ich zeig’s dir. Bin gleich wieder da.« Er verschwand im Inneren des Hauses und kam kurz darauf mit ein paar Papieren zurück. Donny erkannte sie, es waren die Zeitung und eines der Dokumente, welche er zuvor im Wohnzimmer gesehen hatte.

Dieter reichte ihm zuerst die Zeitung und deutete mit dem Zeigefinger auf einen bestimmten Artikel. Donny begann zu lesen:

49-jährige Vermisste aus Blumdamm bleibt verschwunden

Seit nunmehr einer Woche herrscht Unruhe in Blumdamm, nachdem die 49-jährige Maria V. spurlos verschwunden ist. Die Alleinstehende wurde zuletzt in ihrem Haus gesehen, bevor sie sich aller Wahrscheinlichkeit am Abend des 20. August auf den Weg in die Stadt machte. Als sie bis spät in die Nacht nicht zurückkehrte und auch am nächsten Tag nicht auftauchte, alarmierte ihre Tochter die Polizei.

Man hat seitdem intensiv nach Maria V. gesucht, aber bisher blieb jede Spur im Dunkeln. Die Tochter, die sich besorgt an die Medien wandte, äußerte sich gegenüber dem Blumdammer Anzeiger: »Wir haben jeden Winkel ihres Zuhauses durchsucht und keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens gefunden und auch sonst scheint es keinerlei Anhaltspunkte zu geben. Dies alles ergibt keinen Sinn.«

Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, da es bisher keine Zeugen oder Hinweise gibt. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe und fordert jeden, der möglicherweise Informationen über den Aufenthaltsort von Maria V. haben könnte, auf, sich zu melden.

Maria V. wird als etwa 1,68 Meter groß beschrieben, mit blonden Haaren und grünen Augen. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug sie vermutlich eine blaue Jeans und eine gelbe Bluse. Jegliche Informationen, die zur Aufklärung dieses Falles führen, werden von den örtlichen Behörden dankbar entgegengenommen.

Nachdem Donny den Artikel gelesen hatte, gab Dieter ihm noch eine Vermisstenanzeige in die Hand, auf der ein Foto der Frau zu sehen war. Sie blickte etwas deprimiert in die Kamera. »Was wohl ihr wohl passiert ist ...?«, sagte Donny.

Dieter zuckte mit den Schultern. »Ich bin ehrlich, ich habe keine Ahnung. Wir sind bei der Polizei derzeit völlig ratlos. Die Frau ist wie vom Erdboden verschluckt. Es wirkt fast, als hätte sie nie existiert. Und wenn dann auch noch die Medien so berichten, frustriert einen das natürlich gewaltig, als Polizist.«

»Gibt es denn wirklich gar nichts, woran man sich orientieren kann?«

»Die Dame hatte wohl eine sehr schlimme Scheidung hinter sich und laut der Tochter litt sie deswegen unter starken Depressionen. Darum dachte ich, sie könnte möglicherweise Selbstmord begangen haben. Aber, wie gesagt, wir haben nichts gefunden, auch keine Leiche. Und ihr Exmann hat ein Alibi, er war zum Zeitpunkt des Verschwindens nachweislich mit Freunden in Frankreich.«

»Das klingt nicht gut.«

»Das kannst du laut sagen. Scheiße. Ich hasse es wie die Pest, wenn wir Fälle nicht lösen können.«

»Ich hoffe, es klärt sich bald alles auf.«

»Ja. Die Frau hat übrigens nur ein paar Straßen von hier entfernt gewohnt. Ich will dir jetzt keine Angst machen, aber pass bitte abends ein wenig auf da draußen, okay? Wir wissen schließlich noch nicht, was genau passiert ist.«

»Oh!« Dieter fiel fast vom Stuhl. »Ich habe schon wieder etwas vergessen! Sag mal, hast du eigentlich heute was gegessen?«

Donny lachte. »Nein, noch nicht.«

»Wie wäre es, wenn wir Pizza oder so bestellen? Ich lade dich ein.«

Natürlich nahm er das Angebot an.

Den Großteil der Nacht verbrachte Donny schlaflos auf seinem neuen Bett liegend. Er war müde, aber konnte einfach nicht einschlafen. Während er auf sein iPhone starrte und wahllos im Browser herumstöberte, dachte er daran, wie sich sein Leben in nur wenigen Tagen komplett verändert hatte. Der Zug hatte ihn aus seiner vertrauten Umgebung entführt und ihn in eine – zugegeben, recht idyllische – Welt geworfen, die er nicht kannte, zu einem Vater, von dem er nichts wusste. Es fühlte sich an, als würde er in einem Film mitspielen, den er nie gesehen hatte.

Dieter war ihm ein Rätsel. Ein Mann, der versucht, sich als Vater zu präsentieren, der aber genauso verloren schien wie er selbst. Donny hatte die ganze Zeit die Unsicherheit in Dieters Stimme und Gesten, als ob er nicht wüsste, wie man mit diesem unerwarteten Zusammentreffen umgehen sollte, bemerkt. Warum hatte seine Mutter nie über ihn gesprochen? Und warum hatte Dieter sich nie die Mühe gemacht, ihn zu kontaktieren? Und – insbesondere das fragte er sich ebenfalls – warum hatte Dieter überhaupt eingewilligt, einen quasi fremden Jungen aufzunehmen?

Es gab Momente, in denen Donny das Gefühl hatte, dass Dieter ihn tatsächlich willkommen heißen wollte, aber dann folgten wieder die peinliche Stille und die unbeholfenen Gesten. Es war eine beunruhigende Mischung aus Verwirrung und einem Hauch von Hoffnung, dass diese neue Beziehung vielleicht funktionieren könnte, wenn beide nur die richtigen Worte finden würden.

Die Vermisstenanzeige beunruhigte ihn auch irgendwie. Die Geschichte dieser Maria V. wirkte wie ein düsterer Schatten an diesem Ort. Eine beklemmende Atmosphäre lag mit einem Mal über dem Kaff, das bis eben eigentlich noch ganz friedlich gewirkt hatte, und die Tatsache, dass die Polizei keine Hinweise hatte, verstärkte das Gefühl der Unruhe. War er sicher in diesem neuen Zuhause? Seine Gedanken wanderten zu der Warnung von Dieter, abends vorsichtig zu sein.

Die Stille in seinem Zimmer ließ Donny Zeit zum Nachdenken. Sein Herz pochte schneller, als er an die bevorstehende Schule, neue Freunde und das Leben in Blumdamm dachte. Es war ein Gefühl der Einsamkeit, obwohl er in einem Haus mit einem Mann war, der sein Vater sein sollte. Ein Haus, das sich nicht wirklich wie ein Zuhause anfühlte, sondern eher wie ein vorübergehender Aufenthaltsort.

Donny legte das Telefon beiseite und starrte die Decke an. Eine Flut von Fragen überkam seinen Verstand. Wie würde er sich in dieser neuen Umgebung zurechtfinden? Würde er Freunde finden? Konnte Dieter wirklich so etwas wie ein Vater für ihn werden?

Und dann, plötzlich, brach es wieder über ihn herein. Der altbekannte Frust. Er musste an seine Mutter denken. Sie hatte Schuld an allem. Sie war schuld daran, dass er nicht mehr zu Hause wohnte. Schuld daran, dass er sich von seinen alten Freunden hatte verabschieden müssen. Schuld daran, dass er jetzt hier war. Und letztendlich würde sie schuld daran sein, sollte auch er jetzt spurlos verschwinden wie diese Maria V. aus der Zeitung. Seine Mutter hatte ihn im Stich gelassen. So sah es schlicht aus.

Es war komisch. Denn bislang hatte sich all dieser Frust immer nur in seinem Kopf ausgetobt. Er hatte ihn noch nie herausgelassen. Oder besser: Er hatte sich beherrschen können. Aber diesmal war es nicht mehr aufzuhalten. Seine Lippen fingen an zu beben und er kniff krampfhaft die Augen zusammen. Schnell drehte er sich auf den Bauch und vergrub sein Gesicht. Eine gefühlte Ewigkeit schluchzte er in sein Kissen. Er wollte nicht, dass Dieter ihn dabei hörte. Es wäre ihm zu unangenehm gewesen.

Irgendwann schlief er, ohne es zu merken, ein.

Kapitel 2

Das Wohnzimmer erbebte unter der Spannung, die zwischen Donny und seiner Mutter lag. Sie saß steif auf dem Sofa, ihr Blick peitschte durch den Raum und traf Donny wie ein eisiger Sturm. »Das ist lächerlich! Du bist noch nicht bereit, solche Entscheidungen zu treffen. Du musst auf mich hören!«

Er spürte die Wut in sich hochkriechen, die jahrelang unterdrückt war. »Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will!«, sagte er, seine Stimme bebte. »Du kontrollierst mich viel zu sehr! Ist dir das überhaupt klar? So kann’s doch nicht weitergehen!«

Die Mutter sprang auf, und die Worte schossen wie Kanonenkugeln aus ihrem Mund. »Du undankbarer Bengel! Ich gebe dir ein Zuhause, sorge für dich und das ist der Dank? Du denkst nur an dich selbst!«

Die Atmosphäre explodierte, als Donny erwiderte: »Du mischst dich in alles ein! Du lässt mir keinen Freiraum! Ich will mein Leben leben, nicht das, was du für mich ausgesucht hast!«

»Dein Leben? Du hast keine Ahnung, wie die Welt da draußen ist! Du wirst scheitern, weil du zu naiv bist!«

»Du siehst mich nicht einmal richtig an! Du denkst, du weißt alles besser, aber du verstehst mich ja gar nicht!«

Die Worte hallten wie der Donner durch den Raum, und die Hitze stieg unaufhaltsam an. Donny spürte, wie sein Herz gegen die Enge in seiner Brust kämpfte, sein Atem wurde flacher. »Naiv? Du bist die Naive hier! Du lebst in deiner eigenen Welt, komplett unfähig, die Realität zu sehen!«

Seine Mutter schnaubte. »Die Realität, ja? Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, Verantwortung zu tragen! Du wirst bald erkennen, wie hart das Leben sein kann, wenn du deine Träumereien endlich aufgibst!«

»Träumereien? Das sind meine Ziele, meine Leidenschaften! Du kannst das nicht einfach wegwischen, nur weil es nicht in dein Weltbild passt!«

»Erzähl mir doch nichts! Dein Weltbild wird bald zusammenbrechen, und du wirst zu mir zurückkommen, bettelnd um Hilfe! Dann wirst du sehen, dass ich Recht hatte!«

»Recht? Ich hab das Gefühl, du weißt gar nichts über mich, über das, was ich fühle oder was ich erreichen kann!« Er wischte sich mit seinem Handrücken den Schweiß von der Stirn, dann schrie er: »Weil du mir nie zuhörst!«

Seine Mutter schnappte nach Luft, ihre Augen blitzten vor Zorn. »Du glaubst, du seist so schlau, aber du bist einfach nur ein verzogener, undankbarer Junge! Ich hätte es besser wissen sollen, als dir so viele Freiheiten zu geben! Du weißt ja gar nicht, was für ein Glück du noch hast!«

Donny merkte förmlich, wie sein Kopf dunkelrot wurde. »Freiheiten? Du nennst Kontrolle Freiheit? Ich ersticke hier, in diesem Käfig, den du für mich gebaut hast!«

Das Wohnzimmer bebte unter der Wucht ihrer Worte, die Spannung zwischen ihnen hatte sich zu einem Sturm der Emotionen entwickelt. Die Mutter rang nach Fassung, ihre Stimme brach fast. »Ich gebe alles für dich! Alles, und das ist der Dank dafür?«

»Dann hör doch einfach auf, alles für mich zu tun! Lass mich mein eigenes Leben führen! Ich hab echt keinen Bock mehr auf die Gängelei in diesem Gefängnis hier, verdammte Scheiße!«

BAMM!

Und damit war es geschehen. Donny rieb sich schmerzverzerrt die Wange. Die Ohrfeige hatte richtig gesessen.

Sie sah ihn nur an, die Fäuste zusammengeballt. Er erkannte keinerlei Reue in ihrem Blick. »Wenn du denkst, du kannst hier so mit mir reden, dann verschwinde!« Donny konnte sich nicht erinnern, sie jemals so laut schreien gehört zu haben. »Verschwinde aus meinem Haus, du wohnst hier von jetzt an nicht mehr, du egoistisches Arschloch!«

Donny zögerte einen Moment. Dann nickte er, ohne Ausdruck in seinem Gesicht. »Gut, schön. Wenn das dein Wille ist, soll es so sein.«

Sie verließ das Wohnzimmer, um nach oben zu gehen, drehte sich aber noch einmal um und drohte ihm mit dem Finger. »Ich gebe dir fünfzehn Minuten! Pack deine Sachen! Wenn du in fünfzehn Minuten nicht von meinem Grundstück verschwunden bist, gibt es Ärger und zwar richtig!« Dann war sie weg.

Donny stürmte in sein Zimmer, seine Hände zitterten, als er seine Sachen in den Koffer warf. Kleidungsstücke flogen durch die Luft und landeten unordentlich im Inneren des Gepäcks. Er schaute sich um, seine Augen suchten panisch nach irgendetwas Wichtigem, das er nicht vergessen durfte. Fotos, Bücher, Erinnerungen - alles wurde schnell in den Koffer gestopft.

Der Tumult in seinem Kopf war wie ein wilder Sturm, der seine Gedanken wirbelte und jede Sekunde kostbar machte. Panik ergriff ihn, als er feststellte, dass er seinen Ausweis nicht finden konnte. Wo war er? Er durchsuchte seine Schubladen, kippte Gegenstände um, bis er ihn schließlich unter einem Stapel Notizbücher entdeckte.

Er hörte seine Mutter die Treppe herunterkommen, ihre Schritte wurden lauter und bedrohlicher. Donny spürte den Atem der Zeit auf seinem Nacken und verspürte einen eisigen Schauer. Er riss den Reißverschluss des Koffers zu und schleuderte ihn auf den Boden. Seine Finger flogen über das Schloss, seine Hände zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, den Koffer zu verschließen. Endlich gelang es ihm. Er packte den Griff und rannte den Flur hinunter, sein Gepäck hinter sich herziehend.

Die Worte seiner Mutter hallten noch in seinem Kopf wider, als er die Tür erreichte. Der Anblick des Nachthimmels draußen, des endlosen Freiraums, war verlockend und zugleich bedrohlich. Er öffnete die Tür und trat ins Freie. Der kalte Wind schlug ihm ins Gesicht, als er die Einfahrt entlang rannte. Die Zeit verstrich im Eiltempo, und er spürte, wie sein Adrenalin ihn antrieb. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, aus Angst vor der Gestalt, die im Türrahmen lauerte, bereit, das Ende seiner Frist zu verkünden.

Aber er erreichte die Straße. Er schien es geschafft zu haben.

Allein lief er den Bürgersteig entlang, der nur von den Straßenlaternen beleuchtet wurde. Die Häuser seiner Nachbarn zogen an ihm vorbei, möglicherweise zum letzten Mal. Die Nacht war heute besonders nebelig, nicht einmal den Mond konnte er am Himmel entdecken.

Er lief und lief und lief. Der Weg nach geradeaus schien kein Ende zu nehmen. War er immer schon derart lang gewesen? Das konnte doch gar nicht sein ... Dann fiel ihm auf, dass sich die Szenerie ständig wiederholte, dieselben Häuser, dieselben Gärten, alles. Was, verdammt nochmal, geschah hier?

Donny beschloss, sich einmal umzudrehen. Ihm rutschte das Herz in die Hose. Er stand wieder vor dem Haus seiner Mutter. Was ist hier los? Wie ist das möglich? Ich bin doch mindestens einen Kilometer gerannt! Er bekam es mit der Angst zu tun.

Verzweifelt wandte er sich wieder von dem Haus ab und wusste nicht, was er tun sollte.

»WARUM BIST DU IMMER NOCH HIER!?«

Donny fuhr vor Schreck zusammen, bei dem lauten und unmenschlich klingenden Gebrüll hinter ihm. Langsam drehte er sich um und sah die Kreatur direkt vor sich. Es war seine Mutter, aber sie war es auch nicht. Ihre Augen waren jetzt komplett schwarz, sie röchelte wie ein wildes Tier und statt Fingern schien sie messerscharfe Klauen zu haben. »ICH HABE GESAGT, DU SOLLST VERSCHWINDEN, DU DRECKIGES SCHWEIN!«, schrie die Kreatur ihn mit ihrer dämonischen Stimme an, die klang, als käme sie nicht von dieser Welt. »NICHT MAL JETZT TUST DU, WAS ICH SAGE, DABEI IST ES DOCH GENAU DAS, WAS DU WOLLTEST? ICH WERDE ES DIR ZEIGEN! ICH BRING DICH UM, DU UNGEZOGENES BALG!«

Er hatte überhaupt keine Zeit, um irgendwie zu reagieren, da hatte das Ding ihn schon mit der einen Hand gepackt. Mit der anderen begann es sein Werk. Mehrmals rammte es ihm die scharfen Klauen in den Bauch. Er schrie vor Schmerz, seine Augen tränten und fühlten sich an, als würden sie gleich explodieren. Das Blut spritzte in alle Richtungen.

Sie ließ ihn los und er sackte auf dem Boden zusammen. Sie lachte hämisch, während er starb. So also fühlte sich der Tod an ...

Da überkam ihn ein letzter Funke Vernunft. Beiläufig dachte er sich: Moment, das stimmt nicht. So war das doch alles gar nicht geschehen, nachdem ich das Haus an jenem Tag verlassen hatte.

Dann wachte Donny schweißgebadet in seinem Bett auf. Sein Herz raste, und der düstere Nachhall der schrecklichen Bilder verfolgte ihn in die Realität. Der Raum um ihn herum war still. Langsam begriff er, dass er sich nicht im Haus seiner Mutter befand. Er setzte sich auf und atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Sein Blick schweifte durch das Zimmer, während die Realität allmählich wieder zu ihm zurückkehrte. Der warme Schein des Mondes drang durch das Fenster herein und beruhigte seine aufgewühlten Gedanken. Donny hielt sich die Hand an den Bauch, denn irgendwie spürte er immer noch etwas von dem Schmerz, den diese schrecklichen Klauen verursacht hatten. Aber das konnte doch nicht sein.

Er richtete sich auf, sein Herzschlag wurde ruhiger. Donny ging zum Fenster und starrte hinaus in die Stille. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich erinnerte, wie er vorhin gerannt war, um von diesem Haus wegzukommen. Seufzend nahm er sein Handy vom Nachttisch. Es war drei Uhr morgens. Schlafen würde er jetzt erst einmal nicht mehr können. Scheiße. Es graute ihm bei dem Gedanken, wie übermüdet er später sein müsste. Und ausgerechnet morgen war schon sein erster Tag in der Schule.

Die nächsten Stunden verbrachte er damit, hellwach auf dem Bett zu liegen und nichts zu tun.

Gegen vier Uhr vernahm er ein Geräusch.

Tock tock tock.

Ein leises Klopfen etwa? Aber wo? Auch egal. Vielleicht war es sowieso nur seine Einbildung gewesen.

Tock tock tock.

Nein, es kam erneut. Er stand auf und sah sich um.

Tock tock tock.

Es kam vom Fenster. Es war eindeutig ein Klopfen. Wie von Fingernägeln. Aber nein, das konnte nicht sein. Sein Zimmer war im ersten Stock und zur Hinterseite es Hauses gerichtet. Die Veranda war vorne. Hier hätte niemand klopfen können, es sei denn, er wäre geklettert. Doch warum sollte sich jemand für einen dummen Streich solch eine Mühe machen? Bestimmt war es der Zweig eines Baumes. Dann jedoch fiel ihm ein, dass hinter dem Haus gar keine Bäume wuchsen.

Er begab sich zum Fenster und sah hinaus. Nichts – oder niemand – war dort. Natürlich. Auch das Klopfen kam nicht wieder. Für den Rest des Morgens nicht.

»Äh-ähm ...«, stotterte Dieter, als sie vormittags aus der Einfahrt fuhren. »Sag mal, kannst du eigentlich gut selbst kochen?«

»Geht so«, sagte Donny. »Warum?« Mit der Frage hatte er nun nicht gerechnet.

»Na ja, wie schon gesagt. Ich bin oft nicht zu Hause. Wenn dir das Kochen schwerfällt oder du wenig Lust dazu hast, sollten wir vielleicht auch beim Supermarkt halten, damit du dir ein paar Fertiggerichte holen kannst. Heute habe ich mir nochmal freigenommen, aber ab morgen muss ich wieder arbeiten.«

»Dann lass uns das machen. Warum wollten wir überhaupt ursprünglich losfahren?«

Dieter grinste ihn an und zwinkerte, als wollte er cool auf den Jugendlichen wirken. »Sieh mal, morgen geht doch die Schule los. Wir fahren zum Fahrradladen, damit du dir ein Rad aussuchen kannst. Ich bezahle es dir. Auf die Busse hier kann man sich nämlich eher weniger verlassen.«

»Wirklich?« Donny war baff. Das hatte er nicht erwartet. »Das ist toll! Danke ...« Er war nicht sicher, wie er ihn nennen sollte, also sagte er zunächst: »... Dieter.«

»Dafür doch nicht. Ich finde, das schulde ich dir. Mindestens das, schließlich ... Ja ...« Er brach ab. Da war etwas, das er nicht sagen konnte, weil ihm wohl der Mut fehlte. »Ach, was soll’s, machen wir ein wenig die Straßen unsicher!« Sie fuhren den Weg durch die Siedlung, den sie gestern gekommen waren, zurück.

Donny fing an zu lachen. »Irgendwie komisch, wenn das ein Polizist sagt.«

»Wieso? Denkst du, wir haben keinen Humor?« Dann lachten sie beide zusammen. Donny spürte dabei erstmals so etwas wie den Ansatz einer echten Verbindung zwischen ihnen. Möglicherweise würde dieser Tag mit seinem Vater ihrer künftigen Beziehung guttun.

Dieter lehnte sich zurück und richtete seinen Blick auf die Straße, während er zu erzählen begann. Seine Stimme hatte diesen speziellen Tonfall, der eine Geschichte ankündigte: »Weißt du, Donny, ich erinnere mich an einen Vorfall vor ein paar Jahren. Es war an einem Freitagabend. Ich patrouillierte auf der Hauptstraße. Plötzlich erhielten wir einen Anruf wegen eines skurrilen Vorfalls im Park.

Ich erreichte den Ort und sah eine Gruppe älterer Damen, die wild gestikulierten und aufgeregt miteinander diskutierten. Als ich näherkam, erzählten sie mir, dass jemand die Bürgermeisterstatue – Oskar Grauberg, sicher erinnerst du dich – gestohlen hätte. Die Statue war ein recht großes, unübersehbares Denkmal im Park, weißt du? Nun, ich war erstmal fassungslos. Wie konnte jemand eine so große Figur einfach klauen?

Ich rief Verstärkung und wir suchten den Park ab. Wir kamen zu einer Stelle, die von einer großen Plane verdeckt war. Als wir sie entfernten, war dort die Statue – komplett in Plastikfolie eingewickelt! Da lag sie auf einer Parkbank, als wäre nichts passiert. Ich konnte mir nicht helfen, ich musste laut loslachen. Es war einer dieser Momente, in denen die Realität einfach verrückter ist als jede Fantasie.

Am Ende stellte sich heraus, dass eine Kunstgruppe die Statue als Teil eines Projektes entführt hatte. Sie wollten auf die Bedeutung von Kunst und Denkmälern in der Gesellschaft aufmerksam machen. Ich kann dir sagen, so einen Diebstahl habe ich seitdem nicht mehr erlebt!«

Dieter schmunzelte. »Es gibt Tage in diesem Job, da ist man einfach sprachlos. Aber solche kuriosen Vorfälle machen es auch interessant, verstehst du?«

Donny hatte ebenfalls gelacht. »Das kann ich mir denken«, sagte er. »Wie seid ihr mit den Künstlern umgegangen?«

»Nun, wir haben sie natürlich zur Rede gestellt, aber es war offensichtlich, dass sie keine bösen Absichten hatten. Nachdem sie uns erklärt hatten, was sie damit bezwecken wollten, haben wir die Statue zurückgebracht. Oskar Grauberg stand wieder an seinem Platz. Die Künstler erhielten eine Verwarnung, aber im Großen und Ganzen war es eher eine ungewöhnliche, aber harmlose Aktion.«

Donny nickte, amüsiert über diese Geschichte. »Das klingt nach einem wirklich außergewöhnlichen Tag. Ich kann mir vorstellen, dass solche Dinge den Alltag in eurem Beruf spannender machen.«

»Absolut«, stimmte Dieter ihm zu. »Guck mal, da vorne ist Tobis Schuppen.« Er zeigte auf ein kleines Blechgebäude auf der linken Straßenseite.

»Tobis Schuppen? Was ist das denn?«

»Der Fahrradladen. Sein Besitzer heißt Tobias Feld, oder kurz: Tobi. Daher der Name.«

»Ach so. Na dann sind wir wohl angekommen.«

Dieter parkte den VW neben dem Laden. Sie stiegen aus und betraten ihn. Sofort waren sie von verschiedensten Fahrradmodellen umgeben.

»Jo, Dieter«, grüßte Tobi, ein Mann von vermutlich unter dreißig, der Lederjacke und Sonnenbrille trug und mit einem Bleistift hinterm Ohr an der Kasse saß. »Wen hast du denn da mitgebracht?« Für Donny, der zuletzt in Hamburg gewohnt hatte, war diese ganze Szene leicht befremdlich. Aber wahrscheinlich war es in einem Kaff normal, dass man sich kannte – und häufig auch duzte.

»Das ist Donny«, sagte Dieter.

»Und Donny ist ...?«

»Äh ...« Wieder kam diese Unsicherheit zurück und er zögerte. Aber er beherrschte sich nach ein paar Sekunden und sagte wahrheitsgemäß: »Donny ist mein Sohn.«

Wegen der Sonnenbrille war es nicht zu sehen, aber wahrscheinlich wurden Tobis Augen gerade größer. »Du hast ’nen Sohn? Also, das ist mir neu.«

»Es stimmt aber«, sagte er und starrte den Boden an.

»Hey, hey, alles gut, ich glaub dir ja.« Tobi kam von der Kasse weg und klopfte Dieter auf die Schulter. »Geht mich ja im Prinzip auch wenig an, ha!«

Dann ging er rüber zu Donny und reichte ihm die Hand. »Nett, dich kennenzulernen, Kumpel.«

Donny nahm seine Hand. »Ebenso.«

»Willst wohl ein Rad haben, was?«

»So sieht’s aus«, bestätigte Dieter. »Deswegen hab ich ihn hergebracht.«

Donny nickte.

»Na, das sollte kein Problem sein«, sagte Tobi, wandte sich zu all den Fahrrädern um und breitete die Arme aus wie jemand, der lange auf eine andere Person gewartet hatte und sie jetzt wiedersah. »Dann sieh dich gerne um und guck, was dir gefällt. Bei Fragen bin ich natürlich da.«

Der kleine Laden strahlte eine gewisse Gemütlichkeit aus, als Donny sich ihn nun genauer ansah. Die Wände waren geschmückt mit Fotos von Kunden, die grinsend auf ihren neuen Rädern posierten. Eine Mischung aus hellem Neonlicht und natürlichem Sonnenlicht, das durch die kleinen Fenster hereinfiel, beleuchtete den Raum und ließ die zahlreichen Fahrräder der verschiedensten Modelle in tollen warmen Glanz erstrahlen. Im Hintergrund spielte Rockmusik, Elvis Presley offensichtlich.

Donny und Dieter durchkämmten den Laden, der von einem Geruch nach Gummi und Öl erfüllt war. Sie betrachteten die verschiedenen Fahrräder, von leichten Rennrädern bis hin zu robusten Mountainbikes. Die freundliche Atmosphäre und die entspannte Stimmung ließen Donny etwas von seiner Anspannung, die er seit Tagen verspürte und die sich vergangene Nacht besonders verstärkt hatte, vergessen.

In der Ecke des Ladens stand ein Fahrrad, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein schwarzes Cannondale mit schlanker Rahmenform und klaren Linien hob sich von den anderen ab. Die Räder waren sorgfältig ausbalanciert, und die matte Oberfläche verlieh ihm einen Hauch von Eleganz.

Donny trat näher, um es genauer zu betrachten. Die Schaltung und die Scheibenbremsen zeugten von Qualität und Leistung. Er spürte, wie er sich von diesem speziellen Modell angezogen fühlte, als ob es ihn bereits auf die Straße begleitete.

»Das gefällt dir, oder?« Dieter lächelte, als er Donny beobachtete, wie er das Cannondale inspizierte.

Donny nickte zufrieden. »Oh ja. Das ist cool.«

»Dann lass uns Tobi Bescheid geben, dass wir das mitnehmen.«

Donny stimmte zu und wandte sich mit einem begeisterten Lächeln zum Verkaufstresen, um Tobi das Interesse an dem schwarzen Cannondale mitzuteilen.

»Okay«, sagte Tobi und nahm den Bleistift von seinem Ohr. Dann nannte er den Preis.

Jetzt war Donny doch unsicher. War das nicht zu teuer? »Oh, also dann ...«, fing er an.

»Gut, hier«, sagte Dieter sofort und reichte Tobi die Geldscheine.

Als Dieter ohne Zögern die Geldscheine auf den Tresen legte, hielt Donny einen Moment inne, seinen Blick auf das Geld und dann auf seinen Vater gerichtet. Er konnte die Dankbarkeit und die Überraschung kaum verbergen. »Wirklich?«, entwich es ihm leiser als beabsichtigt. Er fragte sich, was diese Geste bedeutete, was sie über Dieter aussagte – einen Mann, der sich so bereitwillig öffnete, trotz der offensichtlichen Mauern, die er um sich errichtet hatte.

Dieter erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, das etwas Zögerliches, aber auch Entschlossenes hatte. »Natürlich«, antwortete er, die Tiefe seiner Stimme trug eine Wärme, die Donny nicht erwartet hatte. »Es ist wichtig für mich, dass du weißt ... dass du hier, in diesem neuen Kapitel deines Lebens, nicht alleine bist.« Seine Worte schienen vorsichtig gewählt, als ob er sich auf unsicherem Terrain bewegte, und doch war da eine Echtheit, die Donny berührte.

Tobi, der all dies mit einem freundlichen Grinsen beobachtete, übergab das Fahrrad an Donny, der es nun mit anderen Augen betrachtete. Es war nicht nur ein Geschenk, sondern ein Symbol für die Verbindung zwischen ihm und Dieter – eine Verbindung, die trotz ihrer Frische und Fragilität etwas Tröstendes, vielleicht sogar Verlässliches zu haben schien.

»V-Vielen Dank ...«, stotterte Donny, als er das Fahrrad entgegennahm. Diese Worte reichten eigentlich nicht aus, um die Flut der Gefühle auszudrücken, die in seinem Kopf herumtanzten – Dankbarkeit, Verwirrung, Hoffnung.

Sie verließen den Laden.

»Äh«, fing Donny langsam an. »Ich glaube, ich hätte mir ein günstigeres Modell suchen müssen, was?«

Dieter machte eine wegwerfende Geste mit seiner Hand. »Ach, Quatsch. Alles super.«

»Bist ... Bist du sicher?«

»Sicher bin ich sicher.«

»Das ist ...« Er suchte nach den richtigen Worten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Vielen Dank nochmal. Im Ernst.« Heute war er total überwältigt von Dieter. Sowas hätte seine Mutter nie im Leben getan. Nie.

»Klar doch.« Dieter blickte auf die Straße vor ihnen. »Willst du vielleicht direkt eine kleine Runde fahren? Ich warte hier auf dich.«

Donny war begeistert. »Oh, darf ich? Gerne!«

Mit geschickten Handgriffen justierte er den Sattel, testete die Höhe und den Lenker. Dann überprüfte er noch einmal die Bremsen und die Gangschaltung und schob das Gefährt auf den Fahrradweg. Schließlich schwang er sich auf den Sattel. Mit einem leichten Druck auf die Pedale setzte er sich in Bewegung und fuhr die Straße entlang. Das Cannondale fühlte sich großartig an. Die Reaktion der Bremsen war präzise, die Gänge schalteten sich sanft und schnell. Donny genoss den Fahrtwind, der sein Gesicht kühlte, und das Gefühl der Freiheit, das ihn umgab. Ja, Freiheit. So etwas spürte er gerade vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben so richtig.

Er bog in eine der Nebenstraßen ein und fuhr ein paar Straßen weiter. Donny fühlte sich lebendig. Die Straßen waren ruhig, was ihm die Möglichkeit gab, das Cannondale ausgiebig zu testen. Nach einer Weile kehrte er zum Fahrradladen zurück. Er parkte das Fahrrad vor der Tür und stieg ab. Er war zufrieden.

»Und, was sagst du?«, fragte Dieter.

Donny grinste. »Total genial! Das Rad fährt sich super. Vielen Dank nochmal, das ist wirklich toll von dir.«

»Das freut mich zu hören! Bereit, zum Supermarkt zu fahren?«

»Klar, lass uns gehen!«

Sie befestigten das Cannondale auf dem Fahrradträger des VWs, sicherten es und überprüften die Halterungen. Dann stiegen sie ein und fuhren los.

Die Parkplatzreihen vor dem Edeka waren gut gefüllt für eine Kleinstadt. Menschen schlenderten mit Einkaufswagen vorbei, manche hatten bereits volle Körbe und Tüten und verließen den Markt. Die bunten Werbeplakate des Supermarkts waren einladend und zeigten Angebote, die Passanten anzogen. Einige Leute saßen auf den Bänken am Rande des Parkplatzes, unterhielten sich und nahmen die warme Tagesluft auf.

Dieter steuerte den VW geschickt durch die Reihen, auf der Suche nach einer freien Parklücke in der Nähe des Eingangs. Schließlich fand er eine, schaltete in den Rückwärtsgang und platzierte vorsichtig den Wagen. »Mann, ich hasse Parken«, sagte er beiläufig.

Als sie standen, drückte er Donny fünfzig Euro in die Hand. »Ich selber brauche nichts. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«

»Oh, tatsächlich? Danke ...« Donny stieg aus, nahm sich einen Einkaufswagen und schob ihn über den Parkplatz bis zum Eingang. Die Glastüren gingen auseinander.

Im Laden war es durchaus voll. Überall schienen sie in Scharen um die Ware zu stehen. Einen Supermarkt dieser Größe hatte Donny hier freilich nicht erwartet. Ein wenig dachte er sogar, dass dies einer der größten Edekas war, die er bisher betreten hatte.

Er ging vorbei am Obst, an den Aktionsständen, an der Kühlabteilung. Moment, wonach suchte er doch gleich? Stimmt, Dieter meinte, ich sollte mir vielleicht Fertiggerichte kaufen. Mit dem Einkaufswagen vor sich ging er voraus und hielt Ausschau nach dem richtigen Regal. Neben sich hörte er ab und an Gespräche nebensächliche Hallorufe. Ja, er war immer noch in einer Kleinstadt. Hier kannten sich die Leute und begrüßten gefühlt jeden.

Er hatte das Regal gefunden. Fast schon gierig krallte er sich nacheinander den Vorrat, den der Laden an Instant- nudeln hatte, und stellte die Becher in den Wagen. Er zählte dabei nicht. Sein Geld reichte auf jeden Fall.

Mit einem vollen Einkaufswagen begab er sich zur Kasse. Leider war nur eine einzige Kasse geöffnet und so dauerte das Warten ziemlich lange. Als er endlich drankam, lud er die Nudeln auf das Kassenband. Die Kassiererin scannte sie alle der Reihe nach und blickte ihn amüsiert an. Sie nannte ihm einen Preis, an den er sich nachher nicht mehr genau erinnerte, aber das Geld reichte ja, daher war es egal. Mit dem Rückgeld in der Tasche und den Nudeln im Wagen verließ er den Laden.

Dieter stieg aus dem VW und winkte ihm zu. »Haha, da hast du aber zugegriffen, was? Geil.«

Gemeinsam luden sie die Instantnudeln in den Kofferraum. Donny brachte den Einkaufswagen zurück.

Als sie gerade im Begriff waren, einzusteigen, klingelte Dieters Handy. »Ja, Michi?«, sagte er, nachdem er abgehoben hatte. »Hast du vielleicht vergessen, dass ich heute freihabe?« Aha. Dieser Typ, den er Michi nannte, schien sein Kollege zu sein. »Weißt du nicht mehr, ich hatte doch gesagt, dass ...« Er brach seinen Satz abrupt ab und hörte kurz zu. »Warte, was?« Sein Blick verfinsterte sich schlagartig. Er ließ den seinen Gesprächspartner reden, hin und wieder nickte er, obwohl der am anderen Ende der Leitung das natürlich nicht sehen konnte. Er machte einen schockierten Eindruck, wirkte geradezu entsetzt. »Ach du Scheiße ... Und du bist sicher ...?« Er hörte weiter zu. »Ja, dann habe ich wohl keine andere Wahl. Verdammt. Natürlich, ich komme gleich.«

Er legte auf und sah Donny mit bedauerlichem Ausdruck an. »Tut mir echt total leid, aber ich muss los. Es ist was dazwischengekommen. Ist wirklich wichtig. Scheiße, Mann, Entschuldigung!« Er flehte ihn offensichtlich um Vergebung an.

»Ist schon okay«, sagte Donny. Das war es auch. Er hatte an Dieters Gesichtsausdruck erkannt, dass hier tatsächlich ein Notfall vorlag. Er hatte keinerlei Gründe, ihm nicht zu glauben. »Wirklich, ist nicht schlimm.«

Er atmete auf, aber sein Blick zeugte weiterhin von Entsetzen. Was nur war ihm gerade am Telefon erzählt worden? »Danke dir. Ich hab jetzt leider keine Zeit, um alles zu erklären. Hier, nimm den mit.« Er nahm einen Rucksack aus dem Kofferraum und gab ihn ihm. »Stopf da ein paar von den Nudeln rein, kann ja sein, dass du nachher noch welche brauchst. Ich weiß nämlich noch nicht, wann ich zurückkommen und den Rest mitbringen kann. Du schaffst den Weg zurück doch mit dem Fahrrad? Hast du ihn dir gemerkt ...?« Wieder war da dieses Flehen in seiner Stimme.

»Klar, krieg ich hin.«

»Perfekt.«

Rasch entfernten sie das Rad vom VW. Dieter stieg schnell wieder in den Wagen. »Wir sehen uns später«, sagte er abwesend. Im Kopf war er schon ganz woanders. Was war geschehen? Das hätte Donny zu gerne gewusst.

Er winkte dem Auto hinterher, als es immer kleiner und kleiner wurde.

Kurze Zeit später saß Donny auf dem schwarzen Cannon-dale und bewegte sich durch die Straßen von Blumdamm. Der Fahrtwind strich ihm um die Wangen und spielte mit seinen Haaren. Die Geräusche der vorbeifahrenden Autos mischten sich mit seinen Gedanken.

Was für ein Tag. Es schien so normal und plötzlich änderte sich alles. Das Gefühl von Verwirrung, gemischt mit Dankbarkeit für Dieter, war schwer zu beschreiben. Er fragte sich, ob es nicht zu viel war, dass er ihm das Fahrrad einfach so geschenkt hatte. Warum tat er das? Was wollte er damit erreichen? Dieser Mann war irgendwie anders als alles, was er bisher kannte. Der Kerl war rätselhaft, und diese Unsicherheit, diese Angst vor seinem Sohn, die um ihn herum schwebte, war wie ein Puzzle, das Donny einfach nicht lösen konnte. Aber gleichzeitig fühlte er sich wohl in seiner Nähe. Er wirkte auf ihn irgendwie wie ein alter Freund, obwohl sie sich erst seit einem Tag kannten. Himmel, der Mann war eigentlich sein Vater! Es kam ihm verwirrend vor. Hier war jemand, der so ganz anders war als seine Mutter. Dieter war rücksichtsvoll und besorgt, aber er hatte auch seine unklaren Momente, die er vor Donny zu verbergen schien. Jedenfalls versuchte er es.

Der Anruf von vorhin ließ ihn nachdenklich werden. Was konnte nur so plötzlich Dieters Stimmung verändern? Was war passiert? Es war, als hätte jemand den Schalter umgelegt und ihn in einen anderen Menschen verwandelt. Aber die Verbindung zwischen ihnen – sie war da, und Donny konnte sie spüren. Trotz der Geheimnisse und der Unklarheit fühlte er sich bei ihm auf irgendeine Weise richtig am Platze.