Die hellen Haufen - Volker Braun - E-Book

Die hellen Haufen E-Book

Volker Braun

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Beschreibung

Am 1. Mai 1992 demonstrieren 4000 streikende Arbeiter an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze und errichten einen Zaun mit der Aufschrift: »Kein Kolonialgebiet«. Der Protest nimmt immer größere Dimensionen an, man marschiert gen Berlin, debattiert die Belagerung von Erfurt, kurz: es kommt zum großen Arbeiterkrieg. Der Fabulierkraft und -lust, dem Witz und dem Humor Volker Brauns ist es zu verdanken, wenn Die hellen Haufen konkret und einfühlsam, ironisch und bitterernst, von einem Aufstand berichten, der nicht stattgefunden hat. Zwar streift ein Heerhaufen Entlassener und Arbeitsloser durch Mitteldeutschland – daß sie aber nicht kämpfen ist der bittere, süße Faden der Erzählung. Sie sammeln sich auf einem Schlackeberg, dem Schutt ihrer Existenz, die nicht zu verteidigen ist, eines Besitzes, den sie nicht besessen haben, eines Lebens, für das man das seine nicht in die Schanze schlägt. So wird eine Niederlage erfochten und ein Widerstand erdacht. Diese klare, einfache, harte Geschichte mußte geschrieben werden, einmal für allemal. »Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.« (Ernst Bloch)

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Volker Braun

Die hellen Haufen

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-76050-5

www.suhrkamp.de

Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.

Ernst Bloch

1

Der Aufstand, von dem hier berichtet wird, hat nicht stattgefunden. Er war auch mehr ein Krieg, der nur von einer Seite geführt wurde, und die andere hat stillgehalten. Wenn er seine Wahrheit hat, so nicht, weil er gewesen wäre, sondern weil er denkbar ist. Man glaubt die Geschichte zu kennen, aber sie hat mehr in sich, als sich ereignet: auch das Nichtgeschehene, Unterbliebene, Verlorene liegt in dem schwarzen Berg. All das Ersehnte, nicht Gewagte, und die alte Lust zu handeln. Tief verborgen, verschüttet, zubetoniert der Widerstand; die hellen Haufen, die nicht losgezogen sind, um die Schlacht zu schlagen.

Ich beginne wie ein Narr mit den Fakten.

Am 7. April blieben die Bitterröder im Schacht. Die Frühschicht, die mit 175 Mann in der Grube war, weigerte sich auszufahren. Auf dieses Signal hin wurde auch übertage das Werk besetzt. Berndt, mit Fieber angetreten, hielt mit unten aus. Er hatte den Platz von Rüttemann in der Instandsetzung übernommen, der als Betriebsrat freigestellt worden war. Barbara hatte Berndt zuhausehalten wollen und ein hartes Gesicht gezogen, weil er krank zur Arbeit ging. Aber Arbeit war nichts, was man ruhen ließ.

Jetzt brannte vorn an der Wache ein Feuer. Dort war seit Jahr und Tag eine Steintafel angebracht: DIE MACHT SOLL GEGEBEN WERDEN DEM GEMEINEN VOLK. Das war so etwas wie ein Firmenschild des Thomas-Müntzer-Schachts. Wer sie geben soll, war nicht vermerkt, und ob es sie haben will, wurde nicht gefragt. Das Volk hier: arbeitssam, zaumselig; Untertanen über Tag, Untermänner im Schacht. Als das volkseigne Werk, weiß der Teufel warum, verkauft werden sollte, war das gottgegeben. Darum wurde es der Treuhand unterstellt. Als die es aber nach menschlichem Ratschluß schließen wollte, war das nicht zu glauben. Das Salz, das sie aus der Erde gruben, war so seltenrein, daß keiner im Osten und Westen konkurrieren konnte. Sie hatten eher fürchten müssen, sich zuzuschütten, weil der Rückstandsberg schon das Tal verschloß. Nun legte die mächtige Kali und Salz AG ihre Berge dazu, und der Fusionsvertrag wurde wie ein Geheimnis verhandelt, in das kein Betriebsrat und Rechtsanwalt Einsicht erhielt. Ja, wenn ihr Roter Berg weiß gewesen wäre wie in Zielitz! Für ihre Sorte Salz hätte die BASF umrüsten müssen. – Merkers wurde zugemacht, weil man das Flöz von Westen anbaggern konnte. Roßleben, das für hundert Jahre Vorrat hat, wurde kein Jahr gegeben. Da war Bitterrode gewarnt.

Sie harrten auch am Karfreitag untertage aus. Barbara war zornig über diese Sturheit. Rüttemann mußte Berndt zu dem Unfug beredet haben. Sie wartete lange vor ihrem Häuschen in Holungen. Dann lief er, tatsächlich, bei der Kreuzwegandacht mit, zu der die Kumpel ausgefahren waren. Er holt sich in seiner dünnen Kluft den Tod. Berndt wies die Frau aber schroff zur Seite, um mit dem stummen Haufen wieder abzuziehn. Am Ostersonntag beteten sie in sechshundert Meter Tiefe.

Natürlich ging unten die Arbeit weiter und oben der Arbeitskampf. Das Wort hatte man nie gehört. Auch der Landtag in Erfurt führte ihn nicht unter seinen Begriffen. Rüttemann, nicht parteigebunden wie sein Kompagnon Brothuhn, spannte man vor den Karren. Seine drei Bedingungen: 1. kein Produktionsausfall, 2. kein Personenschaden, 3. keine Sachbeschädigung. Das wurde soweit eingehalten. An der Bundesstraße 80 standen Barrikaden. Bürgermeister und Kommunalpolitiker hatten sie errichtet. An ihnen vorbei fuhr ein Konvoi von 120 Wagen nach Kassel, wo Kali und Salz residierte.

Am 1. Mai marschierten 4000 an die ehemalige Grenze. Vor drei Jahren war sie unter Jubel geöffnet worden. Sie spürten in den Knochen noch das frohe Gefühl, das ein frischer Zorn verwirrte. Das erste Birkengrün stand Spalier, die violetten Fahnen wehten. Dem ungeheuren Zug voran schritt Bischof Wanke, das halbe Eichsfeld kam mit. Im Eichsfeld waren die Demonstrationen Prozessionen. Von der anderen Seite sah man verwundert die neu aufgerichteten Zäune: KEIN KOLONIALGEBIET. Wanke zur Menge: Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz kraftlos wird, womit soll mans salzen? Es ist zu nichts hinfort nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. (Matthäus 5,13)

Da waren sie schon verdammt, oder wie Rüttemann rief: Verkauft und beraten. Quatsch, sagte Teusch, der Vorstandssprecher, vor versammelter Mannschaft: Wenn Sie einen Käufer finden – dann bitte. Der Käufer fand sich: in dem Unternehmer Peine. Der stand, ein breiter Mann aus Westfalen, eines Tages vorm Förderturm. – Peine, flüsterte Brothuhn, das ist unser Mann. – Seid ihr meine Leute, fragte Johannes Peine. Sie nahmen die Mützen ab. Er will uns kaufen, freute sich das billige Pack. Aber den Retter Peine sah das Geschäft nicht vor.

Als am 1. Juli der Bundestag die Kalifusion protegierte, traten zwölf Bitterröder in den Hungerstreik. Berndt gehörte zu ihnen, Jendreck, der Grubenbetriebsführer Hensel. Wie Berndt Barbara seine Absicht erklärte, hatte sie eben Klöße gebrüht und den Braten geschnitten. Sie kam aber nicht dazu, ihn aufzutragen, weil sie in Streit gerieten und der dumme Mann ungesättigt aus dem Haus lief. Ich kriege auch morgen nichts, warum soll ich heute essen, sagte Berndt, und die Logik erbitterte Bärbel; das Hungerlager wurde in der Kantine aufgeschlagen. Da blieb das Bett neben Bärbel wieder leer.

Am nächsten Tag hungerten zwanzig, am dritten Tag vierzig. So kam es, daß in der Zeit kein Mann bei seinem Weib lag und kein Weib nach dem Mann verlangte; weil sie nicht arbeiteten, kam auch die andre Lust zum Erliegen. Es war, als wäre diese ganze Förderung aufgegeben. Nicht daß da keine Vorkommen, keine Lagerstätten mehr gewesen wären, aber man konnte nicht einfahren. Es mangelte gleichsam an der gewohnten Kühnheit und Hingabe an die Dinge. Die ganze Ausbeute war, daß man den Arm um die Schulter legte. Denn auch die Liebe ist eine Produktion und kann eingestellt werden.

Am achten Tag machte Berndt schlapp. Kaltes Fieber, die Blutwerte schlecht. Barbara hörte den Sanker fahren, und Jendreck erschien, um ihr Bescheid zu geben. Sie wollte ihm eine Schnitte machen, Jendreck schüttelte den Kopf: und schob die Schnitte unverschämt ins Maul. Er ging dann wieder »ans Werk«. Vor der Tür blieb er stehn und würgte das Brot heraus. Bald drauf kam Pfarrer Klagroth, auch der Bürgermeister und Rüttemann. Barbara schluchzte, um sich zu schämen für den Mann. Es hielt sie nicht auf dem Stuhl, sie hantierte wütend, rührte Kuchen an und stellte Tassen und Teller heraus. Sie ließen sich aber nicht nieder, sondern beteten ihn gesund. Und gingen unverrichteterdinge.

In der Nacht verließ Bärbel der Hochmut. Dreißig Jahre war Berndt im Betrieb. Sie hatten das Haus verputzt und die Heizung einbauen lassen, vom Umgetauschten (2:1) und einem Kredit. In der Spinnerei Leinefelden waren sie alle entlassen. Was hatte Klagroth gesagt? Wir werden über die Klinge springen. Am Morgen ging sie in die Kantine, um sein Hungern fortzusetzen. Sie spähte nach einem freien Platz. Kann ich hier bleiben? – Henkel staunte: Die Bärbel Berndt. Es roch nach Kaffee und verschlafner Luft. – Du bist kein Mann. – Du brauchst was in deinen Leib. – Die Männer lachten. Es war ein kraftloses, verhungertes Lachen. – Mit so viel Kerlen willst du schlafen? – Wachen, sagte sie. Für seinen Platz im Schacht. Sie zeigten ihr die Pritsche, auf der er gelegen hatte.

Dem Beispiel Barbaras folgte ein Dutzend Frauen. Man teilte für sie mit Stücken Pappe einen Verschlag ab. An der alten Essenausgabe steckten die Speisenschilder: Rostbraten, Eisbein, Bratkartoffeln. Auf eine Campingliege war ein Skelett gebettet. Dorthin wurden die Journalisten geführt. Barbara wars in den Nächten flau, tags konnte sie sich nicht erheben. Herzrasen, Schwindel. Übrigens war der Verschlag eine nutzlose Maßnahme. Keins hätte sich zu einem andern gelegt. Kaum aus dem eignen Leib war ein Quentchen Lust zu schlagen. – Neben ihr hockte die alte Marie Luft, die sich auch nicht hatte abweisen lassen. Sie saß so würdevoll auf ihrem Lager, daß man sich an ihr aufrichten konnte. Und furchtlos holte sie wieder was unter dem Rock vor und kaute verstohlen, was ihr nicht die Würde nahm.

Am Werktor standen nun Hunderte, mit verschränkten Armen; man tat nichts Unrechtes, man tat nichts. Finger, der mit einem NVA-Jeep angereist war, wunderte sich, wie sachte und ruhig die Leute redeten, mit welcher Langmut sie der Geschichte zusahn. Da er abschätzig um sich blickte, hielt ihn Ihse für einen Kaufinteressenten. Finger bestätigte das mit seinem kalten lauten Lachen. Er sagte Ihse, Jakob Luft und Wolfgang Goethe immer dasselbe: Ihr müßt euern Anteil verlangen. – Welchen Teil? fragte der junge Jakob. Sie hatten davon garnichts gehört oder das vergessen. – Täglich brachten Busse Protesttouristen und Abordnungen aus Betrieben. Sie kamen aus Hettstedt und Halle, aus Sangerhausen und Suhl. Und Rüttemanns Emissäre fuhren, den Kofferraum voll Salz, nach Zella-Mehlis und Merseburg, Schmalkalden und Schwerin. Das Salz wurde überall in die Wunden gerieben.