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Am 25. Juli 1918 stürzt Franziska zu Reventlow in Locarno vom Fahrrad. Nach einer Notoperation stirbt sie am frühen Morgen des 26. Juli 1918 an Herzversagen – 47 Jahre alt. Weil sie, obwohl ein Mädchen, kompromisslos »ich« sagte, wurde die junge Comtesse von ihrer Familie verstoßen und beinahe entmündigt. Die Vielliebende fand es verantwortungslos, an Männern, die ihr gefielen, vorüberzugehen. Sie streifte manchen intim, den man immer noch kennt, etwa Rainer Maria Rilke, Karl Wolfskehl oder Ludwig Klages. Zum ersten Mal wird die Biografie ihrer Lieben erzählt, denn auch Lieben sind Lebewesen: Sie werden geboren, reifen und sterben, aber nicht alle. In Kerstin Deckers ebenso tragischem wie komischen Bericht dieses Lebens bleibt vom Bild der robusten Männersammlerin fast nichts übrig. Es entsteht ein einzigartiges Mutter-Kind-Porträt und das Bild einer Frau, die eine so weltüberlegen-hochironische Prosa schrieb, dass es Männern schwerfiel, an eine Autorin zu glauben.
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ISBN 978-3-8270-7966-4
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2018
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Abbildung: Münchner Stadtbibliothek/Monacensia
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Erster Teil
Die Seiltänzerin
Der sechste Geburtstag
Der Geist des Aufruhrs
Pastor Arnold Braune
Das Schloss
Das letzte Weihnachten
Lübeck
Ludwig
Die Seminaristin
Aber du musst tanzen …
Schluse, von Beruf Zarathustra
Das Pulverfass geht hoch
Adelby oder Die Unabhängigkeitserklärung
»Moral insanity wird sich erweisen lassen …«
Vor den Fenstern, allein oder Der Graf stirbt
Büsum
Zweiter Teil
»Lass ihr – muss ich hüten bezechtes Kind« oder Ankunft im Vorort der Welt
Sehen lernen
Heiraten
»Es war meine eigene Geschichte, die ich dir gestern erzählte«
Madame X.
»Ein Kind. Ein Kind. Mein Gott«
René Maria
In den Bodensee fallen
Fremde Blicke
Das gräfliche Milchgeschäft
Glück oder Vom chronischen Gretchen
Die Luisenkollekte
Eros, kosmogonisch
Der Stabreim als Schicksal
Was Frauen ziemt
Nicht versichert
»Sie ist eine Sirene«
»Das Meer, mein Meer«
Feuer auf Samos
Dritter Teil
Der Revolver
Das fette Rom
Höhenroth
»Ich will auch unsere Liebe als seltenes Fest …«
Blütenüberladen
Der Scherbenmann
»Und ist es Trieb, so ist es Pflicht!«
Der Stab des Dionysos
Drei Tage Ravello
»… da ich Gott sei Dank den Nitsche nicht gelesen habe!« oder Der Subsensommer
Von Kosmikern und Zionisten
»… für Dich und um Dich zu allem fehig«
Das Eckhaus
Der Graphomant
»Aber haben wir zu dreien überhaupt Platz auf der Welt?«Forte dei Marmi
»Bin ich es noch? Ich glaube … nicht«
Ludwig, zum letzten Mal
»C’était plus fort que moi«
Im Schatten des Achilleion
Jules und Jim. Und Franziska
Die Glasmalerin
Vierter Teil
Monte Verità
Der Trinker und das Zeitalter der Päule
Alexander von Rechenberg-Linten junior
Alexander von Rechenberg-Linten senior
Die Hochzeit
Doktor Stern
Die Eisenbahn Moskau – Kiew – Woronesch
1914
»Meinen Gläubigern zugeeignet«
Rolf zieht in den Krieg
Die Roulette-Dame
Die Versuchsfrau. Ein Nachwort
Anmerkungen
Quellen und Literatur
… seit ich aus meinem wertvollen alten Familienrahmen entfernt wurde, hat mir wohl keiner mehr gepasst. Mancher war recht gut, mancher wieder sehr mittelmäßig, und es gab auch Zeiten, wo das Bild nur mit Reißnägeln an die Wand geheftet war.
Franziska zu Reventlow, Von Paul zu Pedro
Nie ist man mehr allein als unter Menschen. Niemand nimmt sie wahr, keine spricht mit ihr. Die Strafe heißt silence. Von morgens bis abends führen ihre Mitschülerinnen den Beweis, dass es Fanny zu Reventlow aus Husum an der Nordsee, fünfzehn Jahre alt, gar nicht gibt.
Manchmal glaubt sie das auch. Eigentlich hat sie es schon immer geglaubt. Sie ist höchstens halb zur Welt gekommen. Aber wenn sie es gerade nicht glaubt, sitzt die Tochter des preußischen Landrats Ludwig Graf zu Reventlow mitten in der Nacht in ihrem Bett und heult in langgezogenen schaurigen Tönen, sehr wölfisch, sodass der ganze Schlafsaal aufwacht.[1] Sie muss bloß aufpassen, dass sie nicht selbst dabei einschläft.
Die Schlafsaalverantwortliche im Mädchengefängnis zu Altenburg in Thüringen, das die Erwachsenen auch Freiadliges Magdalenenstift nennen, hat die Geächtete schon mehrmals aufgefordert, das Heulen einzustellen. Vergebens. Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Comtesse zu Reventlow antwortet, das stünde nicht in ihrer Macht, es handele sich um eine Art tiefster, gleichsam animalischer Traurigkeit.
Sie ist natürlich nicht freiwillig hier, keine ist freiwillig hier. Dieses Institut, gegründet im Geist des deutschen Pietismus[2], hat sich der Aufgabe verschrieben, aus den höheren protestantischen Töchtern des Reichs Mädchen zu formen, die diesen Namen nicht zu Unrecht tragen. Höhere Töchter? Höher, das heißt: vor allem tot. Je toter, desto höher. Niemand verfügt über weniger Begabung zur höheren Tochter als die wölfische Fanny. Leider hat ihr Vater für sie eine Freistelle bekommen, die »Freiherrlich Löw’sche Freistelle«. Die Familien sind verwandt. Die Husumer Comtesse trägt auch neuerdings ihre Waschschüssel nicht wie die anderen in den Händen, sondern auf dem Kopf. Gewiss achtet sie darauf, die Schüssel bis an den Rand zu füllen, um den Effekt des Überschwappens nicht zu verfehlen.
Als Fanny noch ein kleines Mädchen war, hatte sie einen Zirkus gesehen und konnte den Blick nicht von den Seiltänzern wenden. Zu den Seiltänzern gehörten auch fünf Jungen, kaum älter als sie, die konnten auf Stelzen laufen, sogar auf Stelzen tanzen. Sie ließ sich heimlich welche machen und wartete seitdem, dass der Zirkus wiederkäme, um mitzufahren.[3] Vielleicht hätte ihre Mutter sie dann doch noch geliebt, gleichsam im letzten Augenblick, aber es wäre zu spät gewesen.
Zu spät! Das Kind empfand bei diesem Gedanken eine tiefe Befriedigung, die zugleich ganz kindlich und ganz unkindlich war. Höchstwahrscheinlich ist ihre Mutter aber gar nicht ihre Mutter, und sie wird bei einer völlig fremden Familie groß. Fanny entnahm diese Ansicht dem Betragen der kühlen Frau: Wäre ihre Mutter wirklich ihre Mutter, müsste sie dann nicht auch zu ihr so liebevoll, so nachsichtig, so anerkennend sein wie zu ihren Brüdern?
Niemand unter den Geschwistern bezog so viel Prügel wie Fanny, nicht einmal die Hunde. Sie kann mich nicht leiden, seit frühester Kindheit bin ich immer ein Stiefkind gewesen.[4]Und dass sie sich jetzt an diesem absurden Ort befindet, in der thüringischen Verbannung statt zu Hause in dem alten Schloss am Meer, von dessen Turm man weit über das Wasser und die Heide sehen kann, ist natürlich auch das Werk ihrer Nichtmutter.
Nein, ohne Stelzen wird dieses Mädchen nicht durchs Leben kommen. Dabei auf einem Seil gehend, nicht immer die Balance findend. So ungefähr ließe sich die Daseinsform beschreiben, zu der sie gerade Anlauf nimmt. »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.«[5]Also sprach Zarathustra. Wie eine Offenbarung, wie eine gleichsam kosmische Bestätigung wird sie einmal diese Zeilen lesen. Hat der Autor sie etwa gekannt?
Schüssel runter!, befiehlt die Erste. Die Erste heißt im Freiadligen Magdalenenstift zu Altenburg die Unglückliche, die für Disziplin in Waschraum und Schlafsaal sorgen muss und Anzeige erstattet, sobald ein Mädchen ein anderes etwa »cochon« tituliert oder in einem statt in zwei Unterröcken durch den Schlafsaal geht.[6] Natürlich soll die Erste sofort jede melden, die etwas noch Verboteneres unternimmt. Und verboten ist eigentlich alles. Nicht einmal die Früchte des Gartens dürfen sie essen. Schon dafür lautet die Strafe »silence«, Eingeschlossenwerden im Schweigekreis. Vielleicht, weil eine höhere Tochter nicht rotbäckig in einen Baum greift und den rotbäckigsten Apfel pflückt. Das ist ordinär, das ist pöbelhaft. Mit der Selbstzucht aber, wie die Pröbstin sagt, fängt alles höhere Dasein an. Selbstzucht ist Überwindung der Natur, vor allem der eigenen. Die Natur, insbesondere die weibliche, ist diabolischen Ursprungs, glauben nicht nur die Pietisten und die Pröbstin. Wer brachte denn die Sünde in die Welt? Eine Apfelesserin. Auch sind höhere Töchter grundsätzlich nicht dienstbotenhaft-rotbäckig; so blass wie möglich gehen sie an den Früchten vorbei. Gar zuletzt am Leben selbst? Eine Handvoll widerrechtlich geernteter Stachelbeeren wird Fannys Eltern als Diebstahl gemeldet.
Sie soll die Schüssel vom Kopf nehmen? – Ich kann kein Blech anfassen!, antwortet kühl die Ermahnte und trägt ihr schwappendes Waschwasser in majestätischem Gang an der Wächterin vorüber. Dieser bleibt nichts übrig, als nachher zur Pröbstin zu gehen und zu melden, dass Fanny zu Reventlow aus Husum an der Nordsee kein Blech anfassen kann. Sie meldet weiterhin, dass Fanny zu Reventlow im Waschraum Kirchenlieder gurgelt, was nicht zu unterbinden ist, denn die Fehlbare behauptet, von Gott selbst den Auftrag empfangen zu haben, das Wort des Herrn bis in die Waschräume zu tragen.
Die anderen versuchen, nicht zu lachen, und schaffen es nicht. Das hat sie gewollt. Über wen man lacht, der existiert. Es gibt sie also doch! Nicht einmal lückenlose Nichtexistenzbeweise können diese Furchtsamen führen. Weiber! Wahrscheinlich musste sogar Editha lachen. Editha Wartensleben, die schöne Editha, die an allem schuld ist und die sie jetzt genau wie die anderen nicht einmal anschaut. Als wäre sie gar nicht da.
Die Pröbstin hatte den Bann über Fanny gesprochen. Sie hatte den künftigen höheren ersterbenden Töchtern erklärt, dass Fanny eine Betrügerin sei, und hinzugefügt: »Ihr habt sie von jetzt an als ehrlos zu betrachten und ich warne jede, die noch mit ihr verkehrt.«[7]Vielleicht fasste die Vorsteherin Editha dabei besonders fest ins Auge. Auch Editha ist nur ein Mädchen, schwach wie alle und zudem in diesem Institut aufgewachsen. Ihre Blicke begegnen sich nicht mehr.
Drei Tage lang saß Fanny allein in der kalten dämmrigen Turmstube des Stifts. Die Turmstube ist die Arrestzelle, dahin kommen die Schlimmsten. Und die Schlimmste von allen ist sie, leider. Manchmal mag sie sich selbst nicht.
Aber Fanny zu Reventlow hat sogar ihren sechsten Geburtstag überlebt, und das war schwerer, als drei Tage Einzelhaft zu überstehen. Die Pröbstin kann das nicht wissen. Die Pröbstin des Freiadligen Magdalenenstifts zu Altenburg in Thüringen hat nicht den Hauch einer Ahnung, mit wem sie es zu tun hat.
Es ist nicht das erste Mal, dass man ihr zu verstehen gibt, sie teile nicht die Existenzform der anderen. Ein Halbwesen ist sie, eingeklemmt, kaum sichtbar zwischen ihrem verzogenen, blasierten, zwei Jahre älteren Bruder Ernst und ihrem noch verzogeneren, zwei Jahre jüngeren Bruder Karl. Karl ist das Glück der Familie, der Kleinste, der Schönste. Er ist auch ihr Glück. Alle nennen ihn Catty oder der Katz. Sie selbst ist der Fuchs. Es war so einfach, so deprimierend einfach: Wer ein Junge ist, wird verzogen und geliebt.
An ihrem sechsten Geburtstag, das Kindermädchen hatte es Fanny fest versprochen, würde sie ein Junge werden. Auf diesen Tag lebte sie hin, nur auf diesen Tag, seit sie erkannt hatte, dass ihre Mutter bloß Jungen lieben kann. Nie mehr würde sie unter ihren strengen Blicken unter das Klavier kriechen müssen, um die Rute zu holen, mit der sie gezüchtigt wurde. Immer musste sie die Rute selbst holen. Und wahrscheinlich bekam sie noch mehr Hiebe, seit sie aufgehört hatte zu weinen. Die Schmerzökonomie sprach dagegen, aber es war eine Frage des Stolzes. Auch an dem Tag, als Catty und sie heimlich auf der großen Wiese waren, »die Freiheit« genannt, um den Zirkus zu sehen, die Seiltänzer und Stelzenläufer. Sie hatte den kleinen Bruder fest an der Hand geführt.
Dass sie für diesen Ausflug Schläge bekam, konnte sie nicht verhindern. Aber ihre Tränen. Werdet hart!, fordert der Seiltanz-Philosoph, das wird sie bald wissen. Sie befolgte seinen Rat schon als Kind.
Und dann kam ihr sechster Geburtstag.
Gleich morgens wollte sie die Sachen des älteren Bruders Ernst anziehen. Nie wieder würde sie diese furchtbaren Kleider tragen, die immer schmutzig wurden, wofür sie regelmäßig die Rute bekam, denn kleine Mädchen machen sich nicht schmutzig. Kleine Mädchen halten ihre Kleider rein. Dieses Problem war gelöst, wusste sie am Morgen ihres sechsten Geburtstags. Allerdings hatte das Kindermädchen nicht gesagt, ob sie am Vormittag oder am Nachmittag ein Junge werden würde. Gouvernanten wissen nicht alles.
Fanny zu Reventlow durchlebte diesen 18. Mai 1876 in höchster Anspannung, der großen Veränderung gewahr, die sich jeden Augenblick mit ihr begeben musste. Aber nichts geschah. Und irgendwann verstand sie. Die ganze Familie lachte, sogar ihr sonst vollkommen leblos wirkender Vater lachte.
Sie würde für immer ein Mädchen bleiben müssen.
An ihrem sechsten Geburtstag wurde Fanny zu Reventlow erwachsen. Das war ein wenig vorzeitig, gewiss, aber man kann sich solche Dinge nicht aussuchen. Nein, niemand durfte erwarten, dass sie in drei Tagen Einzelhaft im Altenburger Turm vergessen würde, wer sie war.
Und worin lag denn ihre große Schuld? Sie hatte der schönen Editha zum Geburtstag ein Buch geschenkt. Nun gut, sie konnte das Buch nicht selber bezahlen. Alle wissen, dass Fanny zu Reventlow kein Taschengeld besitzt. Denn für jedes kleine Vergehen wird den Schülerinnen Taschengeld abgezogen. Etwa für einen deutschen Satz an den Tagen, da nur Französisch gesprochen werden darf. Zuerst bekommt die Delinquentin die schwarze Kette, muss sie den ganzen Tag tragen und abends nach der Andacht mit einem tiefen Knicks bei der Pröbstin erscheinen, die feierlich eine Mark von deren Guthaben streicht. Sie mag sich gar nicht vorstellen, in welche finanzielle Lage sie die Uniform des Pfarrkandidaten gebracht hätte, von der sie alle Knöpfe abgeschnitten hatte. Oder das Salz im Bett der Lehrerinnen. Immer fiel der Verdacht zwar sofort auf Fanny, aber die Pröbstin konnte ihre Schuld nicht jedes Mal beweisen. Auch so reichte die Zahl der Fehlleistungen, um sie anhaltend insolvent zu machen. Die Comtesse bezahlte schon längst mit dem Taschengeld der Zukunft.
Edelweiß. Für Frauensinn und Frauenherz hieß der Band des Anstoßes. Diese Gedichte musste sie haben, nachdem sie befunden hatte, ihre eigenen seien noch zu schwach, um Editha angemessen zu ehren. Es blieb ihr nichts übrig, als sich in voller Kenntnis des Verbots, Geld zu leihen, Geld zu leihen. Und zwar von den zwei Neuen, die noch etwas tun mussten für ihre gesellschaftliche Reputation im Stift. Da der Buchhändler Fanny und die Ursache ihrer strukturellen Zahlungsunfähigkeit kannte und vielleicht misstrauisch geworden wäre, schien es ihr sicherer, wenn ein weißes Schaf statt ein schwarzes wie sie es bestellte. Für all das war sie in Acht und Bann getan, hatte sie im Turm gesessen.
Das Schloss in Husum hat auch einen Turm. Wenn sie von diesem Turm auf die Nordsee blickte, wusste sie, was Freiheit war: Freiheit war, vom Husumer Turm auf die Nordsee zu blicken. Und da sage noch einer, Tautologien seien keine Erkenntnisse! Im Turm von Altenburg aber lernte sie, was Gefangenschaft ist, ja schlimmer: Ausgestoßensein. Sie erblasste von innen und außen, so viel ist wahr.
Trotzdem durfte Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Comtesse zu Reventlow sich nicht gehenlassen. Es galt, sich ganz fest auf den Augenblick zu konzentrieren, da die Tür aufgeschlossen werden würde, und dann musste sie so apfelgleich wie möglich aussehen, rotbäckig wie das Obst der Sünde, wehrhaft und ungebrochen. Der Moment würde kommen.
Und er kam. Sie schritt die Turmstufen hinunter in den Schlafsaal, doch niemand nahm Anteil an ihrem Triumpf. Alle schauten über sie hinweg, durch sie hindurch, links und rechts an ihr vorbei. Da wusste sie noch nicht, wie bald sie ihre Laufbahn als Choräle gurgelnde Waschschüsselakrobatin mit den Wolfsnächten beginnen würde. Schüssel runter? Wenn sie ein Mädchen wäre, hätte sie die Schüssel wohl fallen lassen. Aber sie ist keins. Kein Mädchen zu sein ist eine Art Geistesgegenwart. Es heißt, sich nicht erschrecken zu lassen.
Sie geht nun unter den anderen, als wäre da eine Wand aus Glas zwischen ihr und der Welt, sie ist eine Unberührbare. An jedem Sonntag müssen die Schülerinnen vor der Pröbstin erscheinen, um ihre Zeugnisse der Woche vorzulegen. Fanny verabscheut diese regelmäßig wiederkehrende Visite von ganzem Herzen. Man nähert sich der Leiterin der Anstalt mit drei Knicksen. Der erste ist bereits an der Tür beim Eintreten zu entrichten, der zweite in der Mitte des Weges, der dritte kurz vor dem Ziel.
Knickse sind Gesten der Demut, der Unterwerfung. Sind sie das?
Elisabeth Gräfin von Zedlitz-Trützschler ist schon sehr alt, über sechzig Jahre. Ihr strenges, wie in Stein gehauenes Gesicht mit der hohen, blanken Stirn hatte einen Zug von eiserner Energie – sie hielt sich sehr gerade, nur in der weißen schmalen Hand, die auf der geschnitzten Stuhllehne lag, war etwas von der Müdigkeit des Alters.[8] Von den über sechzig Jahren hat die Gräfin die letzten zweiunddreißig bereits in diesem Amt verbracht und all ihre Verstandes- und Seelenkräfte der großen Aufgabe gewidmet, im Geist des Protestantismus aus widerstrebendem, sündhaften Naturmaterial Menschen zu formen, näherhin junge Frauen. Es gibt leichtere Aufgaben, gewiss. Es gibt dankbarere Aufgaben, gewiss. Doch der Herr liebt die, die die schweren Wege gehen. Zweiunddreißig Jahre!
Aber eines wie das letzte Jahr hat die Gräfin von Zedlitz-Trützschler noch nie erlebt. Sie wird das vor den versammelten Honoratioren der Stadt bald so formulieren: ein Geist des Aufruhrs ist in unsere Anstalt eingedrungen.[9] Und der hat einen Namen: Fanny zu Reventlow. Es fiel der Gräfin ohne Zweifel schwer, vor diesem Kobold von der Nordsee zu kapitulieren, doch der Aufruhr ist ein Virus, es besteht die Gefahr der Ansteckung; wenn sie die übrigen retten will, muss sie schnell und entschlossen handeln.
Fanny zu Reventlow wird hereingerufen. Wahrscheinlich beherrscht sie schon längst die Kunst, die Knickse, diese Gesten der Demut, so nachlässig darzubieten, dass aus ihnen kleine Fanale des Umstürzlertums werden. Elisabeth Gräfin von Zedlitz-Trützschler kann nicht wissen, dass es einen Tag der tiefsten Scham im Leben der Fanny zu Reventlow gab, er liegt erst wenige Monate zurück. Es war der Tag, als sie die Mitschülerin Hildegard Asseburg, die sie nicht leiden konnte, bei der Pröbstin anzeigte. Der Schauplatz war dieses Zimmer. Im Bericht der Denunziantin: Die Pröbstin war natürlich sehr zufrieden mit mir und sagte, es wäre sehr richtig, dass ich zu ihr gekommen wäre. Da fing meine Reue an.[10] Sie weitete sich bis zum Entsetzen vor der eigenen Tat. Es war gewissermaßen Fanny zu Reventlows moralphilosophisches Urerlebnis. Und jetzt? Hat die Pröbstin gar das Gefühl, beim letzten, unmittelbar vor ihrem Schreibtisch erbrachten Knicks werde eine Revolution ausbrechen?
Besonders lächerlich scheint die Pröbstin den Mädchen, wenn sie große Toilette gemacht hat, dann knistert die lange schwarze Seidenschleppe gewöhnlich wie eine zornige, schwarze Schlange hinter ihr her. Aber jetzt: kein Knistern, nur die metallene Stimme der Gräfin mit den viel zu scharfen S-Lauten, die Fanny jedes Mal in die Ohren schneiden. Die schwarze Schlange hat offenbar nicht die Absicht, ein Gespräch mit ihr zu führen, doch sie hat ihr etwas mitzuteilen: Ihre Eltern seien von dem Vorgefallenen bereits in Kenntnis gesetzt und auch davon, dass man sich nicht in der Lage sehe, die Tochter weiterhin an diesem Ort zu dulden. Sie, Fanny zu Reventlow, habe den Aufenthalt am Magdalenenstift durch ihr eigenes Betragen verwirkt. Sie ist entlassen. Da es jedoch so kurz vor Ostern sei und damit vor ihrer Konfirmation, dürfe sie bis dahin bleiben.
Sieht die Pröbstin, wie Fanny zu Reventlow erstarrt? Wie in einem bösen Traum geht sie hinaus, an den anderen vorbei, ohne irgend etwas zu sehen, die Treppe hinauf, oben am letzten Gangfenster blieb sie stehen und legte das Gesicht an die Scheiben. Sie hatte Todesangst vor zu Hause.[11]
Vielleicht wissen die Eltern es längst. Die Mädchen stehen in einem leicht frivolen Wettbewerb untereinander, welches von zu Hause die schlimmsten, die dollsten Briefe bekäme. Bisher war sie sehr stolz darauf gewesen, dass der erste Preis einstimmig ihr zuerkannt wurde. Nun überwiegt die Furcht.[12] Doch in die namenlose Angst vor Mutter und Vater, nein, vor Mutter, mischt sich etwas anderes, es sind Bilder von zu Hause, sie sieht das Schloss, die sonnigen großen Zimmer, wo abends die Spatzen vor den Fenstern in den Ulmen schwätzten, den sommerlichen Garten mit seinem starken Fliederduft, sie denkt an die Geschwister, vor allem an Catty. So bald soll sie das alles also wiedersehen. Aber was davor liegen würde, was zwangsläufig davor liegen musste, entzieht sich ihrer Vorstellung.
Zu Hause. Das umschließt fast alles in Husum und Umgebung, nur einen Menschen umschließt das Wort keinesfalls: ihre Mutter. Nicht einmal den Namen wird sie einmal von ihr behalten wollen. So wird aus Fanny Franziska. Die Mutter hatte sie hergebracht, schlimmstenfalls würde sie sie wieder abholen. Was sollte sie reden mit der fremden Frau, deren schlimmste Befürchtungen betreffs der Eignung ihrer Tochter, ein Mensch zu werden, sich nun vor aller Augen zu erfüllen scheinen?
Wahrscheinlich ahnt die Relegierte, wem sie es verdankt, nicht gleich fortgeschickt zu werden. Die Konfirmation nicht zu erhalten, käme einem Ausschluss aus dem Humanum gleich. Der Pfarrer wird für sie gesprochen haben, zu Arnold Braune hat sie Vertrauen. Und sie ist weiß Gott eine aufmerksame Schülerin in seinem Religionsunterricht. Die Sache Gottes geht sie näher an, hatte sie doch nach den Prügeln, die sie für den heimlichen Besuch beim Zirkus bekam, das deutliche Gefühl, das nicht mehr allein zu schaffen. Sie brauchte Beistand. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich dem Teufel zu übergeben.
Sie hatte es sich nicht leicht gemacht, es war ein langer, ernster Entschluss gewesen, damals war sie zehn Jahre alt. Als er gefasst war, nahm sie einen von ihren schönsten bunten Briefbogen aus der Schublade, ging damit ans Fenster, wo es noch etwas hell war, und verschrieb sich dem Teufel mit Leib und Seele, wenn er ihr helfen wollte, zu den Zigeunern zu kommen.[13] Sie steckte den Brief sorgfältig in einen Umschlag, legte ihn auf den Kaminsims ihres Zimmers und ging zu Bett. Der Teufel würde seine Post schon erkennen.
Mehrere Tage wagte sie nicht, zum Kamin zu schauen, aber dann hielt sie es nicht mehr aus: Der Brief war weg, Satan hatte ihn gefunden. Ein großer Schreck, zu groß für ein kleines Mädchen, durchfuhr sie, aber da war nichts mehr zu machen. Wir wissen nicht, ob Fanny zu Reventlow dem Pfarrer des Magdalenenstifts von diesem bedenklichen Bund berichtet hat; dabei sind die Auswirkungen eines Teufelspaktes unter religionspsychologischen wie individualpsychologischen Gesichtspunkten keineswegs uninteressant.
Der Seele des kleinen Mädchens bemächtigte sich ein gewisser Fatalismus. Sie benahm sich noch schlechter als sonst, die ganze Heide klebte braun und schwer an den einstmals hellen Schleifen ihres Kleides, aber es war ihr egal. Ihre Seele war verwirkt, so oder so, und sie konnte sich niemandem anvertrauen. Catty war zu klein, und ihr größerer Bruder Ernst wäre gewiss schadenfroh gewesen.
Seit sie Ernst nicht mehr wie ein willenloses Werkzeug folgte, konnte von Geschwisterliebe nicht mehr die Rede sein. Ernst hatte sich bereits das Recht herausgenommen, sie an Mutters Stelle zu verhauen, denn sie war nun mal die, die immer Prügel bekam. Was brauchte es da noch einen Grund? Nein, Ernst konnte sie nichts sagen. Und die Großen waren zu weit weg, zu erwachsen, zu fern, um ihnen ein derart intimes Verhältnis wie das zum Teufel anzuvertrauen.
Vielleicht warf sie damals sogar den langen grauen Strumpf zur Seite, an dem sie immer stricken musste, wenn sie beim Lernen Fehler gemacht hatte. Oder sie ließ zumindest mit böser Genugtuung ein paar Maschen fallen. Der Strumpf war so lang wie die Unendlichkeit, er würde niemals fertig werden, das wusste sie genau, wenn sie unter Tränen strickte, während sie Catty in der Sonne spielen sah. Jungen spielen, Mädchen stricken. Nein, sie fürchtete die Hölle nicht, die Hölle kannte sie schon. Die Hölle war dieser lange graue Strumpf.
Entsprangen ihre Widersetzlichkeiten einerseits der objektiven Verzweiflung, die Bundesgenossin des Teufels zu sein, so hoffte sie doch andererseits auf dessen Eingreifen. Das Mindeste, was er tun könnte, wäre, ihrer Mutter nachts zu erscheinen oder den grauen Strumpf in Flammen aufgehen zu lassen. Doch Luzifer ließ sich teuflisch viel Zeit.
Und dann, es war fast ein Jahr später und es war Heiligabend, nahmen die Eltern sie zum ersten Mal mit in die Kirche. Der schmucklose weiße Raum mit dem blaugemalten Sternenhimmel und den zwei brennenden Christbäumen neben dem Altar kam ihr unsagbar schön vor.[14]
Sie müsste lügen, wenn sie nicht zugäbe, dass ein Abglanz dieses Erlebnisses noch auf den Altenburger Pfarrer fällt. Und er spürt wohl ihr Interesse, bemerkte, dass wenige wie sie wissen, dass es in seinem Unterricht wie bei aller Theologie direkt um Leben und Tod geht statt um Katechismen. Und sie wiederum weiß, dass er weiß, dass nicht immer die böse sind, die für böse gelten. Auch freue sich der Herr über einen reuigen Sünder mehr als über zehn Gerechte, sagt er. Sie sehnt sich so nach Reue, nach Umkehr. Manchmal. Und sie ahnt, dass der Pastor den Vorsatz fasst, diese verlorene Seele zu retten. Nach der nächsten Konfirmationsstunde redete mir der Pastor noch einmal unter vier Augen ins Gewissen, … so venünftig, sogar mit Humor, dass ich von da an eine große Liebe für ihn fasste.[15]Bei Pastor Arnold Braune begreift Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Comtesse zu Reventlow, was Erlösung ist: Lachen. Seltsam, das in einer Kirche zu erfahren. Sie wird es ihr Leben lang nicht vergessen.
Ob die Szene, die nun folgt, authentisch ist, oder ob sie einer Übertreibung zur Kenntlichkeit folgt, als Franziska zu Reventlow viele Jahre später beginnt, den Roman ihrer Jugend zu schreiben, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass sie zu sprechend ist, um sie wegzulassen. Und wahr ist sie in jedem Fall, wenn nicht die Tatsächlichkeit, so doch das Seelenschicksal der Fehlbaren betreffend.
Als die Delinquentin den Schlafsaal betritt, ist die Wirtschafterin gerade dabei, ihren Schrank auszuräumen: Sie finde ihre Sachen künftig draußen auf dem Flur, die anderen sollen nicht mehr als nötig mit einer Lügnerin und Betrügerin in Berührung kommen, sagt die Wirtschafterin. Die relegierte Comtesse entscheidet sich, diese Auskunft mit der hochmütigsten aller ihr zur Verfügung stehenden Mienen zu quittieren, und sieht sich veranlasst, in der Tür ihres Exil-Schranks auf dem Flur eine Inschrift anzubringen: Ich habe nie das Knie gebogen – den stolzen Nacken nie gebeugt. 17. Februar 1885.[16]
Der Preis dieses Bekenntnisses ist ein weiterer Tag Arrest.
Reue? Freut sich Gott denn über Sklavenseelen? Sollte Gott sich nicht über die Starken freuen, über die Unbeugsamen, die allein gegen eine ganze Welt stehen, eine falsche Welt?
Die Inhaberin des exterritorialen Schranks erscheint ab sofort öfter mitsamt ihren verwahrlosten Knicksen bei der regierenden Gräfin: Sie habe im Englischunterricht gelacht, was der Miss wohl entgangen sei, sie komme es zu melden. Jede mit bloßem Auge nicht sichtbare Nuance ihres Fehlverhaltens zeigt sie an. Und verdienen nicht auch die Verfehlungen der Zukunft Strafe? Die Gräfin erbleicht unter dem Terror der Aufrichtigkeit, Fanny darf ihr Zimmer bald nicht mehr betreten.
Bei der feierlichen öffentlichen Zeugnisvergabe kurz vor Ostern spricht die Direktorin vom Geist des Aufruhrs, der in die Anstalt eingedrungen sei. Alle Köpfe wenden sich zu Fanny. Der Philosoph, den sie noch nicht kennt, spricht von der »Heerdenmoral«. Wie sie ihn einmal verstehen wird! Die Herde gafft sie an. Sie zwingt sich, den Blick nicht zu senken, nicht vor dieser Übermacht. In ihrem Zeugnis steht: »Durch Mangel an Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit war sie ein nachteiliges Beispiel für Andere.«[17] In Gesang und Betragen bekommt sie eine Fünf. Sie weiß wirklich nicht, wie sie mit diesem Dokument ihren Eltern unter die Augen treten soll. »Nun musst Du in Deinem Zeugnis ein gutes Prädikat in Betragen haben, wie es sich für ein junges Mädchen … ziemt«[18], hatte der Vater sie beim letzten Mal gewarnt, da hatte sie noch eine leuchtende Vier.
Am gleichen Abend wird sie zum Pfarrer gerufen. Er sagt ihr, dass er an sie glaube, trotz allem, und dass er mit der Mutter sprechen wolle, was wohl nötig sein werde. Damit gab er ihr die Hand, und ihr liefen große Tränen übers Gesicht.[19]Gegen Härte kann sie sich wehren, aber wie wappnet man sich gegen Güte?
Und dann ist sie da, Emilie Julia Anna Luise Gräfin zu Reventlow, geborene zu Rantzau. Es fällt schwer, sich die Frau vorzustellen, der Theodor Storm aus der Husumer Wasserreih Gedichte wie dieses nebenan ins Schloss schickte: »Kleine freundliche Latern, / Sei du Sonn und Stern; / Sei noch oft der Lichtgenoß / Zwischen Wasserreih und Schloss, / Oder – dies ist einerlei – / Zwischen Schloss und Wasserreih.« Offenbar kennt der Dichter eine andere Luise zu Reventlow als ihre Tochter. Wie ist das möglich?
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Daseins, dass wir zwar nebeneinander leben können, unter demselben Dach, unter der gleichen Sonne, aber doch ganz verschiedenen Welten angehören, anderen Gravitationskräften ausgesetzt sind. Wo befindet sich die Gräfin zu Reventlow gewöhnlich, wenn alle glauben, dass sie zu Hause ist? Gewiss weniger auf einem Schloss als vielmehr am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Einer der größten Vorteile, ein Kind zu sein, besteht darin, die Sphäre noch nicht zu kennen, in der die meisten Älteren ihr gesamtes Leben zubringen: die Alltäglichkeit. Und die Frauen erst! Sie kennen gar keine andere, vermuten die meisten klugen Männer, denn für den Alltag werden sie geboren. Und nun gar ein ganzes Schloss!
Sie hatte nichts Leichtes in ihrer Art, das Leben zu nehmen, es türmte sich alles vor ihr auf wie ein Berg, über den sie nie hinaussehen konnte – die Wirtschaft, der große Haushalt, die Kinder, tausend Dinge, die täglich zu tun und zu überlegen waren und ihr beständig im Kopf herumgingen.[20]So wird die Tochter die primäre Art des In-der-Welt-Seins der Frau zusammenfassen, die durch einen bösen Zufall, durch eine blinde Laune des Schicksals ihre Mutter wurde. Und gewiss bereitet es Emilie Julia Anna Luise Gräfin zu Reventlow Unbehagen, ihr prüfendes Auge, ihre ordnende Hand vom Gut abzuziehen, selbst wenn es nur für ein paar Tage ist. Frauen wie sie können sich nicht vorstellen, dass die Welt weiter besteht, wenn sie ihr den Rücken kehren. Was konnte während ihrer Abwesenheit geschehen!
Andererseits kann nur sie, die Unabkömmliche, fahren. Der preußische Landrat kann seine Tochter unmöglich selbst abholen. Sich öffentlich um eine Laune der Natur zu bekümmern, wie es Töchter sind, ist mit seiner gesellschaftlichen Stellung nicht vereinbar. Venedigs Patrizier haben ihren Töchtern kaum mitgeteilt, wenn sie sie verheirateten.
Natürlich, Emilie Julia Anna Luise Gräfin zu Reventlow könnte ihre älteste Tochter schicken, und doch, in diesem Falle ist es unmöglich. Die Relegierung Fannys ist ein Affront gegen die Familie. Die Zedlitz-Trützschler behauptet, die Frucht ihres Leibes sei nicht erziehungsfähig? Nicht dass sie das anders sehen würde. Aber sie würde es doch niemals zugeben, schon gar nicht gegenüber der Pröbstin.
Es kommt darauf an, der Anstaltsleiterin pädagogisches Versagen zu suggerieren und mit Stolz und Verachtung den Ort zu verlassen, der so kläglich vor ihrer Tochter versagt hatte. Das verlangt, Fanny mit einer gewissen Milde und Nachsicht entgegenzutreten.
Vielleicht findet das erste Wiedersehen von Mutter und Tochter unter dem Schutz des Pfarrers statt. Die Beredsamkeit des Gottesmannes tut der Gräfin wohl, auch wenn sie seine Ansichten, ihre Tochter betreffend, nicht teilen kann. Franziska aber ist überwältigt. Sie hatte alles erwartet, und nun diese Milde. Taktische Milde kann sie nicht denken. Sie ist so dankbar. Und sie darf nach Hause!
Vor der Konfirmation wird gebeichtet. Und vor der Beichte bittet jede Schülerin alle anderen um Verzeihung für jemals wissentlich oder unwissentlich zugefügtes Unrecht, auch die Lehrenden, auch die Pröbstin. Ganz rein sollen die Seelen vor Gott treten. Auf den Stirnen der Mädchen sammeln sich verzeihende Küsse und dahinter verzeihende Gedanken.
Nur Fanny suspendiert sich von diesem Brauch. Sie ist nicht der Meinung, dass die anderen ihr etwas zu verzeihen haben, Gott ist ihr Zeuge. Vom Gang zur Pröbstin, deren Segen zu empfangen, kann sie sich nicht suspendieren. »Du bist mir eine liebe Schülerin gewesen. Der Herr segne dich«[21], sagte die Pröbstin zumeist zu den anderen. Schweigend tritt Fanny vor das große fremde Gestirn. Mal sehen, wer die Stille länger aushält.
Hast du mir nichts zu sagen?, fragt die Ältere schließlich.
Nein!, antwortet Fanny mit Genugtuung. Im Roman ihrer Jugend kann sie sich nachher nicht an die einzelnen Worte erinnern, die sie nun treffen, aber dass sie in ihrer Gesamtheit eine rhetorische Figur mit stark negativer Perspektive bilden, auch Fluch genannt, ist ihr gewiss. Die Skizze Altenburg berichtet: Mir gab sie keinen Segen sondern sagte zu mir: »Sieh die verweinten Augen Deiner Mutter an!«[22] In dem Augenblick packte mich eine solche Wut, dass ich mit den Zähnen knirschte und ohne, wie sie erwartet hatte, sie um Verzeihung zu bitten, aus der Tür ging.[23]
Eine frisch Verfluchte erhält die heiligen Weihen. Als sie vor dem Pfarrer kniet, ist ihr, als spräche er für sie allein. Was liegt an den Schafen, die er gewöhnlich hütet, an den Gerechten aus Einfalt? Auf die gefährdeten Seelen blickt der Herr. Empfindet sie es so?
Und dann fährt die Inhaberin einer gefährdeten Seele mitten in den Frühlingstag hinein, der sie nach Hause bringen wird, zurück ans Meer, zurück ins Schloss mit seinem Park, in dem sie jeden Baum kennt, zurück zu den Geschwistern, und das heißt: zurück zu Catty, dem Lieblingsbruder, dem Stern der Familie. Er ist drei Jahre jünger, aber was hat sie ihm zu verdanken!
Worüber Mutter und Tochter während der langen Bahnfahrt sprechen, ist nicht überliefert. Mag sein, sie folgen dem beiderseitigen Vorsatz der Schonung. Sollte Fanny der früheren Reichsgräfin zu Rantzau denn erzählen, wie sie sich auf ihrer ersten Heimfahrt Bier ans Coupé bringen ließen? Und die Rückfahrt nach Altenburg erst: Die einst von ihr denunzierte Hildegard Asseburg, inzwischen eine gute Freundin, hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht, die wir unbeobachtet mit Geschwindigkeit leerten. Gegenüber saß ein schäbiges Ehepaar, der Mann rauchte, worauf Fanny die im Nachbarcoupé mitreisende Lehrerin aufforderte: »Sagen Sie dem Kerl doch, dass er nicht qualmt.« Die Gattin des Angeklagten erhob sich entrüstet und sagte zu mir: »Mein Fräulein, sagen Sie bitte nicht, der Kerl qualmt, sondern der Herr raucht. Sie sind noch sehr jung!« Ich zog mich mit der Bemerkung, ich wüsste ganz genau, wie alt ich wäre, zurück.[24]
Nein, das berichtet sie ihrer Mutter besser nicht.Auch gemeinsames Schweigen verbindet, vorausgesetzt, man schweigt über das Gleiche. Und was sagen ihre Blicke, wenn sie sich begegnen, zu forschend, um zufällig zu sein? Vielleicht liest jede in den Augen der anderen die Auskunft: Ich gebe dir noch eine Chance! Mach das Beste daraus!
Begrüßt sie jeden Baum einzeln und jeden Vorfahr der früheren Schlossbesitzer auf den dunklen Gemälden im Rittersaal, durch den sie mit Catty so oft spukte?
Ja, dieses Schloss ist das Gefäß ihrer Kindheit. Ihren ersten Roman wird sie mit einer Liebeserklärung an seine alten Mauern eröffnen: Es lag grau und schwerfällig unter den hohen Bäumen mit seinen breiten Seitenflügeln und dem viereckigen Turm, der kaum das Dach überragte …
Es konnte immer noch einen unheimlichen Eindruck machen …, wenn die Herbststürme durch alle Kamine heulten wie geängstigte arme Seelen, oder wenn der Nebel vom Meer heraufstieg und alles in seine wogenden grauen Schleier einhüllte. Aber es hatte auch seinen Frühling und seinen Sommer, wo die Sonne alles Düstere aus den weiten hohen Räumen herausleuchtete, wo der reiche grüne Garten um die grauen Mauern blühte und drüben in der Ferne das Meer blau schimmernd dalag.[25]
Ja, es war ihr Schloss. Hier hatte sie ihr autonomes Königtum errichtet, gemeinsam mit Catty und Geerd. Mutter wollte es zwar verbieten, doch der preußische Landrat zu Reventlow höchstpersönlich hatte die Reichsgründung unterstützt und den Kindern ein Stück des Schlossparks mit etwas Schlossgraben als souveränes unverletzliches Herrschaftsgebiet übereignet. Sie hatten Straßen angelegt und Hütten für ihr Volk gebaut, in der Mitte aber stand, aus Brettern und Backsteinen errichtet, der Tempel des Götzen Mohu. All ihre Untertanen mussten zum Mohuismus konvertieren, denn die Reichsgründer hatten sich vom Christentum losgesagt.
War sie je lebendiger gewesen als damals?
Jeder Tag brachte … neue Pläne und Taten. Sie gruben Kanäle, legten Inseln drunten im Graben an und befuhren das schlammige, grüne Wasser in einem Backtrog oder auf Bretterflößen.[26]Sie waren immer zu dritt, Catty, Geerd und sie. Geerd war der Sohn einer Jugendfreundin der Mutter, er ging in Husum zur Schule und war nachmittags fast immer bei ihnen. Die Gräfin sah nicht recht ein, was Fanny bei den Spielen der Jungen verloren hatte, aber die beiden bestanden darauf, dass sie mitmachen durfte. Einer für alle, alle für einen. Und selbst in dem Sommer, der auf die Blütezeit des Königreichs Mohu folgte und in dem es wegen unerklärlicher Lethargie seiner Regierung unaufhaltsam verfiel, beharrten die beiden Jungen darauf, keinen Schritt ohne Fanny zu tun. Widerwillig verschob die Gräfin die Menschwerdung ihrer Tochter bis zum nächsten Jahr oder mindestens bis zum Herbst. Das alles war noch nicht lange her und doch eine Ewigkeit.
Gewiss liegen die Geschwister sich in den Armen, Catty und Fanny. Auch Agnes heißt die ungut Heimgekehrte willkommen. Agnes zählt nicht. Sie ist zwar ihre Schwester, aber zehn Jahre älter, also eher ihre Mutter noch einmal, nur milder, mitleidiger. Fanny kann ohnehin nicht glauben, dass Agnes auch mal ein Kind war. Sie macht noch heute alles, was ihr gesagt wird. Ihre Mutter sagt, Mädchen sind so, artige Mädchen. Also ist sie keins. Jungen sollen zwar auch gehorchen, doch selbst wenn sie getadelt werden, liegt noch Anerkennung darin: Es ist eben ein Junge, er macht, was er will, Gott sei Dank!
Nur der Vater nimmt kaum Notiz von Fanny. Was soll er auch sagen? Sollte er die Relegierte etwa willkommen heißen? Freude wäre eine ganz und gar unangemessene Emotion, schließlich ist Fannys unverhoffte Rückkehr eine Schmach, eine Befleckung des Namens zu Reventlow, wenn auch eine Befleckung niederer Ordnung. Zurückgesandt aufgrund mangelnder Integrierbarkeit in die menschliche Gemeinschaft. Ein bedenklicher Befund zwar, doch im Grunde müsste Ludwig Christian Detlev Friedrich Graf zu Reventlow fest an der Seite seiner Tochter stehen, denn auch seine Jugend hatte dem kompromisslosen Kampf gegen die Fremdherrschaft, für Freiheit und Unabhängigkeit gehört. Nur galt Ludwig Graf zu Reventlows Unversöhnlichkeit nicht der Fremdherrschaft seiner Eltern, sondern der des dänischen Königs; und er hatte auch nicht für sich, sondern für sein Land gekämpft.
Der Sohn des Königlich-Dänischen Kammerherrn und Oberstleutnants a. D. Ludwig Detlev Graf zu Reventlow war ein junger Student der Rechtswissenschaft zu Kiel, als der dänische König Christian VIII. von Dänemark öffentlich darüber nachdachte, ob es nicht besser sei, wenn das bislang bedauerlicherweise selbständige Herzogtum Schleswig künftig zu Dänemark gehörte. Das war am 8. Juli 1846, kurz darauf starb der König, aber der neue zeigte sich der Vision seines Vorgängers verpflichtet. Es war das Revolutionsjahr 1848; in Kiel bildete sich eine provisorische antidänische Regierung, die sowohl vom neu gegründeten Bundestag in Frankfurt als auch von Preußen anerkannt wurde.
Der Student der Rechte Ludwig Christian Detlev Friedrich Graf zu Reventlow kämpfte an vorderster Front gegen die Dänen, überfiel gemeinsam mit dem Prinzen von Noer die Festung Rendsburg und nahm an der Schlacht bei Bau teil, wo er in die Hände des Feindes geriet. Und das war erst der Anfang der Geschichte des Kämpfers für Freiheit und Unabhängigkeit Ludwig Graf zu Reventlow. Bis zum August 1866 würde dieser Kampf dauern, inzwischen hatten Schleswig und Holstein ein wenig europäische Geschichte mitgeschrieben. Bereits im August 1865 berief Preußen den Grafen zum Amtmann von Fehmarn, ein Jahr später zum Königlich-Preußischen Landrat von Husum. Doch das war schon das Ende seiner Laufbahn. Warum? Er hat es nie verstanden.
Die Unfähigkeit des Grafen, den »Jargon der Volksversammlungen« zu treffen, ein populäres Schlagwort in die Menge zu rufen, setzte seiner politischen Laufbahn natürliche Grenzen. Dabei waren Einwände der Form »Das Volk will das nicht!« oder »Das Volk wird das niemals dulden« von höchstem Gewicht, zumal seit 1848, auch wenn es sich dabei nur um eine taktische Anerkennung dieser Verlegenheit eines jeden guten Geschmacks handeln sollte. Der Graf aber pflegte auf solcherart Bangigkeiten ungefähr so zu antworten: »Sagen Sie, lieber Herr Schultze, Sie reden immer vom Volk, was verstehen Sie eigentlich darunter?«[27] Das Verhältnis zu einem Kind nun stellt gewissermaßen einen Spezialfall der Herausforderung der Volkstümlichkeit dar, nein, sie war dem Grafen nicht gegeben.
Seine Tochter wird den Vater bald nur noch den »Greis« nennen, auch aus enttäuschter Zuneigung, und dabei mit allem Triumpf der Jugend, die vielleicht noch nicht viel weiß, aber eines weiß sie bestimmt: dass ihr das Leben gehört. Und dass man es versäumen kann. So wie ihr Vater? Auch auf die Gefahr hin, ihm unrecht zu tun, sie macht es gern. Übersehene neigen zu solchen Reaktionen.
Wie sehnt sie sich danach, von ihm bemerkt zu werden. Ein Wort von ihm würde ihr Leben wieder erden. Und dann kommt der 18. Mai, der Tag der Katastrophe, an dem sie vor nunmehr zehn Jahren erfuhr, dass sie für immer inhaftiert war in diesem Mädchenleib. Sie wird sechzehn Jahre alt. Müsste der Vater nicht wenigstens an diesem Tag ein Wort zu ihr sagen?
Im Buch ihres Werdens, in Ellen Olestjerne, ist es die große Schwester, die den Vater darum bittet:
»Papa, heute ist Ellens Geburtstag – willst du nicht wenigstens einen Augenblick hinübergehen, wenn sie ihre Geschenke bekommt?«
Ein unwilliger Zug ging um seinen Mund, er schob den Sessel weg und ging durchs Zimmer. »Ich warte nur darauf, dass sie zu mir kommt.«
»Das wagt sie nicht«, sagte die Schwester.[28]
Dass seine Tochter etwas nicht wage, sei ihm gänzlich neu, antwortet der Vater – und geht nicht zu seinem Kind, ihm zum sechzehnten Geburtstag zu gratulieren. Er missbilligt die Art ihrer Rückkehr: … strahlend, dass sie nicht mehr so viel zu lernen braucht und ihre dummen Jungenstreiche … (mit ihrem Bruder) … fortsetzen kann.[29] Was der Vater vermisste: ein Wort der Scham, ein Wort der Entschuldigung. Weiß er denn nicht, dass man das Wichtigste manchmal nicht aussprechen kann?
Sechzehn Jahre. Wahrscheinlich verläuft dieser Tag so, wie sie ihn viel später beschreibt. Autoren mögen es, ihr Privatestes in ihren Büchern zu verstecken, aber so, dass es keiner nachweisen kann. Warum sollte sie diesen Tag erfinden? Wesentliche Autoren erfinden nur im Bereich des Unwesentlichen. Agnes, Fanny und Catty wandern hinaus in ein kleines Dorf am Meer: Sie gingen jetzt rasch den Deich entlang und sprachen von der großen Sturmflut vor acht Jahren. Es war die lange gerade Strecke, wo damals der Deich beinahe gebrochen und nur einen Meter breit stehengeblieben war.[30]Zur Zwillingsschwester der Groten Mandränke von 1362 hatte es nicht gereicht. Grote Mandränke: Das große Ertrinken.
Ein alter Hausfreund der Familie denkt auch gerade über Deiche und Sturmfluten nach. Theodor Storm schreibt seine letzte, seine berühmteste Novelle, den Schimmelreiter. Als sie beendet ist, stirbt er.
Sechzehn Jahre. Ob die Küstenbefestigung ihres Lebens halten würde? Die Binnenlandstadt Husum lag plötzlich am Meer, seit die Grote Mandränke alles holte, was davor war. Kann auch ein Mensch einfach so überrollt und von seinem eigenen Strand gerissen werden? Mit seiner Rückkehr hat sich das unmögliche Kind für die Existenzweise eines schlafenden Meeres entschieden, friedfertig, höchstens leicht gekräuselt an der Oberfläche. Niemand soll in ihr untergehen, nicht einmal über der Mutter sollen ihre Wogen zusammenschlagen, im Gegenteil. Das mütterliche Auge soll auf ihr ruhen wie auf einem Wohlgefallen.
Doch dann, nur Tage nach dem Geburtstag ihres Kindes, ruht das Auge der Gräfin zwar nicht auf diesem direkt, wohl aber auf seinen Angelegenheiten. Es gleitet über Gedichte, Briefe und Tagebuchnotizen der Tochter. Wohlgefallen? Vor Emilie Julia Anna Luise Gräfin zu Reventlow, geborene zu Rantzau, liegen die Dokumente einer Rebellion. Ein versprengter Seelenfunke spricht sich hier aus, inhaftiert in einer falschen, vergreisten Welt. Und deren Vorsitz hat ohne Zweifel sie inne, die Frau mit der Ganz- oder doch Halbtagsresidenz am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Die Gräfin fühlt einen Orkan in sich wachsen. Dabei ist sie nicht einmal sturmberechtigt, denn die Briefe und Gedichte anderer heimlich zu lesen, in deren Abwesenheit, ist nicht vornehm, ja es ist ein höchst bedenkliches Vordringen auf fremdes Hoheitsgebiet.
Hoheitsgebiet? Den wenigsten Menschen würde die Gräfin einen solch verschrobenen Gebietsanspruch zugestehen, einem Kind schon gar nicht, denn ein Kind ist ein werdender Mensch, und um dieses Werden angemessen zu begleiten, ist es unabdingbar, seine Geheimnisse zu kennen. Die Kunst der Erziehung lässt sich unmöglich ohne Kenntnis der Bedingungen der Erziehung angemessen ausüben. Heißt einen Menschen zu formen nicht auch, seine Gedanken zu formen? Aber wer um Himmels willen hat die Gedanken geformt, deren sie hier ansichtig wird? Emilie zu Reventlow ist ratlos, was die Intensität ihres Gefühls nur erhöht statt beschwichtigt.
Als Fanny zurückkehrt, empfängt sie der helle mütterliche Zorn. Rücksichtsloser kann man kein schlafendes Meer wecken. Von einem Augenblick auf den nächsten gehören alle guten, immer wieder bekräftigten Vorsätze einer anderen Zeitrechnung an. Welches Meer hält sich schon selbst in der Hand?
Das bloße Denken ist grenzenlos, sagt Schiller, und was keine Grenze hat, kann auch keine überschreiten. Ja, Schiller hat noch viel mehr gesagt: »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!«, Don Carlos, 1. Akt, 10. Auftritt. Aber was geht Emilie Julia Anna Luise Gräfin zu Reventlow, geborene zu Rantzau, Schiller an, was der Geist der Epoche? Überhaupt ist Gedankenfreiheit höchstens etwas für Männer, für die Frauen taugt sie nicht. Eine Frau ist kein Zweck, eine Frau ist ein Mittel, Mittel zum Zweck. Mittel sind nicht frei. Ein Mittel denkt nicht, sonst wäre es kein Mittel mehr. Und wenn die Frau für die Gedankenfreiheit geschaffen wäre, hätte ihr der Herr nicht Haushalt und Kinder gegeben: den natürlichen Kreis ihrer Gedanken.
Es ist nicht anzunehmen, dass die Gräfin ihrer Tochter diese Dinge so en détail darlegt, sie spricht, nein, sie schnaubt vielmehr etwas von fehlender Scham, wobei sie anklagend auf das Material der Belastung weist.
Ja, Fanny schämt sich. Sie schämt sich allerdings, aber nicht für das, was sie schrieb. Sie schämt sich erst jetzt, für die Art seiner Entdeckung, ihr war, als ob man ihr alle Hüllen von der Seele gerissen hätte.[31]
Die Mutter droht, ab sofort all ihre Briefe zu lesen. War die Alphabetisierung der Frau nicht das Grundübel? »Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt«, hatte Marie von Ebner-Eschenbach vermutet. Doch solche Gedanken kann die Gräfin nicht denken, obwohl ihr Instinkt gerade so reagiert. Sie will zurückgreifen auf das gewohnte Argument, dass einstmals das einzige gewesen war, auf das Faustrecht, das Recht des Stärkeren. Doch ihre Tochter ist größer geworden, wehrhafter auch: Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer – Ellen hatte den Arm erhoben in drohender Abwehr: »Rühr mich nicht an, Mama!«[32]
Weihnachten ist sie zum ersten Mal nach vielen Monaten wieder in Husum, die Geschwister sind da; fast ist es, als ob sie ein Zuhause hätte.
Die Familie hatte das unmögliche Kind aus Husum entfernt, sie weilte zur Besserung bei Verwandten auf dem Land. Zum ersten Mal trat sie den Eltern wieder unter die Augen.
Mit ihrer Mutter hat sie ein Festtagswaffenstillstandsabkommen geschlossen, es wurde jeweils mit den Blicken der Gegenseite unterzeichnet. Wahrscheinlich ist alles so, wie sie es in Ellen Olestjerne beschreibt: Langes feierliches Dinner im Esssaal, und alle bleiben noch sitzen beim Punsch. Ihr Vater geht auf und ab, das macht er gern, er kann zu Fuß besser denken. Traue keinem Gedanken, den du nicht erlaufen hast! Die Schritte des Freiherrn hinter den Stühlen seiner Familie sind zwar merkwürdig, schließlich ist der Esssaal nicht sein Arbeitszimmer, schließlich ist Weihnachten kein Denkwerktag wie jeder andere, aber niemand außer der Gräfin und ihrer ältesten Tochter ahnt, welchen Anlauf zu welcher Mitteilung er da nimmt:
»Das waren eure letzten Weihnachten hier«, sagte er plötzlich und blieb am Tisch stehen.[33] Seine Kinder halten die Auskunft anfangs für einen missratenen Scherz, er war noch nie ein großer Spaßmacher, doch dann wird ihnen klar, dass dieser einfache Aussagesatz den ganzen Horizont ihres Lebens durchstreicht. Seine Kinder versteinern am Tisch. Ist er denn der Einzige, der sich freut?
Ludwig Christian Detlev Friedrich Graf zu Reventlow hat seine Husumer Landratsexistenz ohnehin immer für das gehalten, als das sie wohl gemeint war: für eine Demütigung. Ein Mann von seinen Anlagen! Husum hat sein Leben auf dem Gewissen, die Laufbahn, die er hätte nehmen können. Zu Beginn hatte er geglaubt, Husum sei nur eine Station, das Reich würde ihn bald zu größeren Aufgaben rufen. Doch niemand rief. Sich selbst aus dem Amt zu demissionieren ist ihm Genugtuung. Er beruft sich ab. Auf nach Lübeck! Auf ins Leben!
Wahrscheinlich sind die anderen so beredt stumm, weil sie fürchten, schon beim ersten Wort in Tränen auszubrechen. Gefühle sind bäurisch. Das Volk hat Gefühle, denn es besitzt keine Selbstbeherrschung. Niemand, der zu Recht den Namen zu Reventlow trägt, würde zugeben, von etwas derart Unpassendem belästigt zu werden, schon gar nicht vor Publikum, und Publikum ist alles, was atmet, auch die eigene Familie. Bis auf Fanny natürlich, wahrscheinlich hat es ihr die Sprache verschlagen.
Mutter und Agnes, die alles schon wussten und die ersten Wellen des Schmerzes längst spürten, haben wohl das Gefühl, gerade die schwerste Prüfung ihres Lebens zu bestehen. Der Graf nimmt die allgemeine Bestürzung als Zeichen verhaltener Zustimmung und lässt die Familie anteilnehmen an seiner Vorfreude, endlich unter Menschen zu kommen. Sein literarisches Alter Ego formuliert das so: »Hier versimpelt ihr auf die Länge, seht nichts von der Welt, wisst nichts von der Welt.«[34]Und er spricht die freudvolle Gewissheit aus, dass sie alle Husum und das Schloss schneller als gedacht vergessen werden.
Da kann die Gräfin nicht länger an sich halten: Wie könne ihr Mann so etwas sagen! Der Freifrau ging es wie den Kindern, sie hing mit allen Fasern an dem alten Schloss – vierundzwanzig Jahre – ihre ganze Ehe – die Kinder, die hier geboren und aufgewachsen – ihr Ältester, der hier gestorben war![35]
In Husum würden sie versimpeln, hat ihr Vater gesagt? Aber eine Frau versimpelt ohnehin. Die vorsätzliche Versimpelung der Frau nennt man auch gute Erziehung. Dann versimpelt Fanny doch lieber in Husum als in Lübeck. Nieder mit Lübeck!
Aber selbst wenn Fannys Vater es anders gewollt hätte: Er muss das Schloss räumen. Gewöhnlich können adlige Familien ihre Wohnsitze gar nicht verlassen; es wäre, als würden sie aus ihrer eigenen Geschichte ausziehen, ihre Ahnen verraten, letztlich ihren Stand. Adlige Familien und ihre Schlösser gehören zusammen, beide sind, mehr lebenspraktisch betrachtet, unauflöslich verbunden durch die angenehmen Bande des Eigentums, hier liegen die Dinge verschieden. Das Schloss ist gewissermaßen die Dienstwohnung des Landrats, und wenn der Landrat kein Landrat mehr ist, muss er ausziehen. Es ist nur ein Gewohnheitsschloss.
So ist es also, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Gräfin kommt es vor, als würden sie auf die Straße geworfen. Mutter und Tochter fühlen gewöhnlich nie das Gleiche. Jetzt ist das anders.
Fanny hasst Lübeck. Sie muss es nicht erst kennen, um es abzulehnen. Sie ist eine Heimatvertriebene. Familien sind bewegliche Heimaten, glauben viele. Aber sie besitzt keine Familie, sie hatte nur das Schloss, das Meer und Husum. Und Catty natürlich, doch der ist weg, der geht zur Schule anderswo. Mädchen werden nie auf solche Schulen gehen. Aber die Kränkung reicht noch tiefer: Sie darf nicht einmal zu Hause bleiben. In den letzten Monaten vor dem Umzug wird sie wiederum zu Verwandten gegeben, der Grund ist: Ihre Brüder kommen nach Hause. Und in der Gegenwart ihrer Brüder betrage sie sich immer, als gehöre sie zu ihnen, konstatiert die Mutter und fügt hinzu, dass dies nicht länger hinzunehmen sei, wolle Fanny nicht als alte Jungfer enden. Sie darf also nicht einmal Abschied nehmen von zu Hause. Das bringt sie ihren Eltern nicht näher; Fanny weiß nicht, wen sie mehr verabscheut, Lübeck oder Mutter und Vater.
Sie bittet den Vater, ein Lyzeum besuchen oder Lehrerin werden zu dürfen. Gelebter Widerstand gegen die Versimpelung! Unmöglich, antwortet der Vater. Er habe die Ausbildung seiner Söhne zu finanzieren, und er deutet an, dass seine Mittel nicht zum Unendlichen tendieren, um das Mindeste zu sagen. Und seit wann erhalten Töchter eine Ausbildung?
Die Ausbildung der Töchter findet im Bett statt, erst im Ehebett, dann im Wochenbett. Sie vollzieht sich stumm. Nichts ist darüber zu sagen, nichts ist darüber zu schreiben. Es handelt sich um den vielleicht letzten akzeptierten Rückzugsort des Analphabetismus in der modernen Welt. Aber ganz so wird Ludwig zu Reventlow es seiner Tochter am 26. September 1889 kaum erklärt haben. Immerhin, sagt er, dürfe sie sich zwar nicht auf eine Ausbildung, aber doch auf die wunderbare Aussicht aus ihrem Lübecker Zimmer freuen, »über die Alleebäume auf die hohen Türme der Stadt«. Auf die Marienkirche, das Zeugnis von Lübecks großer Vergangenheit als Hauptstadt der Hanse. Jahrhunderte haben schon zu diesen Türmen aufgeblickt.
Eine Aussicht hat man auf etwas, zu dem man nicht gehört, sonst wäre es keine Aussicht. Das ist alles, wozu es Frauen bringen können: zu einer schönen Aussicht. Und dann noch auf Lübeck! Sie wird die Gardinen fest geschlossen halten. Und bei der ersten Gelegenheit wird sie die Flucht ergreifen und zurückkehren nach Husum, allein.
Sie verfasst Nachrufe auf sich selbst, auf ihre Kindheit:
Wandle ich einsam über die Heide,
Wenn der Wind vom Meere herüberstreicht
Rings um mich her ein totes Schweigen,
Kein Leben, so weit das Auge reicht.
Da erwachen in mir der Kindheit Tage,
Ich gedenke der düstern freudlosen Zeit,
Aufs Neue erwacht im Herzen die Klage,
Des einsamen Kindes einsames Leid.
…
Schwer erziehbar klingt das schon. Und gewiss wäre die Gräfin nicht vom Gegenteil überzeugt, könnte sie diese neueste Dichtung ihrer Tochter lesen. Weiß die Comtesse eigentlich, in welcher Gefahr sie lebt? Hinter Frauen, die aus dem Rahmen fallen, jungen und alten, schließen sich nur allzu bald die letzten Türen, die Türen einer Irrenanstalt. Moral insanity heißt gewöhnlich die Diagnose, allgemeine seelische, moralische, geistige und nervliche Zerrüttung, was bei Frauen so ungefähr dasselbe ist.
Die letzte widerständlerische Strophe ihres Schlossabschiedsgedichts lautet:
Das ungestillte Sehnen nach Liebe,
Es regt sich wieder so weh und bang,
Weiter und weiter mit müden Schritten
Geh ich die einsame Heide entlang.
Und dann, nur ein paar Monate nach ihrer Ankunft in der Stadt, weiß sie nicht, was sie lieber anschaute als Lübeck, die Türme dieser Stadt. Die Türme sind ihre Mitwisser, ihre Verschworenen. Besonders die Türme der Marienkirche. Mag sein, sie ist die Zeugin von Lübecks großer Vergangenheit, aber ist sie nicht noch mehr Zeugin ihrer eigenen großen Gegenwart?
In der Marienkirche, unter dem höchsten Backsteingewölbe der Welt, liest sie die Briefe des jungen Mannes, der ihr fast täglich schreibt. Auch sie schreibt ihm beinahe täglich, manchmal morgens, mittags und abends.
Er heißt Emanuel.
Er ist der Sohn eines der angesehensten Bürger der Stadt. Sein Vater Emil Ferdinand Fehling wurde zum Wortführer des Bürgerausschusses gewählt, bald wird er Senator sein und schon im nächsten Jahr zum Vormund von fünf frühhalbverwaisten Kindern bestellt, was ihn auf unvorhersehbare Weise unsterblich machen sollte: Als Dr. Moritz Hagenström tritt er in nicht allzu ferner Zukunft in Thomas Manns Buddenbrooks auf, denn ihr Autor wird zu jenen fünf Halbwaisen zählen.
Thomas Mann, jetzt vierzehn Jahre alt, besucht das Katharineum, die einzige höhere Schule der Stadt, mit größtmöglicher Nachlässigkeit. Auch Catty, zwei Jahre älter, ist nun Schüler des Katharineums. Nichts deutet darauf hin, dass Catty den stillen Vierzehnjährigen bemerkt, vielleicht weil die Netzhautempfindlichkeit von Sechzehnjährigen nicht so weit abwärts reicht.
Die gesamte hoffnungsvolle Jugend der Stadt besucht dieses Institut, leider gibt es keine hoffnungsvollen Mädchen; in eine Frau wird keine Hoffnung gesetzt, sie kann nur guter Hoffnung sein, Fanny empfindet das schmerzhaft. Umso mehr nimmt sie Anteil an Catty und seinem neuen Mitschüler Emanuel Fehling, für den ihr Bruder gewissermaßen Freundschaft auf den ersten Blick empfand. Fanny lernte ihn bald kennen, und zwar im Ibsen-Club. Das ist ein Lesezirkel der etwas anderen Art.
Früher hat Fanny auf Catty aufgepasst, jetzt hat die Mutter dem fast drei Jahre jüngeren Bruder die Aufgabe übertragen, auf seine große Schwester aufzupassen. Denn sie ist Heiratsgut, das ist hoch empfindlich und darf nicht beschädigt werden. Und wie schnell kann es einen Sprung bekommen, dann ist die ganze Tasse hin. – Catty hat nicht vor, das in ihn gesetzte Vertrauen zu missbrauchen. Er hat auch nicht vor, das in ihn gesetzte Vertrauen seiner großen Schwester zu missbrauchen. Aber dass er sie in den Ibsen-Club eingeführt hat, ist wohl doch leichtsinnig gewesen.
Es ist auch sehr leichtsinnig gewesen, Fanny Das Recht der Frau von Charles Secrétan lesen zu lassen. Junge Mädchen, die Das Recht der Frau gelesen haben, lassen sich viel schwerer verheiraten als solche, die Das Recht der Frau nicht gelesen haben.
Schon im zweiten Brief an Fehling will Fanny wissen, was er von diesem Werk halte. Ein solches Buch wäre im Hause Reventlow undenkbar. Im Hause des Lübecker Rechtsanwalts und Senators Fehling aber kommt es vor, dabei hat der Senator sieben Söhne und keine einzige Tochter. Und die lesen Das Recht der Frau? Emanuel Fehling hatte diesen Leitfaden einer bedenklichen Zukunft seinem neuen Mitschüler Catty geliehen. Dass sich die jungen Männer in einer geradezu irritierenden Weise für die Frauenfrage interessieren, liegt wiederum an Henrik Ibsen. Jede junge Generation hat einen untrüglichen Instinkt dafür, wenn ihre Frage verhandelt wird: bei Ibsen, diesem Norweger, der lauter Stücke über unglückliche Frauen schreibt. Aber es geht um mehr, das spüren nicht nur Catty, Emanuel Fehling und Fanny: Es geht um eine Revolution ihrer Art, in der Welt zu sein. Es geht um den neuen Menschen, um die Grundlagen des Zusammenlebens. Überall im Deutschen Reich bilden sich Ibsen-Clubs, der Norweger kommt wie eine Epidemie übers Land.
Die Mitglieder des Ibsen-Clubs leben nur zum Schein in der Gegenwart, in Wahrheit gehören sie einem Menschentum der Zukunft an, doch sie gehen unerkannt unter den allzu Gewöhnlichen, den Alltagsfliegen, woraus folgt: Wenn sie nicht gerade im Club sind, sind sie in der Diaspora.
Die Achtzehnjährige überrascht diese Seinsweise nicht, sie lebte genau genommen schon immer in der Diaspora. Nur dass sie jetzt nicht mehr das einzige Mitglied ist im Orden der Zukünftigen. Sie hat ab sofort Genossen, Gleichbeauftragte. Gehörte sie dem Ibsen-Club nicht längst an, schon als sie noch gar nichts von ihm wusste? Und im Zeichen des schöneren, freieren Menschen der Zukunft gehört sie nun auch Fehling an. Im ersten Brief teilt sie ihm mit, wie froh sie über die soeben begonnene Seelenmitwisserschaft ist, ob es sich nun um Apokryphen, Psalmen oder andere Lebensfragen handele. Was für eine Wendung, so gar nicht mädchenhaft, weil von einer Fähigkeit zu spielerischen Distanzen zeugend.
Ja, sie hat einen Bund geschlossen mit diesem jungen Mann. Sein Name scheint Fanny von allen Mauern Lübecks widerzuhallen, aber besonders von den Mauern der Marienkirche. Sie kommt nicht nur her, um seine Briefe zu lesen, sondern auch, um sich mit ihm zu treffen. Sie genießt den Anflug von Gotteslästerung, der darin liegt.
Eine Kirche ist das Symbol des Bundes Gottes mit den Menschen, die Marienkirche ist näherhin das Symbol ihres Bundes mit einem jungen Mann. Wer von ihnen beiden die Seite Gottes vertritt, ist schwer zu sagen, wahrscheinlich neigt Fanny zu der Ansicht, sie seien beide göttlich.
Am 19. April 1890 müssen die Bündnispartner jedoch jäh in Deckung gehen. Das Paar sieht Fannys Vater eintreten, der Pensionär mag die unversimpelten Kirchen der Stadt. Aber was sollte er davon halten, hier seiner Tochter und eines fremden jungen Mannes ansichtig zu werden? Es würde seinen Weltbegriff sprengen, und man soll mit den Weltbegriffen anderer Menschen vorsichtig umgehen. Sie streben, Gesicht und Körper fast am Boden, quer durch das alte Gestühl zum Ausgang.
Von nun an wird Fanny zu Reventlow regelmäßig der Jubiläen des 19. Mai, des Marienkirchentags, gedenken, zum ersten Mal eine Woche später. Und auch der 10. April, der Abend, da sie zum ersten Mal miteinander tanzten und verabredeten, sich per Brief zu Mitwissern des anderen zu machen, wird zu einem heiligen Datum erklärt.
Der Rest ist Ausland. Typische Nachrichten aus der Diaspora klingen so: Gerade von einer wüst langweiligen Gesellschaft bei den Kroghs zurückgekommen.[36]Anwesend waren neben der Gattin eines Oberleutnants auch deren beide Töchter, eine fette gerührte Pastorin und deren geistreichelnde Schwester. Sie verachtet die Emissärinnen ihres Geschlechts, sie verachtet selbst ihre Freundinnen, das hat sie Fehling bereits in ihrem zweiten Brief mitgeteilt: Der Austausch unter Freundinnen im Allgemeinen besteht nur aus Geschichten von Leutnants, Liebe etc. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich das elendet.[37]
Die Berichterstattende vermerkt mit großer Genugtuung, dass es ihr gelungen sei, an jenem Nachmittag in Gesellschaft sehr viel gegessen und fast nichts gesprochen zu haben. Sie weiß, wie ihre Mutter dabei gelitten hat. Sie musste vorm Losgehen zu Hause extra essen, damit sie nachher nicht zu gierig wäre. Und dann saß das schreckliche Kind mit der Frau Oberleutnant, der fetten gerührten Pastorin und ihrer zur geistigen Magerkeit neigenden Schwester, aß, so viel sie konnte, obwohl sie schon vorher satt war, sprach fast kein Wort, dachte an den neuen Gefährten ihrer Seele und trank drei sehr große Gläser Bowle auf sein Wohl unter den Blicken ihrer Mutter, die sie in den Boden gerammt hätten, verfügte sie nicht über eine so widerstandsfähige Natur und dazu Fehling und den Ibsen-Club.
Das Verhältnis der Neu-Lübeckerin zu ihrer Mutter ist inzwischen ganz und gar ironiebasiert. Natürlich ist das eine höchst einseitige Verkehrsform, der die Gegenseite weitgehend wehrlos ausgeliefert ist. Wenn die vormalige Schlossherrin am späten Abend oder in der frühen Nacht das Zimmer ihrer Tochter betritt, um nachzuschauen, ob diese schon schläft, kann es geschehen, dass sie die Missratene mitten in einem völlig verrauchten Zimmer antrifft – die Zigaretten hat sie von Fehling – und die Nikotingeschwängerte behauptet, schon längst im Bett gelegen und dabei noch ein wenig genäht zu haben. Der Gräfin verschlägt es die Sprache. Sie weiß genau, dass ihre Tochter niemals freiwillig Nadel und Faden in die Hand nimmt. Das macht sie stumm. Frauen kennen keine Ironie, wissen die ibsenunverdächtigen Männer der Zeit. Und dann erst ironische Töchter!
Insofern sieht sich Fanny zu Reventlow gezwungen, Emanuel Fehlings Ansichten über ihre Stellung in der Familie derer zu Reventlow etwas zu korrigieren. Ein bloßes Opfer sei sie nicht, erst recht kein Opferlamm: