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Lisa kommt 1807 im von Franzosen besetzten Gelnhausen an und trifft auf ihre große Liebe Jonas Faust. Doch dunkle Geheimnisse im Hexenturm, von den Gelnhäusern 'Fratzenstein' genannt, und eine mysteriöse Mordserie zehren an einer harmonischen Zweisamkeit der beiden. Zudem wird Lisas plötzliches Erscheinen in der Stadt kritisch beäugt und schon bald wird sie als Hexe bezichtigt. Auch der undurchsichtige Georg Helmstetter, den Lisa als den berüchtigten Räuber Raben-Stephan kennt, ist nicht der, der er zu sein scheint. Und dann erscheint Lisa auch noch eine unheimliche Frau, die ein schwierig zu lösendes Rätsel umgibt. Ein Rätsel, das Lisas Leben für immer verändern wird ... "Fratzenstein" ist der dritte Teil und damit der Abschlussband der historischen Kinzigtal-Trilogie von Tanja Bruske nach Band 1 "Leuchte" und Band 2 "Tod am Teufelsloch".
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Seitenzahl: 461
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Gelnhausen steht im Jahre 1807 unter französischer Besatzung. Hier trifft Lisa unverhofft auf ihre große Liebe Jonas Faust - und ebenso auf den Mann, den sie als den mysteriösen Spessart-Räuber Raben-Stephan kennengelernt hat. Doch nicht nur er scheint der Beziehung zwischen Lisa und Jonas im Weg zu stehen: Faust hat seit ihrer letzten Begegnung vor 15 Jahren geheiratet und ist Vater geworden. Außerdem tauchen weitere „alte Bekannte“ auf, die Lisa nicht gerade freundlich gesonnen sind.
Während Lisa noch darum kämpft, sich wieder Jonas anzunähern, hat sie plötzlich seltsame Visionen von einer Frau in Weiß. Bald begreift sie, dass es sich um Elisabeth Strupp handelt, die 1589 in Gelnhausen wegen Hexerei hingerichtet wurde – und die sie zu mysteriösen Briefen mit Botschaften führt.
Zu allem Überfluss setzt sich auch noch die Mordserie fort, die bereits am Teufelsloch begonnen hatte, und Lisa wird als Hexe bezichtigt. Denn sie stand mit allen Opfern in Kontakt …
Tanja Bruske wuchs in Marköbel (Hessen) auf und lebt dort heute mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern. Sie studierte Germanistik und Theater-, Film und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt und arbeitet heute als Redakteurin bei der Gelnhäuser Neuen Zeitung. 2007 erschien ihr erster Roman „Das ewige Lied“ und gewann beim Wettbewerb „Hessens verheißungsvollstes Manuskript“ des Radiosenders FFH (als Taschenbuch bei mainbook 2016). In den Folgejahren veröffentlichte die Autorin einige Theaterstücke und unter ihrem Pseudonym Lucy Guth mehrere Bände der Reihe Maddrax (Bastei). Weitere Veröffentlichungen bei mainbook: „Leuchte“ und „Tod am Teufelsloch“ (Kinzigtal-Trilogie – Band 1 + 2)
von Tanja Bruske
Kinzigtal-Trilogie – Band 3:Ein historischer Mystery-Roman
Für Mia und Maxi – meine beiden Wunder.
eISBN 978-3-946413-55-4
Copyright © 2017 mainbook VerlagAlle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd FischerLayout: Olaf TischerCovermotive: © Simone Grünewald, Leitung Kultur und Tourismus, Museum, Gelnhausen
Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de
Das Buch
Die Autorin
1 Reichsstadt
2 Faust
3 Ein alter Bekannter
4 Erwachen
5 Beobachtet
6 Pläne
7 Hochzeit
8 Hochzeitsnacht
9 Hageltag
10 Duell
11 Intrigen
12 Konfrontationen
13 Tod
14 Entdeckungen
15 Sorgen
16 Streit
17 Chewra Kadischa
18 Laennec
19 Geisterstunde
20 Auf der Suche
21 Geheimrat
22 Auf dem Fratzenstein
23 Neues Leben
24 Geständnisse
25 Erlösung
26 Kaiserpfalz
27 Georgius Sabellicus
28 Geister
29 Im Feuer
Epilog
Dichtung und Wahrheit
Danksagung
Stadtplan von Gelnhausen
Die Sonne war gerade erst über den Horizont gestiegen, doch sie brannte bereits heiß auf die Dächer herab. Ein Gewirr aus deutschen und französischen Vokabeln hallte zwischen den Häusern, Karren verschiedener Größe rumpelten über die lehmigen Straßen, durch die der Geruch von menschlichen Ausdünstungen und tierischen Hinterlassenschaften wehte.
Es war der 13. August, als Lisa das obere Holztor der ehemaligen Reichsstadt Gelnhausen durchschritt und sich inmitten dieses Getümmels wiederfand. Der 13. August 1807, um genau zu sein. Das hatte sie gerade von einem Waldarbeiter erfahren, dem sie vor der Stadt begegnet war. Dabei hatte sie schon zuvor geahnt, dass etwas nicht normal war: Rund um das Stadttor, das den Weg nach Büdingen markierte, wimmelte es von Soldaten in französischen Uniformen. Das hätte es eigentlich nicht in dieser Zahl und mit dieser Selbstverständlichkeit geben dürfen – zumindest nicht in dem Jahr, in dem sich Lisa noch wenige Stunden zuvor befunden hatte. 1791 waren noch keine Franzosen im Kinzigtal an der Tagesordnung. Selbst, wenn Lisa an den Worten des Waldarbeiters gezweifelt hätte – und warum hätte er sie anlügen sollen? – dieses Bild hätte sie endgültig überzeugt.
Was nicht hieß, dass sie nicht trotzdem an ihrem Verstand zweifelte.
Eigentlich sollte ich doch langsam daran gewöhnt sein, dachte Lisa resigniert und wich einem Ochsenkarren aus, der fast die gesamte Straßenbreite benötigte. Er war voll mit braunen Säcken beladen. Auf dem Bock saß ein ordentlich gekleideter Bürger, der vielleicht im benachbarten Büdingen Handel treiben wollte – auch wenn die Stadt und ihre Einwohner in keinem guten Ruf standen.
Aber kann man sich an so etwas überhaupt gewöhnen?, führte sie den Gedanken fort, indem sie über einen dampfenden Fladen stieg, den einer der Ochsen auf der gepflasterten Straße zurückgelassen hatte. Drei Mal war sie bereits zuvor auf ihr unbekannten Pfaden durch die Zeit gereist, hatte über 200 Jahre überbrückt. Beim ersten Mal war sie im Jahr 1792 aufgetaucht, war Zeuge von Mord, Verrat und einer Hinrichtung geworden, hatte sich verliebt – nein, an Doktor Jonas Faust wollte sie nun gerade nicht denken. Beim zweiten Mal hatte sie, wieder unfreiwillig, die Heimreise in ihre Zeit angetreten. Beim dritten Mal, 16 Jahre später, hatte es sie erneut in die Vergangenheit verschlagen – ins Jahr 1791.
Lisa hatte sich schon einige Male gefragt, ob ein kosmischer Kobold dahinter steckte. Es musste wohl so sein. Warum sonst sollte sie ein Jahr vor ihrem ersten Besuch herauskommen? Zu einem Zeitpunkt, an dem Faust sie nicht nur nicht kannte, sondern zudem in eine andere Frau verliebt war – jene Frau, die zu Lisas Freundin wurde, und deren Tod sie am Ende nicht hatte verhindern können.
Lisa schüttelte die Gedanken an die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht ab.
Nein, es ist ja gar nicht in der vergangenen Nacht geschehen, dachte sie mit einem Anflug von Hysterie. Es war am 27. Juni 1791 gewesen. Vor 16 Jahren also. Offensichtlich hatte sie es noch einmal geschafft und dieses Mal nicht nur Zeit, sondern auch Raum überwunden – wie sonst war sie vom Teufelsloch bei Steinau in einen alten Steinbruch bei Gelnhausen geraten?
„Passt doch auf!“, keifte eine krächzende Stimme.
Erschrocken erkannte Lisa, dass sie, in Gedanken versunken, beinahe eine alte Frau umgerannt hätte, die ihr mit einem Weidenkorb auf dem Rücken entgegen kam.
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte sie verstört. Die Frau war bucklig, dreckig und sie stank, doch sie maß Lisa mit Blicken, die eigentlich für einen Floh-bewohnten Straßenköter reserviert sein sollten. Lisa sah an sich herunter und wurde rot. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie sie nach den Abenteuern der Nacht aussah: Ihr Rock war verdreckt und zerrissen, das Jäckchen ebenso, und die Chemise darunter war längst mehr grau als weiß. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, denn ihre Haube hatte sie irgendwann verloren – war es im Teufelsloch gewesen oder auf der Flucht vor dem verrückten Fritz? Sie wusste es nicht mehr. Ihre Arme waren dreckverschmiert, und sie nahm an, dass ihr Gesicht ebenso aussehen musste. Alles in allem bot sie mit Sicherheit einen erbärmlichen Anblick. Jetzt, wo sie sich dessen bewusst wurde, bemerkte sie auch die teils angewiderten, teils mitleidigen Blicke der anderen Passanten.
Eine Welle der Scham überspülte Lisa. Kein Wunder, dass alle sie für eine Bettlerin hielten.
Eigentlich bin ich ja eine, ging ihr auf. Sie besaß nichts als das, was sie am Leib trug. Wie sollte sie in dieser fremden Stadt, in dieser fremden Zeit, überleben?
Andererseits war sie bereits zwei Mal in ähnlichen Situationen gewesen: Beim letzten Mal war es nur Ruth und ihrer Familie zu verdanken gewesen, dass sie so schnell Fuß gefasst hatte. Und beim ersten Mal war sie… nun ja, sozusagen Faust ins Haus gefallen und dann einfach dort geblieben.
Dieses Mal war ihre Lage anders: Sie war allein. Sie war allerdings auch keine 20 mehr, sondern 35 Jahre und studierte Historikerin. Lisa straffte sich bei diesem Gedanken. Sie würde hier zurechtkommen. Wenn sie diese Straße weiterging, erreichte sie den Obermarkt, und in unmittelbarer Nähe lag der Untermarkt – dort würde sie sich nach einer Anstellung umsehen. Erfahrung hatte sie mittlerweile genug – vor allem durch die vergangenen Monate, dachte sie und nahm ihren Weg wieder auf. Als Magd im Steinauer Amtshaus war sie in der Küche und in den Ställen eingesetzt worden, auch wenn ihre vorrangige Aufgabe bei den Kindern lag.
Als sie an die Grimm-Kinder dachte, wurde Lisa das Herz schwer.
Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, mich richtig zu verabschieden, dachte sie traurig. Natürlich wusste sie, dass es ihnen gut ging: Jakob und Wilhelm standen jetzt am Beginn einer großen wissenschaftlichen Karriere, der kleine Ludwig, den sie noch am Vortag auf dem Arm durch das Amtshaus getragen hatte, würde seinen erfolgreichen Weg als Maler machen. Auch Carl Friedrich und Ferdinand Philipp würden ihren Weg gehen. Unwillkürlich dachte Lisa auch an das Neugeborene, das, ihrer Erinnerung nach, kaum ein Jahr alt geworden war. Aber Dorothea Grimm hatte später noch ein kleines Mädchen bekommen. Vielleicht tröstete sie die kleine Charlotte über den Verlust ihres Mannes hinweg – denn der Amtmann, der stets gut zu Lisa gewesen war, war mittlerweile auch gestorben.
Zumindest, wenn Lisa den Lauf der Geschichte nicht verändert hatte und alles so geblieben war, wie es in den Geschichtsbüchern stand. Was, wie sie sich selbst eingestehen musste, doch etwas zweifelhaft war, angesichts der vielen Abenteuer, durch die sie gestolpert war.
Gerade, als sie das Ende der Straße erreichte, die auf den oberen Markt mündete, fiel ihr etwas ein. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihr wurde kalt. Und was ist mit dem Raben-Stephan geschehen? Der geheimnisvolle Räuber, der sie bedroht, entführt, gerettet und geküsst hatte – war er doch noch erwischt, zum Tode verurteilt und hingerichtet worden? Georg – sein wirklicher Name war Georg, erinnerte sich Lisa. Das Geheimnis seines Namens war das Letzte, was der Räuber ihr verraten hatte.
Versunken in die Erinnerung an die verwirrende Wirkung, die der Räuber auf sie gehabt hatte, betrat Lisa den Markt. Er ist wahrscheinlich tot, rief sie sich in Erinnerung. Faust hingegen – ja, was war mit Faust? War er vor 14 Jahren im Wald von Marköbel ebenfalls gestorben? Und wenn nicht, wo war er heute? Immer noch in Marköbel? Das Dorf lag nicht weit weg – Lisa konnte dorthin reisen und ihn suchen. Aber ob er nach so langer Zeit noch immer dort sein würde? Vielleicht hatte er sich auch mit seiner Familie versöhnt und war zu ihr zurückgekehrt. Oder er ist sonst wo gelandet, dachte Lisa bitter. Immerhin wäre er jetzt frei für sie. Ruth war tot – schon wieder.
Ihre düsteren Gedanken wurden von hundert Düften davon geweht. Der Obere Markt war der Umschlagplatz für all diejenigen, die auf der Handelsstraße von Frankfurt nach Leipzig unterwegs waren. Schon kurz nach dem Öffnen der Stadttore rumpelten hier hochbeladene Wagen vorbei, auf denen Lisa die unterschiedlichsten Waren erspähte. Einige Händler hatten ihre Stände bereits aufgeschlagen – vielleicht waren sie schon seit ein paar Tagen in der Stadt, denn das Gesetz sah vor, dass jeder durchreisende Händler mindestens drei Tage in Gelnhausen bleiben musste.
Es war zugegebenermaßen ein altes Gesetz, das noch von Kaiser Barbarossa stammte, der als Stadtgründer galt. Lisa wusste nicht, ob es noch in Kraft war – mit Ankunft der Franzosen, deren blaue Uniformen aus der Masse der Menschen herausleuchtenden, hatte sich einiges geändert. Stichworte wie „Reichsdeputationshauptschluss“ und „Code civil“ schossen Lisa durch den Kopf. Doch sie hatte nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Das Geschehen um sie herum nahm sie zu sehr gefangen.
Viele Jahre lang war Lisa als Stadtführerin in Gelnhausen unterwegs gewesen, bei den reich kostümierten Erlebnisführungen genauso wie bei den Themenführungen. Sie hatte unzählige Male darüber gesprochen, welche Bedeutung der Obere Markt für die ehemalige Reichsstadt und ihre Bürger hatte. Doch es war etwas vollkommen anderes, plötzlich mitten im Geschehen zu stehen. Lisa sah bunte Stoffe, roch orientalische Gewürze, hörte Feilschende mit unverkennbarem Akzent – italienisch, französisch, holländisch und natürlich das allgegenwärtige hessisch. Während zahlreicher Mittelaltermärkte, die in Gelnhausen zu verschiedenen Anlässen stattfanden – nicht nur zur Feier der Stadtrechtsverleihung alle fünf Jahre – hatte Lisa beobachtet, wie die Menschen ihrer Zeit versucht hatten, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Sie hatte es zwar immer geahnt, aber nun wusste sie mit Sicherheit: Das war niemals gelungen. Diese Realität hier war viel plastischer, viel… klebriger, als alles, was man nachspielen konnte.
„Steh nicht im Weg herum“, herrschte ein feister Knecht Lisa an, weil sie ihm und seinem mit Mehlsäcken beladenen Handkarren den Weg blockierte. Erschrocken wich Lisa aus. Sie war derartig fasziniert gewesen, dass sie minutenlang mit offenem Mund dagestanden und um sich gestarrt hatte.
Ich bin der Inbegriff eines Landeis, dachte Lisa halb verärgert, halb amüsiert, als ihr dazu ihr Aufzug einfiel.
Rein architektonisch sah der Marktplatz fast schon so aus, wie sie ihn kannte: Unten wurde er vom Rathaus mit seinen rundbogigen, großen Toren begrenzt, seitlich von den alten Häusern, deren schmuckes Fachwerk der Mode wegen überputzt war. Auf der Westseite stand die ehemalige Peterskirche, jenes glücklose Gebäude, das seit dem 13. Jahrhundert seiner Nutzung als Gotteshaus harrte. Damals hatte der Papst persönlich entschieden, dass der weitere Bau neuer Kirchen in Gelnhausen untersagt wurde. Die Peterskirche wurde nur notdürftig fertiggestellt, diente in Laufe der Jahrhunderte als Lagerraum und während des Siebenjährigen Krieges als Lazarett. Derzeit dürfte sie ungenutzt sein, mutmaßte Lisa. In wenigen Jahren würde sie zu einer Zigarrenfabrik umgebaut. Erst im 20. Jahrhundert sollte sie als Kirche genutzt werden.
Lisa wanderte zwischen den Marktständen umher, kam jedoch rasch zu der Erkenntnis, dass sie hier nicht fündig werden würde bei der Suche nach einer Anstellung: Die meisten Händler waren nicht von hier, und diejenigen, die es sich leisten konnten, mit den Durchreisenden Handel zu treiben, würden wohl kaum eine derartig zerlumpte Gestalt wie sie in ihre Dienste nehmen wollen. Es erschien Lisa deutlich sinnvoller, ihr Glück auf dem Unteren Markt zu versuchen, der als „Markt der Gelnhäuser“ galt.
Allerdings fürchtete sie, auch dort angesichts ihrer Erscheinung nicht optimal auf zukünftige Arbeitgeber zu wirken. Sie wählte also nicht den direkten Weg zum Untermarkt, sondern schlug den Gang durch die Pfarrgasse ein, die mit nur drei Metern die engste Stelle auf der gesamten Strecke der alten Handelsstraße Via Regia markierte – der Meter war zwar derzeit noch nicht erfunden, doch Lisa wusste natürlich, wie wenig Platz die Fuhrwerke hier hatten.
Dahinter erblickte sie die Marienkirche, deren südlicher Turm sich bedenklich zur Seite neigte. Lisa war dieser Anblick fremd. Sie kannte die Türme nur aufrecht gen Himmel weisend – die „fünf Finger Gottes“, wie sie von den Einheimischen genannt wurden.
Wichtiger war ihr im Moment jedoch der kleine Brunnen, der sich gegenüber der Kirche befand. Auf der Straße, die anders verlief, als Lisa es kannte, herrschte zwar Durchgangsverkehr, doch am Brunnen war niemand. Lisa wusch sich rasch, aber gründlich den Schmutz von Armen, Beinen und dem Gesicht. Auch ihre Haare versuchte sie, einigermaßen zu ordnen.
Immerhin würde es nicht allzu sehr auffallen, dass sie keine Haube trug: Bereits auf dem Markt hatte sie bemerkt, dass vor allem die jüngeren Frauen erstaunlich schnell die Vorzüge der französischen Besatzung erkannt hatten und die neueste Empire-Mode trugen: duftige, weit fallende Kleider und eben keine Haube mehr.
Lisa gehörte zwar nicht mehr zu den Jüngsten, doch sie wusste, dass sie dank der modernen Zahnmedizin, gesunder Ernährung und jahrelangem Gebrauch von Feuchtigkeitscremes in dieser Zeit locker als zehn Jahre jünger durchging. 35-Jährige des beginnenden 19. Jahrhunderts waren im günstigsten Fall schon von mehreren Geburten und im schlimmsten Fall von Skorbut gezeichnet. Lisa jedoch besaß noch alle Zähne (und die Keramikplomben fielen dank der weißen Färbung nicht auf). Volles, glattes Haar fiel ihr jetzt, da sie es mit den Fingern durchgekämmt, die schlimmsten Knoten gelöst hatte und ihr Spiegelbild auf dem Wasser betrachtet hatte, dunkel über die Schultern. So ermutigt machte sie sich auf den Weg zum Untermarkt.
Tatsächlich fühlte sie sich gleich wohler, als sie den leicht abschüssigen Marktplatz betrat. Hier boten Marktweiber ihre Ware feil, die beruhigend alltäglich wirkte: Gemüse, Kräuter, Obst und Milchprodukte wechselten den Besitzer. Weiter unten, Richtung Kinzighafen, hatten mehrere Fischhändler ihre Stände aufgeschlagen, und der Geruch wehte zu Lisa herüber. Angesichts der sich anbahnenden Augusthitze würde er bestimmt bald zu Gestank werden.
Es war bei weitem nicht so exotisch wie auf dem Obermarkt, was Lisa Vertrauen einflößte. Hier kauften und verkauften die Gelnhäuser. Wenn jemand eine Magd brauchte, würde er hier zu finden sein – oder zumindest die Information darüber. Marktklatsch war besser als jede Zeitung, das hatte Lisa mittlerweile gelernt.
Zunächst jedoch begann ihr Magen vernehmlich zu knurren, als Lisa zwischen den Ständen herumging. Kein Wunder, sie hatte seit dem Vortag nichts mehr gegessen. Sie fühlte unter ihrer Schürze nach ihrem Beutel. Viel war nicht darin – sie hatte den Großteil ihres Geldes in ihrer Kammer aufbewahrt und nur ein paar Münzen dabei. Ob sie mit denen hier überhaupt noch etwas anfangen konnte? Zumindest einen Apfel würde sie sich wohl leisten können oder ein anderes Stück Obst.
Sie ertastete eine glatte Kupfermünze und ging entschlossen zu einer Händlerin, der bereits zu dieser Vormittagsstunde der Schweiß unter dem Kopftuch hervor lief. Die Münze rief zwar ein erstauntes Gesicht, aber keinen Kommentar hervor, und Lisa bekam einen Apfel und eine Birne.
„Wisst Ihr zufällig, ob in der Stadt jemand eine Magd sucht?“, fragte Lisa vorsichtig, während sie den rotbackigen Apfel entgegen nahm.
Die Händlerin legte den Kopf schief und musterte sie unverhohlen von oben bis unten. Ein Hauch Mitleid überflog ihr Gesicht. „Vielleicht könnt Ihr es außerhalb der Stadt als Erntehelferin versuchen, in Altenhaßlau oder Roth vielleicht“, sagte die Frau zweifelnd. „Ich weiß nicht genau, ob Ihr in der Stadt eine Stellung findet…“
„Ich kann schreiben“, beeilte sich Lisa zu erwähnen. „Und ich habe Kinder gehütet.“
„So? Nun ja, ich wüsste jetzt niemanden, der eine Kindermagd braucht, aber der Cassebeer, der Apotheker der Einhorn-Apotheke, sucht manchmal Schreiber. Ob er auch eine Frau nimmt, weiß ich nicht, aber versuchen könnt Ihr es ja mal.“
Lisa bedankte sich und verzog sich rasch mit ihrer Beute in eine kleine Gasse, die zur Marienkirche hinaufführte – in ihrer Zeit wurde dieser Ort das „Höfchen“ genannt. Dort verschlang sie das süße und saftige Obst in mehreren Bissen. Danach fühlte sie sich allerdings hungriger als zuvor. Sie überlegte, ob sie noch genug unauffällige Münzen zusammenkratzen konnte, um sich mehr zu essen besorgen zu können. Vielleicht sollte sie besser zuerst zur Einhorn-Apotheke gehen – auch wenn ihr etwas schwummerig bei dem Gedanken wurde, auf den Naturforscher Johann Heinrich Cassebeer zu treffen.
So in Gedanken versunken trat sie aus der Gasse zurück auf den Marktplatz – und prallte schmerzhaft mit einem Mann zusammen, der gerade den Berg hinauf hetzte.
„Entschuldigt, ich habe es eilig“, sagte eine Stimme so ungeduldig, dass es nicht wirklich nach einer Entschuldigung klang. Es war eine Stimme, die Lisa sofort wiedererkannte – auch wenn sie sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Ihr Kopf ruckte hoch und sie starrte auf den Rücken des davon hastenden Mannes. Auch wenn sie ihn nur von hinten sah – sie hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt: die schlanke Gestalt, der energische Griff um die Arzttasche, der leicht federnde Gang. Die blonden Haare trug er nun in kurzen Locken geschnitten.
„Jonas!“, stieß Lisa atemlos hervor. Und dann, lauter: „Jonas Faust! Wage es nicht, einfach wegzurennen!“
Die Zeit fror ein. Der blonde Mann, von dem Lisa noch immer nur den Rücken erkennen konnte, blieb wie angewurzelt stehen. Lisa hielt den Atem an. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie welke Blätter im Herbst. Hatte sie sich getäuscht? Was würde Faust sagen, wenn er es wirklich war? Würde er sich freuen? Fünfzehn Jahre waren eine lange Zeit, in der viel passieren konnte. Das kurze Auflodern der Freude, das sie bei seinem Anblick erfasst hatte, wurde abgelöst durch einen Schauer der Furcht vor dem, was er sagen und tun würde.
Endlich drehte er sich um. Sehr langsam, als hätte auch er Angst vor dem, was er vor sich sehen würde. Um sie herum strömten die Marktbesucher und Bewohner der Stadt, doch weder Lisa noch er schenkten ihren Blicken und gemurmelten Verwünschungen Beachtung. Sie beide waren wie zwei Kieselsteine in der Brandung am Strand: Lisa fühlte den Sog der Wellen um sie herum, doch sie rührte sich nicht. Gebannt starrte sie in das Gesicht von Jonas Faust.
Er hatte sich verändert, natürlich. Er war älter geworden, doch er sah nicht alt aus. Vielleicht lag das an der Mode dieser Zeit; dem Empire-Stil folgend trug er einen schlichten Frack mit hohem Kragen und breitem Revers. Er sah jünger aus als die meisten Menschen seiner Zeit und seines Alters. 39 Jahre alt musste er nun sein. Lisa hatte jedes Jahr mitgezählt und sich gefragt, ob er noch lebte. Ob er damals im Wald gestorben war oder in den wirren Zeiten, die folgen sollten. Erleichterung durchflutete sie. Offensichtlich ging es ihm gut. Er war anständig gekleidet, wohlgenährt und sauber. Lisa war in diesem Moment überaus froh, den Umweg zum Brunnen gemacht zu haben. Zwar war ihre Kleidung noch immer verdreckt, doch sie dürfte zumindest nicht mehr wie eine Bettlerin wirken.
Oder doch? Der Ausdruck in seinen blauen Augen, die ihr immer noch tief vertraut waren, war für sie kaum zu durchschauen. In ihnen spiegelte sich Überraschung, Verwirrung, Unglaube – aber sah sie auch Freude darin?
„Jonas?“, wiederholte Lisa leise und mit einem Hauch von Zweifel. Habe ich mich so sehr verändert? Natürlich war auch sie älter geworden. Und gerade die Enttäuschungen der vergangenen Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihre Stimme zitterte leicht vor Anspannung: „Erkennst du mich nicht?“
Eine Sekunde stand Faust dicht vor ihr – so dicht, dass sie seinen Atem in ihrem Gesicht fühlen, die Hitze seines Körpers durch ihre Kleidung hindurch spüren konnte. Neben ihr polterte die Arzttasche zu Boden, die seinen Fingern entglitten war – die selbe schwarze Tasche, die sie so oft für ihn getragen hatte.
Lisa hob den Kopf und forschte in Fausts Gesicht. Er hatte ein paar kleine Fältchen bekommen – nicht viele, aber genug, um den kaum Erwachsenen von damals zu einem Mann zu machen. Unwillkürlich hob Lisa die Hand, weil sie das Bedürfnis hatte, die feinen Linien auf seiner Stirn mit dem Finger zu glätten – es sah ganz so aus, als ob auch hinter Jonas Faust keine einfachen Jahre lagen.
Ehe sie sein Gesicht berühren konnte, schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk. Nicht fest, sondern sanft glitten sie über die zarte Haut, unter der Lisas Blut heftig pulsierte. Tief holte Faust Luft.
„Du bist echt“, stieß er hervor. Seine Stimme klang rau vor Überraschung.
Lisa konnte nicht anders: Sie grinste. „Du wohl auch, wie es aussieht.“
Mit der freien, rechten Hand berührte Faust eine Strähne von Lisas offenen Haaren. „Ich kann es kaum glauben“, flüsterte er. „Wie oft habe ich gedacht, deine Stimme zu hören oder dich irgendwo auf der Straße zu sehen. Und wenn ich mich umdrehte, warst du nicht da, oder die Frau, der ich folgte, war eine andere …“
„Aber jetzt bin ich es. Ich bin es wirklich, Jonas. Ich bin wieder da. Ich habe es geschafft.“ Lisa musste schlucken, weil sie sonst losgeschluchzt hätte. Erst jetzt begriff sie es selbst: Sie hatte es wirklich geschafft.
Unvermittelt packte Fausts Hand fester zu. „Komm mit“, sagte er, griff mit der freien Hand nach der Arzttasche und stürmte los, Lisa hinter sich herziehend. Sie war so überrumpelt, dass sie einfach hinter ihm her stolperte.
Faust zog sie quer über den Untermarkt, durch das Gedränge. Dass er dabei zahlreiche Passanten anrempelte und auch Lisa die ein oder andere Kollision nicht verhindern konnte – was wüste Flüche oder derbe Verwünschungen nach sich zog – störte ihn dabei nicht.
„Wohin gehen wir?“, keuchte Lisa, als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte.
„An einen Ort, an dem wir ungestört sind“, antwortete Faust knapp. Er bog in die Schmidtgasse ab – ob sie zum aktuellen Zeitpunkt schon diesen Namen trug, war Lisa gerade nicht klar – und sie ließen das Marktgedränge hinter sich. Da Faust trotzdem schnellen Schrittes weiter eilte, vereinfachte das die Sache für Lisa nicht: Nun ging es auch noch bergab, und sie musste aufpassen, um nicht zu stolpern.
Das Geburtshaus von Grimmelshausen kam in Sicht – eine der touristischen Attraktionen Gelnhausens, jedoch noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Jetzt war es einfach ein Gasthaus.
Will er mit mir dorthin?, dachte Lisa verwirrt.
Doch da wechselte Faust erneut die Richtung und schlug einen Bogen nach links. Nachdem sie einige Häuser passiert hatten, wich die Bebauung rechts von ihnen zurück. Dort erhob sich am Hang etwas unterhalb der Straße ein runder Turm, dessen kegelförmiges Dach eine kleine Kugel krönte. Eine hölzerne Treppe führte zu einer Tür hinauf.
Unwillkürlich überlief Lisa ein Schauder: der Fratzenstein. Der ehemalige Hexenturm Gelnhausens wurde schon seit langem nicht mehr zu diesem Zweck genutzt und war auch ursprünglich aus einem völlig anderen Grund erbaut worden – nämlich als Pulverturm und als Teil der Stadtbefestigung, wenn auch nicht in ihrem Verbund. Trotzdem war Lisa beim Anblick des Turmes stets unwohl. Erst recht jetzt, wo die blutige Historie des Turmes nicht lange zurücklag und obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht Hexenturm genannt wurde.
Ausgerechnet gegenüber des Fratzensteins hielt Faust an und zog sie unter den Türsturz eines Hauses. Es war ein im Erdgeschoss verputztes, in den oberen Stockwerken verschindeltes Gebäude mittlerer Größe. Lisa war außer Atem und brauchte einige Sekunden, um den Blick vom Hexenturm zu lösen. „Und jetzt?“, keuchte sie.
Statt einer Antwort stellte Faust die Tasche ab, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, zog sie zu sich heran und küsste sie lange und intensiv. Als er sich von ihr löste, war Lisa nicht weniger außer Atem als zuvor und rot wie eine Pfingstrose. Sie lehnte sich gegen den Türsturz.
„Wow“, sagte sie. „Du verlierst keine Zeit, was? Wie wäre es erst einmal mit: Hallo, schön dich zu sehen. Wie ist es dir ergangen?“
Faust stützte seine Hände links und rechts von ihrem Kopf ab und sah ihr in die Augen. Er war ebenfalls atemlos. „Hallo, schön dich zu sehen. Wie ist es dir ergangen?“
Lisa packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich herab, um ihn ihrerseits gründlich zu küssen. Es fühlte sich so gut an, so vertraut. Es war, wie nach Hause zu kommen. Als habe es die Jahre, die zwischen ihnen lagen, nie gegeben.
„Danke der Nachfrage“, sagte sie, als sie von ihm abließ. „Es war etwas schwierig, zurückzukehren, deswegen auch meine Verspätung …“
Faust warf einen Blick über die Schulter. Dann stieß er die Tür des Hauses auf und zog Lisa hinein. Sie warf einen Blick auf die Straße. Sie war menschenleer. Doch auf der anderen Seite meinte sie, aus den Augenwinkeln auf dem Rasen vor dem Hexenturm jemanden zu sehen – genau dort, wo in vielen Jahren eine Skulptur stehen sollte. Als Lisa den Kopf drehte, war dort jedoch niemand.
Die Tür schlug zu. „Wohnst du hier?“, fragte Lisa und sah sich neugierig um. Sie standen in einem dunklen, schmalen Flur. Gegenüber der Tür führte eine Treppe nach oben und einen Kellerzugang über eine Bodenklappe. Links und rechts wurde die Diele von Türen begrenzt.
„Nein, ich breche immer in fremde Häuser ein, wenn ich eine meiner verschollenen Geliebten wiedersehe“, sagte Faust trocken. Er ging zur linken Tür und öffnete sie, winkte Lisa, ihm zu folgen.
„Das ist sinnvoll, so erweckst du nicht so viel Aufsehen.“ Lisa trat in einen Raum, der wohl den Salon des Hauses darstellte – die „gut Stubb“, wie man in Hessen sagte. Ein Esstisch dominierte den hinteren Teil des Zimmers, vorne befanden sich ein Sofa und ein Sessel, an der Wand eine gläserne Vitrine mit feinem Porzellangeschirr.
„Lisa!“ Endlich sprach Faust ihren Namen aus. Bis zu diesem Moment war Lisa immer noch nicht sicher gewesen, ob sie nicht in einem wirren Tagtraum feststeckte. Wie oft hatte sie sich das Wiedersehen mit Jonas Faust ausgemalt. Dass es so verlaufen würde, damit hatte sie allerdings nicht gerechnet.
Faust schien es ähnlich zu ergehen. Er stand vor ihr und musterte sie eingehend von oben bis unten, berührte ihre zerfetzte Kleidung, ihre Arme, ihr Gesicht. Ein paar Mal setzte er dazu an, etwas zu sagen oder zu fragen, doch letztendlich stockte er immer, bevor er einen Ton herausbrachte. Schließlich ließ er die Hände sinken, atmete tief durch und sagte leise: „Ich bin froh, dass du hier bist.“
Lisas Augen füllten sich mit Tränen. „Das bin ich auch“, sagte sie. Dann lehnte sie sich an seine Brust, schlang ihre Arme um ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf. Er umarmte sie fest. Für Fragen und Antworten war später noch Zeit.
Zuerst nahm Lisa die Stimme kaum wahr. Sie war zu sehr gefangen in ihren Emotionen, bei denen nun endlich Erleichterung und Freude die Oberhand gewannen. Faust war hier, und so wie es aussah, war sie ihm wohl nicht egal – er hatte sie ebenso wenig vergessen wie sie ihn. Mehr brauchte sie nicht zu wissen, alles würde sich irgendwie finden. Dachte Lisa zumindest in diesem Moment. Dann jedoch registrierte sie die helle Stimme, die aus dem Flur zu ihnen drang: „Papa?“
Lisa spürte, wie sich Fausts Körper unter ihren Händen versteifte. Ihr wurde übel. Sie ließ ihn los und sah zu ihm auf. Er war kalkweiß geworden. Sein Blick richtete sich auf die Tür zum Flur. Unwillkürlich wich Lisa einen Schritt zurück.
Die Tür schwang auf und im Rahmen erschien ein Mädchen. Die Kleine war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, schmächtig und blass. Und sie war unverkennbar Fausts Tochter.
Es waren nicht nur die blauen Augen und die blonden Locken – es war auch die Haltung, die das Kind besaß, das es eindeutig als das auszeichnete, was es war: das Fleisch und Blut von Jonas Faust. Lisa wusste es sofort. Das Mädchen stürmte mit dem freudigen Ausruf: „Papa! Du bist schon zurück!“ auf Faust zu und umarmte ihn.
Lisa wich noch einen Schritt zurück und ließ ihren Blick ungläubig zwischen der Kleinen und ihrem Vater hin und her schweifen. Faust rührte sich nicht, sondern sah Lisa mit einem Ausdruck an, der ihr das Herz brach: Sie erkannte sein schlechtes Gewissen. Jonas Faust war Vater. Und in dieser Stadt, in dieser Zeit bedeutete das …
Sie drehte sich unwillkürlich um: Eine junge Frau war dem Kind in den Raum gefolgt. Sie hatte, wie man an der Küchenschürze unschwer erkannte, wohl ihre Hausarbeit verlassen, wischte sich die nassen Hände an einem Lappen ab. Sie war hübsch, hatte die hellblonden Haare hinten hochgesteckt und trug ein sittsames Häubchen. Wie es sich für die Gattin eines Arztes gehört, dachte Lisa.
Die junge Frau lächelte freundlich. „Ich hatte nicht mit Gästen gerechnet“, sagte sie und warf Faust einen nur leicht vorwurfsvollen Blick zu.
„Papa, wer ist das?“, fragte das kleine Mädchen, den bohrenden Blick auf Lisa gerichtet.
Die Luft im Zimmer erschien plötzlich so dick wie Watte zu sein. Lisa hatte Mühe zu atmen. In ihren Ohren rauschte es. Sie musste hier raus. So schnell wie möglich. Ohne auf Fausts Reaktion zu warten, stürmte sie an der Frau vorbei, riss die Tür auf und verließ fluchtartig das Haus. Sie rannte am Fratzenstein vorbei, zurück Richtung Innenstadt – weg, nur weg von Jonas Faust und seiner kleinen Familie.
Verstört lief Lisa den gleichen Weg zurück, den sie zuvor gekommen waren. Sie hatte den Untermarkt noch nicht erreicht, da hörte sie hinter sich Fausts Stimme, die sie rief. Sie drehte sich um. Er lief tatsächlich hinter ihr her. Was er wohl seiner Frau gesagt hatte? Wahrscheinlich gar nichts, dazu hatte er sicher keine Zeit gehabt. Später jedoch würde er ihr wohl einiges erklären müssen.
Lisa hatte keine Lust, auf diesen Augenblick zu warten. Sie wandte sich wieder um und rannte weiter auf das Gedränge des Marktes zu. Am späten Vormittag war hier schon sehr viel mehr los als zuvor. Lisa schob sich durch einen Pulk Menschen, der den Weg blockierte, zwischen schwitzenden Bauern und feilschenden Hausfrauen hindurch, ohne recht zu wissen, wohin sie eigentlich wollte. Fort, nur fort von Faust.
Sie sah nicht mehr nach, ob er ihr folgte, doch hin und wieder glaubte sie, seine Stimme über das Getümmel hinweg zu hören: „Lisa! So warte doch.“
Damit würde er sicher ganz schön Aufsehen erregen: ein Arzt, der einer abgerissenen Gestalt wie ihr nacheilte. Bei diesem Gedanken erschrak Lisa: Was, wenn jemand dachte, sie sei eine Diebin, und sie aufhielt? Sie strengte sich an, um noch mehr Abstand zwischen sich und Faust zu bringen.
Doch wohin sollte sie? Der Rat der Händlerin fiel ihr ein: die Einhornapotheke, Stellung bei Cassebeer. Sie konnte etwas Geld verdienen, zurück nach Marköbel gehen, vielleicht dort einen Weg zurück finden – was im Übrigen auch ihr Plan gewesen war, als sie sich in Steinau wiedergefunden hatte. Alles war anders gekommen, und scheinbar hatte sie schließlich doch ihr Ziel erreicht. Zumindest hatte sie das bis vor wenigen Minuten geglaubt. Nun wusste sie, dass es dieses Ziel nie gegeben hatte.
Sie hatte die kleine Treppe am Rande des Marktplatzes erreicht und hastete hinauf. Als sie die oberste Stufe hinauf spurtete, stieß sie mit einer Gestalt zusammen, die ebenso zerlumpt aussah wie sie – sogar noch schlimmer. Klappernd fiel ein Zinnkrug zu Boden, Münzen rollten über den Boden.
„Salope!“, kreischte die Bettlerin und schlug nach Lisa, die gerade noch ausweichen konnte. Zwei Franzosen, die unterhalb der Treppe Wache standen, sahen kurz auf, hatten aber wohl kein Interesse, sich in den Streit zweier Bettelweiber einzumischen.
Lisa rief: „Es tut mir leid!“ Kurz erhaschte sie einen Blick in das Gesicht unter den strähnigen, braun-roten Haaren. Die Frau war garantiert jünger als sie, doch ihr Gesicht war verhärmt und von Falten durchzogen, der Mund fast zahnlos. Trotzdem blitzten die grünen Augen darin wütend auf, als Lisa sich einfach umwandte und weiter rannte. Der Anblick der Bettlerin hatte ihr auf unbestimmte Art und Weise Angst gemacht. War es etwa dieses Schicksal, das Lisa drohte? Irgendwas an diesen grünen Augen machte Lisa nervös wie eine unausgesprochene Warnung.
Die Einhornapotheke lag in der Langgasse, und diese rannte Lisa gerade entlang. Doch sie wusste nicht, ob Faust noch immer hinter ihr war, also bog sie nach links in die Kuhgasse ab und verbarg sich in einem Hauseingang. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis sie Faust die Langgasse entlang hetzen sah. Er lief an der Einmündung zur Kuhgasse vorbei und sah sich dabei suchend um. Lisa zog den Kopf etwas zurück, damit er sie nicht erspähen konnte, und hoffte, dass der Hausbesitzer, in dessen Tür sie kauerte, nicht genau in diesem Moment auftauchen und sie verraten würde.
Das Glück schien jedoch auf ihrer Seite zu sein, denn als sie das nächste Mal um die Ecke sah, war Faust verschwunden – wohl entweder die Langgasse hinauf oder die Kuhgasse in die andere Richtung hinauf zum Obermarkt. Vielleicht hatte er auch aufgegeben und war zurückgegangen, doch daran glaubte Lisa nicht – er war zu hartnäckig, um einfach so die Flinte ins Korn zu werfen.
Seufzend ließ sich Lisa den Türrahmen hinab gleiten und blieb zunächst einmal auf den Stufen sitzen. Sie stützte den Kopf in die Hände und atmete tief durch. Ihr war zum Heulen zumute, aber seltsamerweise kamen keine Tränen. Vielleicht lag es daran, dass ihr die Situation die ganze Zeit viel zu unwirklich vorgekommen war.
Es wäre ja auch zu schön gewesen, dachte sie verbittert. Nur ein Mal hätte doch wirklich alles mal laufen können, wie ich es mir gewünscht habe.
Sie war dumm gewesen, naiv, zu glauben, dass Jonas Faust einfach so auf sie warten würde. Eigentlich hätte sie nach ihren Erlebnissen in Steinau sogar davon ausgehen müssen, dass es nicht so war. Schließlich hatte sie geglaubt, dass Ruth in Sicherheit war – bis gestern Abend zumindest.
Nein, korrigierte sich Lisa. Bis gestern Abend vor fünfzehn Jahren …
Im Grunde genommen auch falsch. Für Lisa war es gestern Abend noch Juni gewesen, Juni 1791. Jetzt war es plötzlich August. Wie hatte das geschehen können, fragte sie sich. Zeitreisen waren schon eine komplizierte Sache, und irgendwer hatte vergessen, Lisa vor Antritt der Tour ein Handbuch zu geben. Sie hatte auch nach dem vierten Mal keine Ahnung, wie es funktioniert hatte – oder wie es wieder funktionieren würde. Vielleicht saß sie dieses Mal endgültig hier fest.
Warum denke ich über so etwas nach? Vielleicht, weil Lisa den Gedanken an das vermeiden wollte, was ihr seit der vergangenen Nacht alles widerfahren war. Unwillkürlich traten ihr nun doch die Tränen in die Augen.
„Schluss damit!“, sagte Lisa laut und zog damit den nervösen Blick einer Magd auf sich, die an ihr vorbei eilte. Verflixt, sie durfte nicht auffallen. Selbstgespräche zu führen war zu keiner Zeit der Welt ein Zeichen für geistige Gesundheit.
Lisa stand auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Es wurde Zeit, damit aufzuhören, sich selbst zu bemitleiden und endlich ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Sie würde jetzt in diese Apotheke gehen und um die Stellung als Schreiberin bitten. Wenn sie die nicht bekam, würde sie Gelnhausen verlassen und sich etwas in den umliegenden Dörfern suchen, genau wie die Händlerin gesagt hatte. Die Zeit der Ernte kam, die Bauern brauchten bestimmt Leute. Sie würde schon eine Lösung finden. Hauptsache, sie lief dabei Jonas Faust nicht mehr über den Weg.
Wütend presste Lisa die Lippen zusammen und ging zurück zur Langgasse. Neben der Enttäuschung darüber, dass Faust eine andere geheiratet hatte, bohrte sich der Neid in Lisas Herz. Er hatte eine Familie. Eine kleine Tochter. Sie hingegen würde niemals Kinder bekommen, wenn sie den Ärzten Glauben schenken durfte.
Rasch blickte Lisa die Langgasse hinauf und hinab, sah aber keine Spur von Faust. Also ging sie langsam nach links und wies den sich plötzlich nach vorne drängenden Gedanken von sich, dass sie ja ebenfalls in den vergangenen Jahren eine Beziehung gehabt und versucht hatte, eine Familie zu gründen.
Aber meine Beziehung war nicht glücklich, rechtfertigte sie sich vor ihrem inneren Selbst. Alle haben mir gesagt, ich sei verrückt und ich müsse nach vorne schauen. Das habe ich doch nur versucht.
Vielleicht hat Faust das auch versucht, kommentierte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf.
Halt die Klappe, dachte Lisa verärgert. Der Schweiß lief ihr kitzelnd den Rücken hinab: Neben ihrem kleinen Spurt durch Gelnhausen sorgte der immer heißer werdende Sommertag dafür.
Ich muss etwas trinken, sonst kippe ich noch um, dachte Lisa. Doch hier war kein Brunnen. An der Ecke zur Krämergasse blitzte das goldene Horn auf dem Pferdekopf über der Eingangstür der Apotheke im Sonnenlicht auf. Erleichtert eilte Lisa darauf zu. Vielleicht war Cassebeer ja so freundlich, ihr zumindest einen Schluck Wasser, wenn schon nicht eine Anstellung zu geben.
„Positiv denken“, murmelte Lisa. „In ein Bewerbungsgespräch soll man immer optimistisch gehen.“ Das hatte sie zumindest gehört; sie hatte nie ein richtiges Bewerbungsgespräch führen müssen, an der Uni war bei ihr irgendwie eines zum anderen gekommen.
Entschlossen ging sie auf die Stufen zu, die zur Eingangstür der Apotheke führten. Diese öffnete sich gerade und heraus trat ein Mann, dessen Erscheinungsbild an einen englischen Dandy erinnerte: Der modische, dunkelblaue Anzug war aus feinem Stoff gefertigt, das verkürzte Oberteil des Fracks ließ den Blick auf eine hellgraue Weste frei, aus der der Mann nun eine goldene Taschenuhr zog. Ein weiteres Accessoire war das taubengraue Halstuch über dem gestärkten Kragen.
Es war jedoch nicht die ungewöhnliche Aufmachung, die Lisa einige Schritte zurück taumeln ließ; es war das Gesicht des Mannes. Sie kannte es. Aber es war unmöglich.
„Was … wie kann das sein?“, brachte Lisa hervor. Der Mann sah auf. Seine dunklen Augen weiteten sich erstaunt und Erkenntnis blitzte auf. Spätestens jetzt war sich Lisa sicher, dass sie sich nicht irrte: Vor ihr stand der Raben-Stephan.
Von dem ehemaligen Spessart-Räuber war nicht mehr viel zu sehen. Nicht nur die modische Kleidung zeichnete ein ganz anderes Bild von dessen Stellung. Seine Haare waren sauber und, so weit es die wilden schwarzen Locken überhaupt zuließen, zu einer Frisur gebändigt, bei der sie sich nur fingerlang ringelten.
Für Lisa am erschreckendsten war jedoch, dass der Mann, der sie entführt, bedroht, gerettet und geküsst hatte, kaum gealtert war. Er sah noch immer so aus, wie sie ihm 1791 begegnet war – als er sie das letzte Mal geküsst hatte.
Sie musste zugeben, dass sie ihn bislang bei all ihren Überlegungen ausgeklammert hatte. Sie war davon ausgegangen, dass sie dem Räuber nie wieder begegnen würde. Doch jetzt stand er vor ihr, der Raben-Stephan – oder Georg, wie er mit wahrem Namen hieß. Sie sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam: „Hast du dich etwa gewaschen?“
Der ehemalige Räuber kam eine Stufe herunter auf sie zu. „Lisa?“, fragte er. Er hatte sie noch immer, diese Stimme, die wie Schokolade klang. Seine Mundwinkel hoben sich. Er lächelte. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen.“
„So schnell?“, echote Lisa fassungslos.
Hinter ihr ertönten Schritte. Plötzlich war da Jonas Fausts Stimme: „Lisa, nun bleib endlich stehen!“ Sie fuhr herum. Tatsächlich, er hatte sie gefunden. Ihr Blick irrte hin und her zwischen den beiden Männern, von denen sie beide heute Morgen noch nicht gewusst hatte, ob sie sie jemals wiedersehen würde. In ihren Ohren begann es zu rauschen. Ihr brach der kalte Schweiß aus, und bunte Punkte tanzten vor ihren Augen, ehe Dunkelheit sie umfing. Ihre Knie gaben nach und sie kippte um. Sie schlug jedoch nicht auf den Boden. Jemand fing sie auf.
Sie sah nicht mehr, ob es Faust oder der Raben-Stephan war, der sie hielt. Vielleicht waren es auch beide.
Es war kein langsames Auftauchen aus der Umarmung des Schlafes. Lisa war mit einem Schlag hellwach. Und orientierungslos. Ruckartig setzte sie sich auf. Sie lag auf einem Sofa. Im Zimmer war es dunkel. Durch das Fenster fiel ein schwacher Lichtschimmer herein: Dämmerung. Das Licht, das zusehends schwand, reichte gerade aus, um Lisa das Zimmer erkennen zu lassen: Es war der Salon in Fausts Haus, den sie bereits kennengelernt hatte. Wie lange war das her?
Ihr Puls raste, als sie die Beine über die Sofakante schwang und sich aufrecht hinsetzte. Sie trug ihre Chemise. Das Leibchen und den Rock hatte man ihr ausgezogen. Wer es wohl getan hatte? Fausts Frau? Oder er selbst, in seiner Rolle als distanzierter Arzt?
Was seine Frau wohl dazu gesagt hatte, dass er die bewusstlose Lisa wieder mit zurück ins Haus getragen hatte? Das hatte ihn bestimmt in einige Erklärungsnöte gebracht.
„Ich würde mich an deiner Stelle nicht allzu hastig bewegen“, sagte eine Lisa wohl vertraute Stimme aus der Dunkelheit. Sie fuhr zusammen. In einem der hohen Sessel bewegte sich ein Schatten. Jonas Faust hatte dort unbeweglich wie eine Statue gesessen und sie beobachtet. Instinktiv schlang Lisa die Arme schützend um ihren Körper.
Faust lachte leise – spöttisch, wie es schien, doch Lisa kannte ihn noch immer gut und spürte, dass er verletzt über die Geste war.
„Keine Sorge“, sagte er. „Gertrude hat dir die Sachen ausgezogen. Wir wollen ja nach dem ganzen Trubel den Anschein von Schicklichkeit bewahren, nicht wahr?“
Gertrude – so also hieß seine Frau. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf Lisas Zunge aus. „Es war sicher nicht leicht, ihr zu erklären, wer ich bin“, sagte sie tonlos.
„Sie denkt wohl, du bist eine Patientin – eine andere Erklärung habe ich ihr nicht gegeben, und sie fragt in solchen Dingen nicht nach.“
Lisa stieß ein hartes Lachen aus. „Braves Frauchen!“
Der Schatten, der Faust war, bewegte sich ein wenig – er lehnte sich zurück oder stützte seine Arme auf die Lehne – irgend so eine typische Faust-Geste. Lisa wünschte, er würde eine Lampe entzünden.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
Lisa beschloss, das Thema zu wechseln. Sie wollte nichts über seine Ehe wissen. „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte sie und blickte aus dem Fenster, wo das letzte Tageslicht verschwand.
„Seit heute Morgen – das müssten jetzt acht oder neun Stunden gewesen sein. Es wundert mich nicht: Du warst übermüdet, dehydriert und hungrig – warum hast du nichts gesagt?“ Faust klang missbilligend.
„Ich hatte nicht die Gelegenheit dazu“, sagte Lisa patzig.
Faust erhob sich aus dem Sessel und kramte auf einer Anrichte herum. „Außerdem scheint dich die Begegnung mit Helmstetter aus irgendeinem Grund angegriffen zu haben“, fuhr er fort.
Lisa begriff nicht gleich. „Helmstetter?“
Ein Licht glomm auf, als Faust eine kleine Lampe entzündete. Im Schein der kleinen Flamme sah Faust erschöpft aus: Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, seine Haare waren wirr, tiefe Falten zeichneten sich um seinen Mund herum ab. Lisa erschrak vor dem Anblick – am Morgen hatte Jonas Faust frisch, fast jugendlich gewirkt.
Faust legte die Zunderbüchse beiseite und stellte eine kleine Öllampe auf einen runden Tisch zwischen ihnen ab. „Helmstetter“, wiederholte er. „Der Mann, in dessen Gegenwart ich dich angetroffen habe.“
„Ich wusste nicht, dass er Helmstetter heißt“, sagte Lisa.
„Dann kennst du ihn gar nicht?“
„Doch. Aber unter einem anderen Namen.“ Lisa seufzte. „Aber das ist eine ganz andere Geschichte.“
„Die mich brennend interessiert.“
Langsam wurde Lisa sauer. „Und die dich gar nichts angeht. Danke, dass du meine medizinische Versorgung übernommen hast.“ Sie betonte die Worte zynisch. „Aber jetzt muss ich gehen. Kann ich bitte meine Kleider wiederhaben?“
Faust legte bedächtig die Fingerkuppen aneinander und hob fragend die Augenbrauen. „Warum willst du gehen?“
Lisa kniff die Lippen zusammen. „Weil ich hier nichts verloren habe.“
„Wo, hier?“
Lisa bemühte sich, den gleichen ruhigen Tonfall wie Faust beizubehalten. Es gelang ihr fast. „In diesem Haus? In dieser Stadt? In dieser verdammten Zeit?“
Faust hob die Schultern. „Das schien dich heute Morgen noch nicht großartig zu stören.“
Lisas Stimme wurde gegen ihren Willen scharf. „Da hatte ich ja auch noch nicht deine treue Frau und deine entzückende Tochter kennengelernt.“
Für einige Sekunden senkte sich Stille über das Zimmer – Stille, die alles andere als angenehm war und zwischen ihnen stand wie ein schwarzer Ritter, der drohend sein Schwert erhoben hatte.
„Meine was?“, fragte Faust.
Mit diesen beiden Worten brachte er Lisa vollkommen aus dem Konzept. Sie fing sich jedoch wieder. „Was soll das denn jetzt?“, fragte sie schnippisch. „Die beiden waren nicht zu übersehen, als sie hier im Raum standen.“
Faust begann zu lachen. „Du denkst, Gertrude ist meine Frau? Große Güte, lass sie das besser nicht hören.“
Mit einem Mal kam sich Lisa etwas albern vor. „Wer soll sie denn sonst sein?“
Faust fuhr sich mit den Händen durchs Haar, sodass es noch wirrer aussah. „Meine Haushälterin und Gouvernante natürlich. Sie kocht, kümmert sich um die Wäsche und versorgt Marie.“
In Lisas Herz hatte sich gerade Erleichterung breitmachen wollen, doch Fausts letztes Wort traf sie wie eine Nadelspitze mitten hinein. „Und Marie?“
Nun nahm Fausts Gesicht einen gequälten Ausdruck an, der nicht zu seiner vorherigen Heiterkeit passen wollte. „Marie… ja, Marie ist meine Tochter.“
Es aus seinem Mund zu hören, trieb die Nadelspitze noch tiefer in Lisas Herz hinein. Gertrude hin oder her, Faust hatte ein Kind. Und das konnte nur eins bedeuten.
„Du hast ein Kind“, sagte Lisa mit trockenem Mund. In ihrem Kopf tauchten Bilder auf – Ultraschallbilder. Ein kleines, schwarz-weißes Böhnchen, ein pulsierendes Herz, das nicht älter als 16 Wochen geworden war. Sie hatte gedacht, nach den Monaten mit den Grimm-Kindern sei sie über das Stadium der Eifersucht hinaus. Aber es war nicht so – zumindest nicht, wenn es um Jonas Faust ging. „Dann bist du also doch verheiratet. Wo ist ihre Mutter?“
„Verwitwet“, stellte Faust unbeteiligt klar. „Johanna ist vor sechs Jahren im Kindbett gestorben.“
Lisa nahm diese Information hin. Für sie änderte das zunächst nichts. Faust hatte sich entschlossen, zu heiraten. Das hieß, er hatte sie aufgegeben.
„Ich habe lange nach dir gesucht“, fuhr Faust fort, als hätte er Lisas Gedanken gelesen. „Als ich dich nicht finden konnte, habe ich gewartet. Doch irgendwann… muss das Leben doch weitergehen, oder?“ Er beugte sich vor und suchte ihren Blick, suchte Bestätigung darin.
Lisa wandte den Kopf ab. Sie mochte es vor sich selbst nicht zugeben, aber natürlich hatte er recht. Sie hatte genauso wie er irgendwann weitergemacht. Zwar hatte sie nicht geheiratet, doch sie hatte mit Patrick zusammen gelebt. Sie hatte ebenfalls versucht, eine Familie zu gründen. Nur war es ihr nicht gelungen – im Gegensatz zu Faust. Wie konnte sie ihm Vorwürfe machen, weil ihm ein zumindest kurzes Glück vergönnt gewesen war?
„Wie war sie?“, fragte sie leise.
Faust seufzte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Als er sprach, klang es dumpf. „Sie war eine liebe Person, still und freundlich. Sehr klein und zierlich. Marie ist ihr in vielem ähnlich.“ Er sah auf, und jetzt konnte Lisa seinem Blick nicht mehr ausweichen: Seine Augen hielten sie fest. „Aber es war nie so wie zwischen uns. Wir waren Freunde. Keine Liebenden.“
Lisa schluckte. Faust griff nach ihrer Hand, doch noch ehe er sie berührte, hämmerte draußen jemand an die Tür.
„Ouvrez! Ouvrez!“, erklang eine energische Stimme vor dem Haus.
Faust stieß einen verhaltenen Fluch aus und erhob sich. Während er den kleinen Salon durchquerte, wurde bereits die Haustür geöffnet, und eine Frauenstimme – Lisa erkannte sie als die von Gertrude wieder – fragte höflich nach dem Begehr des Gastes. Ein Schwall französischer Worte folgte.
Faust hatte die Tür zum Flur erreicht und riss sie auf. „Was soll der Lärm um diese Zeit?“ Ihm war anzuhören, dass er über die Störung alles andere als erfreut war. Die Tür knallte er hinter sich zu.
Die französische Stimme wurde auf der Stelle leiser und respektvoller. Lisa konnte die Worte nun nicht mehr verstehen, hörte aber sehr wohl Fausts Reaktion darauf, denn der Arzt klang ziemlich ungehalten. „Ich bin durchaus daran gewöhnt, dass zu später Stunde Patienten kommen oder ich zu Krankheitsfällen gerufen werde – allerdings achten andere Leute darauf, nicht die ganze Straße aufzuwecken, Monsieur!“
Es folgte eine Erwiderung. Es ist ein bisschen so, wie bei einem Telefongespräch zu lauschen, dachte Lisa und fühlte sich plötzlich seltsam verloren zwischen den Zeiten. Sie stand auf und strich sich das Unterkleid glatt. Es war schmuddelig und verschwitzt, damit konnte sie unmöglich hinausgehen. Aber sie konnte sich näher an die Tür schleichen, um vielleicht doch die Worte des Franzosen zu hören.
„Es ist mir ganz gleich, ob Monsieur le General unter akuter Verstopfung leidet, ich dulde so ein Betragen nicht. Und ich werde auf keinen Fall alles stehen und liegen lassen, um in den „Grünen Baum“ zu rennen. Ich stehe nicht unter seiner Befehlsgewalt und muss mich zunächst um eine andere Patientin kümmern.“
Der Franzose klang aufgebracht, doch noch immer konnte Lisa ihn nicht verstehen, auch wenn sie schon recht nah an die Tür herangetreten war. Sie ging noch näher heran und presste ihr Ohr an das stabile Holz.
„Ich komme zu eurem General, sobald es meine Zeit erlaubt“, sagte Faust kalt. „Er kann sicher sein, dass das heute Abend noch der Fall sein wird.“
„Das will ich doch sehr hoffen – in eurem Sinne“, antwortete die Stimme mit stark gefärbtem französischen Akzent. „Der General ist nicht sehr erfreut, wenn er lange warten muss. Und seine derzeitige … Verfassung trägt nicht dazu bei, seine Laune zu erhellen.“
Die Tür schlug zu und draußen entfernten sich Schritte. Lisa wich hastig von der Tür zurück und huschte zurück zum Sofa. Keinen Augenblick zu spät, denn die Tür öffnete sich und Faust kam zurück – gefolgt von Gertrude. Die Haushälterin warf Lisa einen Blick zu, doch ihre Aufmerksamkeit galt Faust. „Ihr solltet die Franzosen nicht verärgern, Herr“, sagte sie drängend. „Wenn Ihr ihnen nicht gehorcht …“
„Dann was?“ Faust stemmte wütend die Hände in die Seite. „Was sollen sie schon tun? Sie treten doch hier als die Befreier auf, da können sie keine Sonderbehandlung erwarten. Und sich schon gar nicht so unpassend benehmen.“ Er schnaubte abfällig. „Verstopfung, pah! Würde sich Monsieur Le General an die Versorgung halten, die für die Soldaten vorgesehen ist und nicht den Vorratskeller des „Grünen Baumes“ leerfressen, hätte er auch keine Verdauungsprobleme.“
Gertrude rang die Hände. „Sagt so etwas nicht so laut, Herr Faust, das bringt nur Unglück.“
Faust seufzte und griff nach seiner Arzttasche, die neben dem Sofa auf dem Boden stand. „Natürlich muss ich hingehen. Aber die Franzosen sollen nicht das Gefühl haben, dass ich sofort springe, wenn sie pfeifen.“
Langsam hatte Lisa genug davon, wie eine Stehlampe behandelt zu werden. Sie reckte das Kinn und sagte laut: „Wenn ihr mir endlich meine Kleidung zurückgebt, begleite ich dich.“ So wie früher, setzte sie im Stillen hinzu.
Faust und Gertrude starrten sie an.
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht“, sagte Faust schließlich barsch.
Lisa war wie vor den Kopf geschlagen. „Was? Wieso?“
Faust schüttelte abwehrend den Kopf, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. „Was sollen die Leute sagen, wenn ich plötzlich mit dir auftauche? Außerdem bist du noch zu schwach.“
„Ich bin keineswegs schwach…“, setzte Lisa an.
Doch Faust ignorierte sie und sagte zu der verdutzt drein blickenden Gertrude: „Führt Fräulein Schmidt in das Gästezimmer im zweiten Obergeschoss, gebt ihr ein ordentliches Abendessen, ein frisches Nachthemd – vielleicht findet ihr noch eines von meiner verstorbenen Gattin – und sorgt dafür, dass sie früh schlafen geht.“
„Aber…!“, protestierten beide Frauen gleichzeitig.
Faust ignorierte Lisa und funkelte Gertrude an: „Kümmere dich darum, dass meine Verlobte gut versorgt ist.“ Er drehte sich um und ging. Zurück ließ er zwei verwirrte Frauen. Draußen fiel die Tür ins Schloss.
„Ihr seid seine Verlobte?“, fragte Gertrude schließlich verblüfft.
Lisa holte tief Luft. „Sieht ganz so aus.“
Die Haushälterin stellte keine weiteren Fragen, sondern führte Lisa wortlos die Treppe hinauf. Sie passierten ein Stockwerk, in dem vom Treppenhaus aus drei Türen abzweigten, und gingen weiter bis in das zweite Obergeschoss. Hier gab es vier Türen und ein Fenster an der Hausfront. Gertrude öffnete die Linke der beiden vorderen Türen und bedeutete Lisa, dort einzutreten. Im Inneren befanden sich ein Bett, ein Schrank und ein Nachttisch. Das Zimmer war spärlich eingerichtet, aber sauber.
„Das Gästezimmer“, sagte Gertrude höflich, aber distanziert. „Der Herr Doktor bekommt nicht oft Besuch.“
Lisa trat an das Fenster. Ihr Blick fiel sofort auf den in Mondlicht getauchten Turm. Ein Schauder überlief sie. „Zimmer mit Blick auf den Fratzenstein“, murmelte sie.
Gertrude überhörte die Bemerkung. „Ich werde Euch eine Waschschüssel und ein Nachthemd holen“, kündigte sie an. „Danach bringe ich Euch etwas zu essen. Bitte macht nicht allzu viel Lärm, die kleine Marie schläft nebenan.“
Lisa runzelte die Stirn. Sie hatte schließlich nicht vor, ein Schlagzeug aus ihrer ramponierten Unterwäsche zu ziehen und ein Drum-Solo einzustudieren – was sollte also diese Bemerkung? Doch ehe sie Gertrude darauf ansprechen konnte, war diese bereits aus der Tür gehuscht.
Seufzend ließ sich Lisa auf das Bett sinken. Verlobte also – was hatte Faust mit dieser Aussage bezweckt? Erreicht hatte er nur, seine Haushälterin zu verwirren. Und Lisa selbst natürlich ebenso. Einerseits legte er – noch immer ganz ein Mann seiner Zeit – Wert darauf, dass die Leute nicht schwatzten, andererseits zauberte er mal eben eine Verlobte aus dem Hut. Vielleicht verließ er sich darauf, dass Gertrude den Mund halten würde. Das wäre dann die erste Hausangestellte, die Lisa kennenlernte, die nicht zum Tratschen neigte. Unwillkürlich musste Lisa grinsen, als sie an Dorothea dachte, die Faust früher den Haushalt geführt hatte. Eigentlich war sie seine Vermieterin gewesen, doch sie kümmerte sich auch um die Küche und die Zimmer. Sie hatte Klatsch und Tratsch geliebt – was wohl aus ihr geworden war?
Während Lisa noch darüber nachdachte, klopfte es leise und Gertrude kam mit der angekündigten Waschschüssel wieder herein und stellte sie auf dem Nachtschrank ab. Über dem Arm trug sie ein weißes Nachthemd, das sie auf das Bett legte, dann verschwand sie wieder durch die Tür.
Neugierig musterte Lisa das Kleidungsstück. Es würde ihr vielleicht etwas zu groß sein – mit ihren knapp 1,63 Metern war sie kein Riese, aber auch nicht viel kleiner als andere Menschen dieser Zeit. Fausts erste Frau schien ebenfalls schlank, wenn auch etwas länger als Lisa gewesen zu sein, wenn denn das Nachthemd wirklich von ihr stammte.