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Megan Angelo

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Beschreibung

Zwei Frauen, ein Deal, ein dunkles Geheimnis

Orla möchte unbedingt Schriftstellerin werden. Dafür braucht sie eine Agentur. Doch sie hat weder die Kontakte noch das Selbstbewusstsein, um auf sich aufmerksam zu machen. Also schreibt sie weiterhin Artikel für eine Klatsch-Website, die sie zu Tode langweilen. Bis sie Floss kennenlernt. Floss ist selbstbewusst, gut vernetzt – und will unbedingt berühmt werden. Die beiden Frauen vereinbaren einen Deal: Floss bringt Orla bei einer Agentur unter, wenn diese im Gegenzug ein paar Artikel über Floss schreibt. Eine harmlose Abmachung, von der beide profitieren. Oder? Zu spät begreift Orla, dass sie damit eine Reihe katastrophaler Ereignisse in Gang setzt, die die Privatsphäre aller bedrohen und einige sogar das Leben kosten wird.

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Seitenzahl: 584

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Das Buch

Die schüchterne Orla möchte unbedingt Schriftstellerin werden. Dafür braucht sie eine Agentur. Doch sie hat weder die Kontakte noch das Selbstbewusstsein, um auf sich aufmerksam zu machen. Also schreibt sie weiterhin Artikel für eine Klatsch-Website, die sie zu Tode langweilen. Bis Floss bei ihr einzieht. Orlas neue Mitbewohnerin ist alles, was Orla nicht ist: selbstbewusst, entspannt, gut vernetzt. Und sie will unbedingt berühmt werden. Die beiden Frauen vereinbaren einen Deal: Floss bringt Orla bei einer Literaturagentur unter, dafür nutzt Orla ihre Online- und Social-Media-Skills, um Floss so viele Follower wie möglich zu verschaffen. Eine harmlose Abmachung, von der beide profitieren – glauben sie. Zu spät begreift Orla, dass sie eine Reihe katastrophaler Ereignisse in Gang gesetzt haben, die nicht nur online Konsequenzen haben, sondern die realen Leben von Menschen beeinflussen. Der Selbstmord einer jungen Followerin ist nur der Anfang eines Teufelskreises, dem Orla fassungslos gegenübersteht. Und der die wahren Gesichter der beiden Frauen ans Licht bringen wird.

Die Autorin

Megan Angelo ist in Quakertown, Pennsylvania, aufgewachsen und hat an der Villanova University studiert. Sie hat u. a. bereits für The New York Times, The Wall Street Journal, Glamour and Ellegeschrieben. Sie lebt mit ihrer Familie in Pennsylvania. Follow Usist ihr Romandebüt.

MEGAN ANGELO

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Roman

Aus dem Amerikanischen

von Sabine Thiele

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe FOLLOWERS erschien erstmals 2020

bei Graydon House Books, Toronto.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 11/2022

Copyright © 2020 by Megan Angelo

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julia Martin

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung des Originalumschlags: 2020

by Harlequin Enterprises ULC/Cover Design:

Jovanna Rebecca Tosello; Art Direction: Erin Craig

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27560-0V001

www.heyne.de

Für Mom und Dad,

die mir beigebracht haben, was echt ist.

Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du suchst Anhänger? – Suche Nullen!

FRIEDRICH NIETZSCHE

Ich weiß, wie viel Einfluss ich auf meine Fans und Follower habe. Irgendwie löse ich mit allem, was ich tue – sei es mit meiner Haarfarbe oder meinem Make-up –, immer riesige Trends aus, und mir ist gar nicht klar, wozu ich fähig bin.

KYLIE JENNER

PROLOG

Marlow

New York, New York

2051

Sie vertraute also immer noch auf die Post, diese Frau, wer auch immer sie war. Beim Betreten des Gebäudes fiel Marlows Blick als Erstes auf eine Reihe Metallbriefkästen, alle mit einem Fenster für ein Namensschild, die Schlüssellöcher mit Spinnweben überzogen.

Die meisten Kästen waren unbeschriftet, doch der zur Wohnung 6D gehörende trug denselben Namen, den Marlow sich im Archiv mit Eyeliner notiert hatte. Hinter dem kleinen Glasfenster sah sie einen weißen Umschlag.

Marlow zog eine Haarnadel aus ihrer Frisur, ignorierte die Strähne, die sich dadurch löste und an ihrem verschwitzten Hals kleben blieb. Ellis hatte ihr bei ihrem dritten Date gezeigt, wie man ein Schloss knackte. »Woher weißt du so was?«, hatte sie gefragt und ihn dabei beobachtet, wie er die Haarnadel zurechtbog. Auch wenn sie ihn noch nicht gut kannte, war sie sich sicher, dass er ganz bestimmt noch nie hatte stehlen müssen. Sie wusste, dass er unter denselben Bedingungen aufgewachsen war wie sie.

»Ich finde gern Schwächen heraus und nutze sie aus«, hatte Ellis geantwortet. Und Marlow, zweiundzwanzig und in einer hoffnungsvollen Phase, hatte gelacht und dieses unheilvolle Vorzeichen hoch über ihren Kopf hinwegsegeln lassen.

Jetzt stocherte sie mit dem verbogenen Stück Metall im Schlüsselloch und lauschte auf das Klicken, so wie Ellis es ihr beigebracht hatte. Endlich sprang das Türchen auf, und der Brief fiel ihr entgegen. Sie schob ihn in ihre hintere Hosentasche, schloss den Briefkasten wieder und ging zum Aufzug.

Der bekiffte Hausmeister am Empfang starrte sie an, während sie wartete. Er saß hinter einem Tresen, der so hoch war, dass er eigentlich dahinter hätte stehen müssen. Die blutunterlaufenen Augen des Mannes waren auf Höhe der Verkleidung aus Walnussholz. Er musste gesehen haben, wie sie das Schloss geknackt hatte, sagte aber nichts.

Die Türen im sechsten Stock waren jadegrün gestrichen. Der Teppich schien früher dieselbe Farbe gehabt zu haben, war jetzt allerdings nur noch schmutzig braun. Marlow fand die Tür mit dem ölig wirkenden D aus Messing und klopfte. Keine Reaktion. Sie drehte prüfend den Knauf, und die Tür ließ sich öffnen. Schon stand sie auf einem Fußabstreifer aus schwarzem Gummi mit grellen, pinkfarbenen Streifen. Marlow zuckte zusammen. Seitdem sie Farben wieder deutlich sehen konnte, wurde ihr erst klar, wie viele ihr nicht gefielen. Eine Erinnerung blitzte auf, das mit Rosen vollgestellte Badezimmer ihrer Mutter, kurz bevor sie davongelaufen war. Das war es also mit Pink. Die Farbe würde sie von jetzt an immer damit verknüpfen.

Die Wohnung war leer. Es roch, als sei schon länger niemand mehr hier gewesen. Die Tür fiel hinter Marlow ins Schloss. Zu ihrer Linken befand sich eine enge Küche mit billigen weißen Schränken. Drei Hocker waren unter die graue Theke geschoben, die die Küche von einem langen, reizlosen Raum abtrennte, der etwa sechs Meter breit war. Vom nackten Fenster aus blickte man auf die Eighth Avenue. Die Wände waren in einem langweiligen Baumarkt-Weiß gestrichen, ganz so, als ob die Wohnung auf neue Mieter wartete.

Als sie die Couch betrachtete, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass irgendetwas nicht zusammenpasste. Sie war groß, abgenutzt und hatte die Farbe von geschmolzener Schokolade. Auf dem Kissen, das am nächsten zum Fenster lag, war ein säuberliches, von der Sonne ausgebleichtes Rechteck zu sehen. Das, dachte Marlow mit einem unguten Gefühl im Magen, lässt man nicht einfach geschehen. So wie man intuitiv einen Eindringling spüren würde, nahm sie hier das genaue Gegenteil wahr, eine Abwesenheit, die genauso unheilvoll war.

Sie wusste nicht genau, wie lange sie zitternd auf der Couch gelegen und versucht hatte, sich von der Verfolgungsjagd zu erholen. Nach einer Minute oder auch nach einer Stunde setzte sie sich auf und betrachtete den Brief, den sie zuvor gestohlen hatte. Der Umschlag war weich vom Alter. Die verblasste Briefmarke auf der Vorderseite trug einen Poststempel von Los Angeles. Marlow kratzte an der vergilbten Lasche, riss sie nach und nach auf. Sie wusste nie, wie man diese Dinger öffnete.

Sie zog ein paar Blätter Kinderbriefpapier heraus, dessen oberen Rand eine Kette aus Gänseblümchen schmückte. Darüber war in Großbuchstaben ein Name gedruckt. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, als sie ihn las: MARLOWCLIPP. Sie hatte diese Blätter noch nie gesehen.

Jede einzelne Seite – es waren insgesamt drei – sah gleichermaßen bizarr aus. Vorder- und Rückseite waren bis zum letzten Zentimeter beschrieben. An den Rändern standen die Buchstaben enger beieinander, wo der Verfasser oder die Verfasserin den verbleibenden Platz falsch eingeschätzt hatte.

Erst nach einigen Sekunden fiel ihr auf, dass sie die Worte gar nicht richtig las, gar nicht lesen konnte. Der Brief schien in einer anderen Sprache, in einem anderen Alphabet abgefasst zu sein – voller Schleifen und Rundungen, Verbindungen, die aus den Buchstaben etwas Fremdes und zugleich Vertrautes formten. Da – dieses Wort erinnerte sie an »frei«. Doch war es das wirklich?

Sie würde den Brief mitnehmen müssen. Als ob sie nicht schon verdächtig genug wirkte, und jetzt hatte sie auch noch drei Papierblätter bei sich. Sie übte vorsorglich einen unschuldigen Gesichtsausdruck – Ja, ich habe zufällig Papier dabei. Was ist das Problem? Es wird immer noch für vieles verwendet. Sie selbst hätte ihre Ausrede als Allerletzte geglaubt. Papier war in Marlows Kindheit ein schwieriges Thema gewesen. In ihrem Elternhaus stand in der Garage auf einem hohen Regal ein Schredder, den ihre Eltern abwechselnd herunterholten, wenn der andere gerade nicht da war. Ihre Mutter vernichtete damit die Kassenzettel, auf deren Ausdruck sie aus alter Gewohnheit immer noch bestand, damit ihr Mann ihre verschwenderischen Ausgaben nicht so leicht nachverfolgen konnte. Marlows Vater fütterte das Gerät mit zerknitterten Cocktailservietten, nachdem er sich die darauf notierten Namen und Telefonnummern gemerkt hatte.

In ihrer Kindheit war Papier immer mit Geheimnissen verbunden gewesen, weshalb es sie immer noch überraschte, wie leicht es sich in ihren Händen anfühlte.

Marlow sah mit dem Brief in den Händen auf, als sich draußen auf dem Flur Schritte näherten. Sie wartete auf das Klicken einer sich öffnenden Tür, auf das Geräusch eines Menschen, der jedes Recht hatte, hier zu sein, nach Hause zu kommen. Die Schritte wurden lauter, bis sie schließlich verstummten. Marlow sah, wie sich der Knauf der Wohnungstür drehte – langsam und lautlos, ganz so, als ob die Person auf der anderen Seite der Tür sie noch nicht aufschrecken wollte.

Vorsichtig legte sie den Brief auf die Theke. Erst auf die Augen zielen, dann die Eier? Oder erst auf die Eier, dann die Augen? Sie wünschte, sie und Jacqueline wären vor dem Selbstverteidigungskurs nicht noch zur Happy Hour gegangen. »Das ist doch sowieso nur zum Spaß«, hatte Jacqueline gesagt, die Lippen am Rand ihres Wodka Martinis geschürzt. »Wenn man ernsthaft angegriffen wird, wird einem der Chip Anweisungen geben.«

Doch Marlow hatte ihren Chip nicht mehr.

Soweit sie sich erinnerte, war in dem Selbstverteidigungskurs auch erklärt worden, wie man einen außer Kontrolle geratenen Bot entwaffnete. Doch Bots übten so gut wie nie Gewalt gegenüber Menschen aus, weshalb Jacqueline und sie in dieser Stunde am wenigsten aufgepasst hatten. Stattdessen hatten sie sich unterhalten und den herrlichen Bizeps des Trainers bewundert.

Wenn das ein Bot sein sollte, würde sie sich auf seine Hüftgegend konzentrieren, wo die Kontrolleinheit normalerweise versteckt war.

Wenn es ein Mensch war, würde sie auf die Eier oder den Bauch zielen. Die Vorstellung ihrer Daumen auf fremden Augäpfeln bereitete ihr Übelkeit, auch wenn das als effiziente Verteidigungsmaßnahme empfohlen wurde.

Die Tür öffnete sich. Marlow wappnete sich, versuchte, unzerstörbar auszusehen, als wäre sie aus haltbarerem Material gemacht als das, was sich da im Flur befand. Stärker als herzloser Stahl, stärker als bedrohliche Muskeln. Da fiel ihr plötzlich wieder ein, was die fremdartigen Schnörkel auf dem Papier waren. Der Brief war von Hand geschrieben.

1

Orla

New York, New York

2015

Orla war ohne ihr Handy zu der schlechten Salatbar gegangen, weshalb sie erst nach einer Weile herausfand, dass Sage Sterling gestorben war. Man hatte Sage auf einem Liegestuhl am Pool des Hotels in Los Angeles gefunden, in dem sie seit einem Jahr gelebt hatte. Oft war sie so pleite gewesen, dass sie den Hotelangestellten kein Trinkgeld aus ihrer Handtasche, sondern gleich die ganze Tasche überreichte: abgenutzte Louis Vuittons, alte Balenciagas, bei denen die Hälfte der Fransen bereits abgerissen war. Die Pagen dankten ihr immer überschwänglich, nur um die Taschen dann schnell bei den Fundsachen zu deponieren.

Sage war launisch und schlampig und gelegentlich richtiggehend bösartig, und sie hielt in ihrem Zimmer ein Frettchen namens Mofongo. Trotzdem fühlten sich alle verpflichtet, freundlich zu ihr zu sein, denn außerhalb der Mauern des Hotelkomplexes wartete die Welt nur begierig auf ihr nächstes Missgeschick. Deshalb war es auch nichts Besonderes, wie die Angestellten später der Polizei gegenüber aussagten, dass niemand Sage aufhielt, als sie um etwa drei Uhr morgens an den Pool ging. Und es war auch nicht ungewöhnlich, dass niemand sie ansprach, als die Sonne aufging und sie tief und fest auf einer Liege schlief. Schließlich war sie dafür bekannt, dass nichts und niemand sie aufwecken konnte, sobald sie einmal eingeschlafen war. Paparazzi hatten Sage schon bei einem Schläfchen in abgetrennten VIP-Bereichen von exklusiven New Yorker Bars abgelichtet, in einem Skilift in Gstaad (sie hatte stundenlang darin ihre Runden gedreht) und sogar bei der Premiere eines ihrer letzten Filme, einem aufwendig animierten Abenteuerfilm, der auf dem Spiel Candy Crush Saga basierte. (Sage verkörperte einen der seltenen zitronengelben Spielsteine.) Mit zurückgelegtem Kopf hatte sie während des ganzen furchtbar schlechten Films geschnarcht. Jemand hatte sie dabei gefilmt, das Video wurde auf einem Nachrichtenportal namens Lady-ish.com veröffentlicht und ging sofort viral. Orla hatte es gepostet.

Sage hatte bis etwa acht Uhr morgens still am Pool gelegen, als ein Handtuchjunge sah, wie ihr eine Möwe direkt auf den Bauch kackte. Sage zuckte nicht einmal zusammen. Der Handtuchjunge – »Mitarbeiter des Handtuchservice«, wie er später einen Journalisten korrigierte – ging zu ihr und überlegte, welcher Teil ihres Körpers wohl am angenehmsten anzufassen wäre. Da sah er ihre blauen Lippen. Ihre Augen waren starr und halb geschlossen, wässrige Schlitze unter spröden Wimpern.

Er berührte ihre Schulter, die von der Sonne beschienen wurde. Sie war kalt.

Orla bestellte gerade ihren Salat, als die Nachrichten auf dem Flachbildschirm über ihrem Kopf eine Luftaufnahme des Hotels zeigten. Die Kamera kreiste über dem grauen Schieferdach und verharrte über den nichts ahnenden Werbetafeln am Sunset Boulevard. Der Nachrichtensprecher verkündete, dass irgendwo da unten Sage Sterling im Alter von siebenundzwanzig Jahren gestorben war.

Eine junge Frau hinter Orla, in schmuddeligen Flipflops und Kostümrock, sah von ihrem Handy auf und sagte gelangweilt: »Ich dachte, die wäre schon längst tot.«

Der kräftige Guatemalteke hinter dem Tresen seufzte und vermischte braunrandigen Romana-Salat mit seiner Zange, während Orla mit offenem Mund auf den Bildschirm starrte. Er wartete darauf, dass sie ein weiteres Topping auswählte. Orla tat immer eine ganze Weile so, als würde sie über weiteres Gemüse nachdenken, bis sie dann, als sei es ihr ganz plötzlich eingefallen, sagte: »Ach, einfach zweimal Croûtons, bitte.«

Der Mann vor Orla tippte in Großbuchstaben in sein Handy: SAGESTERLINGISTTOT! Als ob niemand davon erfahren würde, dachte sie, wenn dieser Typ die Neuigkeit nicht im Internet postete.

Nicht, dass sie sich so sehr von ihm unterschied. Im Büro von Lady-ish würde ihre Praktikantin bereits den Nachruf überprüfen, den Orla vor achtzehn Monaten für Sage geschrieben und den sie mit dem Vermerk Auf keinen Fall veröffentlichen, bevor … gekennzeichnet hatte. Sage war in den letzten Jahren in der Redaktion Orlas Hauptthema gewesen. Ingrid, Orlas Chefin, hatte schon früh Sage als Ursache für »irrwitzigen« Traffic auf der Website ausgemacht, nachdem ein Beitrag von Orla über Sages Nageldesign neunzigtausend Klicks in zehn Minuten eingebracht hatte. Von da an musste Orla zu allem, was Sage betraf, Artikel schreiben – wo sie sich aufhielt, welchen Mann oder welche Frau sie küsste, welches Kleid sie trug. Die Klicks wurden immer mehr, vor allem, als Sages Wutanfälle bekannt wurden: Sage packte die Kameras der Fotografen und zwang sie nach unten Richtung Gehsteig. Sage kratzte einen Türsteher so heftig, dass dieser beinahe erblindete. Sage stieß ihren Freund von der Jacht seiner Eltern. Für Storys, die an einem Tag über fünf Millionen Aufrufe erzeugten, erhielt Orla Bonuszahlungen. Sages Ausbruch auf der Jacht hatte Orlas Laptop finanziert. Jetzt versuchte sie sehr angestrengt, nicht darüber nachzudenken, wie viel ihr der Tod des Stars einbringen könnte, verdrängte den Gedanken an ein Paar Stiefel, das sie letztens in einem Schaufenster gesehen hatte – kniehoch und aus hellgrauem Wildleder, für Temperaturen, die noch Wochen entfernt waren. Vielleicht sogar Monate, angesichts der momentanen Hitze.

Orla entschuldigte sich bei dem Guatemalteken und trat ins Freie. Die Praktikantin würde Sages Nachruf unter Orlas Namen bereits veröffentlicht haben. Die Klicks würden durch die Decke gehen, Ingrid schier ausflippen. Nur dieses eine Thema würde heute im Internet wichtig sein. Orla konnte sich jetzt – sowohl zeitlich als auch finanziell – die gute Salatbar leisten.

An diesem Abend schrieb sie dreihundertsechsundneunzig Wörter für ihren Roman, während sie eine Datingshow im Fernsehen ansah. Eigentlich hatte sie sich sechshundert Wörter als Ziel gesetzt, doch die Show war zu fesselnd gewesen. Eine Finalistin hatte sich mit einem Taschentuch die Nase abgetupft und gestanden, dass sie bipolar war. Der haferbreigesichtige Moderator hatte die Augenbrauen gehoben und geantwortet: »Wow. Das hatten wir auch noch nicht.«

Orla nahm sich vor, am nächsten Tag mehr zu schreiben. Dreihundertsechsundneunzig Wörter konnte sie leicht auf sechshundert erweitern, wenn sie noch ein paar Informationen über die orthodoxen Juden einbaute, die sie allerdings erst noch recherchieren musste. Sie selbst kannte keine orthodoxen Juden, doch neben Themen wie Selbstfindung und weiblicher Sexualität sowie kleinen selbst gezeichneten Kritzeleien und Grafiken brauchte das Buch ihrem Gefühl nach einen oder zwei orthodoxe Juden, um edgy und relevant zu sein. Fürs Erste markierte sie jedoch die betreffenden Stellen und fügte am Rand den Vermerk »Noch ausbauen« hinzu.

Sie schrieb an einem Buch, das sie eigentlich gar nicht schrieb. Das Frustrierende war, dass sie das früher einmal sehr gut gekonnt hatte. Als Kind hatte Orla ihre Nachmittage über der elektrischen Schreibmaschine auf dem Zimmerteppich verbracht. Sie hatte nicht einmal Zeit, die blauen Schulkniestrümpfe auszuziehen, war so voller dringender, grotesker Tragödien. Zum Beispiel die von der mörderischen Küchenhilfe, die ihre kindlichen Opfer zu Tacofleisch verarbeitete, oder die von dem Baseballspieler, der von einem wilden Pitch getötet wurde, einem Fastball, der seine neun Töchter mit albernen Namen als Waisen zurückließ. Sie war ungeheuer produktiv.

Doch es gab einen bedeutenden Unterschied zwischen der Zeit in der zweiten Klasse und jetzt. Damals hatte sie noch kein Internet. Wenn sie jetzt mit einem Satz kämpfte oder gar nicht erst den Anfang fand, gab sie auf. Sie ließ ihren Blick von dem trostlosen Word-Dokument zu dem verlockenderen Bildschirm ihres Handys wandern. Plötzlich war es dann ein Uhr nachts, und sie reihte im Halbschlaf irgendwelche Sätze aneinander – wenn sie Glück hatte, in ihrem Manuskript, ansonsten bei Facebook.

Das ganze Scrollen und Starren hielt sie von ihrem großen Lebensplan ab. Orla hatte nämlich schon immer gewusst, dass sie nach New York – die Stadt der Schriftsteller – ziehen würde. Und genau das wollte sie sein. Als Kind hatte sie immer angenommen, dass die Romane in den Regalen der Buchläden allesamt von dem jeweils besten Schreibtalent einer amerikanischen Highschool stammen mussten, die als Erwachsene quasi automatisch zu Autorinnen und Autoren geworden waren. Auf ihrer Schule war sie das größte Talent gewesen und hatte ständig Preise für ihre überzeugenden Essays gewonnen, die von Dingen handelten, die mittlerweile keine Rolle mehr spielten. Sie hatte vom Governor eine Auszeichnung für ihren Artikel über Napster erhalten. Damals hatte sie sich fröhlich vorgestellt, dass New York nur auf sie wartete. Dann kam sie nach New York und stellte fest, dass dem nicht so war. Keinen interessierte ihre Auszeichnung. Sie lernte, was frühere Schulstars wirklich taten, sobald sie in die Stadt gezogen waren. Sie bloggten.

Seit sechs Jahren bloggte sie nun schon auf Lady-ish.com und versuchte genauso lange, ein Buch zu schreiben. Sie gab sich Mühe, ihre alten Lehrer zu ignorieren, die sie auf Facebook aufgestöbert hatten und die ihr zwischen FarmVille-Posts freudige Nachrichten hinterließen, dass sie schon gespannt auf ihr nächstes Projekt warteten.

Doch nicht die Voraussagen und Erwartungen ihrer Lehrer verfolgten sie, sondern die von Danny. Seltsamerweise wurde der Druck immer größer, je mehr Jahre seit ihrer letzten Begegnung verstrichen. Orla redete sich ein, dass sie einen Handel mit sich selbst einging: Wenn sie schon nicht für die ganze Welt etwas Besonderes war, dann würde es reichen, wenn wenigstens er so von ihr dachte.

Jetzt war sie achtundzwanzig, ihr Gehirn von Tausenden von Lady-ish-Beiträgen ausgelaugt und ihr Körper vom täglichen Überlebenskampf in New York müde. Sie suchte nach einer Abkürzung, auch wenn sie das so nicht zugeben konnte, nicht einmal vor sich selbst, einem Weg, um jemand zu sein, der etwas zustande gebracht hatte, ohne es tatsächlich tun zu müssen.

Eine frühere Lady-ish-Kollegin – sie war eine der Älteren im Team gewesen und Anfang, Mitte dreißig – hatte gekündigt, nachdem sie eine Sammlung ihrer Dating-App-Chats an einen großen Verlag verkauft hatte. »Jetzt muss ich das verdammte Ding nur noch schreiben«, hatte Orla die Frau an ihrem vorletzten Tag bei Lady-ish auf der Damentoilette sagen hören. Ihre Agentin, hatte sie hinzugefügt, hatte das noch nicht existierende Manuskript auf Basis eines einzigen Kapitels verkauft. Da war Orla hellhörig geworden. Ein bisschen mehr als ein Kapitel hatte sie bereits. Jetzt brauchte sie nur noch eine Agentin. Doch sie hatte keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollte.

Und dann, ganz plötzlich, tauchte eines Morgens vor ihrem Apartment eine auf.

Orla würde nicht sagen, dass sie die Visitenkarte gestohlen hatte. Nein, wirklich nicht. Zum einen war eine Visitenkarte heutzutage doch sowieso nichts anderes als eine Zusammenstellung von Informationen, die man auch online finden konnte. Zum anderen würde Florence sich nie daran erinnern, dass sie die Karte verloren hatte. Als sie am Abend zuvor nach Hause gekommen war, war sie so betrunken gewesen, dass sie kaum die Wohnungstür gefunden hatte. Orla war davon aufgewacht, wie Florence den Hausflur entlangstolperte und den Schlüssel in verschiedene Schlösser zu rammen versuchte. Endlich wurde ihre Wohnungstür aufgestoßen, und Florence brüllte: »Sechs! D! Verdammt! Ich wohne in 6D!« Eine Flut an Gerüchen – Rum, Schawarma, Florence’ erdrückendes Zuckerwatteparfüm – strömte zu Orla unter der Tür in der nachträglich eingezogenen Wand hinein, die das Wohnzimmer in zwei Hälften teilte und damit ein zweites Schlafzimmer möglich machte.

Florence war vor drei Wochen eingezogen und seither nie vor der letzten Runde nach Hause gekommen. Orla hatte ihre neue Craigslist-Mitbewohnerin seit dem Tag ihres Einzugs kaum zu Gesicht bekommen, als sie in einem weißen Top ohne BH eingetroffen war und ihr langes, dunkles Haar sich in ihren Achselhöhlen verfangen hatte. Florence schlief tagsüber und wachte in der Abenddämmerung auf, um sich dann zurechtzumachen. Der Gestank ihrer vom Glätteisen verbrannten Haare vermischte sich mit dem Geruch von Orlas Mikrowellenessen. Sie verließ die Wohnung jeden Abend, nachdem Orla ins Bett gegangen war, kam im Morgengrauen zurück und legte sich schlafen, wenn Orla zur Arbeit ging und sich durch die Spuren von Florence’ nächtlichen Abenteuern im Wohnzimmer kämpfen musste. Schuhe lagen vor der Tür, auf dem Linoleumboden in der Küche eine einsame Clutch, Kreditkarten waren halb unter den Herd gerutscht, die Schlüssel hingen noch im Türschloss.

Doch an diesem Morgen fand Orla noch etwas anderes: Visitenkarten, die auf dem fusseligen Teppich im Wohnzimmer verstreut lagen. Orla sammelte sie auf und las sie alle. Modelscouts, Fernsehproduzenten, kleine Angestellte von Kosmetikfirmen sowie ein Mann, der sich »Designer von Personenmarken und 360-Grad-Imageguru« nannte. Orla legte die Karten auf die Theke und verließ die Wohnung.

Beim Aufzug lag eine weitere Karte auf dem verfilzten jadegrünen Teppich. Orla konnte die Aufschrift lesen, ohne das Stück Papier aufheben zu müssen: Marie Jacinto, Literaturagentin. Die Karte war wenig beeindruckend. Der Name der Agentur klang nach einem kleinen Unternehmen, das Papier war so dünn, dass es sich leicht im Luftstrom bewegte, als der Aufzug kam und die Türen sich öffneten.

Orla trat in die Kabine, dann legte sie die Hand an die Tür und trat wieder hinaus. Kann ja nichts schaden, dachte sie sich. Damals hatte sie noch keinen Grund, es nicht zu glauben. Während sie die Visitenkarte aufhob und in ihrer Handtasche verstaute, formulierte sie im Kopf bereits eine E-Mail an Marie Jacinto.

Die ungewohnte Stille hing morgens schwer in der Wohnung zwischen den heulenden Sirenen der Feuerwehrwagen, die die Eighth hinaufrasten. Auch wenn sie schon seit Jahren hier lebte und damit ältere Rechte hatte, versuchte Orla, Florence nicht aufzuwecken. Sie schaute die Morgennachrichten ohne Ton, ließ ihre Haare an der Luft trocknen und holte sich unterwegs einen Kaffee, anstatt in der Küche Bohnen zu mahlen. Sie sagte sich, dass die Ruhe ihrem Gehirn guttat und dass die feuchten Haare sie in der Augusthitze in der U-Bahn abkühlten. Und ein Pappbecher mit Kaffee in der Hand gehörte in New York einfach sowieso dazu. Doch Orla wusste, dass es letztendlich einfach ihrer Persönlichkeit entsprach. Sie war schon immer diejenige gewesen, von der sich unverschämte Klassenkameradinnen Kleidung geliehen hatten, die sich vielmals entschuldigte, wenn sie auf der Straße angerempelt wurde. Die Art Mensch, die bei den Teambuilding-Tapasabenden der Redaktion keinen Einspruch erhob, wenn die Kolleginnen schreckliche Sachen wie Tintenfisch und Ente bestellten, und es dann nicht schaffte, sich Kohlenhydrate zu sichern. Orla hasste Tapas. In Sachen Essen hasste sie überhaupt vieles in New York: dicke Fleischscheiben in den Sandwiches, meterlange Schlangen wegen irgendeines komischen neuen In-Gebäcks, wie die Menschen von Köchen sprachen, als würden sie sie persönlich kennen. (»Der Laden gehört Boulud«, hatte Ingrid letztens beiläufig gesagt, als ob sie früher jeden Tag mit ihm Basketball gespielt hätte.) Vor allem aber hasste Orla Brunch, weil er sich den ganzen Tag hinzog und die Leute aus ihren Wohnungen auf die Gehsteige holte und sie sich unglaublich allein fühlte, wenn sie mit ihrem einsamen Bagel an ihnen vorbeilief.

Doch das Brunchen hatte auch etwas Gutes, denn sonntags war Florence damit beschäftigt. Orla hörte sie in ihrem Zimmer – dem eigentlichen Schlafzimmer der Wohnung –, vor allem aber ihr dauernd piepsendes Handy, bis sie endlich jemanden anrief und endlos über die Auswirkungen des vorherigen Abends sprach. »Haaallo, Süüüße«, jammerte sie dann lang gezogen. »Maaaaann. Ich habe soooo einen Kater.« Das Gespräch endete immer damit, dass Florence sich in zwanzig Minuten irgendwo mit irgendwem treffen wollte. »Ich springe gleich in ein Taxi«, war ihre übliche Verabschiedung. Dann schlief sie eine weitere Stunde, bis sie unter großem Getöse die Wohnung verließ.

An dem Sonntag, nachdem Orla die Visitenkarte aufgehoben hatte, hörte sie durch die Wand wieder eines dieser Telefonate. Plötzlich verstummte Florence so abrupt, dass Orla schon Angst hatte, ihre Mitbewohnerin ersticke gerade. Sie holte den Laptop vom Schreibtisch und googelte bereits das Heimlich-Manöver, als sie Florence sagen hörte: »Verdammt. Ich rufe dich gleich zurück.« Offensichtlich hatte sie einen anderen Anruf erhalten. Orla klappte den Laptop zu und bewegte sich nicht. Etwas an Florence’ Ton ließ sie rätseln, wer sie da zu erreichen versuchte.

»Hallo, Mommy«, sagte Florence. Ihre Stimme hatte einen leicht erschrockenen, aber gleichzeitig auch harten Unterton, als ob sie etwas Scharfem ausweichen würde, bevor es geworfen werden konnte.

»Was ist mit ihr?«, fuhr sie besorgt fort. »Oh. Das ist ja nicht so schlimm. Du hast mir echt Angst eingejagt. Ihre Pfote ist immer so.« Pause. »Soll das ein Witz sein? Sie einschläfern? Sie ist doch nicht einmal krank. Du willst dich nur nicht um sie kümmern …«

Die Klimaanlage unter dem Fenster erwachte ratternd zum Leben. Orla sprang auf und schaltete sie ab.

»Mach bitte nichts«, sagte Florence, »bis ich mir einen Flug nach Hause leisten kann. Ich hole sie und nehme sie mit zu mir … Bitte, Mom.«

Orla stellte sich vor, wie jemand am anderen Ende der Leitung blechern protestierte, glaubte es beinahe zu hören.

»Ich weiß, dass du mir nicht glaubst«, fuhr Florence fort. »Aber ich fasse hier wirklich Fuß. Die Leute lieben meine Stimme. Sie verstehen mich. Ich lerne so viele kennen … Gib mir ein paar Wochen, okay? Vergiss die Flugpreise nach Ohio – wenn es so weitergeht, habe ich bald einen Plattenvertrag. Ich kann dir ein neues Haus kaufen.«

Noch eine Pause, dann sprach Florence so schnell und mit so niedergeschlagener Stimme weiter, dass Orla fast zu ihr gerannt wäre und sie in den Arm genommen hätte. »Nein, nein, nein. Ich liebe unser Haus. So habe ich es nicht gemeint. So etwas macht man eben als berühmte Sängerin.«

Dieses Mal war Orla überzeugt, Spott am anderen Ende der Leitung zu hören.

»Also, ich glaube schon, dass ich es werden könnte«, antwortete Florence leise.

Danach hörte Orla nur noch, wie ihre Mitbewohnerin auf und ab ging. Orla stand auf, vermied die quietschende Stelle auf dem Bett und setzte sich an die Tür, um ein Ohr dagegenzupressen.

Florence tätigte weitere Anrufe, die alle kurz ausfielen.

»Ich habe Ihnen vor ein paar Monaten mein Demo geschickt … Oh, haben Sie?«

»Und Sie dachten, Sie hätten vielleicht einen freien Platz in der Show … Oh, das war schon?«

»Ich habe gesehen, dass Sie nach neuen Models suchen … Hallo?«

»Ja! Das ist so nett von Ihnen. Ich meine, ich arbeite schon so lange an diesen Songs … Oh. Nein, tut mir leid, da muss ich Sie gleich unterbrechen. Ich bin nicht blond. Nein, ich war die mit den dunklen Haaren. Klar. Ich verstehe. Ich bin unter dieser Nummer zu erreichen, falls Sie … Okay. Tschüs.«

Orla hielt den Atem an, wartete, wie es weiterging. Sie konnte sich ungefähr vorstellen, wen Florence gerade anrief: die sogenannten Promoter und Produzenten, die immer männlich waren, die behaupteten, alles und jeden zu kennen, und überall die Finger im Spiel hatten, die ihre Geschäfte vom Handy aus führten statt von einem Büro, die Anrufe auch sonntags entgegennahmen. Solche, die irgendwie immer nur in hübschen Mädchen Potenzial sahen, sich in Bars an sie heranmachten und Treffen vereinbarten, die unweigerlich in der Wohnung des Mannes endeten.

Nach einer Weile hörte sie, wie Florence leise in dem steifen Ton von jemandem sprach, der eine Nachricht auf einer Voicemail hinterließ: »Ich wollte mich wegen der Junior-Programmiererstelle melden. Fuck«, fügte sie leise hinzu, und Orla hoffte, dass sie vorher aufgelegt hatte. Zehn Sekunden später ging Florence zum Brunch.

Nachdem sie eine Stunde die leere Wohnung genossen hatte, wurde es Orla langweilig, und sie machte sich auf den Weg ins Büro. Sie spazierte die Twenty-Third Street nach Osten entlang, direkt in die Sonne und auf das weder alte noch neue Gramercy-Gebäude zu, das sich die Redaktion mit Zahnärzten und Buchhaltern teilte. Sie wollte schon mal an ihren Posts für die kommende Woche arbeiten. Sage war seit sechs Tagen tot. Die Slideshow der Promis bei ihrer Beerdigung hatte ihnen bisher neun Millionen Klicks eingebracht, doch die Leserinnen und Leser verloren langsam das Interesse. Orlas Folgeartikel darüber, dass drei Stars bei der Beerdigung denselben Hut getragen hatten, hatte fast doppelt so viele Aufrufe geschafft, auch wenn das gesamte Internet Entsetzen über die unsensible Berichterstattung vorgetäuscht hatte. DASISTWIRKLICHUNPASSEND!, hatte eine Lady-ish-Leserin kommentiert und damit Orlas eigentliche Meinung zu dem Beitrag wiedergegeben. Doch Ingrid hatte nur gesagt: »Hätten wir es nicht gebracht, hätte es jemand anders getan.«

Orla war gern am Wochenende im Büro – sie mochte das gedämpfte Licht und die natürliche Kühle, wenn nicht alle Schreibtische von nervösen Kolleginnen besetzt waren. Sie setzte sich an ihren Platz und legte die Hand auf die Maus, mit der sie den Computer aus dem Ruhezustand aufweckte. Während sie die Social-Media-Plattformen durchforstete, um zu sehen, ob zum Beispiel irgendeine Schauspielerin sich plötzlich am Wochenende die Haare abgeschnitten hatte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie Ingrids Bürotür aufgeschoben wurde.

»Hallo«, sagte Ingrid, als sie neben Orlas Schreibtisch stand. Orla blickte auf. Ingrids Haare waren noch fettiger als sonst. Ihre Chefin brauchte sechs Arbeitsschritte, bis sie sich die Lippen fertig geschminkt hatte, inklusive Konturenstift, Gloss und Puder, doch ihre Haare wusch sie anscheinend nur einmal pro Mondzyklus. »Wie war dein Wochenende?«, fragte sie, als ob es schon vorbei wäre, und fuhr gleich darauf fort: »Kannst du morgen einen roten Teppich übernehmen? Diese Wie-hieß-sie-noch-gleich wird dort sein, und ihre Presseagentin nervt mich immer, aber wir müssen sie bei Laune halten, weil sie auch dieses YouTube-Mädchen vertritt, du weißt schon, die mit der Harfe.«

»Morgen?« Orla blickte zur Seite und suchte nach einer Ausrede.

»Ich dachte nur, dass du jetzt Zeit dafür haben könntest«, sagte Ingrid bedeutungsvoll, »nachdem es über Sage ja bald nichts mehr zu schreiben gibt.«

Orla nickte. Sie würde es machen. Im Jahr zuvor hatte ein hübscher europäischer Prinz, der immer betrunken vor irgendwelchen Clubs hingefallen war, dem Alkohol abgeschworen, war der Armee beigetreten und von der Bildfläche verschwunden, woraufhin eine Bloggerin bei Lady-ish ihren Job verloren hatte. Orla wollte ihren auf jeden Fall behalten – schließlich hätte sie sonst nie die Chance, von selbst zu gehen. Und davon fantasierte sie ständig: Wie sie bei Lady-ish kündigte, nachdem sie ihr Buch verkauft hatte, genauso wie die Kollegin mit ihren Tinder-Erlebnissen. Wie sie eine Kiste mit ihren Sachen hinaustrug, auch wenn sie gar nichts im Büro aufbewahrte. Ihr Arbeitsplatz war nur ein sechzig Zentimeter breiter Abschnitt eines langen, Cafeteria-ähnlichen Tisches, den sie sich mit neun weiteren Bloggerinnen teilte. Keiner hatte Rollcontainer oder Pflanzen oder Bilderrahmen – es fehlte ihnen ja schon an Büromaterial. »Wo ist der Stift?«, rief immer irgendwer in regelmäßigen Abständen, und wer auch immer ihn gerade hatte, ließ ihn über den Tisch zur nächsten Nutzerin rollen.

Sie wusste, sie war nicht die Einzige, die davon träumte zu kündigen. Wenn sie und ihre Kolleginnen im Konferenzraum saßen und Ingrid dabei zusahen, wie sie mit ihrem Laserpointer auf einem Bildschirm einige der meistgeklickten Headlines abfuhr (»Kaum zu GLAUBEN, wie dieser Megastar OHNE Extensions aussieht«), dachte Orla daran, dass alle geistig gerade woanders waren, ihre nächsten Schritte überlegten, sich bewusst machten, dass sie besser waren. Besser als dieser Job und auch besser als die andere junge Frau neben ihnen. Vor allem das war wichtig. Orla glaubte fest daran: Irgendwann würde sie hier weg sein, würde größere Dinge tun, und die junge Frau neben ihr würde immer noch auf ihrem Platz sitzen. Hoffentlich. Irgendjemand musste bleiben und das sein, was Orla vorher gewesen war.

Doch was kam nach dem Vorher? Das fragte sie sich im Morgengrauen, wenn Florence die Wohnungstür polternd öffnete und sie weckte, und nachts, wenn sie auf ihr Handy starrte, während sie eigentlich schreiben oder schlafen sollte. Mehr als alles andere – eine Schriftstellerin zu sein, einen Freund zu haben, wie es sich anfühlte, zu atmen ohne vierzigtausend Dollar Schulden – wollte sie eine Antwort auf diese Frage. Sie lebte in einem Vorher, und langsam hatte sie es satt. Das Gefährliche an diesem Zustand war, dass sie nicht genau wusste, was eigentlich passieren sollte, und es war ihr auch egal, dass sie es nicht wusste. Fast jede Veränderung wäre willkommen.

2

Marlow

Constellation, Kalifornien

2051

Der Morgen sorgte für die Einschaltquoten. Marlow wachte um sieben auf und nahm eine Tablette vor den Augen von – sie warf im Kopf einen Blick auf ihr Dashboard, auf dem die Zahl ihrer Zuschauer blinkte – momentan elf Komma sieben Millionen Menschen. Sie hakte die Decke unter ihren Achseln an zwei Stellen ein – um Kleiderpannen zu vermeiden, waren überall an ihrem Bettzeug Schlaufen angenäht sowie kleine Haken in die Spitzensäume der kurzen Seidennachthemden, die sie beim Schlafen trug. Dann setzte sie sich auf und nahm drei tiefe Atemzüge. Beim letzten öffnete sie die Augen. Langsam blinzelte sie viermal. Lächelte zweimal. Das erste Lächeln sollte noch verschlafen aussehen, das zweite dann spontan und fröhlich, als ob ihr gerade wieder bewusst würde, dass sie am Leben war und sich deshalb unglaublich gesegnet fühlte.

Mit anderen Worten, es sollte so aussehen, als würde die Tablette schnell wirken.

In letzter Zeit hatte Marlow ein paar Bewegungen zu dem zweiten Lächeln hinzugefügt, hatte geseufzt und die Arme über den Kopf gestreckt. Doch das Network hatte ihr gestern eine tadelnde Nachricht geschickt und sie daran erinnert, so viel wie möglich auf Kontinuität zu achten. Abweichungen von lang eingeführten Routinen können auf die Zuschauer wie Zeichen seelischer Probleme wirken. Ihre Follower hingegen hatten andere Sorgen. Marlow senkte die Hände und schloss die Augen, doch zuvor sah sie gerade noch rechtzeitig einen Kommentar auf dem Bildschirm vorbeilaufen: Finde das nur ich, oder hat Mar irgendwie dicke Achselhöhlen?

Marlow sah zu Ellis, der neben ihr auf dem Bauch schlief. Sie konnte ihn nicht fragen, ob er fand, dass ihre Achselhöhlen fett waren. Es vor der Kamera anzusprechen würde die Existenz des Kommentars anerkennen, überhaupt die Existenz ihrer Zuschauer. Das verstieß gegen die Beschäftigungsvereinbarungen. Was natürlich eine totale Farce war; ihre Follower wussten, dass sie wusste, dass sie ihr zusahen. Sie wussten, dass sie sah, wie sie über sie redeten. Doch sie und die anderen Darsteller gaben immer vor, einfach zu leben – das wollten die Zuschauer. Sie fühlten sich gern wie Voyeure; sie wollten nicht, dass man ihnen in die Augen sah. Weshalb auch in Marlows Vertrag stand: Das Constellation Network duldet keinerlei Verstoß gegen das Aufrechthalten der Illusion.

Sie stand auf und tappte zum Badezimmer, lauschte auf das leise Summen der Kameras in den Ritzen in den Wänden, die sich mit ihr bewegten.

Die Drehbuchautoren hatten ihren Schrank schon wieder umgeändert, bemerkte Marlow, als sie die Türen aufzog. Als sich der gestrige Tag endlos vor ihr erstreckte, hatte sie sich auf ihrer Veranda im Garten zurückgelegt, die Augen hinter der Sonnenbrille geschlossen und träge in Gedanken einen Befehl gegeben, um etwas zu tun zu haben: Bilder von Vintage Fashion. Das Stöbern wurde zu einer Obsession, die Obsession wurde zu der Anfrage, den Kleiderschrank neu auszustatten, die innerhalb einer Stunde erfüllt wurde. Als Marlow in ihrem Sarong im Schneidersitz auf der taubengrauen Sonnenliege saß und einen Spinatsalat mit Erdbeeren aß, näherte sich eine Drohne und landete auf der Veranda. Sie klappte ihre Arme aus und stellte eine Kleiderstange ab, an der die Sachen hingen, die sie angefordert hatte: Jeans mit Rissen an den Knien, schulterfreie Blusen, die sich im Wind blähten.

Als sie alles angezogen hatte, grinste Marlow ihrem Spiegelbild zu und fühlte sich wie ein Pin-up aus den Nullerjahren. Doch dann sah sie, dass ihr Dashboard vor Kommentaren geradezu vibrierte. Bei dieser Hose habe ich überlegt, ob ich wirklich dieselben Pillen schlucke wie sie, hatte jemand geschrieben.

Als sie an diesem Abend im Bett lag, hörte Marlow die Haushaltsdrohne lauter als sonst, wie sie abwusch, das Geschirr wegräumte und die Decken zusammenfaltete, die Marlow und Ellis auf den Sofas liegen gelassen hatten, als sie ins Bett gingen. Danach räumte die Drohne in Marlows Kleiderschrank herum. Und natürlich waren die Vintage-Sachen heute Morgen alle verschwunden.

Jetzt zog Marlow einen limettenfarbenen Kapuzenpullover und dazu passende Leggins von einem Kleiderbügel. Wenn dem Network ihre Outfits so wichtig waren, dann sollten sie sie selbst digital per Greenscreen einfügen.

Ganz schön mutig, das Blumenmuster auf der Strickjacke, aber sie kann das tragen!, erschien einen Moment später ein neuer Kommentar. Schon gekauft!

Marlow unterdrückte den aufsteigenden Würgereiz bei den Worten »mutig« und »Blumenmuster«. Sie könnte schwören, dass es jemand vom Kleiderteam auf sie abgesehen hatte.

Andererseits, dachte sie, während sie in die Küche ging und den Kühlschrank öffnete, hatte sie einen Schutzengel im Requisitenteam. Kürzlich hatten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen Koffein und Angstzuständen nachgewiesen, und das Network war sofort ausgeflippt, weil Marlow Kaffee trank. Doch irgendjemand bei der Requisite war ihr zur Rettung geeilt und hatte einen Kaffee nur für sie entwickelt, dem man die Farbe von frisch gepresstem Saft verpassen konnte. Jetzt öffnete Marlow eine Plastikflasche, auf deren Etikett Karotte-Apfel stand, trank einen Schluck von der terrakottafarbenen Flüssigkeit und schmeckte bitteren, kalten Iced Espresso. Sie entspannte sich sofort; ihre Schultern sanken herab, ihre Stimmung wurde besser, ihr Gesicht weicher. Sie spürte, wie attraktiv sie in diesem Moment war, und wie aufs Stichwort hörte sie ein gedämpftes Klicken. Die Kamera im Messingknauf der Schranktür auf der anderen Küchenseite hatte den Moment eingefangen, ein perfektes Bild für die Hysteryl-Werbung, die in der Ecke ihres Live-Feeds eingeblendet werden würde. In – Marlow zählte mit – drei, zwei …

Sie sieht WIRKLICH immer so zufrieden aus, erschien ein Kommentar auf dem Dashboard. Beim nächsten Promocode für Hysteryl probiere ich es vielleicht mal aus.

Findet niemand komisch, wie sie den Saft trinkt?, fragte ein anderer Follower. Sie GENIESST selbst die kleinsten Schlucke. Ich wette, sie trinkt eigentlich Kaffee, und sie ändern es digital ab.

Marlow erstarrte, die Flasche noch an den Lippen. Sie wartete einen Moment, bis der Kommentar verschwand, dann legte sie den Kopf zurück und zwang sich zu einem großen Schluck. Sie atmete unauffällig aus, um keinen verräterischen Kaffeeatem auszustoßen. Dann unterdrückte sie ein Lächeln; ihre Follower konnten sie schließlich nicht riechen. Ihr Herzschlag stockte einen Moment, wie immer, wenn ihr etwas Neues einfiel, auch wenn sie manchmal jahrelang nichts zu der Liste hinzufügte: Dinge, die mir gehören. Die Stunde zwischen drei und vier Uhr morgens, wenn die Übertragung für Werbung unterbrochen wurde. Ankleideräume und Behandlungszimmer bei Ärzten, Toiletten zu Hause und in der ganzen Stadt. Am liebsten mochte sie eine Toilettenkabine in dem veganen Bistro in der Innenstadt – als Teenager hatte sie oft mit einer Nagelfeile gemeine Sachen über einige ihrer unhöflicheren Follower in die Emaille-Wände geritzt. Und jetzt: ihr Geruch. Eine Kleinigkeit, doch sie gehörte ihr ganz allein.

So war es seit fast einem Jahrzehnt auf Jacquelines Partys gewesen. Marlow hatte immer auf dem melonenfarbenen Sofa gesessen, an der rechten Armlehne, ihre gute Seite zeigte zur Kamera Ost. Ihr gegenüber hatte Ida auf dem Sessel mit dem Gänseblümchenmuster gesessen und irgendeinen Mist geplappert. Marlow hatte ihr gern gegenübergesessen, als die Frau noch eine derbe, schlampige Alkoholikerin gewesen war. Doch dann wurde Ida trocken, Hausfrau und Mutter und führte die meiste Zeit kleine Dramen wegen ihrer Allergien auf. Einmal war sie schnüffelnd um einen Polsterhocker herumgelaufen, als ob er eine Landmine wäre. »O Gott, ist das etwa Mohair?« Ida war regelmäßig durchs Zimmer gestürzt, um ein Fenster zu schließen, und hatte dabei gejammert: »Tut mir leid, die Pollen, das muss sein.« Einmal hatte ein Roboterkellner Idas Allergien nicht von ihrem Chip ablesen können und ihr ein Tablett mit Krabbencocktails angeboten. In der nächsten Woche war sie ins Rathaus gegangen und hatte dort einen zwanzigminütigen Vortrag über ihren Ausschlag gehalten, gekrönt von der Forderung, dass das Network die beleidigende Maschine außer Dienst nehmen, nein, sogar zerlegen solle, wie sich Marlow mit einem schockierten Schaudern erinnerte.

Heute Abend fehlte Ida jedoch, war ohne Erklärung ersetzt worden. Eine junge Frau mit olivfarbener, glatter Haut, wunderschönen Wangenknochen, bronzefarbenem Lippenstift und schwarzem, zu zwei Zöpfen geflochtenem Haar saß stattdessen in Idas Sessel. Sie hatte die nackten Füße unter sich gezogen, als ob sie schon immer dabei gewesen wäre.

Marlow sah zu Jacqueline, die in der Mitte des Raums auf dem dicken sandfarbenen Teppich stand und etwas hochhielt, das man »Scrunchie« nannte. Bei diesen Partys bewarb Jacqueline Dinge, die angeblich ihr Leben verändert hatten: Bauchmuskeltrainer, Smoothies, hässliche wattierte Handtaschen. Marlow wusste, wie alle anderen auch, dass keines dieser Dinge Jacquelines Leben verändert hatte. Das Network wählte die Gegenstände nach Werbeverträgen aus. Dann veranstaltete Jacqueline Partys, auf denen sie die Sachen hochhielt und ihrem Dutzend Gästen im Wohnzimmer sowie ihren etwa neun Komma neun Millionen Followern – plus den Followern der anderen Anwesenden – davon vorschwärmte. Die Gegenstände, die das Network auswählte, spiegelten Jacquelines Kernzuschauergruppe wider: verheiratete Mütter in ganz Amerika, zwischen achtundzwanzig und vierundvierzig, die an Wochentagen abends um neun einschalteten, während sie Wäsche zusammenlegten. Auch wenn Jacqueline hervorragend zu ihren Followern passte – sie war achtunddreißig und hatte zwei Töchter –, war sie immer verlegen, wenn jemand ihre Zielgruppe erwähnte. »Ich fühle mich dabei so alt und langweilig«, hatte sie Marlow einmal erzählt. »Immer noch besser als meine«, hatte Marlow erwidert. Dagegen konnte keiner etwas sagen.

»Wo ist Ida?«, rief Marlow Jacqueline über die anderen Gäste hinweg zu, die wegen des Scrunchies bewundernde Geräusche von sich gaben.

Jacqueline ignorierte sie, schob das samtige Haargummi auf ihr Handgelenk und drehte es so, dass alle es sehen konnten. »Als Armband ist es auch supersüß«, schwärmte sie.

»Jac«, wiederholte Marlow. »Ist Ida im Urlaub?«

Der letzte Teil ihrer Frage ging unter, als etwas klirrend zu Boden fiel. Die Frauen drehten sich um; ein Roboterkellner stand gebeugt über den Scherben eines Weinglases. Marlow sah, wie sich die Lilien in der Vase auf dem Couchtisch in dieselbe Richtung drehten. Ihre roten Stempel reckten sich, damit die winzigen Kameras das Geschehen besser einfangen konnten. Sie hätte schwören können, dass der Bot das Glas hatte fallen lassen, um Idas Namen zu übertönen.

Sie sah wieder zu Jacqueline. Ihre Freundin nickte knapp und tippte sich an die Lippen. Ihr Zeichen für Erzähle ich dir ohne Kameras.

Eine Stunde später ging Marlow gerade an der Toilette vorbei, als Jacquelines Arm herausschoss und sie in den Raum zog. »Ida ist weg«, erzählte Jacqueline, während sie die Tür schloss.

»Weg?« Marlow sah sich im Spiegel. Eine von Jacquelines Frisierdrohnen hatte ihr mit klappernden silbernen Greifern eine lächerliche Seidenschleife in die dunklen, welligen Haare geklemmt.

»Ja«, antwortete Jacqueline. »Hat Mike und die Kinder einfach verlassen. Ist aus dem Stadtgebiet abgehauen und hat sogar den verdammten Staat verlassen.« Sie zeichnete mit den Fingern einen unsichtbaren Weg in der Luft nach. »Schau mal auf deine Karte. Sie ist in Denver. Und um Himmels willen, Marlow, sprich vor der Kamera nicht mehr von ihr.«

»Aber was ist mit ihrem Vertrag?«, fragte Marlow. »Ich dachte, sie und Mike sollten sich dieses Jahr trennen.« Sie öffnete die Haarspange und massierte sich die Kopfhaut, wobei sie Jacquelines empörtes Schnauben ignorierte.

»Sie haben offensichtlich noch nicht einmal eine Jagd nach ihr veranstaltet«, sagte Jacqueline und rückte den Perlenkamm an ihrer Schläfe zurecht. Sie saugte die Wangen ein und sah ihr Spiegelbild böse an. »Wie beschissen das wohl für einen ist? Es scheint ihnen total egal zu sein, dass sie weg ist. Ich glaube ernsthaft, dass das Network froh war, so die Neue unterbringen zu können. Diversity und so.«

»Jacqueline«, sagte Marlow mit fester Stimme. Seit sie fünfunddreißig geworden war, versuchte sie das öfter. Dieses Alter fühlte sich für sie wie eine Art kosmische Deadline an, um endlich stark und selbstbeherrscht zu sein. Vollständig. »Jagden sind nicht echt.«

»Natürlich sind sie das«, gab Jacqueline in einem noch entschiedeneren Tonfall zurück. Marlow ließ es durchgehen. Jacqueline war eine überzeugte Besserwisserin, und das liebte Marlow an ihr. Die dreiste Autorität ihrer Freundin vermittelte ihr immer Sicherheit.

Jacquelines Blick zuckte einen Moment zur Seite. Sie nickte, aber nicht zu Marlow. Ihr Chip teilte ihr etwas mit. »Ich muss wieder nach draußen«, sagte sie. »Wir sehen uns später.«

Marlow blieb in der Toilette und drehte die Stäbchen in der Raumduftflasche auf dem Waschbecken. Sie schloss die Augen. Finde Ida Stanley, befahl sie stumm.

Vor ihrem inneren Auge schrumpfte Kalifornien und flog davon. Marlows Magen machte einen Satz, als ob sie selbst fallen würde. Ihre Karte veränderte sich, Hunderte Symbole ihrer Nachbarn strichen undeutlich vorbei, und Marlow landete in Denver wieder auf dem Boden. Idas Symbol – der rote High Heel, der Marlow immer deprimiert hatte – schwebte über der Stadt. Da war sie, stolz nach ihrer Flucht, im Bundesstaat – Marlow musste ins Bild zoomen, um sich in Erinnerung zu rufen, in welchem Staat Denver lag – Colorado. Marlow stellte sich Ida auf einem Berg mit lilafarbenen Blumen vor. Niesend.

Der schwarze Chip an ihrem Handgelenk vibrierte sanft. Ich habe eine Nachricht aus der Produktion, ertönte die Stimme in ihrem Gehirn. Ich sollte an einen Ort mit Kameras zurückkehren. Ich war jetzt fünf Minuten außer Sicht. Während dieser Zeit habe ich achtundsiebzig Follower verloren.

Marlow sah im Spiegel, wie sie vor Gewissensbissen errötete. Es war, als wüsste das Network, was sie in diesem Moment gedacht hatte: Wie es wohl wäre, wenn sie auch einfach abhauen würde.

Ich habe neunundachtzig Follower während meiner Zeit außerhalb des Kamerabereichs verloren, ertönte die Stimme erneut.

Neunundachtzig Follower war gar nichts. Marlow hatte durchschnittlich immer über zwölf Millionen Zuschauer. Und deshalb hatte Ida auch weglaufen und damit durchkommen können, dachte sie, im Gegensatz zu ihr. Ida hatte … wie viele Follower? Eins Komma fünf Millionen? Sie war kein Liebling der Fans, vor allem nachdem aus dem Partygirl eine durchschnittliche Hausfrau geworden war. Sie hatte nicht einmal einen Sponsor.

Marlow hingegen war die Frau, die die meisten Blicke auf sich zog und von einem Weltklassepartner präsentiert wurde: Hysteryl. Ihre Follower – die Menschen, die jede ihrer Bewegungen verfolgten – waren über ganz Amerika verteilt und setzten sich aus verschiedenen Altersgruppen und Ethnien zusammen. Ihre Gemeinsamkeit war, dass sie alle Probleme hatten. So hatte das Network Marlow vermarktet, als Aushängeschild für jemanden mit Problemen, Constellations Star, der verstand, was die Menschen da draußen durchmachten. Das Network durchforstete öffentliche Daten, suchte nach Erwachsenen, deren Chips zu viele Tränen oder zu viel Essen verzeichneten. Es suchte nach Kindern, deren Herzschlag sich im Sportunterricht panisch beschleunigte. Kennst du schon Marlow?, schickte das Network direkt eine Werbung auf ihre Chips. Sie weiß genau, wie es dir geht. Die traurigen Menschen, die sich freuten, dass man mit ihnen sprach, schalteten sofort zu. Sie sahen, wie Marlow in heiterer Normalität ihre Tage verbrachte, und wurden in regelmäßigen Abständen daran erinnert, dass Hysteryl dies für sie möglich gemacht hatte. Jacquelines Aufgabe war es, Amerika zu zeigen, was man kaufen konnte, um glücklich zu bleiben. Marlows Aufgabe war es, den Leuten zu zeigen, was sie schlucken sollten.

Sie zwang sich zur Ruhe, drängte die Röte in ihren Wangen zurück.

Ich sollte vor die Kameras zurückkehren.

In Marlows Haaren war ein Knick zu sehen, wo sie die Spange mit der Schleife herausgelöst hatte. Sie befestigte sie wieder, zog sie sogar noch fester, und ging zurück zu der Party.

3

Orla

New York, New York

2015

Das Red-Carpet-Event, zu dem Ingrid Orla geschickt hatte, fand in einem schrecklichen Klub in einem schrecklichen Viertel statt. Müllfetzen klebten an dem schmutzigen roten Teppich, der auf den Eingang zuführte. Ein Türsteher starrte geradeaus, als versuchte er, den heruntergekommenen Waschsalon auf seiner rechten Seite auszublenden.

Orla ließ den Blick über den Boden schweifen und fand ihren Platz, ein rechteckiges Stück Gehsteig in der Größe einer Cornflakes-Schachtel, das mit einem laminierten Schild gekennzeichnet war: ORLACADDEN, LADY-ISH.COM. Sie drängte sich neben eine nervöse, gertenschlanke Modelfrau, deren Kleid bis zum Bauchnabel ausgeschnitten war. Offensichtlich hoffte sie, mit diesem Outfit später noch nach drinnen eingeladen zu werden. Ein stämmiger Latino mit Hornbrille filmte sie mit seinem Handy, während sie sagte: »Wir sind hier beim Launch von Hilaria Dahls Hundepullover-Kollektion, und die heißesten Tierliebhaber der Celebrity-Welt haben sich deshalb hier versemmelt.«

»Versammelt!« Der Mann mit der Hornbrille kreischte, als hätte er Feuer gefangen.

Hilaria Dahl war Jurorin in einer Realityshow, bei der Krebsüberlebende in Backwettbewerben gegeneinander antraten. Bis sie bei Orla angekommen war, hatte Hilaria schon achtzehn andere Interviews gegeben, und Speichel klebte in ihren Mundwinkeln. »Ich liebe Lady-ish!«, quietschte sie, und ihre langen Ohrringe baumelten wild.

Orla nickte und setzte ein breites Lächeln auf. »Also, Hundebekleidung! Was war der Anstoß für dieses Projekt?«

Hilaria verlagerte das Gewicht. »Nun, es liegt mir sehr am Herzen.«

»Was genau?«, fragte Orla.

»AIDS«, antwortete Hilaria.

»AIDS?« Orla sah zu Hilarias Presseagentin, einer schwarz gekleideten Frau mit Headset.

»Zehn Prozent der Erlöse aus der Kollektion kommen der AIDS-Bekämpfung zugute«, erklärte die Frau unfreundlich.

»Und ich liebe Tiere«, fügte Hilaria hinzu. »Ich fand die Vorstellung toll, meinen Namen auf etwas zu verewigen, das sie warm hält, so, wie sie uns warm halten.«

Die Modelfrau neben Orla nickte nachdrücklich, während sie eine Hand auf ihr Herz presste.

»Im Moment konzentrieren wir uns auf Hunde«, fuhr Hilaria fort, »doch ich liebe auch Katzen sehr. Deshalb wollen wir auch in den Katzenmarkt expandieren.«

Orla konnte sich nicht zurückhalten. »Könnten Katzen nicht die Bekleidung tragen, die Sie schon herstellen?«

Hilaria sah zu ihrer Presseagentin. »Ich schätze, die kleinen Größen könnten Katzen passen, oder?«, fragte sie unsicher. »Wie der Alpakapullover mit dem Wasserfallausschnitt?«

»Katzen können die kleinen Größen tragen«, bestätigte die Presseagentin mit wütendem Blick.

»Und jedes Stück ist hundertprozentig vegan!«, verkündete Hilaria laut.

»Haben Sie nicht gerade etwas von Alpaka gesagt?«, entgegnete Orla. »Ein Alpaka ist ein Tier. So eine Art Lama.«

»Und jetzt muss Hilaria auch schon weiter«, erklärte die Presseagentin, nahm ihre Klientin am Ellbogen und führte sie zum Eingang. Sie drehte sich zu Orla um. »Fuck you«, sagte sie klar und deutlich. »Nicht du«, fügte sie in ihr Headset hinzu. »Aber du vielleicht auch bald, wenn du nicht herausfindest, wohin Isabelle verschwunden ist.«

Einen Moment lang trafen keine neuen Stars ein, und die Modelfrau neben Orla beschwerte sich bei dem Mann mit der Hornbrille, behauptete, ihr Impro-Lehrer finde sie zu hübsch für Comedy. Da wedelte der Hornbrillenmann mit der Hand vor ihrem Gesicht und rief: »Halt die Klappe, Mädchen, da kommt sie!«

Orla reckte ihren Hals in Richtung des SUVs, der gerade vorgefahren war. Hilarias Presseagentin hatte sicher schon Ingrid geschrieben und eine Entschuldigung von Orla gefordert. Vielleicht konnte Orla ihr Vergehen mit einem Zitat der Person wieder wettmachen, wegen der der Hornbrillenmann gerade verzückt in die Hände klatschte.

Blitze zuckten so hell auf, dass Orla den Kopf senken musste. Sie sah ein Paar glänzender Beine, das auf sie zukam. Neben ihr beugte sich die Modelfrau vor und sagte atemlos: »Floss, ich fühle mich ja so geehrt.«

Da erkannte Orla, nachdem das Blitzgewitter aufgehört hatte, wer schräg vor ihr stand. Florence, ihre eigene Mitbewohnerin.

Orla starrte sie von der Seite an. Sie war Florence gerade näher als je in der Wohnung. Ihre Wange schimmerte so stark perlmuttartig, dass Orla ihren eigenen Schatten darin erkannte. Florence’ Augen waren dunkel und glänzten feucht, sie blinzelte langsam und schläfrig unter dem Gewicht ihrer dichten, künstlichen Wimpern. Ihre Haare waren üppiger als sonst, und die Extensions waren lächerlich schlecht, schlaff und glänzend, und sie stanken nach irgendeiner Chemie. Florence trug dazu dieselbe Kleidung wie Orla bei offiziellen Anlässen: einen halterlosen beigefarbenen BH und einen ebensolchen Bauch-weg-Slip, der bis zu den Oberschenkeln reichte. Das war allerdings Florence’ einzige Kleidung.

Sie war so wunderschön, dass Orla sich wünschte, mehr von Florence’ schlechten Seiten zu kennen, um sich damit beruhigen zu können.

Dann verabschiedete sich Florence plötzlich mit Luftküssen von der Modelfrau und trat vor Orlas kleinen Bereich. »Hi«, zwitscherte sie und erschreckte Orla mit ihrer plötzlich veränderten Stimme, die irgendwo ganz weit oben aus ihrer Nase zu kommen schien. »Oh! Ich liebe Lady-ish!«

»Florence«, begrüßte Orla sie.

»Nennen Sie mich doch Floss!« Florence kicherte, zog ihre Haare auf eine Schulter und streichelte sie wie ein Tier.

Sie waren in einer Sackgasse angelangt: Floss erkannte Orla nicht, und Orla wusste nicht, wer Floss sein sollte. Während sie zu entscheiden versuchte, was sie als Nächstes sagen sollte, schaltete sich Floss’ Presseagent – sie hatte einen Presseagenten! – ein.

»Ich bin Jordie von Liberty PR«, stellte er sich vor. »Sie kennen Floss Natuzzi natürlich aus dem Reality-Format Wer will bei Surf Shack arbeiten.« Er sprach so mechanisch, als würde er morgens beim Aufstehen nicht mehr hoffen, dass ihn irgendwer ernst nahm. Orla sah die halb fertige Bewerbung für den Jurastudienplatz auf seinem Schreibtisch vor sich. »Sie ist außerdem fester Bestandteil der Fashion-Welt von Akron«, fügte Jordie hinzu, »wo sie bis vor Kurzem noch mit dem Star der Columbus Blue Jackets, Wynn Walters, zusammengelebt hat.«

»Die Fashion-Welt von Athens?«, fragte Orla.

»Klar, so können wir das auch sagen«, antwortete Jordie seufzend, während Floss gleichzeitig laut verbesserte: »Nein, Akron. Akron, Ohio.«

Jordie sah sie scharf an, dann lachte er und warf die Hände in die Luft. »Ja, Akron«, sagte er erschöpft. »Sie findet hauptsächlich, äh, im Untergrund statt. Sehr Avantgarde. LeBron James …« Er verstummte bedeutungsvoll. Und es war tatsächlich keine Lüge, er hatte ja nur »LeBron James« gesagt. Orla nickte anerkennend. Er würde einen guten Jurastudenten abgeben.

Sie sah zu Floss, die nicht zuzuhören schien, sondern auf das laminierte Schild unter Orlas Füßen starrte. Dann sah sie Orla ins Gesicht. Während Jordie sie zur nächsten Reporterin lotsen wollte, dämmerte ihr eine Erkenntnis. »Moment mal.« Sie blinzelte und sah zurück. »Ach herrje.«

Orla winkte ihr ungeschickt zu.

»Komm mit rein«, rief Floss ihr über die Schulter zu. »Ich möchte mit dir reden.« Sie stakste auf ihren High Heels davon. Orla sah, wie Jordie vortrat und Floss etwas vom Handgelenk zog. Es war Orlas gelbes Haarband, das sie heute Morgen auf dem Waschbeckenrand hatte liegen lassen.

»Wie, du kennst sie?«, brummte die Modelfrau beleidigt. Instinktiv reagierte Orla nicht. Floss kam zwar als Letzte zu einer Party für Hundepullover in Midtown, doch bei manchen Leuten schien sie einen Namen zu haben, und sie hatte zu Orla gesagt, sie solle mit in den Klub kommen. Orla musste nicht mehr mit der Modelfrau sprechen.

Die Frau mit der Gästeliste an der Tür zeigte sich hingegen unbeeindruckt. »Ich bin persönlicher Gast von Floss Natuzzi«, wiederholte Orla. »Es wird ihr gar nicht gefallen, wenn sie das erfährt.« Die junge Frau blickte nur hinter sie und winkte jemanden nach vorne. Orla trat zur Seite, um einen Afghanischen Windhund mit Barett und seine Halterin vorbeizulassen.

Sie ging die Fifty-Seventh Street entlang und stellte fest, dass sie durch einen schmiedeeisernen Zaun in den Hof des Klubs schauen konnte, wo sich die Gäste aufhielten. Floss war nur ein paar Meter entfernt und sprach mit einem kleinen, verschwitzten Mann, dessen Hemd nur zur Hälfte zugeknöpft war.

Orla legte ihr Gesicht an die Gitterstäbe und zischte: »Floss!«

Ihre Mitbewohnerin sah auf, wandte sich ab, während der Mann noch sprach, und kam zu Orla. »Was machst du denn da? Ich habe doch gesagt, du sollst reinkommen.«

»Man hat mich nicht reingelassen«, sagte Orla. »Kannst du mich einschleusen?«

Floss sah auf Orlas abgestoßene Ballerinas hinunter und murmelte: »Wahrscheinlich liegt es daran.« Sie nahm ein Glas Champagner vom Tablett einer Kellnerin und schob es Orla zwischen den Gitterstäben zu.

»Sie dürfen nicht …«, wollte die Kellnerin Einspruch erheben, doch Floss lächelte sie kalt an und fragte: »Hat man das Problem mit den Austern schon gelöst? Könnten Sie bitte Gus finden und ihn danach fragen? Ich warte solange hier.« Die Kellnerin eilte davon.

»Wer ist Gus?« Die Champagnerflöte fühlte sich so zart in Orlas Hand an, dass sie aufpassen musste, sie nicht zu zerquetschen.

Floss verdrehte die Augen. »Es gibt keinen Gus.« Sie trank ihr Glas aus und bedeutete Orla, es ihr gleichzutun. »Warte hier«, sagte sie.

Drei Minuten später kam Floss auf Orla zu und versuchte mit erhobenem Arm, ein Taxi anzuhalten. Als eines reagierte, stand sie blinzelnd da, bis Orla vortrat, die Wagentür öffnete und Floss zuerst einsteigen ließ.

Jordie stürzte aus dem Klub auf das Taxi zu und rutschte in seinen genähten Schuhen mit den glatten Sohlen auf dem Gehsteig. Er schob den Kopf durch das Wagenfenster. »Verdammt, wo willst du hin?«, sagte er zu Floss. »Weißt du, wie sehr ich betteln musste, dich auf diese Party zu bringen? Du bist ein Niemand, Schätzchen.« Ein Tropfen Schweiß fiel von seiner Stirn auf Floss’ Oberschenkel, genau an die Stelle, an der die Bauch-weg-Shorts in ihrem Overknee-Stiefel verschwanden.

Floss tupfte daran herum. »Wenn du so sehr betteln musstest«, erwiderte sie ruhig, »dann bist du wohl auch ein Niemand.«

Die Ampel wurde grün. Während das Taxi anfuhr, warf Orla einen Blick zurück zu Jordie. Sie hätte gedacht, dass er ihnen nachstarren würde, verunsichert von dem Gespräch, doch er eilte schon mit dem Handy am Ohr zurück zur Party.

Vielleicht weil sich Orla gemerkt hatte, wie er aus der Entfernung aussah – seine Sommersprossen sah man schon von Weitem –, erkannte sie ihn über ein Jahr später auf dem Cover der New York Post, noch während sie auf den Kiosk zulief. Sie würde ihn nie vergessen. Niemand würde das. Jordie war der Erste, der in der großen Flut starb. Der Artikel über seinen Tod erwähnte seine Arbeit mit Floss nicht, was Orla zuerst überraschte. Zu diesem Zeitpunkt wäre selbst die kleinste Begegnung mit Floss das Irrste, das die meisten Menschen je erlebt hatten, und jeder Reporter mit einem Gehirn und einem LinkedIn-Account hätte Jordies Kontakte ausgraben können. Dann fiel es ihr jedoch wieder ein: Der Reporter, der von Jordies Tod berichtete, hätte seine LinkedIn-Seite gar nicht sehen, hätte ihn nicht googeln können. Der Reporter hätte sich auf mündliche Erzählungen und Jahrbücher verlassen müssen. Jordies Tante wurde zitiert, wie sie sagte, dass er gerade zum Jurastudium zugelassen worden war. Als Orla das las – ihren höhnischen Gedanken von damals schwarz auf weiß –, heulte sie auf und zerknüllte die Zeitung in der Hand. Der Zeitungsverkäufer, der auf sein nutzloses, eingefrorenes Handydisplay gestarrt hatte, schreckte auf. »Das macht einen Dollar, ja?«, sagte er zu Orla. Doch er klang verängstigt, als sei es nur ein Vorschlag. Orla ließ die Zeitung fallen und ging weinend davon. Das war zu dem Zeitpunkt, als es so schlimm gekommen war, wie alle vermutet hatten, und als niemand wusste, wie schlimm es tatsächlich noch werden würde. In den Late-Night-Shows machte man noch Scherze darüber. Da gab es noch Late-Night-Shows.