Follow me to the River - Emily Schwing - E-Book
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Follow me to the River E-Book

Emily Schwing

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Beschreibung

"Ich hatte meine Stiefmutter belogen, ich hatte die Cops belogen, und ich war im Begriff, meine beste Freundin zu belügen. Vielleicht hatte ich eine Strafe verdient." Ein kleiner Ort in Illinois, ein Selbstmord bei Eis und Schnee, ein Geheimnis, das niemand lüften will... Rae hat keine Erinnerung an die frühen Jahre ihrer Kindheit, aber sie weiß, dass ihre Pflegeeltern wichtige Dinge verschweigen. Erst durch Harpers Freundschaft blüht sie auf, besucht eine Party und lässt sich die Tarotkarten legen, doch etwas braut sich über ihr zusammen. Kann Caleb, der Bruder eines verurteilten Mörders, gefährlich für sie werden? Auch am Fluss ereignen sich bedrohliche Dinge, die aber niemand zu beachten scheint. In ihren rätselhaften Träumen sucht Rae nach einem mysteriösen Turm ohne Tür, an den sie sich zu erinnern glaubt, als etwas Unbegreifliches geschieht. Der spannende Auftakt der Young-Adult-Dilogie Für Fans von "Tote Mädchen lügen nicht" und "Der Gesang der Flusskrebse"

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Emily Schwing lebt mit ihrer Familie in Hamburg, wo sie ihr Studium mit einem Master in französischer, italienischer und deutscher Literatur abschloss. Sie schreibt seit ihrer frühesten Kindheit Geschichten und liebt es, die Handlungsstränge zu verflechten und überraschende Plot-Twists einzubauen. Zahlreiche Reisen in die USA sowie die High School Zeit ihres Sohnes in Illinois inspirierten sie zu den Follow me to the River-Bänden. Die wunderbare Natur, die Weite und Wildheit der Landschaften schufen den Rahmen zu Raes Erlebnissen, die sich im zweiten Teil der Dilogie Follow me to the River – Der Turm fortsetzen werden.

Weiteres zur Autorin:

www.emilyschwing.de

Für Tony

Die Strömung

reißt mich

unaufhaltsam

fort.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Daily Herald, 4. Februar 2013

Teil 1: Am Anfang war die Lüge

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil 2: Ein Sommernachtstraum

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 3: Unten am Fluss

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Teil 4: Das Haus der Stille

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Teil 5: Pakt mit dem Teufel

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Teil 6: In Harpers Welt

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Teil 7: Aus dem Nichts

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Am Ende

Quellenverzeichnis

PROLOG

Erst das helle Klingen der Glöckchen, dann der krachende Ton der Narrenkappe, als sie zu Boden fällt, Harpers Zimmer im weißen Hauch der Kälte – alles wiederholte sich unendliche Male in meinem Kopf.

Danach ging es los. Das Chaos brach über uns herein. Laut und tosend. Wir konnten nichts dagegen tun.

Es verschlang unser Leben in einem einzigen Augenblick.

Die trügerische Ruhe vor dem Sturm machte es schwer, den Punkt zu erkennen, an dem der Stein ins Rollen kam.

Es war ein flirrend warmer Abend.

Eine sternenklare Nacht.

Mit weißem Sichelmond wie aus fernöstlichen Märchen und feuchter Luft über den Wiesen.

Wenn ich die Augen schließe, braucht es nicht viel.

Ich höre die Lieder, sehe die lachenden Gesichter der anderen, spüre seine Lippen auf meinem Mund, erinnere mich, wie wir tanzten, wie ich alles vergaß und mich ein wenig glücklich fühlte.

Mein erster Sommerball.

Der mir nur als Ausrede gedient hatte.

Das gelbe Kleid.

Die bunten Girlanden.

Fast hätte ich es verpasst, fast hätte ich mich nicht getraut, zu gehen.

Aber ich fühlte mich stark, nach einer unendlich langen Zeit, und trotz allem, was geschehen war.

Ich wollte etwas riskieren. Ich wollte einen neuen Anfang machen. Die Juniwärme in mir aufnehmen. Die Schatten abstreifen. Ein Mädchen unter vielen sein.

Ich habe es versucht.

So viel Zeit ist seitdem vergangen, aber die Bilder verblassen nicht. Sie schwirren durch meinen Kopf, als wäre es gestern gewesen. Die schönen Farben, die schwingenden Kleider und dann die Momente der Panik, die alles in meinem Herzen ersticken – jetzt sind sie für immer ein Teil von mir.

Es war nicht meine Schuld, ich konnte es nicht verhindern, versuche ich mir zu sagen, aber es klingt hohl in meinen Ohren.

Denn es gab Zeichen.

Und es gab Träume.

Die ich hätte verstehen müssen.

Wenn ich klüger gewesen wäre. Wenn ich den Mut aufgebracht hätte, mich zu erinnern, meiner Vergangenheit ins Gesicht zu sehen.

Aber das tat ich nicht. Ich schloss die Augen.

Glaubte, dass alles gut werden würde.

Und vergaß, dass es das Böse gibt.

Daily Herald, 4. Februar 2013

In Larkville, Illinois, am Ufer des Big Indian Creek, wurde gestern die Leiche eines jungen Mädchens aufgefunden. Eine Spaziergängerin, die ihren Hund am frühen Sonntagmorgen ausführte, entdeckte die auf einer Bank sitzende Tote. Das Mädchen ist offensichtlich erfroren. Wie es dazu kam, ist zur Zeit noch ungeklärt. Auffallend ist jedoch die Tatsache, dass die Verstorbene ungeachtet der winterlichen Kälte ein Sommerkleid trug und weder Tasche noch Ausweispapiere mit sich führte. Da keinerlei Anzeichen äußerer Gewalt festzustellen waren, wird zunächst von einem Suizid ausgegangen.

Das Büro des Sheriffs ermittelt.

Teil 1

Am Anfang war die Lüge

1

Es gibt Dinge, die man nicht vergessen darf.

Wichtige Dinge.

Wie deinen Namen, deine Adresse, dein Geburtsdatum.

Oder – wer deine Mutter ist.

Du solltest wissen, wie sie aussieht, wie sie riecht, wie ihre Stimme klingt.

Und ganz besonders, wo sie steckt.

Doch manchmal spielt uns das Gedächtnis einen Streich, lässt Dinge verschwinden, tief im hintersten Winkel unserer Seele.

Dinge, die für immer verloren scheinen.

Bis sie eines Tages hervorbrechen.

In den Jahren meiner Kindheit konnte ich mich nicht an meine Mutter erinnern. Es war, als hätte es sie nie gegeben, als wäre jeder Gedanke an sie erloschen. Ich wusste nichts von ihrer Existenz, ahnte nicht einmal, dass ich sie vermisste, stellte keine Fragen und erhielt keine Antworten.

Ich war mit vier Jahren zu meinen Pflegeeltern gekommen, zu Frank und Eileen Baker – zwei genügsamen Menschen, die wenig sprachen und keine Träume hatten. Sie lebten im mittleren Westen der USA, in Illinois, wo sie ein stattliches amerikanisches Holzhaus besaßen, das sie von einer entfernten Verwandten geerbt hatten. Es war ihr ganzer Stolz, wobei sie nicht sehr viel Stolz besaßen. Sie waren einfache Leute, stammten aus einfachen Familien und hatten sich nie vorzustellen gewagt, eines Tages in einem solchen Haus zu leben.

Ja, ich muss zugeben, dass es recht ansehnlich war, mit der Veranda, der Schaukel und dem schönen großen Garten, wenn es auch häufig Sorgen bereitete. Schon bald nach ihrem Einzug stellten sie fest, wie viel es zu tun gab. Die elektrischen Leitungen waren nicht fachmännisch verlegt, das Dach seit Jahrzehnten nicht ausgebessert, die Bausubstanz in manchen Bereichen marode, kurz gesagt, es fielen ständig Reparaturen an.

»Ein Fass ohne Boden«, fluchte Frank jeden Tag oder zumindest an jedem zweiten. Er war damals Leiter in einem Supermarkt und Eileen kellnerte im Diner von Larkville. Zwar brauchten sie seit ihrem Umzug keine Miete zu zahlen, aber das Haus verschlang alle Ersparnisse, sodass sie an der Grenze ihrer finanziellen Mittel lebten. Außerdem gab es noch Sean und Tyler, ihre halbwüchsigen Söhne, die weit davon entfernt waren, zu etwas nütze zu sein.

Eines Tages wurde der Supermarkt geschlossen. Vielleicht lag es an Frank, wohl eher aber an dem brandneuen Walmart, der nur fünf Kilometer entfernt eröffnet worden war.

Frank verlor seinen Job. Shit happens.

Seine Arbeitslosigkeit riss ein tiefes Loch in die Finanzen der Bakers, weshalb sie befürchteten, das Haus zu verlieren. Also entschlossen sie sich, ein Pflegekind aufzunehmen, was ihnen sechshundert Dollar im Monat einbrachte – eine Summe, die nicht zu verachten war. Sie hatten schließlich Platz genug, und ein Esser mehr würde so viel nicht kosten, sodass auf jeden Fall etwas übrigbliebe, um die Reparaturen des Hauses zu bezahlen. Obwohl sie ungebildete Leute waren und keinen herzlichen Umgang mit ihren eigenen Kindern pflegten, wurden sie für geeignet erachtet. Schließlich nahmen sie keine Drogen, wohnten in anständigen Verhältnissen und hatten keine Vorstrafen oder Schulden. Da sie an Jungen gewöhnt waren und Sean und Tyler zu jener Zeit wenig mit Mädchen anfangen konnten, entschieden sie, einen Jungen aufzunehmen. Eine einfache Rechnung, dachten Frank und Eileen.

Das erste Kind, das zu ihnen kam, war ein Junge aus Indiana, über den nur selten gesprochen wurde. Er blieb ein paar Monate, dann wurde er wieder abgeholt, zurückgebracht zu seinen asozialen Eltern, wie Tyler mir später wichtigtuerisch erzählte.

Kurz darauf kam Billy: ein armer Irrer, der aus schwierigen Verhältnissen stammte. Er hatte sich meist um sich selbst gekümmert, unregelmäßig gegessen, kaum mit anderen gesprochen, geschweige denn eine Erziehung genossen. Er kannte nichts als Vernachlässigung, war trotzig und aggressiv und hörte auf niemanden, doch das Jugendamt schien zu glauben, dass die Bodenständigkeit und Einfachheit der Bakers Billy guttun könnte. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Nach vielen Wochen lauten Geschreis und erster Handgreiflichkeiten entschied sich der kleine Billy schließlich, das einzig Wertvolle der Bakers zu zerstören: ihr Haus. Er liebte den Duft von abgebrannten Streichhölzern und hatte gerade begonnen, ein kleines Feuerchen in Franks geliebtem Fernsehsessel zu entfachen, als Eileen gerade noch rechtzeitig herunterkam. Und jetzt ging es gewaltig zur Sache. Es entspann sich ein Kampf auf Leben und Tod, wie Tyler mir stolz erklärte, während ich ihn mit großen Augen ansah und jedes Wort glaubte.

Obwohl Billy erst sechs Jahre alt war, hatte er gründlich gelernt, sich zu verteidigen. Und Eileen, die mit zwei Söhnen und drei Brüdern zurechtkommen musste, geriet ordentlich ins Schleudern. Am Ende konnte man nicht genau sagen, wer die Schlacht gewonnen hatte. Beide gingen mit Blessuren daraus hervor, und der Fernsehsessel war verloren.

Das war das Ende von Billy. Er verschwand bei den Psychos in der Irrenanstalt von Elgin – eine Geschichte, die im Haushalt der Familie Baker gern erzählt wurde. Ich bekam dabei stets eine Gänsehaut und fragte mich, was wohl aus Billy geworden war. Eines wusste ich jedenfalls: Ich wollte dort niemals landen – bei den Psychos in Elgin.

Nach dem Desaster mit Billy entschieden die Bakers, ein Mädchen zu sich zu nehmen. Die waren doch wohl fügsamer und nicht so wild, so mutmaßten sie. Also versuchten sie es mit mir.

Meine Name ist Rachel Adrian. Ich war vier Jahre alt, als ich zu den Bakers kam und glaubte eine lange Zeit, sie wären meine Familie.

Die meisten Menschen haben Erinnerungen an ihre früheste Kindheit, an Spielsachen und Kuscheltiere, an Kosenamen und Lieblingsspeisen oder den Geruch eines Haustieres. Doch bei mir war es anders. Es gab rein gar nichts. Keine Ahnung, kein Gefühl, nichts Verschwommenes. Als hätte ich vorher nicht existiert. Auch die ersten Tage in meiner Pflegefamilie sind mir vollkommen entfallen. Ich weiß nicht, wie ich dort ankam, wie sie sich vorstellten, wie ich das Haus kennenlernte. Ich schätze, ich war am Anfang verschüchtert und traurig. Vielleicht weinte ich auch. So könnte man meinen.

Tatsache ist: Ich weiß es nicht. Eines Tages wachte ich auf, und es war so, als wäre ich immer dort gewesen. Wir lebten still und gleichgültig nebeneinander her, machten uns nicht die Mühe, uns kennenzulernen, sprachen nicht miteinander. Vielleicht war ich sogar froh, in Ruhe gelassen zu werden. Ich machte keinen Radau, stellte keine Forderungen, erledigte meine Pflichten und verschwand in irgendeine Ecke. Ich machte mich unsichtbar.

Das war meine Strategie.

Die Bakers gaben mir ein Dach über dem Kopf, einen Rückzugsort, Essen und Kleidung, dafür half ich in der Küche, wischte Staub und hängte Wäsche auf. Hatte ich alles erledigt, floh ich in den Garten oder verschanzte mich in meinem Zimmer. Ich war immer froh, allein zu sein, und auch die Bakers fühlten sich wohler, wenn sie mich nicht sahen. Ich blieb ein Gast, ein Eindringling, eine Fremde.

Von Zeit zu Zeit bekamen wir Besuch vom Jugendamt. Man stellte mir einige Fragen, besichtigte mein Zimmer und hatte es eilig, wieder zu gehen. Die netten Damen schienen stets erleichtert, wenn sie feststellten, dass alles in Ordnung war. Schließlich hatte ich keine blauen Flecken, war nicht unterernährt und immerhin durchschnittlich in der Schule. Ein voller Erfolg aus ihrer Sicht. So wurden die Abstände ihrer Kontrollen größer, und jeder war zufrieden. Alles lief reibungslos, könnte man meinen.

In Wahrheit wusste ich nicht, was vor sich ging. Ich war ein schüchternes Mädchen, verschlossen und schweigsam und hatte Angst vor allem Neuen. Ich hielt die Bakers für meine Familie, auch wenn sie allesamt rote Haare und braune Augen hatten, während ich dunkelhaarig und grünäugig war. Aber welches Kind kümmert sich schon um solche Dinge, wenn es bestrebt ist, unbemerkt zu bleiben?

Meine Brüder waren viel älter als ich und machten sich nicht die Mühe, mich zu beachten. Sean bekam ich kaum zu Gesicht. Er war schon im Teenageralter, verbrachte seine Zeit beim Sport oder auf seinem Zimmer und ließ sich nur zum Essen blicken.

Tyler war es besser aus dem Weg zu gehen. Wann immer möglich schubste oder knuffte er mich im Vorbeigehen, versteckte ekliges Zeug in meinen Schuhen oder erschreckte mich, wenn ich im Keller die Wäsche aufhängte. Zum Glück verbrachte er viel Zeit bei Freunden, wobei es ein Wunder war, dass er überhaupt welche hatte. Aber gut. Ich sollte im Glashaus nicht mit Steinen werfen.

Eileen und Frank behandelten mich genauso kühl wie ihre Söhne. Es gab nur einen Unterschied: Ich nannte sie beim Vornamen, während meine Brüder »Mum« und »Dad« sagten. Doch ich bemerkte nichts davon, mir fiel rein gar nichts auf.

Die erschöpften Damen vom Jugendamt hielt ich für Frauen aus der Nachbarschaft. Ich glaubte, sie wollten Eileen besuchen und stellten mir nur aus Höflichkeit die immer gleichen Fragen: »Bist du gesund?« – »Gefällt dir dein Zuhause?« – »Hast du Freunde?« Ich antwortete stets mit »ja« – der besten Antwort, um in Ruhe gelassen zu werden.

Als ich mit sechs Jahren eingeschult wurde, hatte ich immer noch nichts begriffen.

Das erste, was man zu schreiben lernt, ist natürlich der eigene Name. Und er musste fortan auf jedem Blatt oder Heft vermerkt werden. Man hatte mir immer gesagt, dass ich Rachel Adrian heiße, also schrieb ich: Rachel Adrian Baker. Ich glaubte, dass Adrian mein zweiter Vorname wäre und Baker natürlich mein Familienname. Schließlich gab es viele Kinder, Jungen wie Mädchen, die Adrian hießen. Und was weiß man schon mit sechs?

Seltsamerweise fiel niemandem meine Unwissenheit auf. Die lieben Lehrer und meine Pflegeeltern glaubten stattdessen, ich wollte mit der Erwähnung des Namens »Baker« meine Zugehörigkeit angeben, und so blieb ich noch zwei weitere Jahre im behaglichen Tal der Ahnungslosen. Dann, kurz nach meinem achten Geburtstag, war es so weit.

Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag, den Tag des Erwachens. Ich sollte die Wäsche aus der altersschwachen Maschine nehmen und im Garten aufhängen, als ich sah, dass der Hauswirtschaftsraum im vorderen Anbau des Hauses unter Wasser stand. Ich rief nach Tyler, der in der angrenzenden Küche Erdnussbutterbrote in sich hineinstopfte, und gemeinsam versuchten wir, erste Hilfe zu leisten. Ich wischte und putzte, während Tyler alles daran setzte, den Hauptwasserhahn zu schließen. Vergeblich. Das Wasser sprudelte fröhlich weiter. Also riefen wir im Chor nach Eileen, beziehungsweise nach Mum. Und da sie nicht hörte und unser Chor so seltsam asynchron war, schrie ich schließlich zusammen mit Tyler aus vollem Halse nach Mum, bis sie endlich kam und wir verstummten. Eileen fluchte und fluchte und wirbelte in der Waschküche herum, als Tyler mich so merkwürdig selbstgefällig ansah und mir erklärte: »Du hast ›Mum‹ gesagt. Sie ist nicht deine Mum, du darfst sie nicht so nennen.«

Von da an wusste ich es.

Als ich später in meinem Zimmer saß, fing ich an, einen kleinen Ball an die Wand zu werfen, um ihn gleich darauf wieder aufzufangen. Immer wieder. Stundenlang. So etwas hatte ich vorher nie getan. Nie hätte ich mir erlaubt, Lärm zu machen oder die Wand zu ramponieren. Ich deckte den Tisch nicht zum Abendbrot, ich kam auch nicht zum Essen. Ich räumte nicht ab. Aber niemand fragte nach mir oder ermahnte mich. Sie waren seltsam still. Durch das Haus klang nur das leise, rhythmische Pock Pock Pock meines Balles. Nachts lag ich im Bett und versuchte zu schlafen. Etwas schnürte mir den Hals zu, doch es kamen keine Tränen. Ich glaubte, zu ersticken und blieb dennoch reglos liegen. Erst als es langsam hell wurde, schlief ich ein, und obwohl ein ganz normaler Schultag war, kam niemand, um mich zu wecken.

Ich schlief viele Stunden in den Tag hinein, weit über die Mittagszeit hinaus, wachte müde und zerschlagen auf, wusste für einen Moment nicht, was vor sich gegangen war. Es war so still… Ich ging in die Küche, ins Wohnzimmer, schaute mich überall um. Niemand war im Haus. Niemand war im Garten. Dann entdeckte ich Eimer und Feudel auf dem oberen Absatz der Kellertreppe, und schlagartig kehrte die Erinnerung zurück … Sie ist nicht deine Mum … Mein Herz begann zu rasen. Tausend Fragen geisterten durch meinen Kopf, bis mir ganz schwindelig wurde. Meine kleine schäbige Welt war ins Wanken geraten. Irgendwann setzte ich mich an den Küchentisch, nahm mir ein paar Cornflakes ohne Milch und wartete auf Eileen.

Es war ein Donnerstag, da bin ich mir sicher. Sean und Tyler waren beim Football Training, wie sehr oft in diesem Jahr. Beflügelt durch die gute Saison der Chicago Bears, die im darauffolgenden Februar tatsächlich den Super Bowl erreichten, träumten sie wohl von Ruhm und Ehre und ließen kaum ein Training ausfallen. Frank hatte seinen langen Tag in der Campingabteilung des Walmarts, wo er nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit eine Anstellung gefunden hatte, und Eileen arbeitete in der Tagesschicht bis sechs Uhr abends.

An diesem Tag ließ sie sich Zeit. Machte Einkäufe, besuchte ihre Kollegin Sandra, die ein Kind bekommen hatte, versuchte wohl, nicht als erste zuhause zu sein, um mir Rede und Antwort zu stehen. Leider vergeblich. Arme Eileen. Ausgerechnet an diesem Tag gab es nach dem Training der Jungs eine kleine Feier, weil Coach Gillespie Geburtstag hatte. Und Frank musste Überstunden machen.

Sie kam um neun Uhr abends! Ich saß in unserer Küche am Tisch und war so wütend wie nie in meinem Leben. Im Grunde kann ich mich nicht erinnern, jemals zuvor wütend gewesen zu sein. Die kleine brave Rae hatte noch nie aufgemuckt. Vermutlich war ich das Pflegekind ihrer Träume: fügsam, ordentlich, anspruchslos.

Heute glaube ich, dass Eileen ein schlechtes Gewissen hatte. Jahrelang war sie mir aus dem Weg gegangen, zu feige, mich über einige Dinge aufzuklären. Deshalb hatte sie mich am Vortag ein bisschen randalieren lassen und mich am Morgen nicht geweckt. Sie hoffte wohl, meine Wut würde verpuffen, sich zumindest etwas abkühlen. Sie war nicht gut in langen Gesprächen und fühlte sich häufig unterlegen. Obwohl ich mich nie durch etwas hervorgetan hatte, mich in der Schule nie angestrengt hatte, schien sie zu glauben, ich könne sie verbal fertigmachen. Mit acht!

Das sind zumindest meine Fantasien, welche ich über die Jahre mit jenem Tag verwoben habe – ein Tag, der mich lange Zeit nicht losließ, der etwas in mir in Bewegung setzte.

Die Stunden, die ich am Tisch verbracht hatte, waren mir quälend lang vorgekommen. Es war vier Uhr gewesen, als ich die Küche betreten hatte, und nur zehn Minuten später hatte ich meine Cornflakes verputzt. Erst starrte ich aus dem Fenster, beobachtete ein paar Meisen, dann kritzelte ich zehn Einkaufszettel voll, bis der Block restlos beschmiert war. Um keinen Preis wollte ich aufstehen und riskieren, Eileens Ankunft zu verpassen. Sie sollte mich gleich sehen, wenn sie die Tür öffnete und keine Möglichkeit haben, mir auszuweichen. Denn das würde sie versuchen.

Als sie um halb sieben nicht kam, stieg langsam die Wut in mir hoch. Ich fing an, auf den Tisch zu trommeln, immer stärker, immer lauter und schließlich schrie ich noch dazu. Vielleicht brachen all die Jahre der Stille, der unterdrückten Gefühle aus mir hervor und entluden sich. So fühlte es sich jedenfalls an, wie eine unkontrollierbare Explosion in meinem Körper, heftig und schmerzhaft, bis ich schließlich von Übelkeit erfasst wurde, zur Toilette rannte und eine Weile würgend über der Kloschüssel hing. Das stoppte meine Raserei fürs Erste. Ich begann zu weinen, sank in mich zusammen und entspannte ein wenig auf den kalten Fliesen des Badezimmers. Etwas kleinlaut kehrte ich zurück in die Küche, holte mir ein Glas Wasser und wartete weiter, fixierte die Küchenuhr, lauschte dem immer gleichen Ticktack … Ticktack … Ticktack.

Um acht Uhr abends erfasste mich eine neue Welle der Wut. Noch nie war Eileen so spät nach der Schicht gekommen. Und auch die Jungs waren fast immer zum Abendessen zuhause. Hatten sie sich gegen mich verschworen? Das würde ich ihnen heimzahlen. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. Aber wie zahlte man es solchen Menschen heim? Wie konnte ich sie treffen, sie meine Wut spüren lassen?

Nur auf eine Weise. Die Billy-Methode. Zerstörung.

Ich wollte langsam anfangen, denn ich wusste nicht, wie viele Stunden ich noch totzuschlagen hatte. Vielleicht war ich auch nicht so kompromisslos wie Billy. Und vor Feuer hatte ich ohnehin einen Heidenrespekt. Also nahm ich mir das schärfste Küchenmesser und begann zu schnitzen. In den guten Küchentisch aus Eichenholz.

Zuerst die Umrisse eines Hauses mit einem langen Gartenzaun. Im Garten vier Bäume mit vier gewundenen Seilen. In ihnen vier erhängte Strichmännchen: Vater, Mutter und zwei Kinder.

Ich war gerade dabei, die Szenerie mit einer übergroßen Sonne auszuschmücken, als sich die Tür leise öffnete und Eileen eintrat. Ihr Auto hatte ich nicht kommen hören. Entweder war ich zu sehr in mein Kunstwerk vertieft gewesen, oder sie hatte an der Straße geparkt. Vielleicht wollte sie sich reinschleichen, sich in ihrem Schlafzimmer verschanzen und mir noch etwas Zeit zum Nachdenken geben. Da hatte sie sich verrechnet.

Eileen sah mich, erstarrte kurz und setzte ihren Weg in die Küche fort. Sie stellte ihre Einkäufe auf die Arbeitsfläche, wandte mir den Rücken zu und begann auszupacken. Beifällig fragte sie: »Hast du was gegessen? Ich hab Zwiebelkuchen aus dem Diner mitgebracht. Magst du ein Stück?«

Ich sagte nichts.

»Ich stelle ihn erstmal in den Kühlschrank. Du kannst dir später davon nehmen, wenn du willst. Ich habe auch Schokopudding und Oreos, falls du etwas Süßes möchtest.«

Es verschlug mir die Sprache. Sie wollte die Nette spielen, mich mit Naschkram weichkochen. Fast tat sie mir leid. Ich wusste, weshalb sie mich verwöhnte. Es sollte keine Entschuldigung sein. Sie versuchte nur, die Wogen zu glätten, damit alles weiterlaufen konnte wie bisher.

Keine Probleme. Keine Gespräche. Sechshundert Dollar.

»Vielleicht möchtest du fernsehen?«

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Nie hatte mich irgendjemand gefragt, ob ich fernsehen wollte. Ich hatte mich höchstens leise und unauffällig dazugesetzt. Und auch das nur selten. Meistens blieb ich in meinem Zimmer und malte oder versuchte, ein Buch zu lesen.

»Ich will keinen Scheißzwiebelkuchen und kein Fernsehen«, platzte es aus mir heraus. »Wo warst du so lange? Ich hab den ganzen Tag auf dich gewartet.«

Ihr Schweigen brachte mich zur Weißglut. »Sag mir endlich, wer meine richtige Mutter ist!«

Jetzt war es raus, und Eileen drehte sich tatsächlich zu mir um. »Darüber reden wir, wenn du älter bist, Rae.« Punkt. Das war der Satz, den sie sich in den letzten vierundzwanzig Stunden überlegt hatte. Mehr hatte sie nicht zu bieten.

»Ich will es aber jetzt wissen. Jetzt SOFORT.« Meine Stimme überschlug sich, doch Eileen schwieg beharrlich, kehrte mir auch noch den Rücken zu.

»Du bist eine Rabenmutter«, schrie ich hysterisch und bemerkte, wie sie zusammenzuckte. Sie fuhr sich durch ihr Haar, seufzte. Dann schüttelte sie den Kopf, wandte sich wieder den Einkaufstaschen zu und stotterte: »Ich weiß nicht viel darüber. Deine Eltern sind tot. Ich glaube, es war ein Autounfall.«

»Du lügst. Das ist nicht wahr. Du willst nur, dass ich hierbleibe und sie nicht suche. Ich hasse dich.«

Allmählich wurde es ihr zu viel: »Wie redest du mit mir? Was fällt dir ein? Du kannst froh sein, dass du uns hast. Wir geben dir ein Zuhause. Willst du etwa in ein Kinderheim? Was glaubst du, was da aus dir würde? Du gehst jetzt auf dein Zimmer! Ich will dich hier heute nicht mehr sehen. Hast du verstanden?«

»Du bist eine gemeine Lügnerin. Meine Mutter ist nicht tot. Das weiß ich.«

Eileen starrte mich an. Ihr linkes Augenlid zuckte. Sie schien zu schwanken. Dann sah sie den zerkratzten Tisch und verlor die Fassung. Vollständig. Sie holte aus, schmetterte mich vom Stuhl, packte mich, schrie unentwegt und zerrte mich die Treppe hoch. Sie öffnete die angelehnte Tür meines Zimmers mit einem kräftigen Fußtritt, stieß mich auf das Bett und funkelte mich wütend an: »Nie wieder vergreifst du dich an meinen Sachen. Sonst ergeht es dir wie Billy!« Sie drehte sich um, schlug die Tür hinter sich zu, stapfte mit wütenden Schritten die knarrende Treppe herunter. Dann gab es keinen Laut mehr.

Ich blieb allein zurück. Mein Herz klopfte so stark wie noch nie in dieser furchtbaren Stille, und Angst und Wut vermischten sich. Ich traute mich nicht mehr, den Ball an die Wand zu werfen, aus Sorge, Eileen damit noch mehr gegen mich aufzubringen. Eines war klar: Ich hatte meinen ersten Kampf verloren. Der verdammte Tisch war daran schuld. Er hatte es ihr ermöglicht, den Spieß umzudrehen und mich zur Bösen zu machen. Sie hatte mir sogar mit Billys Schicksal gedroht – der schlimmsten Drohung, die ich mir damals vorstellen konnte. Erst lange Zeit später beruhigte ich mich. Ich lag in der Dunkelheit wach, während sich meine Gedanken im Kreis drehten, aber nach und nach nahm die Müdigkeit zu. Wenn ich auch nichts erreicht hatte, so war ich doch wenigstens ein kleines bisschen zufrieden. Meine Wange tat nicht mehr weh, mein Kunstwerk im Holz des Tisches bereitete mir eine wohlige Erinnerung, und eines wusste ich mit Sicherheit:

Eileen hatte gelogen.

2

In den Jahren meiner Kindheit war ich nie glücklich gewesen, hatte aber auch nie gelitten. Erst als ich begriff, dass ich nicht dorthin gehörte, wurde mir das Leben bei den Bakers zur Qual. Ich fühlte mich fremd und ausgeschlossen und hatte jegliches Vertrauen zu ihnen verloren. Sie waren ja überhaupt nicht meine Familie, sie liebten mich nicht, sie sprachen kaum mit mir, und wenn mir etwas zugestoßen wäre, hätten sie nur mit den Schultern gezuckt. Was würde es ihnen schon ausmachen, sah man einmal von den sechshundert Dollar ab, auf die sie dann hätten verzichten müssen. Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, mir die Wahrheit zu sagen, mir meine Fragen zu beantworten oder mich ein wenig zu trösten.

Die Wahrheit war mir damals wichtig. Ich hatte keine Ahnung, was sie anrichten konnte.

Der Küchentisch wurde von Frank abgeschliffen, bis er keinerlei Spur meiner Untat mehr aufwies. Mit meinem Kunstwerk verschwand scheinbar jede Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag. Alles ging weiter wie bisher. Nur für mich nicht. Für mich hatte sich alles geändert.

Monatelang grübelte ich, überlegte, was ich tun konnte, schmiedete Pläne von einer Suche nach meiner Mutter, weit weg von den Bakers, stellte mir vor, wie sie wohl aussähe, überlegte mir Namen für sie und fragte mich vor allem, warum sie mich weggegeben hatte.

Warum geben Mütter ihre Kinder auf?

Mit acht Jahren fand ich nicht viele Erklärungen. Die meisten waren inspiriert von meinen Büchern, in denen junge Heldinnen mit bösen Fabelwesen konfrontiert wurden. Also reimte ich mir eine abenteuerliche Version zusammen, in der meine Mutter stets verzweifelt nach mir suchte.

Zu dieser Zeit begann auch meine Faszination für Billy. Ironischerweise war ausgerechnet er auf einem Familienbild der Bakers zu sehen, das auf der großen Anrichte im Wohnzimmer stand. Eileen hatte damals ihr zehnjähriges Jubiläum im Diner gefeiert, wenn es auch keine wirkliche Feier gewesen war. Ihr Boss hatte an besagtem Tag ein kostenloses Essen für die ganze Familie Baker spendiert, als kleine Anerkennung gewissermaßen. Er hatte sogar selbst ein Foto gemacht und es Eileen später mit einem Blumenstrauß überreicht. Da Billy zu jener Zeit bei den Bakers lebte, war er für immer auf dem Foto verewigt. Es war das einzige Bild im ganzen Haus. Sie waren keine nostalgischen Menschen.

Wenn niemand Daheim war, ging ich oft hinunter ins Wohnzimmer, nahm mir das Foto von der Anrichte und setzte mich in Franks neuen Fernsehsessel, den er sich nach dem Brand hatte kaufen müssen. Ich versenkte mich in dieses Bild, hatte fast das Gefühl, dabei gewesen zu sein, so genau kannte ich jedes Detail: Der Tisch war mit randvollen Gläsern und Tellern bedeckt, mit Ketchupflaschen, Körbchen voller Pommes Frites und bunten Servietten. Frank, Sean und Eileen lächelten verkrampft in die Kamera, während Tyler an einem Strohhalm saugte. Nur Billy, der zwischen Ty und der Fensterbank eingequetscht war, verdrehte höhnisch die Augen. Er war dünn und dunkelhaarig, und seine Haut wirkte kränklich blass. Er trug ein T-Shirt mit einem feuerspeienden Drachen. Mein Lieblingsshirt. Es hatte früher Tyler gehört, weshalb es für Billy und mich viel zu groß war. Dennoch trugen wir es beide. Mit seinen sechs Jahren wirkte Billy ungemein clever und gewitzt – zumindest redete ich mir das ein. Schmiedete er schon an diesem Tag den Plan, ein Feuer im Haus der Bakers zu legen und blickte deshalb so höhnisch in die Kamera? Wollte er es nur zerstören oder war der Brand Teil einer genialen Flucht? Wer konnte schon sagen, ob er tatsächlich bei den Psychos war. Vielleicht würde er eines Tages zurückkehren. Ich fühlte mich ihm verbunden. Wir waren beide hier gestrandet. Wir hatten keine Eltern. Niemand wollte uns haben. Wir trugen dasselbe Drachen-Shirt und hatten die gleiche Haarfarbe, die gleiche Augenfarbe, fast wie Geschwister, obwohl das natürlich unlogisch war. In meiner Fantasie stand er mir näher als Sean und Tyler, die so viel älter waren und mich stets übersahen. Wen störte es schon, dass Billy nur auf einem Foto existierte?

Dumme kleine Rae.

Als ich noch nicht zur Schule ging, hatte ich ausschließlich Hosen und T-Shirts getragen – die abgelegten Sachen meiner Pflegebrüder. Das war billig und praktisch für die Bakers, und mir war es gleich gewesen. Mein Haar wurde kurz geschnitten und mit einer rosa Haarspange versehen, damit man erkennen konnte, dass ich ein Mädchen war. Mehr war nicht nötig.

Später bekam ich Mädchenkleidung. Sie stammte aus zweiter Hand, war jedoch nicht allzu schäbig. Eileen bestimmte, dass meine Haare länger werden sollten, damit ich wie die meisten Mädchen in unserer Gegend einen Pferdeschwanz tragen konnte. Niemand sollte ihr vorwerfen, dass sie mich vernachlässigen würde, also kümmerte sie sich wenigstens um mein Äußeres. Zum Glück überließ sie es mir, die Kleidung auszusuchen, die ich tragen wollte. Sie legte alles in meinen Schrank, sortierte aus, was nicht mehr passte, um es an ärmere Familien zu verkaufen oder dem roten Kreuz zu spenden. Nur so ließ sich die Sache mit dem Disney-T-Shirt erklären.

Ich hatte mich vorher nie gefragt, woher meine Kleidung stammte. Sie war okay und überwiegend unauffällig, mehr interessierte mich nicht. Als mir Eileen jedoch eines Tages einen neuen Stapel Oberteile in mein Fach legte, entdeckte ich ein sehr spezielles T-Shirt. Es war pink und zeigte das Dornröschenschloss. Das Besondere war aber der schön geschwungene Schriftzug darunter: Disneyland – Paris.

Damit war alles klar. Dieses T-Shirt hatte Becca Gardener gehört. Wer aus unserem kleinen Ort im Mittleren Westen war schon je in Paris gewesen? Natürlich nur Becca. Sie war schon damals der Star der Schule. Die schönsten Kleider, goldene Locken, stets umringt von einer Traube Mädchen und später auch Jungen. Stolz hatte sie dieses T-Shirt getragen, und alle hatten es bewundert und ihr ehrfurchtsvoll gelauscht, als sie von ihren Ferien berichtete. Sogar ich, die immer in irgendeiner Ecke des Schulhofes hinter einem Buch verborgen war, hatte einen Teil dieser Geschichte aufgeschnappt.

Nun besaß ich dieses Shirt unserer angehenden Schulkönigin, die ein Jahr älter war als ich. Inzwischen sah es leicht verwaschen aus und hatte einen kleinen Fleck, weshalb es vermutlich in die Spendensammlung gekommen war. Die modischen Kleider und Blusen von Becca fanden dagegen nie ihren Weg in meinen Schrank, was ich jedoch nicht bedauerte. Sie wären mir viel zu unpraktisch und auffällig gewesen.

Das Disneyland T-Shirt habe ich nie getragen. Wozu die anderen darauf stoßen, dass meine Kleidung von den Gardeners stammte? Ich verbannte es in die hinterste Ecke meines Schrankes, bis es eines Tages mit anderen zu klein gewordenen Sachen wieder verschwand.

Das war jedoch noch nicht das Ende der Geschichte. Einige Monate später trug die kleine Mariah Russo das rosafarbene Disney-T-Shirt in der Schule und erntete unliebsame Aufmerksamkeit. Sie wurde von älteren Mädchen umringt und gefragt, wie sie zu Beccas T-Shirt käme. Hierfür hatte sie absolut keine Erklärung. Schließlich erinnerte sie sich aber, dass ihre Mutter, die ebenso wie Eileen im Diner arbeitete, gesagt hatte, es wäre von mir. Das stimmte gewissermaßen, doch keiner wollte ihr glauben. Wie sollte die arme, langweilige Rae zu solch einem T-Shirt kommen? Das ist der Nachteil, wenn man in einem kleinen Ort wie Larkville lebt. Schon ein unbedeutendes altes Kleidungsstück ist in der Lage, die Gemüter zu erhitzen. Am Ende gab es eine regelrechte Gegenüberstellung, angeführt von Madison Watley, Beccas bester Freundin, die mich aufgebracht anfuhr: »Rachel, ist das dein T-Shirt gewesen? Woher hattest du es?«

»Keine Ahnung«, stotterte ich verlegen. So sehr im Mittelpunkt hatte ich noch nie gestanden. »Ich weiß nichts darüber. Sowas trag ich nicht.«

Es tat mir zwar leid für Mariah, aber ich war zu feige, die Sache aufzuklären. Und jetzt kam auch noch Becca dazu. Mir wurde ganz übel. Am liebsten wäre ich weggelaufen. Lügen ist eine Sache, aber erwischt zu werden, macht es doppelt schlimm. Ich hatte mich doch immer von allen fern gehalten, nie jemandem Ärger gemacht. Wie kam ich da bloß wieder raus?

»Becky, ist das nicht dein T-Shirt, das diese Mariah da trägt?«, empörte sich Madison erneut.

Alle wandten sich nun Becca zu, die sich seltsam desinteressiert gab. Sie sah mir direkt in die Augen und antwortete mit ihrer weichen, melodischen Stimme: »Ich glaube, das ist ein Fake. In New York verkaufen sie die an jeder Ecke. Mein Disney-Shirt hat jetzt meine Cousine.«

Dann drehte sie sich um und stolzierte davon, während ihr die Mädchen langsam folgten. Ich setzte mich zurück unter meinen Baum und schlug mein Buch wieder auf, konnte mich aber nicht auf die Worte konzentrieren. Warum hatte Becca gelogen? Ihr Blick hatte eine deutliche Sprache gesprochen: »Halt den Mund, Rae!«

Scheinbar wollte sie so wenig wie ich, dass alle Welt von unserem Kleiderhandel erfuhr. War es ihr peinlich, dass ihre Mutter abgelegte Kleidung verkaufte oder wollte sie nur nicht mit mir, einem Kind ohne richtige Eltern, in Verbindung gebracht werden? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, aber etwas beunruhigte mich an der Sache. Es fühlte sich seltsamerweise so an, als hätten Becca und ich ein Geheimnis.

Viel gibt es über die ersten zehn Jahre meines Lebens nicht zu sagen. Ich hielt mich abseits, muckte nicht auf, verbrachte die meiste Zeit allein. Es kam mir nicht in den Sinn, Freunde zu suchen, mein Misstrauen war einfach zu groß. Und wer hätte sich schon für mich interessieren können? Ich war unscheinbar und schweigsam und schämte mich für meine Familiengeschichte, obwohl ich nichts über sie wusste.

Warum hatte mich meine Mutter weggegeben? Die Sache mit dem Autounfall konnte ich nicht glauben, also brauchte ich andere Erklärungen. Im Grunde gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder existierte ein wirklich großes Problem, das es meiner Mutter unmöglich machte, bei mir zu sein, oder sie hatte einfach keine Lust verspürt, mich zu behalten. Wie sollten da andere an mir interessiert sein? Menschen, die nicht einmal mit mir verwandt waren? Manchmal fragte ich mich, ob alle Kinder in der Schule Bescheid wussten. Hielten sie die Bakers für meine Eltern oder waren sie längst über mich im Bilde? In unserer Gegend gab es arme und reiche Familien, Menschen die arbeitslos waren oder krank und natürlich alleinerziehende Mütter. Aber kein Kind, das ich kannte, lebte in einer Pflegefamilie. Das war nichts anderes als eine provisorische Lösung, eine Familie, die dich übergangsweise aufnimmt, dich aber nicht wirklich haben will. Oder eben nur gegen Bezahlung. Die guten Kinder wurden adoptiert, die schlechten kamen ins Waisenhaus oder zu Pflegefamilien. Vermutlich hielten sie mich für schwer vermittelbar, weil ich aus schlimmen Verhältnissen stammte, so schlimmen, dass alle glaubten, es wäre besser, wenn ich nichts darüber wüsste.

Die glorreichen Fantasien über meine heldenhafte Mutter, die ich mir in jüngeren Jahren erschaffen hatte, konnten mich bald nicht mehr trösten. Dann lag ich nachts wach und wünschte mir fast, auch wenn ich es mir nicht eingestand, dass Eileen damals die Wahrheit gesagt hatte und ein Autounfall am Tod meiner Eltern schuld war.

3

Das Haus der Bakers lag in der Elder Street, einer ruhigen Straße am Rande von Larkville, nicht weit entfernt vom Big Indian Creek. Dieser Fluss, der sich mal breiter, mal schmaler in sanften Biegungen um unseren Ort zog, war mir als Kind nicht sehr vertraut, da ich, von meinem Schulweg abgesehen, die Gegend, in der ich lebte, kaum kannte. Eileen erlaubte mir nicht, allein herumzustromern, und so verbrachte ich meine Freizeit ausschließlich im Haus oder Garten.

Das sollte sich ändern.

Ich war ungefähr elf, als ich meinen ersten Job bekam. Eine ältere Nachbarin am Ende unserer Straße war im Winter auf dem vereisten Gehweg gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Sie hieß Elizabeth Barton, war verwitwet und wohnte allein in einem alten, großen Haus, ähnlich dem unseren. Ihre Kinder, die irgendwo über das Land verstreut lebten, besuchten sie nur selten. Wahrscheinlich hatten sie viel zu tun, noch wahrscheinlicher war, dass das schroffe unfreundliche Wesen von Mrs. Barton sie in die Flucht geschlagen hatte. Ich war ihr nur ein paarmal begegnet, wobei sie mich geflissentlich übersah, und natürlich kannte ich Fletcher Black, der nicht weniger einschüchternd war als sie. Als mir Eileen eines Morgens unverblümt mitteilte, ich solle nach der Schule bei Mrs. Barton vorbeischauen, um ihr mit Fletcher zu helfen, war ich gelinde gesagt geschockt und zwar so sehr, dass ich mich zu einem seltenen Widerspruch aufraffte, der jedoch vollkommen ignoriert wurde. Eileen griff ihre Sachen, murmelte, sie habe es eilig, sie habe es zugesagt, ich solle mich nicht anstellen, man helfe seinen Nachbarn, zog den Mantel über und ließ mich einfach stehen, während ich ihr reglos hinterherstarrte. Ich ging voller Angst zur Schule und verbrachte den Tag in heller Aufregung, da ich nicht wusste, was zu tun war. Eileens Anordnung missachten? Ihren Ärger auf mich ziehen? Und am Ende doch klein beigeben müssen? Oder zu Mrs. Barton gehen? Bloß wie sollte ich mich um Fletcher kümmern? Um dieses große schwarze knurrende Viech. Ich hatte solche Angst vor ihm, dass es mir unmöglich erschien. Aber ich hatte auch Angst, mich zu weigern. Ich wurde von Minute zu Minute unruhiger, konnte mich nicht konzentrieren, kämpfte zuletzt mit den Tränen. Immer wieder ging mein Blick zur Uhr neben der Klassenraumtür. Je weiter die Zeit voranschritt, desto panischer wurde ich.

In der letzten Stunde hatten wir Englisch bei Miss Grant, einer neuen Lehrerin, die seit dem vorangegangenen Sommer bei uns unterrichtete. Auch wenn ich mich nie beteiligte, liebte ich die Englischstunden. Jasmine Grants freundliche Art und ihre Fähigkeit, die Bücher, die wir lasen und selbst die Probleme der Grammatik interessant zu erläutern, hatten sie schnell zu meiner liebsten Lehrerin gemacht. Sie war ungeschminkt, eher praktisch gekleidet, trug aber jeden Tag weiße Perlenohrringe, die einen schönen Kontrast zu ihrer dunklen Haut bildeten. Am meisten liebte ich ihre samtige Stimme, die niemals schrill oder streng wurde und bei allen Gehör fand. Trotzdem war mir ziemlich mulmig zumute, als sie mich nach dem Läuten aufforderte, für ein kleines Gespräch zu bleiben. Sie schloss die Tür und fragte: »Wie geht es dir heute Rachel? Ist etwas nicht in Ordnung? Du wirkst sehr angespannt.«

»Nein, alles okay.«

»Bist du sicher? Ich habe bemerkt, dass du die ganze Zeit mit deinen Füßen gezappelt hast. Was ist denn los?«

Ihre Aufmerksamkeit zu erregen war nun ganz bestimmt nicht meine Absicht gewesen. Anstatt eine Antwort zu geben, sah ich betreten zu Boden, die Finger ineinander gekeilt.

»Ich wollte schon längst einmal mit dir sprechen. Auch mit den anderen Kindern unterhalte ich mich, um sie besser kennenzulernen.« Sie lächelte mir aufmunternd zu. »Ich weiß, dass du es nicht ganz leicht gehabt hast im Leben. Wahrscheinlich bist du deshalb so still und beteiligst dich nie am Unterricht. Du musst dich nur ein kleines bisschen überwinden. Wenn dich etwas bedrückt, kannst du jederzeit mit mir reden.« Sie kramte in ihrer Tasche und holte einen riesigen roten Apfel heraus. »Hier, für dich. Ist aus meinem Garten. Im letzten Herbst hab ich so viel Obst geerntet wie noch nie.«

Überrascht nahm ich den Apfel und biss sofort hinein. Miss Grant lachte und tätschelte mir den Kopf: »Nun, raus mit der Sprache. Was ist passiert?«

Zu meiner eigenen Verwunderung nuschelte ich mit halb vollem Mund: »Ich soll einen echt gruseligen Hund ausführen und trau mich nicht«. Dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte.

Sie unterbrach mich kein einziges Mal, bis ich geendet hatte und meinte nachdenklich: »Ich glaube nicht, dass dir deine Mutter eine unlösbare Aufgabe zuteilen würde, aber ich verstehe, dass du dich fürchtest. Viele Menschen haben Angst vor Hunden. Das ist manchmal auch berechtigt.«

Natürlich kannte sie Eileen nicht gut und hielt sie für eine aufopferungsvolle Mutter. Ich ließ sie in dem Glauben und nickte brav, während sie mir empfahl, ganz offen mit Mrs. Barton über meine Ängste zu sprechen. Als wäre das so einfach wie Kaugummikauen. Meine Gespräche mit Erwachsenen beschränkten sich üblicherweise auf ja und nein, danke und bitte, aber das sagte ich natürlich nicht. Am Ende wünschte sie mir viel Glück, während ich ihr ein bemühtes Lächeln schenkte. Sie war so nett gewesen, dass ich mich zu meiner eigenen Verblüffung besser fühlte, als ich mich auf den Weg nach Hause machte.

Es wurde höchste Zeit, meine Mutprobe anzutreten.

Etwas später am Nachmittag stand ich schweren Herzens auf der Veranda von Mrs. Bartons Haus und trat nervös von einem Bein auf das andere. Ich ließ bestimmt zwei Minuten verstreichen, ehe ich mich überwinden konnte, zu klingeln, doch noch bevor ich den ersten Ton der altersschwachen Glocke wahrnehmen konnte, erscholl ein Gebell höllischen Ausmaßes. Ich hörte den Hund zur Tür rennen, daran empor springen und mit kratzigen Pfoten schleifen und stoßen, um sie irgendwie zu öffnen. Augenblicklich machte ich einen Satz rückwärts, fiel fast auf die Straße und musste mich wirklich zusammenreißen, um einen neuen Versuch zu machen. Eileen hatte mir dieses Schlamassel eingebrockt. Mit einer Mischung aus Wut und Angst im Bauch klopfte ich diesmal sehr vorsichtig an die Tür und rief gleichzeitig Mrs. Bartons Namen.

»Komm einfach rein, ist nicht abgesperrt«, klang es dumpf zu mir nach draußen.

Ich schluckte. Einfach rein – und dann? Dem Viech entgegentreten und mich umwerfen lassen? Beißen lassen? Ich war nicht lebensmüde. Unschlüssig wartete ich ab.

»Kommst du jetzt oder schlägst du da Wurzeln? Ich kann dir leider nicht die Tür aufhalten, Prinzessin. Sonst bräuchte ich dich auch nicht. Bist du etwa so eine Zimperliese?«

Die polternde Stimme der Alten erschreckte mich fast so sehr wie Fletchers Gebell. Es war bestimmt besser, sich nicht mit ihr anzulegen. Was sollte ich sonst auch Eileen sagen? Und zimperlich war ich nun wirklich nicht, also drehte ich langsam den Knauf und öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Nichts geschah. Alles blieb ruhig. Vorsichtig steckte ich meinen Kopf in die Öffnung und lugte in den dunklen Raum, an dessen Ende eine altmodische Couch mit einem Tisch und zwei zusammengeschobenen Sesseln stand. Dort hatte es sich Mrs. Barton gemütlich gemacht, neben ihr Flechter in aufrechter Haltung. Beide taxierten mich vollkommen ungerührt.

»Wie lange dauert das denn noch? Bist du immer so eine Schnecke? Nun, komm endlich her, damit ich dich richtig sehen kann. Er macht schon nichts. Hat grad erst gefressen. Der ist jetzt faul und müde. Kann nur die Klingel nicht leiden.«

Langsam trat ich ein und bewegte mich bis zur Mitte des Zimmers, wobei ich den Hund nicht aus den Augen verlor. Näher heran wagte ich mich nicht, blieb unschlüssig stehen und stotterte: »Ich bin Rae. Von den Bakers. Ich sollte vorbeikommen. Ähm, wegen Fletcher.«

»So so, du bist also die kleine Baker. Kannst froh sein, dass du nicht nach denen kommst, haben ja alle rote Haare.« Sie rümpfte die Nase, als gäbe es etwas an roten Haaren auszusetzen, reckte sich weiter vor und begutachtete mich von oben bis unten. »Viel ist ja nicht an dir dran. Kriegst du genug zu essen bei denen?«

Ich wurde rot und nickte heftig. Zum Glück war es so dunkel, dass man mir meine Scham nicht anmerken konnte, aber mein Hals begann fürchterlich zu jucken. Ich hätte am liebsten meine warmen Wintersachen ausgezogen, vor allem Schal und Mütze, wäre der Hund nicht gewesen. So schwitzte ich still vor mich hin in dem Glauben, meine Kleidung könne mir Schutz vor den scharfen Reißzähnen bieten.

»Sehr gesprächig bist du ja nicht. Aber das macht nichts. Klatsch und Tratsch ist was für dumme Menschen. Ich brauch keinen zum Reden, sondern jemanden für meinen Blacky hier.« Sie tätschelte ihm kurz den Rücken, dann winkte sie mich heran. »Hast du Erfahrung mit Tieren?«

Ich schüttelte ängstlich den Kopf.

»Hm, na macht nichts. Zum Glück hab ich ihn gut erzogen. Hauptsache, du bist gut zu Fuß. Er braucht nämlich dringend Auslauf. War seit zwei Wochen nur im Garten und winselt mir die Ohren voll. Weißt du überhaupt, was das für eine Rasse ist?«

»Ich weiß nicht«, traute ich mich mit piepsiger Stimme zu

antworten. »So einen Hund, hab ich noch nie gesehen. Vielleicht so ähnlich wie ein Schäferhund?«

»Ja, gar nicht so falsch. Das ist ein Shiloh Shepherd. Eine ganz eigene Rasse. Die Beste, die man finden kann. Mein Neffe züchtet sie drüben in Michigan, und die Leute sind ganz wild drauf.« Ihre Stimme klang jetzt weicher. »Es sind wundervolle intelligente Tiere. Loyal und mutig. Man muss sie nur gut erziehen, dann lassen sie dich nie im Stich…« Ihr Blick wanderte zu den Fotografien an der Wand und verhärtete sich. »So, genug gequatscht. Jetzt gehst du mal ein bisschen mit ihm an der Leine, vielleicht bis zum Gehölz, er muss dich erstmal kennenlernen. Dort kannst du ihn laufen lassen. Nimm die Hundepfeife mit, dann kommt er auf jeden Fall. Zuerst rufst du ihn aber mit lauter, kräftiger Stimme.« Sie stutzte. »Na eben so, als wenn du böse wärst. Du rufst ihn bei seinem vollen Namen: Fletcher Black. Darauf hört er immer, wenn er nicht zu weit weg ist.« Sie reichte mir Leine und Pfeife vom Tisch und knurrte: »Na, nun zeig mal, wie du ihn anleinst!«

Mein Mund wurde trocken. Ich nahm die Pfeife, steckte sie in die Jackentasche und inspizierte den Verschluss der Hundeleine. Es war ein Karabiner, und mir war klar, wie man ihn benutzte. Trotzdem drückte und klickte ich herum und wagte nicht, den Kopf zu heben.

»Nun stell dich nicht so an. Fletch hat bis heute noch kein Mädchen verspeist, und wenn ich es ihm nicht befehle, wird er’s auch nicht tun.« Mrs. Barton lachte rau. »Na komm, ich helfe dir.« Sie zog mich zu sich heran, griff meine Hand, die den Karabiner hielt, schnaubte »Blacky, bei Fuß« und half mir, die Leine anzulegen.

»Siehste, er macht nichts. Ist lammfromm. Aber verrat’s keinem.« Dann versetzte sie mir einen kleinen Schubser, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als loszugehen.

Draußen wischte ich mir über die verschwitzte Stirn und seufzte. Die Luft war kalt und klar. Niemand war auf der Straße. Zu meiner Verblüffung fühlte ich mich erleichtert, obwohl das Ungetüm an meiner Seite war und meine Aufgabe gerade erst begann. Im Tageslicht sah Fletcher zwar riesenhaft und leicht verwildert aus, er warf mir aber einen verwirrten Blick zu, der mich mutig stimmte. »Komm, Blacky« sagte ich mit fester Stimme, »wir gehen zum Creek«. Tatsächlich setzte er sich prompt in Bewegung. Ich trottete nebenher, wurde von Schritt zu Schritt vergnügter und begann, aufgedreht mit ihm zu quasseln, während er vor lauter Vorfreude mit dem Schwanz wedelte. Nachdem wir das kleine Wäldchen hinter dem Indian Park passiert hatten, erreichten wir schließlich den Fluss. Hier war alles ruhig und friedlich, nur das Wasser plätscherte leise über die großen und kleinen Steine am Ufer. Ich atmete tief ein, hakte Fletcher von der Leine und sah zu, wie er davonsprang.

Bereits nach fünf Minuten konnte ich die Anspannung nicht mehr ertragen. Ich rief ihn lauthals, und tatsächlich kam er zurück. Es war unfassbar, dass er auf mich hörte. Auf mich! Die nie jemandem etwas befohlen hatte. Es fühlte sich wirklich gut an. Ich ließ ihn laufen, gab ihm jetzt etwas mehr Zeit zum Herumtollen, aber er folgte wieder auf meinen Ruf. Übermütig umarmte ich den wild aussehenden Hund, der mir noch am Vormittag die Tränen in die Augen getrieben hatte, wuschelte durch sein struppiges Fell und schickte ihn wieder los. Doch dieses Mal kam er nicht.

Ich schrie aus vollem Hals, rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn herum, warf mit Steinen und Stöckern, lauschte, doch es war nichts von Fletcher zu hören oder zu sehen. Inzwischen hatte es zu dämmern begonnen. Das letzte Tageslicht fiel trübe durch die kahlen Äste der Bäume, die sich im aufkommenden Abendwind schnarrend ineinanderschoben. Ich hätte längst umkehren müssen. Aber wie sollte ich ohne Fletcher zu Mrs. Barton zurückkehren? Ich konnte sie schon hören: »Was hast du mit meinem Hund gemacht? Du unnütze Göre.« Obwohl ich eigentlich keine Heulsuse war, brannten die ersten Tränen in meinen Augen. Verzweifelt durchstöberte ich meine Jacke nach einem Taschentuch und fand – die Hundepfeife, die ich in meiner Panik vollkommen vergessen hatte. Doch als ich hineinpustete, gab sie keinen Ton von sich. Trotzdem mühte ich mich weiter, und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte ich ein Rascheln im Unterholz, und Fletcher sprang hervor.

»Verdammt, wo warst du denn? Du hast mir wirklich Angst gemacht.« Ich sah ihn genauer an. Was zur Hölle hatte er da Hässliches im Maul? Er legte es wie ein Geschenk vor mir ab, stupste es mit der Schnauze an. Es war ein totes Tier, ein kleines Kätzchen. Entsetzt wich ich zurück, begann ihn auszuschimpfen, aber Fletcher winselte nur und rieb seinen struppigen Kopf an meinem Bein.

Das arme Tier. Ich musste es wenigstens begraben. Auf einmal begriff ich, dass etwas seltsam war, und ein Schauer lief mir den Rücken runter. Das Kätzchen hatte keinen Schwanz und keine Beine. Sie waren abgehackt. Jemand hatte dieses Tier getötet. Und dieser Jemand war ein Mensch – nicht Fletcher. Der Boden war noch durchgefroren, weshalb ich die Erde nicht aufgraben konnte. Hastig scharrte ich ein bisschen Laub zusammen, legte das Kätzchen auf sein knisterndes Bett und bedeckte es mit einem duftenden Tannenzweig. Dann rief ich Blacky, hakte ihn mit zittrigen Fingern an die Leine, und wir rannten zurück durchs Gehölz. Ich wollte nur weg.

»Ihr wart lange aus«, begrüßte uns Mrs. Barton. »Gab es Probleme mit Fletch?«

Diesmal riss ich mir Mütze und Schal herunter und knöpfte die Jacke auf, schließlich waren wir den ganzen Weg gerannt. »Nein, er war ganz brav. Nur die Pfeife ging nicht richtig, da hat er sich einmal etwas verspätet.«

Sie brach in ihr kehliges Lachen aus. »Du Dummerchen. Was bringt Eileen dir eigentlich bei? Das ist doch eine Hundepfeife, eine Spezialpfeife sozusagen. Genau nennt man sie Galtonpfeife. Die kann der Mensch nicht hören. Sie hat eine zu hohe Frequenz. Aber Hunde hören sie genau, haben einfach bessere Ohren. Sind sowieso viel bessere Gefährten.« Sie fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen.

»Was hast du mit deinen Händen gemacht? Im Dreck gebuddelt?«

Verlegen starrte ich auf den Boden: »Ähm, wir haben ein totes Kätzchen gefunden. Ich wollte es nicht so liegenlassen, hab versucht es zu begraben. Bloß, der Boden war gefroren.«

Ich verstummte unter ihrem harten Blick, es trat eine beunruhigende Stille ein. Schließlich räusperte sie sich: »Woran ist es gestorben, konnte man das sehen?«

Sehr leise erklärte ich ihr, was passiert war.

»Es gibt böse Menschen«, sagte sie mit zorniger Stimme, »denen macht es Spaß, einem Tier wehzutun. War das am Indian Creek?«

Ich nickte, und für eine Weile verstummte sie erneut. Dann sagte sie: »Da hab ich auch mal ein misshandeltes Tier gefunden. Ein Kaninchen. Kein schöner Anblick. Am besten gehst du dort nicht mehr hin, da treibt wohl jemand sein Unwesen.« Sie hüstelte, tätschelte Fletcher den Kopf, zog ein paar Gras- und Blätterreste aus seinem Fell, während ich mich verabschiedete und ihr versprach, am nächsten Tag wiederzukommen.

Zuhause wurde meine Hochstimmung getrübt, denn Tyler saß am Küchentisch und rülpste mich zur Begrüßung an. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Wo treibst du dich so spät noch herum? In deinem Alter hast du um diese Zeit hier zu sein«, strafte er mich großspurig ab. Er war vor kurzem achtzehn geworden und hielt sich wohl für erziehungsberechtigt.

»Ich hatte einen Job zu erledigen. Eileen hat mich darum gebeten.« Mehr brauchte er nicht zu wissen.

»Sag bloß, du bist tatsächlich zu irgendetwas zu gebrauchen?« Er rümpfte die Nase und sprang plötzlich auf.

»Gott, du stinkst, Rae. Das ist ja widerlich. Was hast du getrieben? Schweinedreck geschaufelt?«

»Du stinkst doch selber. Das ist dir in die Nase gezogen!«

Er packte mich und nahm mich in den Schwitzkasten.

»Los, spuck’s schon aus. Was hast du getrieben?«

»Lass mich los, du Idiot.«

Doch er ließ nicht locker, obwohl ich ihm mit den Füßen ein paarmal gegen das Schienbein treten konnte. Es hatte keinen Sinn, also gab ich nach.

»Ich war nur mit Blacky spazieren, weil Mrs. Barton ein gebrochenes Bein hat.«

Überrascht ließ er mich los. »Blacky. Der süße Blacky…«, äffte er mich nach. »Halt dich bloß von mir fern. Dieser räudige Köter hat bestimmt Flöhe, und die Alte tickt nicht ganz richtig. Kein Wunder, dass Mum DICH zu ihr geschickt hat.«

Angewidert schubste er mich weg und verschwand auf sein Zimmer, während ich mir zwei dicke Brotscheiben mit Käse belegte und sie genüsslich verschlang. So waren meine Gespräche mit Tyler eben. Man gewöhnt sich an alles.

4

Ich ging nun regelmäßig mit Fletcher spazieren, fürchtete mich nicht mehr vor der knurrigen, alten Mrs. Barton und genoss meine Ausflüge bei Wind und Wetter in die entlegensten Winkel der Gegend. Nie hatte ich Angst in der Einsamkeit, auch nicht, wenn es dunkel wurde. Ich fühlte mich mutig und stark. Blacky war mein erster Freund. Er wuchs mir unglaublich schnell ans Herz, sodass ich, selbst als es Mrs. Barton wieder besser ging, fast täglich für einen gemeinsamen Spaziergang bei ihm vorbeischaute.

In dieser Zeit war ich nahezu glücklich.

Ich fühlte mich frei und unabhängig, brauchte mich nicht mehr im Haus zu verkriechen, wenn ich allein sein wollte und verfügte erstmals über ein bisschen Geld. Ich investierte es in Hundesnacks und Harry Potter.

Von da an lebte ich in meiner eigenen Welt. Las in jeder freien Minute, malte Gestalten und Szenen in mein Skizzenbuch, zauberte im Wald mit Stöckern, lernte alle Zaubersprüche.

Blacky war mein rätselhafter Pate, dem ich tagsüber meine Sorgen anvertraute, während ich abends für seine baldige Verwandlung zum Menschen betete, und ich war natürlich Harry, das geheimnisumwobene Kind ohne Eltern, das über magische Kräfte verfügte. Wenn unsere Schule auch rein gar nichts mit Hogwarts gemein hatte, so sah ich sie nun in einem anderen Licht. Mein Außenseiterstatus schien mir zu Harrys Rolle zu passen, und ich begann, mich im Unterricht anzustrengen, damit meine Leistungen zu meinen fantastischen Ideen passten. Nur in den Pausen blieb ich in meinem Schneckenhaus, vertiefte mich in meine Bücher und sprach kaum ein Wort mit anderen Kindern. Sie kannten mich nicht, ich kannte sie nicht, und ich hatte keine Ahnung, was vor sich ging.

Deshalb fiel ich aus allen Wolken, als gegen Ende des Sommers eine Einladung für mich auf dem Küchentisch lag, die offenbar mit der Post gekommen war.

Auf feinstem Büttenpapier stand dort mein Name in geschwungener Schrift, weshalb ich für einen Augenblick glaubte, es wäre meine Aufnahme in die Hogwarts Schule.

Tatsächlich war es eine Einladung zur Bat Mizwa Feier von Becca Gardener – eine fast noch unwahrscheinlichere Sache als ein Brief von Hogwarts. Wieso lud sie mich ein? Wir kannten uns praktisch nicht, hatten kein Wort miteinander gewechselt, bis auf den Tag der T-Shirt Angelegenheit. Ich war ratlos. Nie hatte mich ein Kind aus meiner Klassenstufe zu seinem Geburtstag eingeladen und erst recht kein älteres.

Meine Geburtstage wurden ohnehin nicht gefeiert. Vielleicht lag es daran, dass ich am Neujahrstag Geburtstag hatte. Um Mitternacht wünschten wir uns ein Frohes Neues Jahr, dann sagten alle Happy Birthday Rae. Ich bekam ein Geschenk: ein Buch, Buntstifte, ein Stofftier oder etwas Ähnliches und dazu eine Tafel Schokolade. Anschließend gingen wir ins Bett, und der Geburtstag war für alle erledigt. Die Bakers machten nicht viel Aufhebens um Feiertage. Ich kann mich auch an keine Party von Sean und Tyler erinnern, geschweige denn von meinen Pflegeeltern.

Und jetzt das. Eine Bat Mizwa. Obwohl ich nicht viel darüber wusste, war mir klar, dass es sich um ein besonderes Fest für ein Mädchen handelte, ein großes Fest. Die Bakers waren nicht religiös, gingen nie zur Kirche, beteten nicht. Ich tat es manchmal abends, weil ich in Büchern darüber gelesen hatte. Die Worte waren wie Beschwörungen und Zauberformeln und faszinierten mich, ließen mich ruhiger werden und halfen mir einzuschlafen. Doch die Vorstellung, an einer bedeutenden religiösen Feier teilzunehmen, noch dazu mit Menschen, die ich überhaupt nicht kannte, jagte mir eine Heidenangst ein. Auf keinen Fall wollte ich zu dieser Bat Mizwa gehen, aber ich ahnte, dass ich die Einladung nicht so einfach ignorieren konnte. Ich musste mit Eileen darüber sprechen und irgendwie erreichen, dass sie mich bei Becca entschuldigte. Vielleicht erschien es Eileen zu aufwendig, ein teures Geschenk oder ein passendes Kleid für mich zu bezahlen? Da war sie doch sicher froh, wenn ich nicht hingehen wollte. Wir konnten einfach sagen, ich wäre krank, auch wenn ich bis dahin noch keinen einzigen Tag in der Schule gefehlt hatte, einmal abgesehen von dem Tag des zerkratzten Küchentisches. Es war doch möglich, dass es auch mich einmal erwischte.

Am Abend erzählte ich Eileen von Beccas Einladung. Leider reagierte sie nicht, wie ich gehofft hatte.

»Das ist wirklich eine Ehre für dich, Rae. Die Gardeners sind sehr angesehene Leute«.

»Aber ich kenne Becca so gut wie gar nicht, und ich hab auch nichts anzuziehen für so ein Fest!«

»Ich habe dir schon ein Kleid besorgt, das ist kein Problem.«

Jetzt stutzte ich. »Wieso das denn? Die Einladung ist doch erst heute gekommen. Wusstest du das schon vorher?«

Eileen zuckte leicht zusammen. »Mrs. Gardener war letztens im Diner und hat mir davon erzählt. Ich wollte dir nur nicht die Überraschung verderben.«

»Aber ich will da nicht hingehen. Warum lädt mich Becca überhaupt ein? Sie mag mich doch gar nicht.«

»Was weiß ich denn. Du bist eingeladen und wirst nicht absagen. Punkt!«

»Werd ich doch!« Ich wurde lauter und stampfte mit dem Fuß auf.

Eileen suchte nach Worten, aber ihr fiel keine Erwiderung ein. Sie sah mich drohend an und sagte schließlich: »Wenn du nicht hingehst, bekommst du einen Monat lang Stubenarrest. Ich sag dann Mrs. Barton, sie soll sich jemand anderen für Fletcher suchen.«

Ich war fassungslos. Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Sie würde mich zwingen. Bloß warum? »Du bist eine Erpresserin«, funkelte ich sie an, dann kehrte ich ihr den Rücken, rannte auf mein Zimmer und knallte die Tür zu.

Auf meinem Bett liegend begann ich, zu grübeln. Blacky würde ich nicht enttäuschen, wegen dieser blöden Bat Mizwa. Das stand fest. Ich würde also hingehen, mich bohrenden Blicken aussetzten und bestimmt peinliche Fragen über mich ergehen lassen müssen. Na gut, wie ihr wollt. Sicher gab es dort irgendeine Ecke, in die ich mich verziehen konnte, notfalls auf die Toilette. Ich würde auf jeden Fall ein Buch einpacken. Soviel war klar. Langsam beruhigte ich mich und wurde wieder zuversichtlicher. Nur eine Sache konnte ich nicht verstehen. Warum war ich bei Becca eingeladen? Und was wusste Eileen darüber?