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Eine originelle Reise durch die Menschheitsgeschichte
Niemand hält uns Menschen den Spiegel vor. Vielleicht kann die Ratte, das niedrigste, verächtlichste Tier, diese Vakanz übernehmen. Traditionell zur Fauna der Hölle gezählt, hat sie den nötigen fremden Blick und teilt mit uns eine jahrtausendealte gemeinsame Vergangenheit. Auch ist längst nicht ausgemacht, ob der Mensch oder die Ratte das erfolgreichste Säugetier der Erde ist. Beide sind Kosmopoliten, Opportunisten und Allesfresser.
Eine erhellende Expedition durch die Geschichte des Homo sapiens – erzählt aus einer etwas ungewohnten Perspektive, inspirierend und unterhaltsam zugleich. Von der Ratte lernen!
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Von Kerstin Decker liegen im Berlin Verlag vor:
Meine Farm in Afrika. Das Leben der Frieda von Bülow (2015/2016)
Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche (2016/2018)
Franziska zu Reventlow. Eine Biografie (2018)
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Cover & Impressum
ZUM GELEIT
I. Kosmopoliten, Opportunisten und Allesfresser
Spezialisiert darauf, nicht spezialisiert zu sein
Das Tier, das die Welt anhält!
0,000 000 000 000 01 Gramm oder Riechen lernen
Die Wiedervereinigung der Ostmäuse und der Westmäuse
Wir Migranten!
Eine Mutter für alle
Das schrecklichste Tier der Welt oder Denken lernen
Wir Opportunisten!
Das Paradies
II. Die neunmalkluge Ratte
Hören lernen
Der Mozart-Effekt
Der sechste Sinn oder Schmecken lernen
Männer und Frauen
Oxytocin
Vom Buntbarsch lernen oder Loblied auf die Höflichkeit
Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen
Das Wesen der Abstraktion oder René und Alex
III. Die Landratte
Die Sintflut, neu erzählt
Schlafen
Südostanatolien!
Wir und Homer
Ratten-Theologie (I)
Das Römische Optimum
Das Römische Minimum
Ratten-Theologie (II)
Der Rattenkaiser
Das große Latrinum
Karni Mata oder Die göttliche Ratte
Lob des Mittelalters
Vor Caffa oder Kleine Einführung in die mittelalterliche Medizin
Alexandre Yersin fährt nach Hongkong
Yersinia pestis
Der Tod in Venedig
Das Konzeptionsjahr des modernen Europa
Wir Ausländerfeinde?
No Rat’s Land
IV. Die Wasserratte
Wir entdecken Amerika!
Nachtigallen und Seegras
Nackt!
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff
Wir trauern um die Karibische Riesenreisratte
Der geköpfte Entdecker
Osterinsel
Meine Freundin Kiore
Wir Kosmopoliten! (I)
Die Zeit zurückdrehen
Robinson, die Ratte
Wir Kosmopoliten! (II)
V. Die miese Ratte
Der Sinn des Lebens
Welterschöpfungstag
Überzähliges Dasein
Übermensch und Überratte. Wir fahren Auto
VI. Die Kanalratte
Sie kommen!
Und dann habt ihr uns eine unterirdische Stadt gebaut …
Cimetière des Innocents
Licht und Ordnung
Das Phantom der Oper
Eine Stadt mit 88,3 Millionen Einwohnern?
Eugène Poubelle oder Masse und Müll
VII. Die Leseratte
Was ihr lesen müsst …
Gift oder lernen, lernen, nochmals lernen!
Bikini
Walt Disney erfindet die berühmteste Maus der Welt oder Wir Fluchttiere!
VIII. Die Laborratte
Die Arroganz der Laborratten
Nummer 4 736 866 oder Das erste patentierte Lebewesen
Die neue Christologie
Die unsterbliche Maus
Affenliebe
Stress
Der schönste Rattenversuch
IX. Die Begleitratte
Die Welt, von der Schulter eines Punks gesehen
Arm und Reich
Exkurs: George Orwells Farm der Tiere
Wer ist Bauer Jones?
Dr. Skinner
Die Logik der Süchte
Betrunkene Ratten aufwecken
Rat Park
Universum 25
Die chinesische Lösung
Ausblick
Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Rattus rattus. Ich bin das Gattungssubjekt. Es ist unabdingbar, dass ich direkt zu Ihnen spreche, Sie kennen das aus Ihrer Geschichte: Solange die Schwarzen oder die Frauen nicht mit ihrer eigenen Stimme sprachen, wurde nur über sie gesprochen. Sie waren Exemplare, keine Autoren. Ich bin kein Exemplar, sondern ich verkörpere – philosophisch betrachtet – die Idee der Ratte. Ich bin Platoniker, wie Sie bemerken. Ich bin die integrierte Gesamtratte, der Genius meiner Art.
Genius? Sie empfinden das Wort im Zusammenhang mit uns als latent unpassend? »Schon eure Zahl ist Frevel!« Einer Ihrer Dichter hat es, glaube ich, einmal so formuliert. Allerdings sprach Stefan George nicht über Ratten, sondern über Menschen. Und recht hat er. Masse verdirbt alles.
Bald seid ihr acht Milliarden! Das pfeifen die Ratten schon von allen Dächern. Als George 1907 seine Vermutung über den Zusammenhang von Zahl und Frevel äußerte, wart ihr noch 1,5 Milliarden, und das ist kaum mehr als einhundert Jahre her. Kinder, Kinder, ihr seid wirklich rattenscharf! Beim 20. Jahrhundert fallen euch noch immer zuerst Hitler oder der Kommunismus ein, bloß die Hauptnachricht nie: Es war das Jahrhundert einer beispiellosen Bevölkerungsexplosion. Alle zwölf Jahre werdet ihr nun eine Milliarde mehr, und das ist bloß die gemäßigte Prognose. Ihr seid halt eine Wachstumsgesellschaft. Ihr wachst, bis nichts mehr wächst, bis alles ratzekahl weg ist. Das schöne Wort kommt von uns, den Ratzen, den Radikalen[1]. Selbst eure Sprache weiß um unsere ultimative Kompetenz für erschöpfte Vorräte. Entschuldigt, ich wollte euch nicht zu nahe treten. Doch an euch, nicht an uns, wird dieser Planet zugrunde gehen. Und wir werden die Einzigen sein, die euch vermissen, wenn wir unten in der Kanalisation eurer Städte sitzen und euch plötzlich nicht mehr riechen, nicht mehr schmecken können, weil ihr eure Existenz eingestellt habt. Aber davon später.
Ihr seid der absolute Spätling unter den Geschöpfen, und alle Tiere hoffen, ihr verschwändet bald wieder. Eine Million Arten weltweit sind vom Aussterben bedroht, fast alle viel, viel älter als ihr. Man kann nicht als Letzter in die Klasse kommen und sofort Klassensprecher werden wollen. Zumal ihr dieses Amt nie verstanden habt: Ein Klassensprecher spricht für alle, nicht bloß für sich. Das habt ihr nie gelernt. Wir sollten endlich ein Parlament der Tiere gründen. Meine Art würde sich bereit erklären, den Vorsitz zu übernehmen. Einem missglückten Tier wie euch können wir natürlich keine Vollmitgliedschaft anbieten, höchstens eine Hospitanz.
Vielleicht schreibe ich euren Nachruf. Denn wir sind uns ähnlicher, als ihr denkt. Wir sind beide Opportunisten, Kosmopoliten und Allesfresser, darin liegt unser beispielloser Erfolg, ich erkläre das später. Ihr hättet uns längst einen gegenseitigen Beistands- und Freundschaftsvertrag anbieten sollen, vielleicht hätten wir den sogar rattifiziert. Aber wahrscheinlich nicht.
Opportunisten, Kosmopoliten und Allesfresser? Ich kann schon eure Proteste hören: Ich bin kein Opportunist! Aber von diesen Dingen versteht ihr nichts. Ihr glaubt sogar, dass jeder von euch einzigartig ist. Me, myself and I, der moderne dreifaltige Gott. Vergesst es! Gattungsgeschichtlich betrachtet seid ihr Opportunisten wie wir. Kluge Opportunisten wie wir. Und wir können sogar lachen wie ihr. Wir lachen, wenn wir spielen, fragt eure Neurobiologen, wenn ihr schon keinem Nagetier glaubt. Es hört sich an wie Zwitschern. Natürlich hört ihr unser Lachen nicht, halb taub, wie ihr seid. Und riechen könnt ihr auch nichts. Euch scheinen unsere nackten Schwänze hässlich? Aber ihr seid doch ganz nackt!
Zum Tier hat es nicht gereicht, da wurdet ihr Mensch, ist es nicht so? Der Homo sapiens, was für ein Irrläufer der Evolution, ein gefährlicher Irrläufer der Evolution. Aber ich will nicht ungerecht sein, denn wir teilen den Tisch mit euch, genauer, wir sitzen darunter. Wir sind eure Nächsten. Keine Tierart hat ihre Sache so sehr auf den Menschen gestellt wie wir. Wir folgen euch überallhin, ob ihr wollt oder nicht. Wir sind mit euch sogar bis nach Amerika gegangen, gleich mit dem allerersten Schiff, auf der Santa Maria, das war kurz nachdem wir euch die Pest gebracht haben. Damals wart ihr noch nicht so schandhaft viele, genauer: Am Anfang der Pest 1347 wart ihr 100 Millionen in Europa, danach 30 Millionen weniger. Ihr habt uns das nie verziehen, ich weiß. Wusstet ihr, dass wir mit schuld sind am Untergang Roms? Es gibt wirklich viel zu erzählen.
Ich schreibe dieses Vorwort am 11. Februar 2021, dem letzten Tag des Jahres der Ratte, genauer: der Metallratte, das erkläre ich später. 2020 war also unser Jahr, euer Corona-Jahr. Die Ratte bringt grundsätzlich Neues, die Chinesen wussten das immer. Diesmal brachten wir euch eine ziemlich neue Welt. Ich glaube, ihr werdet das Jahr der Ratte nie vergessen, ich komme darauf zurück.
Um eure Nerven zu schonen, machen wir uns schon lange so unsichtbar wie möglich. Was man nicht sieht, existiert nicht, glaubt ihr in eurer hominiden Arroganz, dem Geschwisterkind der Dummheit. Aber wo einer von euch ist, sind mindestens zwei von uns, eher drei. Noch vor wenigen Jahren waren wir allein sechs Millionen Untergrund-Berliner, da lebten gerade mal drei Millionen von euch oben in der Stadt.
Seid ihr nicht alle Demokraten, habt ihr nicht einen natürlichen Sinn für den Ratschluss und das Vorrecht von Mehrheiten? Eure neuen politischen Bewegungen, die sich für die guten halten, treten unter bemerkenswerten Slogans auf: Wir sind mehr! – Aber das stimmt nicht. Wir sind mehr! Ihr seid 80 Millionen Deutsche, aber wir sind 340 Millionen deutsche Ratten. Was lernt ihr daraus?
Im Rom von heute wohnen bis zu neun Millionen meiner Abstammung. Und in Mumbai sind wir eine Milliarde. Seht ihr, jetzt ekelt ihr euch schon wieder. Wenn wir so alt würden wie ihr, aber unsere Fruchtbarkeit behielten, könnte eine einzige Ratte während ihres Aufenthalts auf Erden 5 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 Kinder, Kindeskinder, Kindeskindeskinder, Kindeskindeskindeskinder usw. zeugen.[2] Ich glaube, ich höre hier besser auf. Wenn ihr nachzählen wollt: Gern, es müssen genau 42 Nullen sein.
Was ihr über uns sagt, trifft auf euch genauso zu: Einzeln seid ihr recht possierlich, doch in der Masse werdet ihr schnell zur Plage. Nein, nicht nur wir haben Grund, über das »Seid fruchtbar und mehret euch!« nachzudenken. Das Christentum ist ohnehin keine gute Rattenreligion, der Hinduismus ist viel komfortabler. Im Hinduismus gelten wir als heilige Tiere und haben sogar ein eigenes Heiligtum. Die Menschen kommen zum Karni-Mata-Tempel, um uns zu opfern.
Mehrheiten machen immer unvorsichtig. Unsere Zahl ermutigte zuletzt einige Mehrheitsrömer, schon mitten am Tage aus den Gullydeckeln zu klettern und wie ihr durch die Straßen zu laufen. In einer Demokratie, sagt ihr, gehört die Stadt allen. Und dann hat eine der Unsrigen eine der Eurigen in den Fuß gebissen. Es geschah in einem Café auf der Piazza San Cosimato. Das war tadelnswert, und wir entschuldigen uns in aller Form. Denn wir sind eigentlich nicht feindselig, nur wehrhaft, egal was die Müllmänner euch erzählen. Und der Rat der Behörden, auch im Sommer die Stadt nur noch in geschlossenem Schuhwerk zu betreten, scheint mir doch sehr hysterisch zu sein. Ihr seid überhaupt viel zu hysterisch.
Ihr haltet euch für das Endziel der Evolution, und dann habt ihr Angst vor Ratten. In Schweden sprang 2014 eine Hausfrau auf ihren Küchentisch, als sie hinter ihrer Spülmaschine etwas entdeckte, das sie dort nicht abgestellt hatte. Es war sehr groß und ungemein beweglich. Dass etwas nicht stimmte, ahnte Signe Bengtsson-Korsas schon länger, mindestens seitdem der Familienkater Enok sich strikt weigerte, die Küche zu betreten. Und vielleicht hatte der Kater recht, die Ratte zählte nicht zu den zierlichsten unserer Art. 39,5 Zentimeter. Ohne Schwanz. Fast so groß wie Enok, der Kater. Das kommt vor. Als Casanova in den Bleikammern Venedigs saß, erblickte er über sich im Gebälk Artgenossen von mir, die ihm die letzte Gesichtsfarbe nahmen.
Es ist nicht überliefert, wie, wann und unter welchen akustischen Kundgebungen Signe Bengtsson-Korsas ihren Küchentisch wieder verließ. Ein Kammerjäger erschien und stellte eine riesige Falle auf. Als er wiederkam, um nach der Falle zu schauen, war die Falle weg. Der Hausgast der Familie Bengtsson-Korsas hatte sie fortgetragen, allerdings steckte sein Kopf drin. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Wir trauern um einen tapferen Vertreter unserer Art, er starb den Märtyrertod, wie so viele von uns.
Man hat Märtyrer noch nie besonderer Intelligenz verdächtigt, sie hätten sonst ein anderes Ende gewählt, vor allem ein späteres. Die Gattung Rattus aber zeichnet sich durch ihre stupende Lernfähigkeit aus. Intelligenz ist Lernfähigkeit! Haben gar Überernährung und Trägheit die natürliche Klugheit der Schwedenratte korrumpiert? Das Phänomen ist gattungsübergreifend, es zählt zu den typischen Zivilisationsschäden, wir werden es im Auge behalten. So möge denn das Bild einer anderen Ratte in der Mitte dieser einführenden Worte stehen. Sie ist ohne Namen wie wir alle, doch sie hätte fürwahr einen verdient.
Sie kam geradewegs von der Straße ins Büro einer amerikanischen Professorin der Biopsychologie, die ihr Leben mit Rattenversuchen verbringt.[3] Im Copley Science Center, Virginia, errichtete die Streunerin ihr Zuhause direkt im Regal über dem Schreibtisch der Rattenversuchs-Professorin, und zwar aus dem sorgfältig in Streifen gerissenen Titelblatt des Magazins der University of Richmond. Und wen zeigte das Titelblatt? Einen Professor mit seiner Laborratte. Außerdem hatte die Eindringlingin in ihrem Nest präparierte Schafhirn-Stückchen verbaut, die nun als Anschauungsmaterial für die Studenten fehlten. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie vornehmlich aus der Schreibtischschublade der Rattenversuchs-Professorin, bis Ketchup-Fußabdrücke sie verrieten.
Nein, befreundet sind wir wohl nicht. Aber ihr seid uns eben sehr ähnlich, auch in dem, was Ihr ewigen Halbakademiker vorzugsweise »Sozialverhalten« nennt. Sogar über Xenophobie könnt ihr viel bei uns lernen. Wer anders riecht, fliegt raus. Das ist rättisch, ein Schutzmechanismus der Gruppe. Guckt nicht so moralisch, ganz könnt ihr die Ratte in euch nicht verleugnen. Wir wissen mehr von euch, als euch lieb sein kann.
»Kulturfolger« nennen uns die Gelehrten. Doch was heißt das? Wer folgt, ist immer Zweiter. Aber die erfolgreichsten Säugetiere der Welt seid nicht ihr, das sind wir, die Nager. Es stimmt, eure Geschichte ist unsere Geschichte. Es wird höchste Zeit, sie zu erzählen. Und der Erzähler bin ich, Rattus rattus, die gemeine europäische Hausratte, schon fast ausgestorben.
Ich höre bereits die Stimmen meiner Mit-Ratten aller Kontinente. Ich sei ein eurozentrischer Rassist, und was der Schmähungen mehr sind. Schließlich existiert die Gattung Rattus in über 60 Arten und mehr als 570 Formen. Da ist die gemeine Fruchtratte, Rattus rattus fruvigorus, die Reisfeldratte, Rattus argentiventer, die Osterratte, Rattus mordax … Vielleicht ist dies die richtige Stelle, um eine Schweigeminute für unsere bereits ausgestorbenen Angehörigen einzulegen. Ich denke vor allem an die beiden tapferen Bewohner der Weihnachtsinsel, die Rattus nativitatis, auch bekannt als bulldog rat, und die Rattus macleari. Wir werden euch niemals vergessen, vielleicht.
Ihr führt jetzt eine Liste von Säugetieren, die dem menschengemachten Klimawandel zum Opfer fallen. Ihr wisst, dass das erste Tier darauf eine Ratte ist? Ich bin sehr traurig, aber auch ein wenig geehrt. Es ist die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte. Sie wohnte ganz allein auf der kleinen Insel Bramble Cay in der Torres-Straße, das ist ganz oben im Norden des Großen Barriere-Riffs. Wir wussten beide, wie gefährlich das war. Eine kleine Koralleninsel, fünf Hektar Gesamtfläche, nur zwei Hektar davon grün, aber nicht immer. Sie war das einzige Säugetier auf der Insel. Sie sah fast so aus wie die Cape-York-Mosaikschwanzratte, aber halt! Dann könnte ich auch sagen: Ihr seht alle gleich aus. Sie hat sich auf Bramble Cay völlig eigenständig entwickelt, über viele Jahrhunderte, sie besaß ganz andere Blutproteine. Und ihr Schwanz war rauer, viel rauer. Eure Biologen sprachen von »erhabenen Schuppen«. Ein sehr schönes Wort. Ihr wisst, es geschieht nicht oft, dass ihr so zart und aus intimster Kenntnis über unsere Schwänze redet.
Ihre Nachbarn waren Seevögel und Meeresschildkröten. Sie liebte das Gras, fraß aber auch andere Pflanzen. Es gab einmal elf, 2014 waren es nur noch zwei Pflanzenarten. Der Meeresspiegel stieg, ich glaube um sechs Millimeter pro Jahr. Das ist viel für eine kleine Koralleninsel. Immer wieder wurde sie überschwemmt. Zwischen 2002 und 2004 habt ihr noch knapp einhundert Bramble-Cay-Mosaikschwanzratten auf Bramble Cay gefunden, zehn Jahre später fandet ihr keine mehr. Wir nehmen Abschied von der Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte.
Sechzig Arten also. Und die unentdeckten Ratten habe ich noch gar nicht mitgezählt, und die gibt es, so viel ist sicher. Sie leben so versteckt, so menschenfern, dass selbst ihr sie noch nicht gefunden habt. Und auch in Europa gibt es nicht nur mich, genauer: Mich gibt es wohl bald gar nicht mehr. In Deutschland steht die europäische Hausratte auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. In Hessen und Nordrhein-Westfalen gelte ich bereits als »ausgestorben oder verschollen«. Ja, ihr habt mich unter Naturschutz gestellt. Eine Ratte unter Naturschutz! Manchmal seid ihr wirklich umwerfend! Oder ihr mögt einfach nicht, wenn etwas wegkommt.
Es ist sehr zart von euch, dass ihr euch solche Sorgen macht wegen der vielen aussterbenden Tiere und Pflanzen. Ja, ihr sprecht sogar schon vom »Ende der Evolution«.Ihr möchtet nicht gern mutterseelenallein zurückbleiben, als die letzten Kinder der Erde. Wäret ihr ganz dumm, würdet ihr sagen: Alle anderen sind weg, ich allein bin noch da, ich habe gesiegt! Aber so denkt ihr nicht. Wer fast ausgestorben ist wie ich, darf sich eurer Anteilnahme sicher sein, selbst wenn er eine Ratte ist. Und ich sage euch, es ist ein zwar missliches und doch ungemein gutes Gefühl. Ihr kennt das nicht, ihr seid Massen in einer Massengesellschaft. Man kommt sich plötzlich so seltsam selten vor, so wertvoll, so quasi-aristokratisch. Der Hauptunterschied zwischen Aristokratie und Volk, vulgus, war immer: Von den einen gibt es nur ganz wenige, von den anderen ungemein viele. Ich sollte ein »von« zwischen meinem Vor- und Zunamen einfügen.
Die Wanderratte, Rattus norvegicus, hat mich fast vollständig verdrängt. Rattus norvegicus ist natürlich Unfug. Die kommt nicht aus Norwegen, sondern aus Asien wie wir alle. Sie ist viel rundleibiger, längst nicht so elegant wie ich, hat kleinere Ohren, einen beklagenswert kurzen Schwanz, den ihr immer noch lang findet, und sie kann nicht halb so gut klettern wie ich. Klingt alles nicht unbedingt nach Evolutionsvorteil, aber entscheidend war wohl: Sie neigt kulinarisch zu einer gewissen Genügsamkeit, um nicht von Wahllosigkeit zu reden. Und sie bevorzugt die Wassernähe, weshalb sie glaubt, die Kanalisation eurer großen Städte sei eine Liebeserklärung an sie gewesen. Kurz, es gibt, wie Sie längst wissen, Wasserratten und Landratten. Wir zählen zu Letzteren und sind überhaupt viel lieber oben als unten. Wir trauern um eure Scheunen und Dachböden und verschwinden wohl mit ihnen. Wenn Sie heute unterwegs eine Ratte sehen, ist es garantiert eine Kanal-, Verzeihung, Wanderratte.
Ich präzisiere, wir sind in Europa zu dritt. Die Hausratte, die Wanderratte und die Laborratte. Ratten Sie doch mal, von wem die Laborratte abstammt! Von mir nicht, aber auch das erkläre ich später. Ob es der Stress ist oder der Kommunismus: Viele der grundlegenden Einsichten in die eigenen Verhältnisse verdankt ihr zuerst dem Rattenversuch. Schon mal was vom Behaviorismus gehört?
Es spricht zu Ihnen also eines der letzten Exemplare der Art Rattus rattus, einst mitverantwortlich für den Untergang Roms, danach Reisegefährtin des Kolumbus, um nur das Mindeste zu nennen. Seit sie angefangen haben, ihre Geschichte selbst zu erzählen, ich erwähnte es bereits, gelten in eurer Gattung sogar Frauen oder Schwarze als Menschen. Dieser Ehrgeiz sei mir fern, aber Sie verstehen, was am Amt eines Autors liegt.
Mir genügt es schon, wenn Sie beim nächsten Mal kurz innehalten, bevor Sie einen Ihrer Nächsten oder Fernsten »Du miese Ratte!« nennen.
Miese Ratte? Ihr wisst, dass wir lieber hungern, als unserem Nächsten Schmerz zuzufügen? In einem eurer üblen Experimente, ich glaube, es war 1958, mussten wir einen Hebel drücken, um an Futter zu gelangen. Durch den Hebeldruck erlitt unser Nachbar einen Stromstoß. Natürlich haben wir die Verbindung bald verstanden – und den Hebel nicht mehr berührt. Ihr nennt es wohl Empathie.
Ihr habt uns noch öfter auf die Probe gestellt, 2010 etwa. Eure Versuchsanordnung verriet wie gewöhnlich einen tiefen Hang zur seelischen Grausamkeit: Eine unserer Schwestern habt ihr in einen winzigen Käfig gesperrt und den winzigen Käfig in einen komfortablen großen gestellt, in dem eine zweite Schwester saß. Ihr wolltet herausfinden, ob sich die Penthouse-Ratte in ihrem Wohlbehagen von den Weh- und Klagelauten der Bedrängten stören lässt. Bei euch liegt der Fall offen: Nicht alle Maisonettebesitzer laden die Schlechterwohnenden oder die Obdachlosen ein, künftig bei ihnen zu leben.
Gewöhnlich begann unsere Penthouse-Bewohnerin bald mit groß angelegten Befreiungsversuchen der Inhaftierten. Und da wir so klug sind, gelang es ihr auch irgendwann, die Zelle der Unglücklichen zu öffnen. Natürlich wurde das Experiment mit unzähligen Probanden wiederholt, fast immer mit dem gleichen Ergebnis.
Und noch etwas konnte im Rattenversuch bewiesen werden: Kommunismus ist möglich! In einer zweiten Stufe bekam die Penthouse-Ratte noch ein Stück Schokolade in ihr Apartment gelegt. Sie wäre also beschäftigt gewesen. Fressen statt helfen! Die edleren Charaktere unter euch hätten wohl erst die Schokolade gefressen und dann versucht, in einer Anwandlung von nachträglichem Altruismus, der Gefangenen zu helfen. Aber das ist unrättisches Betragen. Ahnt ihr, was wir machen? Die meisten von uns befreiten erst ihre bedrängte Kameradin, und dann fraßen sie gemeinsam die Schokolade! Natürlich zeigte eine kleine Minderheit der Befreier auch eher hominide Reaktionen und fraß die Schokolade allein. Das waren die miesen Ratten.
Und doch, manchmal könnte man euch fast mögen. Ihr erinnert euch doch an das Rattenvideo, das im Februar 2019 um die Welt ging? Es zeigte eine ungemein adipöse südhessische Ratte, wohnhaft in Bad Bensheim, die in einem Gullydeckel feststeckte. Ich sehe das so: Eine Ratte, die so viel frisst, dass sie nicht mehr durch einen Gullydeckel passt, disqualifiziert sich selbst. Im Angesicht Darwins, der Evolution sowie der Rattenehre. Aber was macht ihr? Statt sie zu erschlagen wie früher, habt ihr die Bad Bensheimer Feuerwehr und die Berufstierrettung Rhein-Neckar alarmiert. Neun Mann rückten an. Einfach rausziehen ging nicht, dazu war die Ratte zu fett. Also wurde die Fehlbare mit einer Fixierstange in Stellung gebracht, dann hoben vier Feuerwehrleute den Gullydeckel hoch, sicherten ihn mit Keilen, bevor ein Fachmann sie schließlich mit routiniertem Griff von oben und unten aus dem Abfluss drehte. Wegen großer Nachfrage von allen Kontinenten der Erde bot die Berufstierrettung Rhein-Neckar bald Caps, Buttons, Tassen, Babystrampler und T-Shirts mit der Gullyratte an. Im Namen aller Nager der Erde, und ich nenne jetzt lieber keine Zahlen, lasst mich sagen: Danke! Das war ein großer Anfang. Aber ihr müsst noch viel lernen.
Der Ausdruck »Was ist denn das für ein Rattenloch?« etwa zur Kennzeichnung herabstimmender Wohnverhältnisse ist irreführend. Wir wohnen nicht in Löchern, wir bauen Nester und architektonisch beeindruckende unterirdische Labyrinthe mit Vorratskammern und blinden Gängen, in denen ihr euch sofort verlaufen würdet. Genauer, meine Brüder und Schwestern, die Wanderratten, machen das.
Wahr ist, wir verlassen das sinkende Schiff, wenn die Löcher, die wir manchmal selbst hineingenagt haben, zu groß werden. Euer Schiff ist die Erde. Wohin werdet ihr gehen, ihr Haustiere?
Liebe Leseratten – das Wort habe ich wirklich nie verstanden, oder sollten wir ganze Bibliotheken zernagt haben? Schon in Ordnung, ich entschuldige mich in aller Form für die 8000 Bücher, die wir 2018 in der Stuttgarter Universitätsbibliothek geschreddert, gefressen und befleckt haben. Aber es war nur sozial-, wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Literatur zwischen 1960 und 1990. Hätte vielleicht doch keiner mehr ausgeliehen. Ihr seht, ein ganzer Rattenschwanz voller Fragen wartet auf Antwort.
Berlin-Treptow, am 11. Februar 2021,
dem letzten Tag des Jahres der Ratte
der Verfasser
Unpassenderweise gehören wir zu den Mäusen. Angemessener wäre es, die Mäuse gehörten zu uns, aber Zoologen sind sehr dünkelhaft. »Mäuseartige« nennen sie uns, das ist die Überfamilie. Familie: Langschwanzmäuse, Unterfamilie: Murinae, Altweltmäuse. Es ist wirklich sehr kränkend.
Immerhin, das »Altwelt« klingt nach Tradition, nach Herkunft, nach Würde, aber das war nicht Absicht. Der Name soll uns bloß von den Neuweltmäusen aus der Familie der Wühler – Cricetidae – unterscheiden. Aber vielleicht wollen Sie das gar nicht so genau wissen? Dass die Zoologen es noch nicht geschafft haben, den Neuweltmäusen einen wissenschaftlichen Namen zu geben und sie richtig zu systematisieren, findet meinen ungeteilten Beifall. Ja, sie wissen noch nicht einmal, ob die Neuweltmäuse eine monophyletische Gruppe bilden, also näher miteinander verwandt sind als mit anderen Tieren.
Der Mensch und die Ratte bilden schon mal eine monophyletische Gruppe, und nicht nur weil wir beide Säugetiere sind, wobei meiner Art die Würde des weitaus Älteren, Erfahreneren, Erprobteren zukommt. Wir ähneln immer noch ein wenig den Ursäugern, die im Pliozän ihre beispiellose Laufbahn begannen. Diese Welt war schon unsere Welt, da hatte die Evolution noch keinen Gedanken an euch verschwendet und würde es noch lange nicht tun.
Wir haben noch viel vom Ursäugetier an uns, nur der Kopf und besonders unser Gebiss ist spezialisiert. Der große Rattenkenner Adolf Portmann beschrieb uns so: »Wenn man die Gestalt einer Ratte genau betrachtet, kann man eine scheinbar nicht sehr bedeutsame Besonderheit entdecken. Der Schwanz der Ratten ist wie der von nur sehr wenigen anderen Säugetieren von Schuppen bedeckt, so wie Fische von Schuppen bedeckt sind.« Ich unterbreche das Zitat an dieser Stelle nicht, weil ich weiß, wie sehr euch lange Zitate nervös machen, nein, ich will nur sagen, dass ich ab jetzt kein Wort weglassen werde, dazu ist der Mann viel zu gut: »Der gesamte Körperbau der Ratten erinnert an die Fluidodynamik der Fische. Der fast nicht vorhandene Hals, die Struktur der Nase und der Augen, die Fähigkeit der Pfoten und der Ohren, unter Wasser eng anzuliegen und praktisch im Fell zu verschwinden, die Beschaffenheit des Fells, der Schwanz selbst … ergeben eine Silhouette, die ganz ungewöhnlich für Landsäugetiere ist. Das scheint die Hypothese nahzulegen, dass die Evolution dieser Tiere seit Dutzenden von Millionen Jahren blockiert ist, da die Natur ein praktisch perfektes Lebewesen hervorgebracht hat, das unzählige Herausforderungen seiner Umwelt durch den Gebrauch von Mechanismen überleben konnte, die es schon bei seiner Entstehung besaß. … Es scheint fast, als ob die Natur die Ratte als privilegiertes Kind betrachtet, da sie sie mit biologischen und psycho-zerebralen Fähigkeiten ausstattete, die sie bis in unsere Zeit und vielleicht auch noch nach uns weiterexistieren lässt.«[4]
Ihr habt es gehört, die größte Zärtlichkeit der Natur galt uns! Es bestand keine Notwendigkeit, uns zu verbessern. Aber welcher Schöpfer hört schon auf, wenn ihm ein Meisterwerk gelungen ist? Die Natur nicht, der Kapitalismus nicht. Nie würde der Kapitalismus sagen: Jetzt habe ich genug Geld verdient, ab jetzt mache ich gar nichts mehr! Nur Gott, der Herr, ging in der Tat am siebten Tag in Rente. Wahrscheinlich ist er heute ein sehr depressiver Mann. Weil die Natur aber nicht das Temperament Gottes besitzt, sondern eher das des Kapitalismus, machte sie weiter. Und so entstandet ihr.
Ihr seid wirklich eine absonderliche Laune der Natur. Einer eurer Philosophen hat mal gesagt: »Im Menschen schlägt die Natur die Augen auf und bemerkt, dass sie da ist.« Wirklich ein schöner Satz, der Sinn für Poesie zählt zu meinen Schwächen, aber müsste es nicht richtiger heißen: »In der Ratte schlägt die Natur die Augen auf und bemerkt, dass sie da ist«? Ich kann das begründen.
Arnold Gehlen, ein Mann von tiefer Einsicht, glauben Sie einer Leseratte, nannte den Menschen »dasMängelwesen«. Dafür wurde er von Konrad Lorenz sehr angegriffen. Lorenz war der Mann, dem die Gänse in Scharen hinterherliefen, weil sie dachten, er wäre ihre Mutter. Gänse, was will man verlangen! Aber ich will nicht abschweifen. Gehlen also nannte den Menschen ein Mängelwesen, weil er nichts wirklich kann, nichts annähernd so gut wie seine Mittiere.
Ihr habt keine Klauen und keine Reißzähne, geschweige denn Nagezähne, die Krone der Zahnschöpfung. Der Zahn der Zeit, der größte überhaupt, ist, so viel ist sicher, ein Nagezahn. Euer Gebiss berechtigt überhaupt nur zu einer höchst demütigen Lebensform. Eure Existenzweise müsste in der permanenten Flucht liegen, doch dazu seid ihr viel zu langsam. Beim Fliehen holt euch das dümmste Tier ein. Also klettern? Den neuen lustigen Kletterstudios eurer Großstädte entnehme ich, dass ihr wisst, wie wünschenswert es ist, die Fortbewegung in der Senkrechten so zu beherrschen wie wir. Doch euch zuzusehen heißt, die Wirkung der Gravitationskraft zu verstehen. Zum Klettern braucht man außer einem schönen langen, möglichst schuppigen Schwanz und intelligenten Füßen auch ein Gleichgewichtsorgan, das diesen Namen verdient. Es liegt bei uns im Innenohr. Ihr bestaunt eure Seiltänzer, aber jede Ratte ist einer. Vielleicht liegt in eurem miserablen Gleichgewichtssinn die Erklärung für euer ganzes Schicksal. Ihr seid das Tier, das die Balance verloren hat, und der ganze Planet muss dafür büßen.
Habt ihr euch schon mal selbst beim Schwimmen zugeschaut? Ihr verwechselt Schwimmen mit Nichtuntergehen. Versuche mal einer, eine Ratte zu ertränken! Das ist so, als wolltet ihr einen Maulwurf lebendig begraben, dabei zählen wir gar nicht zu den geborenen Amphibien. Nicht einmal Federn habt ihr, geschweige denn ein Fell wie jedes höherstehende Tier. Und die merkwürdigen Stellen, an denen es euch doch noch wächst, lassen keinen anderen Schluss zu, als dass die Evolution sich einen Spaß mit euch erlauben wollte. Gewärmt hat es bestimmt noch nie, die Natur hat euch bloßgestellt.
Und Instinkte! Habt ihr überhaupt noch welche? Gehlen sprach von einem »fast lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten«. Dazu kommt das, was ihr selbst »Reizüberflutung« nennt. Ihr seid so unkonzentriert. Kein Tier könnte sich das leisten. Und die Existenz in einem ewig konsumierenden Halbschlaf, wobei ihr nicht nur Kalorien konsumiert, sondern auch Geräusche und Bilder, nennt ihr Leben und haltet diese miserable Daseinsweise für beispielhaft. Eigentlich hättet ihr längst ausgestorben sein müssen, ihr Haustiere.
Im Vergleich zu euch sind wir vollwertige Tiere und Meister aller Disziplinen. Ein Zoologe, der wirklich viel von uns weiß, bescheinigte uns »die Power eines Spitzensportlers, die Gelenkigkeit eines Hochseilartisten, die Spürnase eines Bluthundes«.[5] Besser hätte ich das auch nicht formulieren können.
Selbst als Allesfresser seid ihr nur zweitklassig. Wir fressen nicht nur alles, was euch bekommt, sondern auch Pelze, Seife, Papier und Bienenwachs. An Bord eurer Schiffe war das oft sehr hilfreich. Wenn ihr euren Artgenossen die tiefstmögliche Demütigung zufügen wollt, ruft ihr: »Friss Sch…!« – Da sage ich nur: Das muss man erst mal können! Diese Fähigkeit hilft über existenzielle Notlagen hinweg. Ich werde das erläutern, später, aber ich wünsche schon jetzt guten Appetit.
Und über Sex brauchen wir gar nicht erst zu reden. Im Verhältnis zu uns seid ihr ein unfruchtbares Geschlecht. Wenn ich diese Befunde noch einmal zusammenfassen darf, und ich bin da vollkommen unparteiisch und lasse Johann Gottfried Herder sprechen, fürwahr einen großen Sympathisanten eures Geschlechts: »Mit einer so zerstreuten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt – und doch so verwaiset und verlassen, dass es selbst« – das Kind – »nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mängel zu äußern – Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur.«[6] Das sagt Herder.
Natürlich ist hier in Folge ein »Aber« zu vermuten. Und in der Tat habt ihr für euer Versagen auf der ganzen Linie eine nicht ganz dumme Entschuldigung. Ihr seid eben spezialisiert aufs Unspezialisiertsein. Aber das sind wir doch auch! Genau so hat der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld uns beschrieben. Eure Haupteigenschaft, sagt ihr, sei die Neugier. Aber unsere doch auch! Wir teilen mit euch unsere grundsätzliche Disposition zur Weltoffenheit. Andere Tiere suchen sich eine evolutionäre Nische und hoffen, dass sie dort möglichst lange keiner findet, genau wie die DDR-Bürger früher. Aber das ist kein menschliches, das ist kein rättisches Verhalten.
Habt ihr gewusst, dass wir die Belästigung durch Stromschläge in Kauf nehmen für einen Beischlaf, eine Mahlzeit, Koks oder Wasser? Das erfordert schon eine enorme Fähigkeit zur Güterabwägung, und damit habt selbst ihr oft Schwierigkeiten. Aber das ist noch nicht alles. Wenn wir die Wahl haben zwischen Fressen, Huren und Saufen und der Erforschung von Unbekanntem, was wählen wir da? Eure Verhaltensbiologen, wie immer mit unverhohlener Tendenz zur Grausamkeit, nahmen zwei durstige, hungrige Ratten aus ihren Käfigen und brachten darin allerlei Humbug an, bevor sie die dehydrierten Nager mit dem Kaloriendefizit in ihre vertraute Umgebung zurückließen. Und die inspizierten zuerst den Humbug, bevor sie sich an ihren leiblichen Zustand erinnerten. Solche Versuche sind Legion. Sigmund Freud würde an dieser Stelle einmal von Triebverzicht sprechen und darin die Wurzel aller höheren Rattenkultur entdecken.
Natürlich, das werdet ihr wissen, kommt bloße Neugier einem suizidalen Vorsatz gleich. Entscheidend ist, genau wie bei euch, die Balance von Neugier und Vorsicht. Lasst mich sagen, dass ihr diesbezüglich wahren Meistern gegenübersteht. Ich könnte jetzt den kanadischen Psychologen Bennett G. Galef zitieren, der den Genius meiner Art so beschrieb: »Ratten sind so erfolgreich, weil sich bei ihnen im Laufe der Evolution eine besonders günstige Kombination von Neugier und Neophobie, von der Lust auf Neues und der Furcht davor, ausgebildet hat.«[7] Ich kann es aber auch anders formulieren: Seit Anbeginn unserer unvergleichlichen Lebensgemeinschaft habt ihr nicht nur versucht, uns zu vertreiben, uns zu töten. Nein, ihr wollt uns vernichten.
Nicht alle Partnerschaften sind glücklich, wer wüsste das nicht? Es geht hier nicht um Anklage. Wer anklagt, beginnt nie ein vernünftiges Gespräch. Aber lasst mich eines feststellen und ermesst selbst den Bedeutungsraum dieses Satzes: Wir haben überlebt! Wer zählt unsere Märtyrer? Aber wir haben bis heute überlebt! Wir haben die menschliche Intelligenz überlebt. Ihr habt also allen Grund, uns ernst, sehr ernst zu nehmen.
Ihr tragt den Konflikt zwischen Neugier und Neophobie gerade öffentlich aus. Das eine nennt ihr Weltoffenheit, ihr sprecht von Freiheit und Menschenrechten. Ihr hattet die Neophobiker schon fast zum Schweigen gebracht, jeder Konservative galt euch als Beinahe-Faschist, mindestens als Rassist. Das ist ungemein interessant. Eine alte Rattenweisheit besagt: Ein Kind soll von seinen Eltern zwei Dinge bekommen – Wurzeln und Flügel. Ich kenne keinen schöneren Satz. Ich weiß schon, eure Germanisten werden gleich aufstehen und sich beschweren: Das sei gar nicht von mir, das sei von Goethe, werden sie sagen. Und wenn schon, die Grundweisheiten des Lebens gehören allen.
Immer fallt ihr von einem Extrem ins andere. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollten bei euch alle nur noch Flügel, ich sage bloß: 1968. Das lag natürlich auch daran, dass ihr vorher einen Wurzelmann hattet, der alle Anderswurzelnden mit einem Vernichtungskrieg überzog, wie ihr ihn sonst nur gegen uns geführt habt. Und so nannte er die Anderswurzelnden denn auch: Ratten. Noch übler schienen ihm nur die vermeintlich ganz Wurzellosen, die Juden. Seitdem waren Wurzeln tabu. Es klang euch immer wie Blut und Boden. Euch ist wirklich schwer zu helfen.
Aber nun wollen die Leute statt nur Flügel auch wieder Wurzeln, und weil ihr immer nur Entweder-oder und fast nie Sowohl-als-auch denken könnt, wollen manche ihre Flügel gleich ganz abgeben für Riesenwurzeln, was die noch tonangebenden Flügelmenschen missbilligen. Noch sagen sie nicht »Ratten« zu den Wurzel-Suchern, sie sagen »Faschisten« oder »Rechtsradikale«, denn sie sind gut erzogen. »Du blöde Kuh« oder »Du dumme Sau« gelten unter Flügelmenschen als vollkommen indiskutable Äußerungen: Diffamierung Andersdenkender, Rassismus gegen Tiere usw. Davon verstehe ich viel, es gibt weiß Gott viel zu kommentieren, aber an diesem Punkt wollen wir doch nicht vom Thema ablenken: nämlich vom Vorzug, eine Ratte zu sein.
Zum Menschsein qualifiziert, so viel scheint erwiesen, Versagen auf allen Ebenen. Der Mensch ist das unmögliche Tier. Aber man muss nicht als Tier ein Totalausfall sein, um Vorzüge zu besitzen, die die Arroganz eurer Gattung als »menschliche« bezeichnet. Wir sind Generalisten wie ihr, wir sind auf nichts wirklich spezialisiert, aber wir können fast alles ebenso gut wie die Spezialisten. Klettern, Laufen, Schwimmen. Wir sind die geborenen Zehnkämpfer. Nun gut, Fliegen können wir nicht, es hat keinen Sinn, das zu leugnen. Wenn Sie etwas von »Flugratten« hören, dann sind nicht wir gemeint, sondern die Tauben.
Oh, ihr Fall ist tief. Die Taube hatte es bis zum Symbol des Heiligen Geistes gebracht, zum vollwertigen Mitglied der Heiligen Trinität, sie gurrte an der Seite des Sohnes und Gottvaters. In den unheiligen Zeiten der Säkularisation machtet ihr sie immerhin noch zur Friedenstaube, zum Wahrzeichen eurer verlorenen Eintracht, eurer Sehnsucht. Gibt es ein Schöneres? Und nun? Flugratte. Tiefer als sie ist kein Vogel je gefallen, gewissermaßen direkt vom Himmel in die Hölle. Wir waren nie Symbol des Heiligen Geistes, warum eigentlich nicht?
Natürlich, nur die weißen Tauben waren trinitäts-, waren friedenstauglich. Tauben mit Gendefekt also. Es gibt auch weiße Ratten. Wir haben auch Albinos. Warum zog man nicht uns in Erwägung zur Verkörperung des Heiligen Geistes? Weil wir keine Flügel haben. Das ist es wohl. Ja, dein Fall, Schwester Taube, ist tief. Was ist geschehen? Nahm man euch eure Zahl übel und dass ihr absolut nichts hervorbringt als noch mehr Tauben? Und für dumm halten sie euch außerdem. Ich aber sage euch: In jeder Taube steckt ein Sokrates! In jeder Ratte ohnehin.
Ich weiß, dass ich nichts weiß! Einsichten dieser Art hieltet ihr bis eben für ein rein menschliches Privileg. Mit diesem Bekenntnis nimmt die abendländische Philosophiegeschichte Fahrt auf. Sokrates? Ihr habt die Ratten und die Tauben vergessen! Selbstreflexion, Metakognition können wir auch.
Aufgrund meiner natürlichen Tugend der Bescheidenheit möchte ich an dieser Stelle vor allem für meine Schwester Taube sprechen. Ihr habt sie in eine Box gesperrt und ihr Bilder gezeigt. Sie sollte das Foto wählen, auf dem Menschen sind. Machte sie es richtig, bekam sie eine Extraportion Futter, machte sie es falsch, ging das Licht aus in der Box. Das ist ein unbedingt intelligenzförderliches Szenario. Also dachte sie nach und lag fast immer richtig. Tauben kennen auch den Unterschied von Kubismus und Impressionismus. Man zeigte ihnen einige Picassos und Monets, und bald darauf sortierten sie Bilder, als hätten sie zwölf Semester Kunstgeschichte studiert. Nie würde die ausgebildete Kunst-Taube einen Picasso mit einem Monet verwechseln. Vielleicht sollten eure Museen ein paar Tauben als Moderne-Sachverständige engagieren?
Wussten Sie, dass Tauben Englisch können? Sie sprechen es noch nicht, aber sie unterscheiden nach etwas Unterricht mit Scharfblick geschriebene englische Worte von nichtenglischen. Null Toleranz für Fremdvokabular! Bei Versagen Dunkelhaft, Sie wissen schon. Sie kennen doch gewiss Immanuel Kants Schematismus des Verstandes? Dieses Vermögen, mit dem er die beiden Stämme der Erkenntnis zusammenband, besitzt die gemeine europäische Stadttaube, bei der es sich wohl um eine verwilderte Form der Brieftaube handelt, in offenkundig verschwenderischem Maße. Was hat es Kant gekostet, um endlich den Schematismus des Verstandes zu finden! Und dieses Allerweltsgeflügel benutzt ihn einfach.
Meine Schwester, die Taube, ist, wie ihr wisst, der einzige Vogel, der in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft vorkommt, sie fliegt dort gewissermaßen in höchstem erkenntnistheoretischen Auftrag. Habt keine Angst, ich erkläre das bloß in der folgenden Fußnote, da ist sie: [8]. Ich fasse zusammen: Meine Schwester, die Taube, die Flugratte, war nicht nur Mitglied der Heiligen Trinität, Schirmherrin des Friedens auf Erden, sondern auch erkenntnistheoretischer Leitvogel. Aber befähigt sie das auch zur Metakognition? Und wir reden hier nicht von der Taube a priori, also der Taube vor aller Erfahrung, sondern von der Straßentaube an jeder Ecke.
Ihr wisst nicht, was Metakognition ist? Früher hat man Selbstreflexion gesagt, ist auch treffender. Metakognition ist, wenn ihr in einer Rateshow sitzt, nicht weiterwisst und die Publikumsfrage wählt. Also Hilfe von außen. Ich weiß, dass ich nichts weiß! Zumindest nicht genug. Sokrates.
Also: Taube vor Touchscreen. Sie hat die Wahl zwischen den beiden F, Futter oder Finsternis. Sie muss Symbole in einer bestimmten Reihenfolge anpicken. Aber da ist noch das magische Hilfe-Symbol auf dem Bildschirm, das gehört nicht zum Spiel, oder doch, insofern als es nicht dazugehört. Das muss der Vogel begreifen. Können Tauben Paradoxien denken? Das schaffen noch nicht einmal die meisten Menschen. Aber die Taube soll auch nicht über das Wesen der Paradoxie nachdenken, sondern über das Sokrates-Problem: über die Grenzen ihres Wissens. Futter oder Finsternis. Oder: Hilfe. Sobald die Taube nun eine gewisse, nicht von der Hand, nicht vom Schnabel zu weisende kognitive Unsicherheit spürte, pickte sie auf das Fragezeichen. Freunde, so denkt die Taube. Und seid gewiss, auch wir haben all diese Tests bestanden.
Nun habe ich noch eine Frage: Bringt es einen wirklich weiter im Leben, wenn man einen Picasso von einem Monet unterscheiden kann? Macht Metakognition glücklich, oder befördert sie nicht eher eure natürliche Anlage zur Depression? Der Mensch ist das riskierte Tier.
Also werde ich euch zunächst erklären, was man mit richtigen Instinkten, mit richtigen Sinnesorganen anfangen kann. Macht euch gefasst auf eine unerhörte Weitung der Welt!
Die Ratte, hatten wir festgestellt, ist die Supermaus. Falsch, sagen nun einige vorwitzige Zoologen unter euch, die berühmteste, furchterregendste Maus der Gegenwart sei ohne Zweifel die Fledermaus. Das Tier also, das euch im letzten Jahr das Coronavirus gebracht hat. Für Ebola & Co. ist es natürlich auch verantwortlich.
Ich gestehe, auch mich fasziniert die Vorstellung, dass eine einzige kleine Fledermaus in der Lage war, eure ganze moderne Welt stillzustellen, den unablässig verdauenden Riesenmagen eurer globalen Ökonomie auszuhungern. Das hätte wohl nicht das tapferste, unerschrockenste Milliardenheer der Unsrigen vermocht. Überhaupt hätte wohl niemand bis eben an die Existenz einer Instanz geglaubt, die das vermag. Das Tier, das die Welt anhält! Und wer genau ist es?
Eine Chinesische Hufeisennase, Rhinolophus sinicus, vermutlich. Ihr kennt die Hufeisennase, aber wohl mehr die Kleine Hufeisennase. Sie löste 2007 den Baustopp der Dresdner Waldschlößchenbrücke aus. Und heute dürft ihr auf der Dresdner Waldschlößchenbrücke nach Sonnenuntergang nur Tempo 30 fahren, weil es sein könnte, dass dort eine Hufeisennase jagt, und die mag keine Raser. Bisher hat aber noch kein Mensch an der Dresdner Waldschlößchenbrücke eine Kleine Hufeisennase gesehen. Und ihr fahrt trotzdem Tempo 30. Das ist enorm. Die Kleine Hufeisennase wird bis zu 40 Millimeter groß und wiegt wohl gar nichts, zumindest erscheint Wikipedia ihr Gewicht als nicht ins Gewicht fallend, weshalb sie es gar nicht erst angibt. Die Chinesische Hufeisennase dagegen gehört zu den Großen Hufeisennasen, die eine Kopf-Rumpf-Länge von bis zu 110 Millimetern erreichen und bis zu 30 Gramm schwer werden können. 30 Gramm.
30 Gramm, die die Welt veränderten! Vielleicht wog sie auch nur 20. Und die traf wohl auf das falsche Schuppentier. Das wäre die Fischmarkt-Theorie. Auf dem Wuhaner Fischmarkt werden auch Wildtier-Delikatessen verkauft, bestimmt auch tote Ratte. In China gelten wir als Delikatesse. Während der Tang-Dynastie (618–907 n. Chr.) hat man uns als »Hauswild« bezeichnet. Schon gut, es geht hier nicht um mich, kulinarisch Interessierte lesen einfach im Kapitel »Der sechste Sinn oder Schmecken lernen« weiter. Gegen die Wuhaner Fisch-Wildtiermarkt-Hypothese spricht allerdings, dass die ersten nachweislich Infizierten gar keinen Kontakt zu dem Markt hatten.
Ich könnte Ihnen jetzt etwas über die Wuhaner Virologie-Professorin Zhengli Shi erzählen, die noch Anfang Februar des letzten Jahres einen Fachartikel in Nature veröffentlicht hatte: über die Übertragung von Fledermaus-Coronaviren auf Schweine! Faustregel: Was Schweine bekommen können, könnt auch ihr bekommen.
2011 hatte sie gemeinsam mit ausländischen Kollegen in südchinesischen Karsthöhlen Exkremente der Großen Hufeisennase gesammelt und in 117 Speichel- und Kotproben 27 bisher völlig unbekannte Viren entdeckt, die dem bereits bekannten SARS-Virus nicht unähnlich waren. Zhengli Shi weiß auch, wie SARS-ähnliche Viren an menschliche ACE2-Rezeptoren andocken, denn sie haben Protein-»Zacken« auf ihrer Corona-»Krone«. Aber mehr werde ich an dieser Stelle nicht sagen, ich kann das auch begründen: Die Fledermaus ist leider keine Maus.
Sie ist ein Urviech, ein Stück Urzeit. Sie flog schon den Dinosauriern um die Nase. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass auch wir auf eine Vorfahrin zurückblicken, die ihnen vor die Füße lief. Das ist die Spitzmaus, ihr werdet sie bald kennenlernen. Die Fledermaus ist das Krankheitsgedächtnis der Erde. Aber leider keine Maus. Darum hatte die Deutsche Gesellschaft für Säugetierkunde bereits 1942 beschlossen, die Fledermaus in »Fleder« umzubenennen.
Das erfuhr jedoch der Mann, der wie kein anderer für den größten Unterschied von Mensch und Tier steht. Denn kein Tier kann seine Art so sehr unterbieten wie der Mensch. Ihr nennt solche Exemplare dann »vertiert« oder »bestialisch«, was ein schwerer kategorialer Irrtum ist. Es ist hier nicht der Ort, ihn angemessen zu korrigieren; was ich sagen wollte, ist: Adolf Hitler erfuhr von dem wackeren Beschluss der Deutschen Gesellschaft für Säugetierkunde, geriet in schweren Zorn und ließ den Professoren mitteilen, wenn sie das wahr machten, stecke er sie allesamt in ein Baubataillon. Und zwar an der Ostfront.
Darum heißt die Fledermaus noch immer Fledermaus. Man sagt ihren Gesichtern eine gewisse Ähnlichkeit mit den unsrigen nach, aber schaut sie doch einmal genau an: Sie besitzen keineswegs unsere Anmut. Wer hat schon eine hufeisenförmige Nase? Sie sind sehr hässlich. Trotzdem werden wir in jeder Zoologie der Hölle im gleichen Atemzug genannt. Vielleicht sollten wir ihr eine Ehrenmitgliedschaft in unserer Familie, also in der Familie der Langschwanzmäuse, anbieten? Natürlich haben auch Fledermäuse einen Schwanz, nur ist er völlig mit Flughaut überzogen.
»Wir müssen sie finden, bevor sie uns finden«, sagte die Fledermaus-Professorin Zhengli Shi. Sie sprach von den vielen noch unentdeckten Viren der Hufeisennase und ihrer Schwestern. Nehmt euch in Acht!
Kehren wir nun zurück zu den Vorteilen, eine Super-Maus, also eine Ratte zu sein.
Ihr hört nichts, ihr schmeckt nichts, ihr riecht nichts. Die meisten Nuancen dieser Welt entgehen euch. Und was hätte mehr Nuancen als der Geruch? Könntet ihr doch nur ein Mal das riechen, was wir riechen! Ich höre euch schon rufen: Um Himmels willen, bloß das nicht! Ihr wisst nicht, was ihr verschmäht.
Nur eure Sprache weiß noch etwas vom Primat der Gerüche. Wenn ihr sagt: Ich kann dich nicht riechen!, so ist das eine ultimative Auskunft. Sie ist unhintergehbar. Als mein Nächster kommst du nicht infrage, heißt das. In der Nase liegt der soziale Sinn, wer – von euch – hätte das gedacht? Wir unterscheiden am Geruch, wer zu uns gehört und wer nicht. Andersriechende bleiben draußen, zumindest ist ihnen das sehr zu empfehlen. Bei euch mag sexuelle Täuschung möglich sein. Ihr seid ungemein interessiert, gebt euch aber äußerlich teilnahmslos. Ihr nennt dieserart Verstellung »Kultur«. Solche Heuchelei ist nur unter fast abgestorbenen Tieren möglich, bei uns riecht ein Mann unfehlbar, welches weibliche Wesen seinen Standpunkt teilt. Er braucht ihr keine Höflichkeiten zu sagen, er muss ihr keine Lieder singen, er riecht das. Und handelt. Ich weiß, ihr seid durch solche Direktheiten nur schwer zu beeindrucken. Ihr haltet all das, womit ihr eure letzten Endes noch immer skandalös naturhafte Geschlechtlichkeit umgeben habt, fast für die Hauptsache, als könnte sie so verschwinden. Was ich dabei verstehe, ist das Prinzip der Verlängerung der Lust. Das ist fürwahr nicht übel. Aber wir wollten übers Riechen sprechen.
Wir riechen, wenn unsere Nächsten Hunger haben. Und dann teilen wir mit ihnen, das machen wir. Die Nase ist ein sehr solidarisches Organ, natürlich nicht bei euch. Wenn ihr riechen könnt, dass es anderen schlecht geht, wendet ihr euch erst recht ab. Ein Obdachloser, sagt ihr, sollte wenigstens gut riechen.
Wir leben in einer Welt aus Gerüchen. Wir sind Nasentiere. In der kleinen Rattennase, die gemessen an unserer Größe ein wahrhaft riesiger Körperteil ist, sitzen über 1000 feinste Rezeptoren. Und das zugehörige Areal in unserem Hirn, da, wo ihr nur ein Rückbildungsaggregat habt, ist aufs Vorteilhafteste entwickelt. Und an dem Jacob’schen Organ, unverzichtbar für die höhere olfaktorische Wahrnehmung, hat die Evolution bei euch auch gespart. Als Föten bekommt ihr es noch, aber schon vor der Geburt ist es wieder weg. Wenn wir aufrecht stehen und unsere Nase in den Wind halten, riechen wir eine Welt. Wir wittern. In eurem Fall hat es die Natur beim Aufrechtstehen belassen.
Wir können spiegelverkehrte Moleküle am Geruch unterscheiden. Zum Beispiel das Molekül Carvon. Einmal riecht es nach Pfefferminze, in spiegelverkehrter Anordnung nach Kümmel. Mag sein, das würden die Begabteren unter euch noch merken. Danach hört aber alles auf, bloß nicht bei uns. Wir riechen jedes Molekül und sein Spiegelbild, und ich kann euch versichern: Da steigen einem vollkommen verschiedene Aromen in die Nase.
Nun werdet ihr sagen, es sei euch schnurzpiepegal, wie die Spiegelbilder irgendwelcher Moleküle riechen, ihr habt über anderes nachzudenken, anderes zu tun. Ich möchte jetzt nicht tendenziös klingen, aber ich weiß schon, was das ist. Es ist nicht so, dass wir keine Bürgerkriege kennen, aber gegen die eigene Art Landminen auszulegen, also gegen Brüder und Schwestern, nur weil ihr sie nicht riechen könnt, das ist schon, sagen wir, ungemein destruktiv. Allein in Mosambik lagen 500 000 davon im Boden. Und was macht ihr damit, wenn der Bürgerkrieg vorbei ist? Ihr habt keine Ahnung. Sie werden eure Kinder noch im Frieden zerreißen, aber das ist euch egal, ihr habt sie trotzdem ausgelegt. Ihr, das einzige Tier, das in die Zukunft schauen kann. Was für eine Gabe! Also, was macht ihr mit euren Minen?
Die Klügsten unter euch engagieren uns, näherhin die Gambia Riesenhamsterratte. Eine Gambia Riesenhamsterratte im Arm zu halten ist ungefähr, als trüge man eine Katze. Mit Schwanz misst sie fast einen Meter. Meine afrikanischen Schwestern werden bis zu 1,5 Kilogramm schwer, die Brüder sogar 2,5 Kilo, aber die sind zu nichts zu gebrauchen. Die suchen keine Minen und kümmern sich nicht um ihren Nachwuchs, beißen die Kleinen manchmal sogar tot und fressen sie dann auf. Antirättische Propaganda sei mir fern, bloß liegt der Feminismus bei uns vielleicht noch näher als bei euch. Ich sage nur: Die Zukunft Afrikas liegt in den Händen der Frau, das gilt für Menschen wie für Ratten!
Natürlich hat man den großen Sympathisanten unseres Volkes, den Niederländer Bart Weetjens, anfangs sehr ausgelacht. Minen suchen mit Ratten? Es gibt Spürhunde, aber doch keine Spürratten. Bart hatte mit neun Jahren einen Goldhamster geschenkt bekommen und in der Folgezeit seinen Ehrgeiz dareingesetzt, den gesamten Nagetierkosmos in seinem Kinderzimmer zu beheimaten. Also auch uns. Vielleicht wollte er wiedergutmachen, dass Noah uns nicht mit auf die Arche genommen hatte. Der Autor Günter Grass hat das einmal recherchiert. Alle durften auf die Arche, vielleicht sogar Kreuzspinnen und Würmer, nur die Ratten nicht. Noah ekelte sich vor uns, sagt Grass.
Natürlich förderte die Bevölkerungsexplosion in Bart Weetjens Kinderzimmer nicht die diplomatischen Beziehungen zu seinen Eltern, aber der Junge hielt stand. Manchmal trug er unsere Kinder in die nächste Zoohandlung, um viele weitere Kinderzimmer-Archen zu füllen. Ich empfehle das Beispiel des Bart Weetjens unbedingt zur Nachahmung!
Wahrscheinlich war selbst für Barts Eltern bei der Gambia Riesenhamsterratte Schluss, doch was zählte, war: Er vertraute uns. Er wusste, was wir können. Im September 2020 ist die erste Ratte der Welt mit dem britischen Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden. Sie heißt Magawa und trägt nun diese Medaille ganz aus Gold am blauen Band um ihren Hals, manchmal. Der Orden ist das Äquivalent zum Victoria-Kreuz für britische Soldaten. Bisher haben meist Hunde und Polizeipferde diese höchste Auszeichnung bekommen, auch rasende Brieftauben, diese fliegenden Nachrichtendienste. Und nun Magawa.
Das ist die Vorgeschichte: Wir riechen zehn Billiardstel Gramm TNT, also 0,000 000 000 000 01 Gramm pro Liter Luft! So arbeitet ein Sinnesorgan, das seinen Namen verdient. Für 100 QuadratmeterLand brauchen wir eine halbe Stunde, ihr wärt zwei Tage lang beschäftigt, und was die Entlohnung angeht: Wir machen das für einen Apfel und ein Ei, aber lieber noch für ein Stück Avocado. Banane geht auch. Weetjens gab seinem Projekt den respektvollen, zärtlichen Namen: HeroRATS. Er weiß wirklich viel von uns. Auch, dass wir Routineaufgaben sehr mögen.
Ausgebildet wurden meine größeren Schwestern auf der Sokoine-Universität in Tansania. Das Studium samt Praktika dauert sechs bis acht Monate. Die ersten elf Ratten erhielten 2004 ihre Akkreditierung als offizielle Minensucher nach den International Mine Action Standards. Nur wer nie einen Fehler machte, wurde zugelassen. Solche Maßstäbe sollte man mal an euch anlegen! Aber hier kommt es auf Präzision an.
Riesenhamsterratten haben unglaublich große Backentaschen, die zudem um ein Vielfaches dehnbar sind, sodass sie ganze Einkäufe darin forttragen könnten. Aber der Sprengstoff kommt da nicht rein. Für Kamikaze-Einsätze sind sie zu gut ausgebildet. Wenn meine Schwestern eine Mine finden, beginnen sie laut zu scharren, und die Mine wird dann von ihren hominiden Assistenten entschärft. Heute gilt Mosambik als landminenfrei. Inzwischen sind wir nicht nur in anderen afrikanischen Ländern, sondern auch in Asien im Einsatz. Magawa mit dem Tapferkeitsorden in Gold kommt aus Tansania, sie hat in Kambodscha 39 Landminen aufgespürt und 28 nicht explodierte Sprengkörper.
Und das ist erst der Anfang. Wir ersetzen euch. Wisst ihr, wie lange ein herkömmlicher Laborant für die Untersuchung von Tbc-Speichelproben braucht? Er schafft 20 am Tag. So bekommt ihr die Tuberkulose nie in den Griff. Wir beschnüffeln in einer halben Stunde etwa 120 bis 130 Proben. Und riechen den Tbc-Erreger immer. Wir sind die medizinisch-technischen Assistenten der Zukunft.
Natürlich konntet auch ihr einmal besser riechen. Aber die Evolution hat 40 Prozent eurer Riech-Gene im Lauf der Evolution wieder eliminiert. Die arbeiten, die denken, die müssen nichts riechen. Die Evolution war schon ziemlich gemein zu euch.
Eure Gehirne schrumpfen auch, habt ihr das gewusst? Ihr glaubt mir nicht? Ich zitiere eure Experten: »Überraschenderweise ergab eine Analyse von Schädeln unserer Vorfahren, die vor fünftausend Jahren lebten, dass das menschliche Gehirn seither um etwa 10 Prozent geschrumpft ist.«[9] Natürlich stellten eure Sachverständigen mit notdürftig unterdrückter Panik auch die nächstliegende Frage: Warum? Und antworteten: »Vielleicht können wir uns in großen Gesellschaften, anders als unter Jägern und Sammlern, in mehr Dingen auf andere verlassen und unser Verhalten stärker spezialisieren, sodass wir unsere Gehirne nicht mehr so sehr brauchen«, erklärte der Anthropologe John Hawks.[10] Ich darf den Anthropologen korrigieren: Eure Hirne schrumpfen schon viel länger!
Das hättet ihr nicht vermutet, dass die Steinzeitmenschen klüger waren als ihr? Ihr Haustiere! Ihr ruht in der Hängematte eurer Gattungsintelligenz und haltet euch für den Sinn der Erde. Haustiere haben immer kleinere Gehirne als ihre wilden Verwandten, weshalb Laborratten auch dümmer sind als Kanalratten.
Eigentlich warte ich schon lange auf die Frage, wie wir es bei solch empfindlichem, leicht zu beleidigendem Geruchssinn denn wohl in eurer Kanalisation aushalten. Das ist so: Wo ihr in eurer nasalen Einfalt nur Stoffwechsel-Endprodukte riecht, nehmen wir ein ganzes Universum von Ingredienzien wahr, die diesen Prozess noch lange nicht durchlaufen haben. Jedenfalls nicht ganz. Zumindest noch nicht bis zum Schluss.
Was ihr alles in der Toilette entsorgt! Ein Blick auf das Haltbarkeitsdatum, und ihr dreht durch. Die Fäkalverpackung ist in der Tat indiskutabel, aber was für Funde sind darin zu machen! Ihr wisst: Kein süßer Kern ohne bittere Schale.
Die Ost-West-Teilung ist übrigens auch nichts, was ihr exklusiv habt. Nicht die Ost-West-Teilung und nicht die Wiedervereinigung. Und zwar genau dort, wo auch die eure stattfand. Ich überlasse an dieser Stelle die Bühne den Mäusen. Wir sind näher mit den Hausmäusen verwandt als eine Hausmaus mit der Feldmaus. Die Mäuse gehören zu uns. Und manchmal haben sogar die Kleinsten eine Geschichte zu erzählen.
Sie waren ein Volk, sie waren Brüder und Schwestern. Sie schliefen zusammen, sie fraßen zusammen. Bis zur großen Teilung. Die einen schauten fortan nach Westen, die anderen nach Osten. So wie die deutsche Nation zerfiel einst auch das große alte Kulturvolk der Hausmäuse, Mus musculus, in die Westmäuse und die Ostmäuse, die Mus musculus musculus und die Mus musculus domesticus.
»Migration gibt es nicht nur beim Menschen«, erläutert Juniorprofessor Emanuel Heitlinger. Mitsamt den daraus erwachsenden kulturellen Unterschieden, könnte er hinzufügen, vor allem den Ost-West-Differenzen.
Emanuel Heitlinger widmet sein noch junges Forscherleben der Frage, wie wieder zusammenwächst, was schon längst nicht mehr zusammengehört, Ostmäuse und Westmäuse. In quer gestreiftem Pullover, einem textilen Verzicht auf professorale Würde, sitzt der Grundlagenforscher zwischen den Bänken im großen leeren Hörsaal des Instituts für Molekulare Parasitologie der Humboldt-Universität zu Berlin, leicht zurückgelehnt wie jemand, der sich auf eine große Tradition verlassen darf. Rudolf Virchow hat das frühere Pathologische Institut der Tiermedizin auf dem Gelände der Charité errichten lassen. Mag sein, schon dieser Begründer der modernen Medizin hat in diesem Raum vorgetragen, aber mit dem großen Ost-West-Schisma der Hausmäuse hat der Entdecker der Trichinen-Infektion sich wohl nie befasst. Und mit der Mäusemauer auch nicht.
Die Mäusemauer verläuft mitten durch Brandenburg. Sie trennt die Ostmäuse von den Westmäusen. Aber Heitlinger würde nie »Mäusemauer« sagen, und nein, es ist mehr ein Streifen, ein Mauerstreifen eben. Aber dessen Breite übertrifft die kühnsten Planungen der DDR-Grenzsicherung. Er ist 20 Kilometer tief. Jenseits davon gibt es im Osten nur noch die Mus musculus musculus und im Westen die Mus musculus domesticus.
Heitlinger nennt diese innerdeutsche Grenze vorzugsweise die »Hausmaus-Hybridzone«. Und statt Maus sagt er auch »Schadnager«. Seine ganze Teilnahme gilt dem einzigartigen Raum, in dem die Schadnager West den Schadnagern Ost begegnen. Vielleicht versteht man die Einzigartigkeit dieses von der Natur selbst veranstalteten Versuchs nur, wenn man weiß, dass es weltweit bloß diese beiden Gattungen gibt, Mus musculus musculus und Mus musculus domesticus. Und die Mus musculus castaneus natürlich, die asiatische Hausmaus, unterbricht der Professor, wobei sein mit leiser Geringschätzung kontaminierter Tonfall verrät, dass er Mus musculus castaneus nur der Vollständigkeit halber erwähnt und dass sie nicht weiter in Betracht kommt, schon gar nicht global.
Eine Nicht-Migrantin, eine vormoderne stationäre Lebensform. Alle Hausmäuse kommen ursprünglich aus Asien, wahrscheinlich aus Indien, aber sie ist die Einzige, die zu Hause geblieben ist. So weit kann mangelnder Ehrgeiz führen. Andererseits konnte sie die Grundentscheidung ihres Lebens gut begründen: Sie ist eine Hausmaus und keine Wanderratte, ein Haus aber vagabundiert nicht umher, es ist eine i-mobilie, dadurch wird es definiert, genauso wie die zugehörige Maus.
Ihre Brüder und Schwestern aber haben es inzwischen um die ganze Welt geschafft. Ohne die Stimme zu heben oder in die Tiefen des Bedeutsamen abzusenken, beantwortet Heitlinger auch die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem die künftigen Westmäuse den werdenden Ostmäusen wohl zum letzten Mal ins Auge sahen und von der indischen Stationär-Maus Abschied nahmen. »Das dürfte so vor 500 000 Jahren gewesen sein«, sagt Heitlinger kühl. Er ist Evolutionsbiologe, Grundlagenforscher, für ihn zählt eine halbe Million Jahre zu den eher überschaubaren Zeiträumen.
Und nun, nach 500 000 Jahren, begegnen sich die getrennten Brüder und Schwestern wieder, und wir dürfen dabei sein! Wie die meisten Begegnungen bei Mann und Maus bleibt auch diese nicht folgenlos: Ostmäuse und Westmäuse bekommen Kinder, die Hausmaus-Hybriden, die legitime Bevölkerung der Hausmaus-Hybridzone also. Für mehr biologische Diversität! Vermischt euch! Alle Mäuse werden Brüder*innen!
Aber schon vor der ersten Frage ist an Heitlingers Gesichtsausdruck ablesbar, dass etwas nicht stimmt mit dieser dritten Art, die eigentlich Anlass geben sollte zum Optimismus.
Wenn Evolutionstheoretiker reden, geht es fast immer um Sex, und sie beginnen fast nie mit dem Geschlechtsleben der Blumen, aber Heitlinger macht es. »Nehmen Sie die Primel«, beginnt er, »in Schottland gibt es Wiesen mit einer wilden Hybridprimel«, die stammt aus der Begegnung zweier Primeln, die noch nie zuvor zusammentrafen. »Ich glaube, die blühen zwar noch …«, sagt Heitlinger, um den Satz dann so abrupt zu beenden wie die Hybridprimel ihre Fruchtbarkeit. Oder nehmen wir die Drosophila melanogaster aus der Ordnung der Zweiflügler, besser bekannt als gemeine Fruchtfliege.
Neben der schottischen Primelhybridzone gibt es auch eine Fruchtfliegenhybridzone. Auch die Fruchtfliegenhybriden bilden tendenziell eine Sackgasse der Evolution. Heitlingers ernster Forscherblick geht in die kahlen Äste vor den hohen Hörsaalfenstern. »Was die totale Fitness angeht, sind die Hausmaus-Hybriden der Ostmaus und der Westmaus klar unterlegen.« Hauptfaktor der Darwin’schen Fitness ist die Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen. Und eben das ist nicht die Stärke der Hausmaus-Hybriden.
Auch im Fall der Gattung Homo sapienssapiens haben sich nach der langen, vierzigjährigen Trennung die Subspecies nur sehr zurückhaltend vermischt, wobei die Männer Ost fast chancenlos waren. Altbundesdeutsche Frauen zogen wohl eher unbewusst Parallelen zur östlichen Hausmaus, von der die Plattform »Planet Wissen« behauptet: »Je weiter östlich die Tiere leben, desto eher haben sie sich ihre wilde, steppennahe Lebensweise bewahrt.« Solche Leute will niemand im eigenen Haus haben. Außerdem tendierten Ostmänner zu einer mehr stationären Lebensform, während die jungen Ostfrauen offen zur Migration neigten und gen Westen zogen. Ostfrauen hatten in der Regel keine Probleme, einen Partner zu finden. Was bei den Männern Skepsis erregte, galt bei ihnen tendenziell als Vorteil. Statt »steppennah« hieß es jetzt »natürlich«.
Andererseits scheinen vielen die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West bis heute zu groß für einen dauerhaft gemeinsamen Lebensraum, gar unter demselben Dach. Wenn Ostler Latte macchiato trinken, kann es vorkommen, dass sie den Löffel ablecken. Nicht wenn keiner guckt, sondern in aller Öffentlichkeit. »Steppennahe Lebensweise« der verstörendsten Art. Und dazu die Sprache.
Emanuel Heitlinger will sich zu den kulturellen Unterschieden zwischen Mus musculus musculus und Mus musculus domesticus nicht äußern. Es ist nicht sein Forschungsgebiet. Ohnehin sagt er nach jedem dritten Satz: »Das muss ich erst noch verifizieren.« Es klingt so wunderbar gewissenhaft und keinesfalls so steppennah wie: »Das muss ich erst noch googeln!«
Aber zum Äußeren kann der Professor einiges sagen. Ostmäuse sind natürlich viel schöner als Westmäuse, aber nein, so würde er das niemals formulieren. Ein wissenschaftliches Urteil ist kein ästhetisches Urteil. Westmäuse neigen zum Monochromatischen. Sie sind grau, näherhin mausgrau. Sie sind von vorn mausgrau, von hinten mausgrau und von oben und unten auch. Ganz anders die östliche Hausmaus: »Ihre Rücken sind öfter braun, ihre Bäuche deutlich heller, manchmal fast weiß.« Mausgrau kommt natürlich auch vor. Die westliche Hausmaus ist etwas größer als die östliche Hausmaus.
Und der Laie weiß auch, warum: Westmäuse bevorzugten schon immer das Leben in der Vollkomfortzone, sie mussten sich nie durchbeißen wie ihre Brüder und Schwestern im Osten.