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Schon wieder umziehen! Justine hat die Nase voll, immer wieder von vorn anzufangen, und mit ihrem schrägen Outfit erntet sie prompt nur Spott an der neuen Schule, allen voran bei Becka, dieser versnobbten Fashionista. Doch als Justine sie und ihre Freundinnen näher kennenlernt, merkt sie, dass auch bei ihnen nicht alles so rosig ist, wie es scheint. Becka leidet unter ihrer Therapeuten-Mom, die ihr Teenie-Leben in ihren Erziehungsbüchern verwurstet, und Anna träumt sich in bunten Vintage-Klamotten aus ihrer spießigen Familie fort. Sport-Ass Polly findet sich zu dick und verzichtet ihrer alleinerziehenden Mutter zuliebe aufs Shoppen, während die modebesessene Robin jedes Mal in einen Kaufrausch verfällt, wenn es daheim wieder mal kracht. Doch die coolsten Klamotten helfen nicht, wenn es hart auf hart kommt … dann zählen nur beste Freundinnen!
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Seitenzahl: 371
Aus dem amerikanischen Englischvon Edith Beleites
Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House
Für RoseJ. A. M.
1. Auflage 2015© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House, MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehalten© 2014 Jennifer Anne MosesDie amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel:»Tales from My Closet«bei Scholastic Press, einem Imprint von Scholastic Inc., New YorkÜbersetzung: Edith BeleitesLektorat: Kerstin WeberUmschlaggestaltung: semper smile, Münchenunter Verwendung von Motiven von: yusuf doganay, grafiz © Shutterstock MP · Herstellung: CFSatz und Reproduktion: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-14656-6www.cbj-verlag.de
Ich hasse es, in der Schule die Neue zu sein. Ich. Hasse. Es.
Aber ich bin es. Immer. Okay, nicht immer. Nicht jedes Jahr. Aber fast. Jedenfalls kommt es mir so vor. Zuerst Houston, dann Deutschland, dann Saint Louis, zurück nach Deutschland, dann zwei Jahre San Francisco, und jetzt, in der zehnten Klasse, geht alles wieder von vorn los. Dieses Mal in West Falls, New Jersey – eine Art Vorort von New York. Meine Mutter findet dieses Kaff »sooo kultiviert«, mein Vater sagt: »Es liegt so zentral«. Damit meint er die Nähe a) zu seiner Arbeit und b) zum Flughafen.
»Keine Sorge, Pooky«, hat er mir aus seinem Büro in der City gemailt, nachdem die Entscheidung gefallen war. »Auch da kann man shoppen gehen.«
Ha. Ha.
Ständig wird er versetzt und muss viel herumreisen. Wir anderen – also ich, meine Mom und unser Kater Skizz – folgen ihm. Vor meiner Geburt war meine Mom Tänzerin in einem Ensemble in Boston. Jetzt nennt sie uns scherzhaft seinen »Businesspartner« (sich) beziehungsweise »Azubi« (mich).
Unser neues Haus – »Trautes Heim«, wie ich es getauft habe – hat drei Etagen (Erdgeschoss plus zwei) und eine Doppelgarage. Das Zimmer, das meine Eltern für mich ausgesucht haben, liegt im ersten Stock, genau wie ihres. Aber im Gegensatz zu ihrem ist es ganz ekelhaft rosa-violett gestrichen und riecht irgendwie süßlich, als wären mehrere Liter Cola im Fußboden versickert. Aber eine Renovierung lohnt sich nicht bei unserer ewigen Umzieherei. »Es wird dir gefallen«, hat meine Mom gesagt.
Anfang August sind wir eingezogen, kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, den ich zusammen mit Mom bei einem mittelprächtigen Chinesen feierte. Mein Dad hatte zwar gesagt, er wolle meinen »großen Tag« auf keinen Fall versäumen, aber dann musste er doch länger arbeiten und rief mich auf dem Handy an, als ich meine Sesamnudeln schon halb aufgegessen hatte. »Tut mir leid, Pooky«, sagte er. »Ich mache es wieder gut, okay?«
Zu diesem Zeitpunkt war West Falls wie ausgestorben. Alles im Alter zwischen zwei und neunzig war ans Meer gefahren. Junge Leute, mit denen ich mich hätte anfreunden können, schienen sich in Luft aufgelöst zu haben oder von Aliens auf einen anderen Planeten entführt worden zu sein.
»Keine Sorge«, sagte meine Mom. »Sobald die Ferien zu Ende sind, geht alles wieder seinen normalen Gang.«
Ich hasse es, wenn sie diesen Spruch vom »normalen Gang« bringt. Was, um alles in der Welt, soll das bei unserem Nomadendasein denn heißen?
In San Francisco war ich irgendwie in eine Clique von Intelligenzbestien geraten, durch die ich wiederum meine beste Freundin Eliza kennenlernte. Meistens hingen wir am Strand ab, und am Wochenende erkundeten wir so berühmt-berüchtigte Stadtviertel wie das Castro oder das Haight, wo in grauer Vorzeit Schwule und Hippies weltweit für Aufregung gesorgt hatten. Auf einem dieser Streifzüge entdeckte ich den Vintage-Style für mich und verpasste mir einen völlig neuen Look, so eine Art Mischung aus Hippie, Flamencotänzerin und Bluessängerin. Ein Look, der mir zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl gab, wahrgenommen zu werden und vor allem eine eigenständige Person zu sein, nicht nur das Anhängsel meiner Eltern, die Verkörperung ihres Ideals von einer vorzeigbaren Tochter.
Keiner von beiden zeigte sich von meinem neuen Look besonders begeistert. Während meine Mom sagte, in »normalen« Sachen sähe ich besser aus, schien mein Dad die Veränderung nicht mal zu bemerken. Sogar am Tag meiner Abschiedsparty blickte er kaum auf. Das Wetter war kalt und neblig, deswegen trug ich meine absolute Lieblingshose aus grünem Samt, oben eng, unten mit Schlag, dazu schwarze Ballerinas und ein pinkes Seidentop, ein echt altes Teil von Pucci.
»Viel Spaß, Pooky«, murmelte er hinter seinem Computerbildschirm.
Pooky, wie der Teddy von Garfield. Eigentlich heiße ich ja Justine. Noch eigentlicher sollte ich Justin heißen, wie mein Großvater, der kurz vor meiner Geburt gestorben war. Aber dann bekam meine Mom eben ein Mädchen.
Justine Ruth Gandler.
Der. Scheußlichste. Name. Überhaupt.
Was meiner Mutter an unserem Trauten Heim besonders gut gefällt, ist die Tatsache, dass genau gegenüber ein Mädchen in meinem Alter wohnt, inklusive kleinem Bruder. Aber auch die waren bei unserem Einzug ans Meer gefahren. »Alle sagen, dass sie sehr nett seien«, behauptete meine Mom. »Und ein Stück die Straße rauf wohnt noch ein anderes Mädchen, das in dieselbe Schule geht wie du. Auch sie soll sehr nett sein, sagen alle.»
»Wer – alle? Wir kennen hier doch noch keinen Menschen.«
»Das stimmt nicht ganz, Liebes. Ich habe mich lange mit den Leuten unterhalten, von denen wir das Haus gekauft haben. Sehr nette Leute. Wirklich sehr nett. Sie sagten, wir hätten Glück, dass so nette Mädchen in unserer Straße wohnen. Bestimmt können sie es gar nicht erwarten, dich kennenzulernen.«
»Ganz bestimmt«, sagte ich.
Ich wusste nicht, was schlimmer war: Mich mitten in den Ferien mit niemandem außer meiner Mutter unterhalten zu können (mein Dad arbeitet ja rund um die Uhr), den ganzen Tag mit dem schlafenden Skizz auf dem Bauch in meinem kotzrosa Zimmer auf dem Bett zu liegen und Eliza zu vermissen, oder die Aussicht, in eine neue Schule zu kommen. Schon wieder.
»Was ziehst du an?«, fragte Eliza am Telefon.
»Weiß noch nicht«, sagte ich, obwohl ich schon seit Tagen nichts anderes mehr tat, als Dutzende Outfits anzuprobieren und zu verwerfen, inklusive abgeschnittener Jeans mit weißer Wespentaillenbluse, indisch angehauchtem Maxirock mit Stiefeletten und schwarzem Tanktop (von The Gap), das noch wie neu aussah, und dem klassischen schwarzen Minikleid aus den Sechzigern mit silbernem Reißverschluss vorne, das ich immer am liebsten mit meinen roten Cowboystiefeln kombiniere.
»Du weißt es noch nicht? Du? Was ist das Problem?«
»Keine Ahnung. Vielleicht liegt es an der Hitze. Es ist wahnsinnig heiß hier.«
»Natürlich ist es heiß. Wir haben Sommer.«
»Ja, aber hier ist die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass man kaum noch atmen kann. Als sei die ganze Luft voller Spucke.«
»Ist ja eklig!«, rief Eliza. Und dann: »Hey, ich hab’s! Wie wär’s mit den Leoparden-Leggings und einem langen, weiten Top?«
»Du hörst mir wohl nicht zu!», sagte ich. »Es ist heiß! In dem Outfit würde ich mich totschwitzen oder zu einer Pfütze zusammenschmelzen … zu einem feuchten Stofffetzen mit Leopardenmuster, den man höchstens noch als Wischlappen benutzen kann.«
»Na ja …«, antwortete sie. »Wenigstens bist du immer noch genauso charmant wie früher.«
Zwei Tage vor Schulbeginn stürzte meine Mom in mein kotzrosa Zimmer und rief: »Du hast eine Einladung nach gegenüber!«
»Hä?«
»Du hast mich schon verstanden. Ich habe gerade den Rasen vorm Haus gesprengt« – meine Mom tat praktisch nichts anderes als Rasensprengen – »und da habe ich die Nachbarn von gegenüber kennengelernt. Natürlich nicht alle. Nur die Mutter. Eine nette Person. Wirklich nett. Sie heißt Meryl und hat den Hund Gassi geführt. Sie sind gerade vom Meer zurück. Jedenfalls sagte sie, also Meryl, die Mutter … sie sagte, du sollst doch mal rüberkommen, jetzt gleich. Ihre Tochter langweilt sich nämlich den ganzen Tag, seit sie aus dem Urlaub zurück sind, und will dich unbedingt kennenlernen.«
»Unbedingt?«
»Jedenfalls möchte sie dich kennenlernen, okay? Also gehst du jetzt rüber.«
Ich verdrehte die Augen auf die Art, die meine Mutter in den Wahnsinn treibt.
»Ich habe Meryl gesagt, dass du in zehn Minuten da bist.«
»Na gut«, gab ich schließlich nach und machte mich so krumm, dass Skizz nichts anderes übrig blieb, als von meinem Bauch runterzuspringen und sich einen anderen Schlafplatz zu suchen.
»Nun mach schon«, drängte meine Mom.
Ich sah an mir herunter. Vor dem Rasensprengen hatte ich meiner Mutter im Garten geholfen und mich danach nicht umgezogen. Also trug ich immer noch meine Brave-Tochter-hilft-im-Garten-Kluft: ausgebeulte Latzhose und ein T-Shirt der Schwulenbewegung von San Francisco.
»Soll ich etwa so gehen?«, fragte ich, wohl wissend, dass meine Mom ja auch meine anderen Klamotten nicht mag.
»Hauptsache, du gehst.«
»Und wenn ich nicht will? Was, wenn dieses Mädchen eine Zicke ist? Oder komplett durchgeknallt? Oder Vorurteile gegen kleine Leute hat?»
»Nun mach aber mal ’nen Punkt! Wahrscheinlich werdet ihr beste Freundinnen.«
Das Haus gegenüber ist ungefähr doppelt so groß wie unseres. Mit Rosenbüschen im Vorgarten und kilometerlangen Blumenbeeten an den Seiten. Ein Haus wie aus dem Bilderbuch. Einfach perfekt. Ich hatte meine Mom schon dabei erwischt, wie sie seufzend aus dem Fenster schaute, ihr Blick eine Mischung aus Neid und Bewunderung.
»Das bezweifle ich«, sagte ich.
»Wenn du nicht auf der Stelle rübergehst, werde ich die junge Dame eben zu uns einladen müssen.« Meine Mom sah aus, als sei sie den Tränen nahe.
»Was soll das, Mom?«, fragte ich. »Wir leben doch nicht im neunzehnten Jahrhundert!«
»Bitte!«, flehte sie. »Tu’s wenigstens mir zuliebe!«
Also schleppte ich mich über die Straße und lernte Becka kennen, die – ohne Übertreibung – eine absolute Schönheit ist. Schwarze Augen. Schwarzes Haar, das ihr fast bis zum Po geht. Perfekte Figur – wie ein Model. Kein Gramm zu viel, nirgends. Natürlich braun gebrannt. Und fast zwanzig Zentimeter größer als ich! Sie trug ein ärmelloses blaues Minikleid und trotz der Hitze einen hinreißenden rosa-grauen Schal mit zartgrünen Sprenkeln – ein hauchdünnes Teil, das mich an die rosa Wölkchen bei Sonnenuntergang erinnerte. In der riesigen Diele mit Ölgemälden und moderner Kunst, so weit das Auge reichte, hatte ich das Gefühl, in einer Hochglanz-Illustrierten gelandet zu sein.
»Hi«, begann ich. »Ich bin … ähm …« Und dann wusste ich nicht weiter. Nicht unter den superschwarzen Augen dieser superschönen Becka mit ihrem glatten schwarzen Haar und der honigfarbenen Haut.
»Hi, Ähm«, sagte Becka.
»Nein«, sagte ich. »Nicht ›Ähm‹ … ich wollte bloß …«
»Das sollte doch nur ein Witz sein«, unterbrach sie mich. Und als mir darauf immer noch nichts einfiel, fragte sie: »Sag mal, hast du deine Zunge verschluckt?«
Dann sagte erst mal keine von uns beiden mehr etwas. Einen Moment lang standen wir einfach dumm da, direkt unter einem Kronleuchter. Bis sie erneut eine Frage stellte: »Wo kommst du eigentlich her?«
»Von überall.«
»Kenne ich gar nicht. Liegt das in Europa?«
»Was?«
»Im Juli war ich in Paris. Es war très, très jolie.«
»Hä?«
»Für einen Ferienkurs. An der Uni. J’ai l’aimé.«
»Ich kenne nix da«, sagte ich.
»Nein«, erwiderte sie. »Nicht Nizza. Paris.«
»Hä?«
»Nizza liegt in Südfrankreich, ist aber nicht halb so jolie wie Paris.«
»Aha.« Ich kam mir wie der letzte Idiot vor. Becka starrte auf mein Schwulen-T-Shirt.
»Ich bin nicht lesbisch«, platzte es aus mir heraus.
»Das hat ja auch keiner behauptet.«
»Aber ich habe nichts gegen Schwule und Lesben.«
»Cool.«
»Ich sage das nur, weil du mein T-Shirt so anstarrst.«
»Eigentlich interessiere ich mich nicht besonders für T-Shirts.«
»Nicht?«, hörte ich mich fragen. Wie der hinterletzte Idiot.
»Hast du Hunger? Oder möchtest du ein Glas Saft oder so was?«
»Nein, danke.«
»Gefällt’s dir in New Jersey?«
»Wir sind ja gerade erst hergezogen.«
»Kommst du in die zehnte Klasse?«, fragte sie.
»Hmm.«
»Ich auch. Aber die Kurse der elften und zwölften will ich gleichzeitig machen. Der Sommerkurs in Paris war schon mal ein guter Anfang. Jetzt brauche ich nur noch neun Credits, um die Highschool vorzeitig zu beenden.»
»Ich hab mal in Deutschland gewohnt«, platzte es schon wieder völlig unmotiviert aus mir heraus.
»Und? War es da auch très jolie?«
Ich stand da und starrte sie mit offenem Mund an, während sie mich in ihrer ganzen braun gebrannten Schönheit überragte und mich mit ihren ultraschwarzen Augen anlächelte und mit der linken Hand an dem wolkenzarten Schal zupfte.
Ich selbst bin eher der Nicht-besonders-groß-dafür–aber-auch-nicht-besonders-schlank-Typ. Mein Haar ist ein Gewirr aus roten Locken, die kaum zu bändigen sind, meine Haut ist blass und voller Sommersprossen. (Meine Mom sagt immer, dass ich wie Bette Midler aussehe. Danke, Mom!) Das Beste sind wahrscheinlich noch meine Augen. Ich behaupte ja nicht, dass ich hässlich bin, aber schönheitstechnisch spiele ich nicht gerade in der ersten Liga, eigentlich nicht mal in der zweiten. Mit viel gutem Willen rangiere ich wohl so am unteren Rand der zweiten Liga, wenn ich mich cool anziehe und aufpasse, dass meine Haut nicht zu einer einzigen Supersommersprosse wird. Im Gegensatz zu Becka, die bestimmt schon als Kleinkind wusste, dass sie zu den Gallionsfiguren der ersten Liga gehört.
Um nicht auch noch den letzten Rest meiner Würde durch Stolpern oder Sabbern aufs Spiel zu setzen, hob ich grüßend die Hand und machte mich mit einem »War schön, dich kennenzulernen«, so schnell ich konnte, aus dem Staub.
»Okay, dumm gelaufen«, meinte Eliza, als ich ihr davon erzählte. »Aber es war bloß ein Mädchen. An deiner Schule werden ja wohl nicht alle so sein.« Echt verrückt, denn meine Mom hatte praktisch Wort für Wort das Gleiche gesagt.
Dagegen hätten die Reaktionen der beiden auf meinen Look am Morgen meines erstes Schultags unterschiedlicher nicht sein können … Den kommentierte Eliza nämlich (via Skype) mit: »WOW, SIEHST DU SCHARF AUS!«
Kein Wunder, hatte sie mein Outfit doch selbst vorgeschlagen, inklusive hellblauem Nagellack und passendem Lidschatten – aber der wäre definitiv too much für die Schule gewesen. Das Einzige, worauf wir uns Make-up-technisch einigen konnten, war Lipgloss. Ohne den sehen meine Lippen nämlich aus wie fette farblose Maden.
Fakt ist: Als »Die Neue« musst du vom ersten Moment an Eindruck machen und Profil zeigen. Wenn nicht, läufst du wochenlang wie Falschgeld durch die Gegend, das keiner anrühren will, wirst praktisch überhaupt nicht wahrgenommen – eine von vielen in T-Shirt, Jeans und Sandalen, die sich von den anderen höchstens dadurch unterscheidet, dass sie im Flur in die falsche Richtung läuft. Mir war zwar klar, dass ich mit einer wie Becka nicht mithalten konnte – warum es dann also überhaupt versuchen? Sie und ich würden ohnehin niemals Freundinnen werden. Trotzdem hatte die Begegnung mit ihr einen positiven Effekt, denn danach war mir erst recht klar, dass ich nicht als Mauerblümchen rüberkommen wollte oder als eine von dreihundertsechsundvierzig Gap-Trägerinnen in der Masse untergehen durfte. (»Wie ist die Neue denn so?« – »Keine Ahnung. Oben Haare, unten Sneakers, dazwischen irgendwas von Gap.«) Mit anderen Worten: Ich MUSSTE auffallen. Und wenn ich das nicht mit DEM Kleid schaffte, das ich (beziehungsweise Eliza) ausgewählt hatte – das authentischste, abgefahrenste, originellste, das ich besaß –, dann würde ich es nie schaffen.
»Aber hallo«, grinste ich den Bildschirm an. Die gute alte Eliza! Bei ihr an der Westküste war praktisch noch Nacht, aber sie hatte sich extra den Wecker gestellt, um mir für den ersten Schultag an der Western High Glück zu wünschen. »Das habe ich dir zu verdanken.«
»Stimmt«, nickte sie. »Aber du bist diejenige, die das Ding durchzieht.«
Was sich Wort für Wort komplett von dem unterschied, was meine Mutter dazu sagte, als ich eine Minute später zum Frühstück runterging. Sie konnte sich nicht mal zu einem Lächeln durchringen, sondern biss sich nur auf die Oberlippe und stieß hervor: »So willst du doch wohl nicht zur Schule gehen, oder?«
Ich antwortete nicht, sondern beschränkte mich darauf, die Augen zu verdrehen. Ich wusste ja, dass mein Outfit nicht zu toppen war (noch mal danke, Eliza!): ein Papierkleid von Scott mit geometrischem Schwarz-Weiß-Muster, original Sechziger, klassisch schlichte A-Linie, die etwa fünf Zentimeter über meinen Knien endete. Superleicht, superbequem und superschön. Es war noch nie getragen worden, bevor ich es secondhand erstand. Wie sich dieses Kleid seit den Sechzigern in diesem 1A-Zustand erhalten hatte, ist mir ein absolutes Rätsel, aber als ich es entdeckte (in einem Laden, der sich sinnigerweise »Schatzkiste« nennt), wusste ich sofort, dass ich es einfach haben musste.
Einfach haben musste.
Beim Anprobieren und Blick in den altmodischen Standspiegel war klar, dass dieses Kleid die ganzen Jahre nur auf mich gewartet hatte. Fast kam es mir so vor, als hätte nicht ich das Kleid gefunden, sondern das Kleid mich! Es verlieh mir etwas Engelhaftes, und gleichzeitig hatte es so etwas retromäßig Rock’n’Rolliges, dass ich wie die Freundin eines Rockgitarristen aussah. Und erstaunlich schlank rüberkam.
Das weiße Papier brachte mein rotes Haar zum Leuchten und war so leicht, dass ich bestimmt nicht ins Schwitzen geraten würde. Ich war mir sicher, dass mein Vater von der Arbeit aufgesehen und mich bewundert hätte. Aber natürlich war er wieder mal auf Geschäftsreise, als ich es jetzt beim Frühstück vorführte. Trotzdem wirkte das Kleid wahre Wunder, denn darin fühlte ich mich viel selbstbewusster als sonst. Nicht übertrieben, sondern einfach angenehm. Das Kleid verlieh mir einen coolen Touch, im Gegensatz zu meiner sonstigen Allerweltsausstrahlung.
»Lass uns gehen«, sagte meine Mom und griff nach ihrem Autoschlüssel, um mich, wie an jedem ersten Schultag, zur Schule zu fahren. Bis wir nur noch zwei Blocks von der Schule entfernt waren, herrschte allgemeines Schweigen, dann sagte sie: »Meine Mutter hatte auch mal so ein Kleid. Es riss, als sie sich das erste Mal damit hinsetzen wollte.«
»Klar.«
»Du weißt, dass diese Dinger feuergefährlich sind, oder? Deswegen sind sie so schnell wieder aus der Mode gekommen. Wegen der Brandgefahr. Schlag’s nach, wenn du mir nicht glaubst. Als ich ein Teenager war, waren glücklicherweise hübsche Blusen, Jeans und Plateauschuhe in.«
»Ich weiß.«
»Jedenfalls wünsche ich dir einen schönen ersten Schultag«, sagte meine Mom, beugte sich zu mir rüber und gab mir einen Kuss. »Glaub mir: Alles wird gut.«
Es wurde der schlimmste Tag meines Lebens. Der. Schlimmste. Tag. Und dabei habe ich reichlich Erfahrung mit schlimmen Tagen, inklusive ersten Schultagen als »Die Neue«.
Folgendes ist passiert:
In der ersten Stunde hatte ich Englisch. Alles lief so weit ganz gut, bis die Lehrerin sagte, wir sollten einen kurzen Text über ein Buch schreiben, das wir kürzlich gelesen hatten. »Stifte aufs Papier, Leute!«, sagte sie, als das allgemeine Gestöhne losging. »Stifte aufs Papier!«
»Kann ich das Papier da nehmen?«, fragte ein Witzbold hinter mir und stieß mir etwas ins Kreuz, das immerhin kein Stift, sondern wohl sein Finger war, weil mein Kleid nicht riss.
»Schluss mit den Mätzchen«, rief die Lehrerin. »Gewöhn dich lieber gleich daran, dass ihr von jetzt an jeden Tag ein paar eigene Gedanken zu Papier bringen werdet.«
»Aber das wollte ich doch«, verteidigte sich der Witzbold. Dieses Mal klopfte er mir auf die Schulter, als sei ich ein Pony. Ich drehte mich zu ihm um. Aber er sah mich gar nicht an, sondern strahlte in die Klasse, die sich inzwischen schlapp lachte. Er trug eine Brille auf seiner riesigen Nase und war so blass, dass man praktisch durch ihn hindurchsehen konnte, aber er selbst hielt sich offenbar für unwiderstehlich witzig. Dabei war er kein bisschen witzig.
Kein. Bisschen.
In der zweiten Stunde hatte ich Chemie. Da ich die einzige Neue in dem Kurs war, wollte niemand mit mir in einem der Zweierteams zusammenarbeiten, die in Chemie (aus Sicherheitsgründen) immer gebildet werden müssen. Ich saß also ziemlich dumm da und sah zu, wie die beliebtesten Schüler ihre Partnerschaften besiegelten (nämlich mit enthusiastischen High Fives), während ich selbst vom Chemielehrer einen Partner zugeteilt bekam: John, der Einzige, der außer mir übrig geblieben war. Tja, warum nur? Ob es an seinem Lidstrich lag? Oder an seinem grün-pink gestreiften Haar? Oder an seinem neofaschistischen T-Shirt? Oder an seinen Tattoos? Vielleicht lag es aber auch nur an der Art, wie er dasaß, genau hinter mir, halb hinter einem Notizblock versteckt, während er teils wie ein Irrer vor sich hin kritzelte, teils seinen Füller wie einen Trommelstock herumwirbelte. Ich versuchte, ihn wegen seines funkig-nihilistisch-grungig-transgender-machohaften Looks nicht zu verurteilen, aber das half mir dann auch nicht weiter, als ich mich schließlich zu ihm setzen musste, an den hintersten Ecktisch, der sein persönliches Refugium zu sein schien, und er mich mit den Worten begrüßte: »Wo kommst du denn her? Tragen die Menschen da Klopapier?«
Ich versuchte, es nicht persönlich zu nehmen. Schließlich war er auch nur ein Junge, genau wie der Rückenklopfer aus dem Englischunterricht. Meiner Meinung nach hinken Jungs uns Mädchen nämlich ein paar Evolutionsstufen hinterher, ungeachtet der Tatsache, dass manche ganz süß aussehen. Meine Mom behauptet zwar immer, dass sie sich nur langsamer entwickeln und früher oder später mit uns gleichziehen, aber das bezweifle ich. »Schließlich war auch dein Vater mal ein Teenager«, pflegt sie ihre Argumentation – allerdings wenig überzeugend – zu untermauern.
Als die dritte Stunde anfing, Amerikanische Geschichte, sagte ich mir jedenfalls, dass es von jetzt an ja nur besser werden konnte. Aber wer saß da, neben einem anderen bildhübschen Mädchen? Richtig: Becka. Beide hatten kokett die Beine übereinandergeschlagen, und als ich in ihre Richtung sah, warf Becka dem anderen Mädchen einen so vielsagenden Blick zu, dass der nur eins bedeuten konnte: Sie hatten mich bereits durchgehechelt. Alles an Becka – von ihrer schlichten weißen Bluse über ihren makellosen Bleistiftrock, ihre zartrosa lackierten Zehennägel bis hin zu ihren flachen, sauteuren Sandalen mit Silberriemchen – demonstrierte, dass sie etwas Besseres war als die anderen. Reicher, kultivierter und abonniert auf Spitzenpositionen in Beruf und Gesellschaft. Sie trug wieder den rosa-grauen Schal, den ich schon von unserer ersten Begegnung kannte, und wieder fingerte sie daran herum. Das andere Mädchen war ganz offensichtlich nur ihr Anhängsel. Dabei sah sie outfittechnisch ziemlich interessant aus. Das braune Haar hatte sie zu Zöpfen geflochten, die so lang und seidig waren, dass sie an die Quasten von diesen teuren Vorhängen erinnerten. Und ihre Klamotten erst, die machten mich direkt neidisch, vor allem weil ich sie nie und nimmer hätte tragen können: eine weiße Spitzenbluse, die wie ein kurzes Nachthemd aussah, abgeschnittene Jeans mit fast knielangen Fransen und knallpinke Chucks.
Je länger ich auf ihre Bluse starrte, desto klarer wurde mir, dass es gar keine Bluse, sondern tatsächlich ein sehr kurzes Nachthemd oder das Oberteil eines Babydolls war. Auf so was war selbst Eliza, die Weltmeisterin im Zweckentfremden von Kleidungsstücken, noch nicht gekommen. Und im Gegensatz zu Eliza waren Becka und ihre Pyjamafreundin echte Highschool-Schönheiten, die offenbar sogar Erwachsene in ihren Bann schlugen. Zumindest der Geschichtslehrer musste sich jedes Mal den Kragen weiten, wenn er in ihre Richtung sah, als bekäme er sonst keine Luft mehr.
Echt peinlich! Aber davon abgesehen schien der Mann sein Fach wirklich zu beherrschen, denn die Stunde verging wie im Flug, sodass kaum jemand dazu kam, ätzende Bemerkungen über »Die Neue« zu machen.
Aber dann bekam Becka ihren großen Auftritt. Und ich doch noch die Arschkarte.
»Hey, Ähm! Das ist Robin«, sagte sie, als ich nach der Stunde aus dem Klassenraum gehen wollte. Sie sah das Pyjamamädchen an und erklärte ihr: »Ähm wohnt jetzt bei uns gegenüber.«
»Nett, dich kennenzulernen», sagte Beckas Anhängsel, ohne es zu meinen.
»Ich heiße Justine«, sagte ich.
»Kann ich dich was fragen?«, sagte das Pyjamamädchen.
»Klar.«
»Was ist das für ein Ding, das du da trägst?«
»Ein Papierkleid. Ein Original aus den Sechzigern.«
»Ich glaube, da ist was raufgetropft.«
Ich sah an mir herunter, konnte aber nichts entdecken.
»Weiter hinten«, erklärte das Pyjamamädchen. »Ziemlich viel sogar. Oder gehört das so?«
»Ähm kommt aus San Francisco«, warf Becka ein. »Und ist selbst ein echtes Original.»
»Ich sehe immer noch nichts«, sagte ich.
»Ganz hinten«, meinte das Pyjamamädchen. »Unter deiner Schulter.«
»Du könntest es mit Papierhandtüchern kaschieren«, schlug Becka vor. »Das merkt kein Mensch.«
In dem Moment begann mein Gesicht zu glühen. Und schlimmer noch: Der Schweiß brach mir aus allen Poren und zeichnete sich in Form von dunklen Flecken auf meinem grandiosen Kleid ab.
Es lief nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte.
Überhaupt. Nicht.
In der Mittagspause raste ich auf die Mädchentoilette und machte akrobatische Verrenkungen vor dem Spiegel, um mich von hinten sehen zu können. Tatsächlich! Von den Schultern abwärts war mein Kleid voll mit blauer Tinte. Ich musste an meinen Chemiepartner denken und wie der seinen Füller durch die Luft gewirbelt hatte, als ich noch vor ihm saß. Wahrscheinlich hatte er mich absichtlich bespritzt. Ich versuchte, die Tinte abzutupfen, aber davon wurde alles nur noch schlimmer. Jetzt sah ich wirklich aus wie in Klopapier gewickelt.
Ich war so wütend, dass ich beinahe losgeheult hätte. Aber ich beherrschte mich. Erstens weine ich grundsätzlich nicht, und zweitens war noch ein anderes Mädchen in der Toilette. Weinen ist schon schrecklich genug – aber vor einer völlig Fremden, gleich am ersten Schultag, auf der Toilette? NIEMALS! Außerdem kannte ich sie bereits aus dem Chemieunterricht. Sie hatte ganz vorne gesessen und sich mit einem großen, sportlichen Typen zusammengetan, den ich mir gut als kraftstrotzenden Sympathieträger auf einer Cornflakes-Packung vorstellen konnte.
»Hey«, sagte das Mädchen, als sie sich am nächsten Waschbecken die Hände wusch.
»Hey.«
»Cooles Kleid.«
»Ist aus Papier.«
»Echt?«
Sie selbst trug Shorts, eine weite, luftige Bluse und Sandalen, hatte glattes, schulterlanges braunes Haar, muskulöse Arme und die Figur eines Popstars, nicht gerade dünn, aber sie war so groß und sportlich, dass sie schlank wirkte. Außerdem waren ihre Zähne strahlend weiß, und sie lächelte mich an, als hätte sie einen Nebenjob in der Zahnpastawerbung. Kurz gesagt: Sie wusste, wie schön sie war. Wahrscheinlich war ihr Freund der Kapitän der Footballmannschaft. Und noch wahrscheinlicher war sie die Busenfreundin von Becka und Robin und überlegte schon, wie sie ihnen unsere peinliche Begegnung schildern konnte.
»Ich glaube, ich habe noch nie ein Papierkleid gesehen«, sagte sie und lächelte immer noch ihr Zahnpastalächeln, als sei es das Normalste von der Welt, eine Wildfremde so anzustrahlen. Das ließ nur einen Schluss zu: Sie hielt mich für das Hinterletzte, und ihr Lächeln war purer Spott.
»Na dann«, sagte ich. »Man sieht sich.«
Als ich ins allgemeine Chaos der Cafeteria eintauchte, waren mir zwei Dinge klar: Erstens war ich für Miss Zahnpasta eine Null und zweitens in einem Mode-Universum gelandet, das mit dem in San Francisco nicht die geringste Ähnlichkeit hatte.
Und noch eins wusste ich: Wenn mich noch mal irgendwer auf mein Kleid ansprach, würde ich bestimmt doch noch heulen. Schon jetzt brannten meine Augen, und ich konnte die Tränen nur mithilfe dieser Einsaugetechnik niederkämpfen, die ich seit Jahren perfektioniert habe. Währenddessen schaute ich mich nach einem Tisch um, an dem ich nicht völlig verloren wirken würde oder – noch schlimmer! – unerwünscht war oder einer womöglich tonangebenden Clique den Stammplatz wegnahm.
Zum ersten Mal an diesem Tag schien ich Glück zu haben. Ich fand einen Tisch mit einem Vollstreber (inklusive viel zu großer Hornbrille und wild abstehendem Haar), zwei gelangweilten Mädchen, die skeptisch ihre Lunchpakete beäugten, einer Molligen, die mit Händen und Füßen redete, einem eher jungenhaften Mädel mit frechem Kurzhaarschnitt und einer Jeans-T-Shirt-Kombi, die sie wahrscheinlich ganzjährig trug und der sie höchstens durch ein paar dünne goldene Armreifen einen Hauch von modischem Touch verlieh, und schließlich noch einem Mädchen in hellblauem Girlie-Kleidchen. An beiden Seiten des Tisches war genau ein Platz frei – von jeweils exakt einer Pobreite. Wenn das der Stammplatz irgendeiner tonangebenden Schülerclique war, dann wusste ich nichts über Stammplätze oder tonangebende Schülercliquen.
»Hi«, sagte ich, setzte mich und verschaffte mir gerade genug Platz, um mein Tablett abstellen zu können. Auf diese Weise hoffte ich klarzumachen, dass ich nicht beabsichtigte, irgendjemanden in seinen Pausengewohnheiten zu stören.
»Neu hier?«, fragte die Jungenhafte.
»Gerade hergezogen.«
»Ach ja? Woher denn?« Sie lächelte, und es sah echt aus.
»San Francisco.«
»Oh, soll ja ne tolle Stadt sein.«
»Ist es.«
»Ich bin Ann«, sagte sie und produzierte mit ihrem Grinsen einfach umwerfende Grübchen. Sie war so zart wie eine Ballerina, und ihre schöne, glatte Haut hatte die Farbe von Eichenholz. Als sie nach ihrer Milch griff, klirrten ihre Armreifen. Ich weiß nicht warum, aber ich mochte sie auf Anhieb.
»Ich heiße Justine«, sagte ich und führte ein halbes Sandwich zum Mund.
»Du solltest hier lieber nichts essen, Justine. Hier kriegt man … ich weiß nicht … wahrscheinlich Würmer.«
»Uuups«, machte ich und riss mein Sandwich gerade noch rechtzeitig von meinen Lippen weg.
Die anderen Mädchen kicherten.
»Iss ruhig«, sagte die eine. »Ann übertreibt wieder mal.«
»Sicher?«
»Wir haben hier zwar keine Gourmetküche«, sagte das Mädchen, »aber krank wird man von dem Essen auch nicht.«
»Na dann, guten Appetit«, sagte ich.
Ann lächelte immer noch, als sie mich fragte: »Was ist das eigentlich für ein besonderes Kleid? Trägt man so was in San Francisco?«
»Es ist aus Papier«, erklärte ich. »Vintage.«
»Mit anderen Worten: alt?«
»Von 1968 oder 69.«
»Sind solche Sachen in San Francisco gerade in?», fragte das andere Mädchen.
»Nein, das ist eher mein Ding«, sagte ich. »Ich stehe auf die Mode der Sechziger.«
Endlich ein Thema, bei dem ich mich wohlfühlte, und die Mädchen schienen wirklich mit mir ins Gespräch kommen zu wollen.
Aber gerade als ich anfing, die Unterschiede zwischen »Mod«, »Flower Power« und »Retro« zu erklären, warf Ann ein (also die mit den Wahnsinns-Grübchen und der wunderschönen Haut): »Und wenn dir heiß wird, kannst du einfach ein paar Löcher reinreißen – und fertig ist deine eigene Klimaanlage.« Woraufhin natürlich alle in schallendes Gelächter ausbrachen.
Wieder brannte mein Gesicht, bestimmt wurde ich knallrot. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass mein ganzer Körper Hitzewellen absonderte. Nur schade, dass ich nicht in Flammen aufging und mich in Rauch auflöste. Stattdessen murmelte ich nur: »Genau«, und konzentrierte mich darauf, nicht an der Pute, dem Vollkorn, dem Salatblatt oder der Mayonnaise meines Sandwichs zu ersticken.
Danach rannte ich wieder zur Toilette, verbarrikadierte mich in der erstbesten Kabine und rief Eliza an, deren Handy natürlich gerade nicht eingeschaltet war. Also textete ich ihr: »New Jersey nervt! Die tun alle so, als liefe ich in einem umgekehrten Pappbecher rum!«
Dann ging es mir zwar etwas besser, aber nicht genug, um das Gefühl loszuwerden, ein Volltrottel zu sein – jemand, der nicht nur pummelig und ungebräunt und unbeliebt ist, sondern so verzweifelt, dass er sich aus Protest wie ein Clown anzieht. Jemand, der vom eigenen Vater nicht beachtet wird.
Als meine Mom später fragte, wie es denn in der Schule gewesen sei, gab ich meine Standardantwort: »Gut«, und marschierte auf mein Zimmer. Wo ich mein Kleid zerfetzte und die Einzelteile in den Müll warf. Immerhin habe ich nicht geweint.
Keine Frage: Meine Mutter liebt unseren Hund mehr als mich. Sie nennt ihn »Darling« und trällert Lieder darüber, wie süß und putzig er ist. Und dann, direkt vor meiner Nase, sagt sie (zu dem Hund, natürlich): »Und im Gegensatz zu gewissen Mädchen machst du kein Theater, wenn ich dir keine Stilettos kaufe. Nicht wahr, Lucy-Darling?«
»Ich bin fast sechzehn, Meryl! Und es sind keine Stilettos.«
»Du bist noch längst nicht sechzehn«, sagt meine Mutter und greift zu einer der hunderttausend Diätcolas, die sie jeden Tag in sich hineinschüttet. »Und selbstverständlich sind es Stilettos.«
Sie ist Therapeutin und hat auch ein paar Patienten, aber ihre eigentliche Karriere verdankt sie ihren Büchern über mich: die Tochterratgeber von Dr. Meryl Sanders, der Tochtertherapeutin, mit Titeln wie Tückische Tränen:Trotz bei Teenagern oder Mütter und Töchter: Ein Bund fürs Leben? Korrekt: Diese Bücher hat meine Mutter geschrieben. Und ich bin ihr Paradebeispiel und Versuchskaninchen, ihre Heldin und Kronzeugin, alles zusammen. Jemand, den man auf soundsovielen Buchseiten auseinandernimmt und dann wieder zusammenflickt. »Aber es weiß doch niemand, dass du das bist!«, beteuert sie, wenn ich sie bitte, über etwas anderes zu schreiben. »Erstens benutze ich grundsätzlich meinen Mädchennamen, und zweitens kommt dein Name gar nicht vor. Abgesehen davon ist die Mutter-Tochter-Beziehung mein Spezialgebiet, und die Menschen haben ein Recht auf solide Ratschläge. Meinst du nicht?«
»Nein.«
»Ach, Schätzchen, ich bin du«, sagt sie dann. »Ich kenne dich besser als du dich selbst.«
Aber das stimmt nicht. Nicht mehr. Vielleicht war das früher mal so, als ich klein war und ihr alles erzählen konnte, wenn ich Kummer hatte. Damals wusste sie genau, wie sie dafür sorgen konnte, dass es mir wieder besser ging. Aber heute? Bloß nicht! Ihr etwas zu erzählen, würde bedeuten, Stoff für ihr nächstes Buch zu liefern. Darum weiß sie auch nicht, dass ich während der Sommerkurse an der Universität von Paris (Kunst und Französisch) mit einem Zwanzigjährigen namens Arnaud zusammen war. Dass sich mein ganzer Körper in seiner Gegenwart wie pure Magie anfühlte. Dass ich das Gefühl hatte, zu glitzern und zu funkeln und über die Köpfe der Normalsterblichen hinwegzuschweben.
Abgesehen davon, dass er Philosophie studiert (seine Examensarbeit schreibt er über Jacques Lacan), ist Arnaud ein Dichter. Sogar über mich hat er Gedichte geschrieben. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie sie gingen, aber wenigstens einen Teil habe ich behalten: Sa peau soyeuse comme la brume soyeuse / Ses yeux comme le ciel et comme le soleil …
Das bedeutet so viel wie: Ihre seidige Haut wie schimmernder Nebel / Ihre Augen wie der Himmel und die Sonne …
Was natürlich ganz anders klingt als: »Meine eigene Tochter ist das beste Beispiel für einen typischen Teenager – ein Opfer chaotischer Hormonschübe, die unkontrollierte Gefühlsausbrüche verursachen. In diesem Entwicklungsstadium mutieren unsere eben noch so entzückenden Mädchen vor unseren Augen zu ferngesteuerten Wesen mit spastischen Zuckungen, verbaler Inkontinenz und schwellenden Brüsten.« Danke, Mom, vielen herzlichen Dank! Ein schönes Gefühl, so lächerlich gemacht zu werden.
»Ah, New York, die Stadt meiner Träume!«, rief Arnaud, als wir uns zum ersten Mal sahen, und zwar in der Schlange vor einem Geldautomaten in der Nähe meines Wohnheims. Ich trug ein T-Shirt von der New York University, also dachte er, dass ich dort studiere. »Eines Tages werde ich auch nach New York gehen«, sagte er. »Vielleicht kannst du mir dann ja die Stadt zeigen?«
ENDE DER LESEPROBE