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Volker Brauns »Versuche« über die Abgründe und Widersprüche unserer globalisierten Welt überraschen in ihrer Vielschichtigkeit und brillieren in ihrer Sprachgewalt.
»Früher hätte man die Welt verlassen können, einfach die Zelte abbrechen können, jetzt gibt’s keine Anderwelt mehr, wir sind im Überall.« Mit geschärftem Blick für die Zusammenbindung der Welt und bekannter sprachlicher Virtuosität nähert sich Volker Braun in seinem neuen Prosaband den großen Fragen, die in die Zukunft reichen: Was macht unser heutiges »Überall« aus? Welchen Gewalten ist es ausgesetzt? Und was passiert, wenn die Gegner nicht mehr Staaten sind, sondern Stürme? Seine Bewegung führt auf die eurasische Landmasse, in das Berliner Liquidrom sowie in den Schlosspark Niederschönhausen, wo ihn die Stimmen seiner Begleiter umgeistern.
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Seitenzahl: 86
VOLKER BRAUN
VERSUCH, MICH AUF EINER LANDMASSE ZU BEWEGEN
VERSUCH, MICH MIT DEN FÜSSEN AM BODEN ZU HALTEN
FORTWÄHRENDER VERSUCH, MIT GEWALTEN ZU LEBEN
SUHRKAMP
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Erstausgabe, 2024.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-77849-4
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
VERSUCH, MICH AUF EINER LANDMASSE ZU BEWEGEN
Nachtrag
VERSUCH, MICH MIT DEN FÜSSEN AM BODEN ZU HALTEN
1
Das Aschemahl
2
Die Schwangere Auster
3
Empfang des Enzyklopen. Wortwechsel mit Sophie
4
Brief meines jungen Neffen / Arbeitspapier
5
Das Liquidrom
6
Besuch auf Los Quemados und die späte Abreise
FORTWÄHRENDER VERSUCH, MIT GEWALTEN ZU LEBEN
Naturgewalt und Menschennatur
Von der Gewalt der Liebe
Der Wirbel der Worte
Höhere Gewalt
Ausgenommene Innereien
Informationen zum Buch
Der Mensch ist die Antwort, egal was die Frage ist. André Breton.
We have so much sea in front of us –
In der Taverne Mikri Venetia, Athen.
Jurte eines mongolischen Großen. Aus: Marco Polo, Am Hofe des Großkhans. Reisen in Hochasien und China, Leipzig 1924.
Der Mann aus der Hafenstadt Bahía Blanca, Sergio Raimondi, begrüßt seine berliner Festlandskollegen mit einer Rede zur Poesie2019 in der Weltklang-Nacht, die sich mit allen Meeren gewaschen hat. Er spricht über Probleme beim Schreiben einer Ode an den Pazifischen Ozean. Wir hören ihm zu mit nichts im Rücken als einem kleinen Binnenmeer, Ostsee, Oostzee, Östersjön, das auch einmal Meer des Friedens hieß. Er leistet es sich, eine Menge profaner Begriffe an Land zu ziehn und vom Verdacht der Kunstferne zu befreien. Er fördert im Schleppnetz der Poesía civil das abstrakteste, sperrige Material zutage, das der modernen Gesellschaft zugrunde liegt, industrielle, handelslogistische, finanzpolitische Phänomene. Er hebt das Verdikt der Unwürdigkeit einfach auf, indem er in den Ozean greift, voll der Schifffahrtsrouten, Warenströme, Billigproduktionen, die die Unmasse von Emotionen und Müll an die Küsten spülen. Und tatsächlich steht der Dichter am Meer, an dem er geboren wurde, und spricht mit Kieseln im Mund.
Freilich, der Pazifische Ozean steht für den Kapitalismus, der hat die erhabne Metapher errafft, er kann sie bezahlen. Auf dem Wasser schwimmen Container mit Frackinggas. Alles spricht für ihn, und ich frage nicht, was für den Kommunismus spricht, die andere große Bewegung, die jetzt unter Wasser ist. Der Wolkenhimmel?! bewegt wie er ist, fantastisch, unwirklich, wie nichts.
Wie muss die Kunst beschaffen sein, fragte Adorno, um dem Kapitalismus gewachsen zu sein? – die Poesie, liest der Dichter Raimondi, »einer dynamischen Gegenwart … einer globalen Dimension«. Welche Form soll sie annehmen in dieser allgegenwärtigen Formation der technischen, merkantilen, militärischen Zusammenbindung der Welt, bei der Territorien verbraucht und Halbkontinente umgepflügt werden. Er hat nicht nur das Vokabular für sein atmendes und gepeitschtes Meer, er auskultiert seine Lungen, die subtilen Organe des Hafens von Ingeniero White. Er macht längst Recherchen in den verdächtigen Farben, der aufgemischten Substanz. Er belädt den Ozean mit der historischen Fracht und den Lasten des Neokolonialismus. Das ganze Netzwerk an Daten, Fakten von Öl und Blut befleckt, die unentwegt bewegte Struktur trägt er in seine Seekarten ein, unersättlich wie sein Element. Er nimmt, ohne Zögern, eine Mannschaft an Bord, die er gebrauchen kann, die es hinter sich hat, Whitman, Pound, auch Gramsci und Ernest Mandel stehn im Logbuch. Er präpariert sich wie jener Colón, der mit seinen Karavellen nach Indien sucht. Denn sein Stoff ist voll ozeanischer Wucht und Geduld.
Und das von der Dichtung entdeckte Meer leckt über das Land. Aber ich muss schon den eurasischen Kontinent aufbieten, das massenmäßige Gegenstück, um an eine terrestrische Ode zu denken. Die Landmasse also, gelagert zwischen Atlantik und Pazifik, 10000 Kilometer vom Cabo da Roca bis zur Bucht von Anadyr. Permafrost, Steppe, Beton. Wie das Meer ist das Land von Arbeit kontaminiert, von Kriegen getränkt und von Wegen durchzogen. Blicken wir auf sie, sehn wir den Fortschritt rollen, das Chaos auf Rädern, den Stau. Das Rad eine Erfindung aus China, die Jurte eines mongolischen Großkhans, die Marco Polo sah von einem Konvoi Kühen gezogen, zeigt seine zivilisatorische Funktion. »Wenn die alte europäische Kultur eine Seekultur war und keine Stadt weiter als eine Tagesentfernung vom Meer lag, so war die Kultur der Reisländer, einbegriffen China, sozusagen eine Flusskultur.« Max Weber, Wirtschaftsgeschichte. Hier bestimmte nicht die »Energie, die nach außen drängt«, sondern der Bauer im Binnenland den Lebensrhythmus, selber bestimmt von der Natur, ja ihr Bestandteil im Kreislauf der Jahreszeiten. »Keiner, auch nicht der Feudalherr, der vom Produktionsprozess befreite Beamte oder Literat … konnte die schweren, dröhnenden Rhythmen der Millionen säender, pflügender Bauern überhören.« Ernst Schwarz, Die Weisheit des alten China. Aber die sagenhafte, die Seidenstraße, Reiseroute der Reiterarmeen und Karawanen – wir blicken auf Containerzüge, China Railway Express, DB Cargo Eurasia –, führt wieder durch die Chinesischen Mauern in die Tore Arabiens und Kontore Europas, über Zeitzonen und versunkene Reiche hinweg. Vom versunknen Kommunismus ist dort ein (riesiger) Rest.
Es ließe sich fragen, Adorno stellte die Frage nicht, wie eine Dichtung beschaffen wäre, die etwas anderm, Gerechterem, die einer Alternative gewachsen ist. Das scheint eine irreale Frage, nachdem das Gespenst verschwunden ist, das in Europa umging. Es war nie anders präsent als in demselben Kadaver und Leib, der es geworfen hat und seine Extremitäten nährt. Eine Dichtung? nun gut, ein Gleichnis von der Gleichheit, es ist wieder zum Mythos geworden; aber (sagte Karl Kraus:) der Widerspruch ist in der Welt.
Solange der mitgeborene Zwiesel unscheinbar war, beinahe unsichtbar, illegal, blieb er der aus der Art geschlagene Spross. Wo immer er als Staat auftrat, als Herrschaft gekleidet, gepanzert mit Macht, verlor er die Anmut und Kraft. Er fiel buchstäblich vom Fleisch und gab seinen Geist auf, die historische Mission. Der hochgerüstete Ostblock – ein sogenanntes Weltlager – ahmte, turnte die Gangart des westlichen Lagers nach und unterlag seinen ökonomischen Finten. Er verschwand, paradoxerweise, in seinem besten Moment, als er dem längst vergessenen Ziel am nächsten war und die egalitäre Struktur ihre Kapazität an Demokratie entlud. Nach der Rechnung K.R. Eisslers, des Psychoanalytikers in New York, werde man sich in weniger als hundert Jahren für diese halb-utopische, halb-archaische Landschaft interessieren und nach der vergrabnen Erfahrung fahnden. »Alles Eroberte lebt als Gespenst und Beute weiter, von der Magie bis zum Kommunismus. Daher ist der Kapitalismus auch als ein gewaltiges Spukhaus zu beschreiben.« Metz und Seeßlen, Neoliberalismus als Ästhetik. Was aber uns als gewaltiger Spuk erscheint, ist das große China, das in seinem eisernen Kasten erwacht.
Großer Pazifik! das meint auch die Pfütze Europas, in die ein Junge sein Schiffchen hält aus weißem Papier. Jenes Bateau ivre auf dem volkseigenen Rinnsal, das nachgedichtet zum Schiff im Land wurde. Aber ich schwimme stromauf: die Flüsse ermatten. / Dünne Nebel netzen den Kiel, die Ufer schlagen mich leck. Und nach uns die Sintflut der Volksenteignung. Es gehen nur noch chinesische Gedichte, sagte Heiner Müller, als die Losung KEINE GEWALT nach dem Umbruch ihre Geltung verlor. Die Verse Po Chü-yis dienten schon Brecht als Duktus der Buckower Elegien. Er hat im Nachkriegsberlin seine Schüler ins Land geschickt, um nach Spuren des Neuen zu suchen (dessen erste Erscheinung der Schrecken war). Das konnte nicht zur Ode gedeihen; Die Erziehung der Hirse nur ein Bittgesang. Der Kontinent K lag nicht vor Augen, blutverschmiert wie Eurasien war. Pablo Neruda, der Überflieger seines Erdteils, schrieb den universalen Großen Gesangda war es noch nicht die entgrenzte Welt. Auch das ist Kontinentalpoesie, und dennoch das Beben des Meeresnach der Ermordung Allendes 1973, »Es scheint ein endlos langes Brot zu kneten. Weiß wie Mehl ist der verschüttete Schaum« … Raimondis Landsmann Martin Gamborotta, sein Jahrgang, schreibt Kürzestgedichte (am besten: ein Wort), konzis wie Salz. Er denkt / was ein Läufer in Startposition denkt: / Der Schnellste ist der Modernste.
Es ist kein Wunder, dass Chinas Großer Sprung auf dem doppelten Boden landet, in dem der Kommunismus im Kapitalismus versinkt. Wir gewahren ein so zäh und brisantes Gemenge von Markt und Planung, sozialer Sicherung und wirtschaftlicher Entfesslung, dass es als einzig interessanter Gesellschaftsversuch erscheint. Der weltordnende Westen hat keine Ordnung mehr, er nährt sich vom Kollaps. Der Ferne Osten mixt alles in die gigantischen Freifallmischer, Wanderwesen und Fabelarbeiter, und hat seine Implosion vor sich. Er verleibt sich den Kapitalismus ein, zehrt ihn in seinen Stammländern aus und flatet ihn mit Waren zu. Es ist ein Weltexperiment, in dem Feuer und Wasser miteinander reagieren. Die chinesische Tradition, in Widersprüchen zu denken, Widersprüche arbeiten zu lassen, setzt den Prozess in Gang, der die alten Strukturen noch hofiert und sich den neusten Technologien andient.
Wirkt hier der hegelsche Weltgeist als Lachs, den ein junger leipziger Philosoph jetzt am Schwanz packt? der »dialektische Lachs«, der nach dem Ende der Geschichte, das Hegel in Preußen verortet, weiterschwimmt oder -denkt zum Ursprung, in den Laichgrund zurück? Das anadrome, wandernde Wesen des Denkens beruhigt sich nicht in selbstzufriedenen Breiten. Es zieht, wenns sein muss, um die Welt herum, und wir können, wie Leibniz, auf die Novissima Sinica sehen. Der Mann aus der Messestadt, Moritz Rudolph, also schlenzt den Lachs an Hegels Diktum vorbei ins Spielfeld. Das ist ein philosophischer Spaß im vollen Ernst, der den kopfstehnden Weltgeist auf die eingeschlafenen Füße stellt. Wir dürfen den gegessenen Fisch doch wieder als Maulwurf servieren, den dialektischen Lachs der Globalisierung als mechanischen Materialisten, der im rohen Erdreich der Mitte klächt und mit Riesenbaggern in den Salaren nach Lithium gräbt. Und wie gegängelt der Geist darin wühlt: Marx würde bei dem progress of forces wieder sagen: Brav, alter Maulwurf.