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Magisterarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Anglistik - Literatur, Note: 1,3, Universität Münster, Sprache: Deutsch, Abstract: „Wenn sie wählen müssen, zwischen ihrer Berufung oder ihrer Familie, entscheiden sie sich immer für die Berufung.“ Diese Aussage Kazuo Ishiguros aus einem Interview mit der ZEIT hat den Anstoß zu dem Thema dieser Arbeit gegeben. Mit „sie“ bezieht sich der preisgekrönte Autor auf die Protagonisten seiner Romane, die zugleich immer die Rolle von Ich-Erzählern übernehmen. Nicht nur Ishiguros Charaktere entscheiden sich gegen ihre Familien. Auch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Kazuo Ishiguros hat die Rolle der Familie und deren Struktur weitgehend vernachlässigt. Es steht in der Forschung außer Frage, dass seine Romane „deeply discouriging conditions of family life“ 2 präsentieren, doch eine umfassende Betrachtung des Themas hat bislang nicht stattgefunden. Diese Arbeit hat sich deshalb in den Romanen Kazuo Ishiguros auf Spurensuche begeben und plädiert dafür, dass die familiären Strukturen und ihre Darstellung für die Auseinandersetzung der Protagonisten mit ihrer Vergangenheit sowie ihren Weg in die Zukunft äußerst bedeutungsvoll sind. Die soziale Einheit Familie spielt gewiss nicht die zentrale Rolle in den Romanen Kazuo Ishiguros. Die Abwesenheit von funktionierenden und harmonischen Familien lässt jedoch die Vermutung aufkommen, dass hierin ein Pläydoyer Ishiguros für die Wichtigkeit von Familie zu lesen ist. Dabei stellt sich die Frage, wie die Fragmentierung der Familien sich in den Romanen äußert, und welche Rolle hierbei die Erzähler spielen. Sabine Birchall formuliert in Hinblick auf das Werk Graham Swifts, dass Eltern-Kind-Beziehungen den „Nexus zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ bilden. 3 Dies trifft auch auf Ishiguros Erzählungen zu. Wir erleben die Protagonisten in einem Moment ihres Lebens, an dem familiäre Umstände sie zwingen, sich ihres gegenwärtigen Status bewusst zu werden und sich kritisch mit Entscheidungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dabei entwickeln sie ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer eigenen Person und ihrem Umfeld, das sie zu einer Neukonstruktion ihrer Identität herausfordert. Die Charaktere bauen nicht nur ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Familie, sondern ihrer gesamten Lebenswelt auf. Ausgehend davon stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine räumliche Dimension für die Romane Ishiguros hat. Orte, die für die Protagonisten einmal ein Zuhause waren, werden zu fremden Orten und verleihen ihnen das Gefühl der Orientierungslosigkeit.[...]
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„Wenn sie wählen müssen, zwischen ihrer Berufung oder ihrer Familie, entscheiden sie sich immer für die Berufung.“1
Diese Aussage Kazuo Ishiguros aus einem Interview mit der ZEIT hat den Anstoß zu dem Thema dieser Arbeit gegeben. Mit „sie“ bezieht sich der preisgekrönte Autor auf die Protagonisten seiner Romane, die zugleich immer die Rolle von Ich-Erzählern übernehmen. Nicht nur Ishiguros Charaktere entscheiden sich gegen ihre Familien. Auch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Kazuo Ishiguros hat die Rolle der Familie und deren Struktur weitgehend vernachlässigt. Es steht in der Forschung außer Frage, dass seine Romane „deeply
discouriging conditions of family life“2präsentieren, doch eine umfassende Betrachtung des Themas hat bislang nicht stattgefunden. Diese Arbeit hat sich deshalb in den Romanen Kazuo Ishiguros auf Spurensuche begeben und plädiert dafür, dass die familiären Strukturen und ihre Darstellung für die Auseinandersetzung der Protagonisten mit ihrer Vergangenheit sowie ihren Weg in die Zukunft äußerst bedeutungsvoll sind. Die soziale Einheit Familie spielt gewiss nicht die zentrale Rolle in den Romanen Kazuo Ishiguros. Die Abwesenheit von funktionierenden und harmonischen Familien lässt jedoch die Vermutung aufkommen, dass hierin ein Pläydoyer Ishiguros für die Wichtigkeit von Familie zu lesen ist. Dabei stellt sich die Frage, wie die Fragmentierung der Familien sich in den Romanen äußert, und welche Rolle hierbei die Erzähler spielen. Sabine Birchall formuliert in Hinblick auf das Werk Graham Swifts, dass Eltern-Kind-Beziehungen den „Nexus zwischen Vergangenheit und Gegenwart“
bilden.3Dies trifft auch auf Ishiguros Erzählungen zu. Wir erleben die Protagonisten in einem Moment ihres Lebens, an dem familiäre Umstände sie zwingen, sich ihres gegenwärtigen Status bewusst zu werden und sich kritisch mit Entscheidungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dabei entwickeln sie ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer eigenen Person und ihrem Umfeld, das sie zu einer Neukonstruktion ihrer Identität herausfordert.
1Susanny Mayer, „Glück ist eine Blase. Ein Gespräch mit dem Autor Kazuo Ishiguro.“Die Zeit 38 (2000)[http://www.zeit.de/archiv/2000/38/200038_l-interview.xml?term=Kazuo, abgerufen am 12.02.2005]
2Cynthia Wong,Kazuo Ishiguro,(Horndon, Tavistock, Devon: Northcote House, 2000), S. 23.
3Sabine Birchaell,Erinnerung und kollektive Identitäten. Zur Wahrnehmung der Kriegsvergangenheit im englischen Roman der Gegenwart,(Frankfurt a. M: Peter Lang, 2003), S. 62.
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Die Charaktere bauen nicht nur ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Familie, sondern ihrer gesamten Lebenswelt auf. Ausgehend davon stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine räumliche Dimension für die Romane Ishiguros hat. Orte, die für die Protagonisten einmal ein Zuhause waren, werden zu fremden Orten und verleihen ihnen das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Es ist Aufgabe zu untersuchen, welche Beziehungen die Protagonisten zu ihrem Zuhause haben und wodurch jene Orientierungslosigkeit hervorgerufen wird. Raum und Familie gehören unweigerlich zueinander und bilden einen übergeordneten Rahmen für Identität.
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“He is as Japanese as his name and as English as the flawless prose he writes.”4
Kazuo Ishiguro wurde im Jahr 1954 in Nagasaki geboren. Heimat spielt für die Biographie von Kazuo Ishiguro seit jeher eine wichtige Rolle: Seine Familie verließ Japan im Jahr 1960 und zog nach England, wo der Vater als Ozeanograph im Auftrag der britischen Regierung zunächst für einen begrenzten Zeitraum von ein bis zwei Jahren forschen sollte. Aus dem vorübergehenden Aufenthaltsort wurde schließlich der feste Wohnsitz der Familie und Ishiguro verlor seine alte Heimat. In Japan hatte er Freunde und den Großteil der Familie als Fünfjähriger zurücklassen müssen. England wurde zu seiner neuen Heimat, und er kehrte bis zum Jahr 1989 im Rahmen einer Lesereise nicht nach Japan zurück5. Ishiguro wird zuweilen als einhomeless writercharakterisiert, obwohl er selbst sich in England zu Hause fühlt. Kate Kallaway kommentiert dazu:
Ishiguro is a chameleon. He’s not quite at home anywhere, but can seem to be at ease everywhere. His placelessness gives him freedom and he has mastered the art of projection and protective coloration.6
Betrachtet man Ishiguros Leben und seinen Werdegang genauer, so kann man feststellen, dass dieser unter der frühen Entwurzelung aus Japan und Verpflan-
zung nach England nicht sehr gelitten hat.7Auch wenn er in einem japanischen Haus erzogen wurde und noch heute mit seinen Eltern japanisch spricht, integrierte er sich in England problemlos und nahm es als seinen Lebensmittelpunkt an.8Ishiguro genoss eine, wie er selbst sagt, „typical middle-class Southern English upbringing“9und ging in Guildford, Surrey, zur Schule. Zuweilen hat er
4Pico Iyer, “Waiting Upon History. The Remains of the Day”,Tropical Classical: Essays from several directions.Pico Iyer, ed., (New York: Knopf, 1987), S. 178.
5Vgl. Allan Vorda, Kim Herzinger, “An interview with Kazuo Ishiguro”,Mississippi Review20 (1996), S. 131.
6Zit. nach Barry Lewis,Kazuo Ishiguro(Manchester: Manchester UP, 2000), S. 4.
7Vgl. Barry Asker, “The next time I looked, Japan was gone: Home Is Where the Fiction Is -Kazuo Ishiguro and the Sense of Dis-Place.”,Anglophone Literatures in South East Asia. Appropriations, continuities, contexts,eds. Rüdiger Ahrens, David Parker, Klaus Stierstorfer, Tam Kwok-Kann (Heidelberg: UTB, 2003), S. 297.
8Vgl. Susie MacKenzie, “Between two worlds”,The Guardian(London), 25. März 2000. [http://books.guardian.co.uk/departments/generalfiction/story/0,6000,150672,00.html, aufgerufen am 12.02.2005]
9Lewis,Kazuo Ishiguro,S. 1.
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sich als ein Exot gefühlt, da seine Familie die einzige japanische in der gesamten Grafschaft Surrey war,10aber er fühlte sich nie, wie er sagt „negatively alien“11. Ishiguro studierte Englisch und Philosophie an der University of Kent in Canterbury und besuchte später Malcolm BradburysCreative Writing Coursean
der University of East Anglia, Norwich12, wo er im Jahr 1980 seinen M.A. in Literatur absolvierte. Bereits während dieser Zeit schrieb Ishiguro erste Kurzgeschichten, die allesamt veröffentlicht wurden und ihm einen Vertrag für seinen
ersten Roman einbrachten, bevor dieser überhaupt vollendet war.13A Pale View of Hillswurde bereits im folgenden Jahr, 1981, veröffentlicht.14Als Salman Rushdie im Jahr 1981 als erster nicht-englischstämmiger Autor den renommierten Booker Prize gewann, war noch nicht klar, dass eine ganze Generation junger Schriftsteller folgen sollte, die die literarische Tradition Englands neu definierten. Der englische Roman befand sich zu jenem Zeitpunkt in einer Krise, es fehlte die rechte Perspektive15. Rushdie war bis dato ein völlig unbekannter Autor gewesen, der nun über Nacht eine neue literarische Ära in Großbritannien einläutete, für Ishiguro genau zur richtigen Zeit: That was a really symbolic movement and then everyone was suddenly looking for other Rushdies. It so happened that around this time, I brought out A Pale View of Hills.16
Sein Romandebüt erschien im selben Jahr und wurde sogleich auf die Auswahlliste für den Booker Prize gesetzt. Ishiguro war sich dieser Überraschung - häufig verschwindet ein Erstlingswerk in Vergessenheit - bewusst, bietet jedoch eine so einfache wie plausible Erklärung: „I know why this was. It was because I had this Japanese face and this Japanese name and it was what was being covered at the
time“.17Ishiguro hatte Recht. In den Jahren nach 1981 wurde der bedeutendste Literaturpreis Großbritanniens unter anderem an zwei Australier, eine Neuseelän-
10Asker,“Home Is Where Fiction Is”, S. 297.
11Asker, “Home Is Where Fiction Is”, S. 297.
12Erhard Reckwitz, “Der Roman als Metaroman: Salman Rushdie, Midnight’s Children; Kazuo Ishiguro, A Pale View of Hills; John Fowles, Matissa”,Poetica18 (1986), S.142.
13Otto Dylan Krider, “Rooted in Small Space. An Interview with Kazuo Ishiguro”,The Kenyon Review,20.2 (1998), S. 147.
14Vgl. Adam Parkes,Kazuo Ishiguro’s ‚The Remains of the Day’ - A reader’s guide.London, (New York: Continuum, 2001), S.12.
15Vgl. u.a. Parkes,Kazuo Ishiguro’s ‘The Remains of the Day’,S. 15.
16Vorda, “An interview with Kazuo Ishiguro”, S. 133.
17Vorda, “An interview with Kazuo Ishiguro”, S. 133.
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derin, einen Südafrikaner und einen Nigerianer verliehen.18Die literarische Tradition Englands erlebte einen Umbruch, ausgelöst und vorangetrieben von jungen, ambitionierten Schriftstellern aus dem ehemaligen Commonwealth. Romane spielten fortan nicht primär in England, sondern thematisierten Indien, Australien oder Südafrika. Pico Iyer sah Ishiguro zusammen mit Salman Rushdie in einem wichtigen Artikel im TIME Magazine mit dem bezeichnenden TitelThe Empire
Writes Back„im Mittelpunkt dieser Tendenz zu einer neuen Weltliteratur“19, zu der auch berühmte Autoren wie Ben Okri, Michael Ondaatje und Timothy Mo gehörten. Alle diese Schriftsteller sind angelsächsischen Ursprungs, zumeist in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und schreiben in Englisch. Auch Malcolm Bradbury ordnet Ishiguro in diesen Kreis ein, zudem er noch V.S. Naipaul und Ruth Prawer Jhabvala zählt:
[They] have married British with other forms of fiction to create an international, late-modern fictional voice that is, like Henry James, larger than any individual culture“20
Kazuo Ishiguro mag es nicht, wenn man ihn, auf welche Weise auch immer, zu kategorisieren versucht: „Like any writer I resist being put in a group“.21Gleichwohl gibt er zu, das ihn etwas mit den genannten anderen jüngeren britischen Schriftstellern verbindet, aufgrund dessen er sich ihnen zugehörig fühlt: „The one possible valid thing that unites the younger group is the consciousness that Britain is not the center of the universe.“22Diese Aussage Ishiguros bietet eine gute Einordnung seiner Arbeit, auch wenn sie bereits einige Jahre zurückliegt. Ishiguro gehört nicht zu den klassischen Schriftstellern des Postkolonialismus im engeren Sinne - Japan ist nie eine Kolonie gewesen und Ishiguro thematisiert auch keine andere Kolonie in seinen Erzählungen. Dennoch, und dies wird durch das eben genannte Zitat betont, setzt Ishiguro sich mit dem Thema der neuen Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Kolonialherrschaften auseinander, im besonderen in seinem bislang erfolgreichsten WerkThe Remains of the Day,das im Jahr 1956, dem Jahr der Öffnung des Suez-Kanals, spielt. In allen anderen seiner Romane, die bis auf den neuesten außerhalb Englands angesiedelt
18Vgl. Pico Iyer, “The Empire Writes Back. Am Beginn einer neuen Weltliteratur?”,Neue Rundschau,1 (1996), S. 9.
19Pico Iyer, “The Empire Writes Back”, S.10.
20Malcolm Bradbury,The Modern British Novel(London: Penguin Books, 1994), S. 425.
21Vorda, “An interview with Kazuo Ishiguro”, S. 133.
22Vorda, “An interview with Kazuo Ishiguro”, S. 136.
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sind, verhandelt er Fragen der Identität und Heimat und sieht von einer rein britischen Perspektive ab.
Englisch ist die Sprache, in der Ishiguro denkt und schreibt - das Japanische beherrscht er nur mäßig, wie er sagt - und doch tragen seine Romanen, besonders die ersten drei, Spuren Japans in ihrer Sprache und ihrem Stil. Wenn Ishiguros Charaktere wenig miteinander reden, so liegt dies auch an ihrer Mentalität. Die Sätze sind prägnant, der Redestil zurückhaltend und leise. Es kommt sogar vor, dass es Missverständnisse in Bezug auf Ishiguros Nationalität und seine Arbeit gibt und so entgegnet Barry Asker:
Readers unfamiliar with Kazuo Ishiguro may be forgiven if they make a once common assumption that he is a Japanese writer, brilliantly translated into English […].23
Ishiguro hat soeben seinen sechsten Roman,Never let me go24,veröffentlicht und mit ihm eine „zweite Trilogie“ abgeschlossen, worüber später noch zu sprechen sein wird. Dem ErstlingswerkA Pale View of HillsfolgtenAn Artist of the Floating World(1986),The Remains of the Day(1989),The Unconsoled(1995) undWhen We Were Orphans(2000).25Bisher sind Ishiguros Bücher in 27 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen verschiedenen Preisen ausgezeichnet wor-
den.26Besonders bemerkenswert ist, dass Kazuo Ishiguro bereits fürA Pale View of Hillsden Winifred Holtby Prize der Royal Society of Literature und im Jahr 1986 fürAn Artist of the Floating Worldden Whitbread Book of the Year Award erhielt. Zudem wurden ihm von den Universitäten Kent (1990) und East Anglia (1995) Ehrendoktorwürden verliehen sowie im Jahr 1998 die besondere französi-
sche Auszeichnung Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres.27
The Remains of the Dayund seine Auszeichnung mit dem Booker Prize im Jahr 1989 waren auch der Beginn der ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Ishiguros Romanen, obwohl bereits seine beiden ersten Romane preisträchtig
23Asker, “Home Is Where Fiction Is”, S. 295.
24Kazuo Ishiguro,Never Let Me Go.London: Faber & Faber, 2005.
25Kazuo Ishiguro,A Pale View of Hills.London: Faber and Faber, 1991 (1981);An Artist of the Floating World.London: Faber and Faber, 2001 (1986);The Remains of the Day.London: Faber and Faber, 2001 (1989); Ders.When We Were Orphans.New York: Knopf, 2000.
26Brian W. Shaffer,Understanding Kazuo Ishiguro(Columbia: University of South Carolina Press, 1998), S. 5.
27Vgl. Parkes,The Remains of the Day,S. 14.
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waren. Auch wenn Kazuo Ishiguros Romane stets von den Kritikern und den Lesern durchweg positiv aufgenommen wurden, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ishiguros oeuvre demnach vergleichsweise jung. Zudem ist Kazuo Ishiguro außerhalb Großbritanniens - trotz seines Erfolgs - recht unbekannt bei Menschen, die sich nicht wissenschaftlich mit ihm oder der zeitgenössischen englischen Literatur beschäftigen. Ishiguro kennt, dann meistens als den Autor der Romanvorlage zu der erfolgreichen Merchant Ivory Produktion vonThe Remains of the Dayaus dem Jahr 1993, sehr erfolgreich verfilmt mit Emma Thompson und Anthony Hopkins in den Hauptrollen.
Erst in den vergangenen Jahren sind einige gute Monographien erschienen, die
sich Ishiguro und seinem bisherigen Gesamtwerk widmen.28Darüber hinaus gibt es eine inzwischen beträchtliche Anzahl von Artikeln und Aufsätzen, die Ishiguros Romane unter verschiedenen Fragestellungen untersuchen. Ein Schwerpunkt der bisherigen Forschung liegt auf der Beschäftigung mit dem stets wiederkehrenden Motiv der Erinnerung, das allen Protagonisten gemeinsam ist. Hier wurden interessante Arbeiten von Simone Kremkau und Oliver Schönbeck vorgelegt, die Ishiguros Werk anderen zeitgenössischen englischen Autoren wie Barry Unsworth und Graham Swift vergleichend gegenüberstellen.29Eine besondere Position in der Forschung nimmt auch der Erzählmodus desfirst person narratorein, der ein besonderes Charakteristikum von Ishiguros Romanen darstellt. Hier hat Kathleen
Wall einen viel zitierten Aufsatz beigetragen30, einen weiteren Ansatz bietet Greta Olson31. Gleichfalls spielt die Thematisierung von Zeitgeschichte in Ishiguros Romanen eine Rolle, die auch in der Forschung beachtet wird. Für Ishiguro selbst spielt jedoch Geschichte eine sehr untergeordnete, wenn nicht gar beliebige Rolle für die Erzählungen. Sie ist lediglich ein Rahmen, in dem sich seine Protagonisten
mit ihrem persönlichen Schicksal auseinandersetzen.32Zugenommen hat in den letzten Jahren die Diskussion Ishiguros in einem postkolonialen Umfeld. Eine
28Als empfehlenswert sollen an dieser Stelle drei Titel genannt werden: Barry Lewis,Kazuo Ishiguro;Brian W. Shaffer,Understanding Kazuo Ishigurosowie Cynthia F. Wong,Kazuo Ishiguro(Horndon, Tavistock, Devon: Northcote House Publishers, 2000).
29Simone Kremkau,Vergangenheit, Erinnerung und Nostalgie im englischen Roman nach 1945. (Göttingen:Cuvillier Verlag, 2003); Oliver Schönbeck,Their Versions of the Facts. Text und Fiktion in den Romanen von Ian Banks, Kazuo Ishiguro, Martin Amis und Jeanette Winterson.(Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2000).
30Kathleen Wall, “The Remains of the Day and Its Challenges to Theories of Unreliable Narration“,Journal of Narrative Technique,24.1 (1994), S. 18-42.
31Greta Olson, “Reconsidering Unreliability: Fallible and Untrustworthy Narrators”Narrative11.1 (2003), S. 93-109.
32Ishiguro und Oe, “The Novelist in Today’s World”, S. 115.