Schlüssel der Zeit - Band 2: Der Hexer von Bergheim - Tanja Bruske - E-Book

Schlüssel der Zeit - Band 2: Der Hexer von Bergheim E-Book

Tanja Bruske

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Beschreibung

Kaum hat Keyra ihre erste Zeitreise halbwegs verdaut, stürzt sie schon wieder in die Vergangenheit – und das, kurz nachdem sie von ihrer Großmutter erfahren hat, was es mit dem seltsamen Anhänger in Form eines Schlüssels auf sich hat. Dieses Mal gerät sie während des 30-jährigen Krieges mitten in einen Hexenprozess in Langen-Bergheim und muss herausfinden, was ihre Aufgabe dort ist. Wenigstens hat sie dieses Mal etwas Unterstützung: Ein geheimnisvolles Buch begleitet sie auf ihrem Weg. Ein Abenteuer durch Zeit und Raum im Hammersbach-Langenbergheim des 17. Jahrhunderts. Band 1 "Der Ruf der Schlösser", Band 2 "Der Hexer von Bergheim", Band 3 "Das Geheimnis der Kommende", Band 4 "Der Fuchs und der Räuber" und Band 5 "Antoniusfeuer" der Serie "Schlüssel der Zeit" liegen ebenfalls als E-Books bei mainbook vor sowie der Taschenbuch-Sammelband mit den Bänden 1-3 (ISBN9783947612482) und ab Januar 2021 der Taschenband-Sammelband mit den E-Book-Bänden 4-6 (ISBN 9783948987039). Die Serie wird fortgesetzt.

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Schlüssel der Zeit 2: Der Hexer von Bergheim

Kaum hat Keyra ihre erste Zeitreise halbwegs verdaut, stürzt sie schon wieder in die Vergangenheit – und das, kurz nachdem sie von ihrer Großmutter erfahren hat, was es mit dem seltsamen Anhänger in Form eines Schlüssels auf sich hat. Dieses Mal gerät sie während des 30-jährigen Krieges mitten in einen Hexenprozess in Langen-Bergheim und muss herausfinden, was ihre Aufgabe dort ist. Wenigstens hat sie dieses Mal etwas Unterstützung: Ein geheimnisvolles Buch begleitet sie auf ihrem Weg.

Ein Abenteuer durch Zeit und Raum im Hammersbach-Langen-Bergheim des 17. Jahrhunderts.

Band 1 „Der Ruf der Schlösser“ und Band 3 „Das Geheimnis der Kommende“ der Serie „Schlüssel der Zeit“ liegen ebenfalls als E-Books bei mainbook vor. Die Serie wird fortgesetzt.

Die Autorin:

2007 legt Tanja Bruske ihren ersten Fantasy-Roman »Das ewige Lied« (neu aufgelegt bei mainbook) vor, mit dem sie den Wettbewerb des Radiosenders FFH »Hessens verheißungsvollstes Manuskript« gewinnt. Ab Juni 2013 erscheint ihre Kinzigtal-Trilogie bei mainbook: »Leuchte«, »Tod am Teufelsloch« und der Abschlussband 2017 »Fratzenstein«.

Im September 2018 gewinnt Tanja Bruske mit ihrer Novelle »Der Henker und die Hexe« in Österreich den Titel »Stadtschreiberin von Eggenburg 2018«. Die Novelle wird demnächst in einer Geschichtensammlung veröffentlicht.

Seit 2014 schreibt Tanja Bruske zudem unter dem Pseudonym Lucy Guth für verschiedene Serien des Bastei-Verlages, zB »Maddrax«, seit 2019 auch für »Perry Rhodan Neo«.

Tanja Bruske studierte Germanistik sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt und arbeitet heute als Redakteurin bei der GNZ. Sie wohnt im hessischen Hammersbach mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern.

Mit »Schlüssel der Zeit« legt sie nun den Auftakt für eine lokale Histo-Fantasy-Serie vor.

Aktuelles und Lese-Termine finden Sie auf www.tanjabruske.de

Tanja Bruske

Schlüssel der Zeit

-2-

Der Hexer von Bergheim

Lokale Histo-Fantasy-Serie

eISBN 978-3-947612-35-2

Copyright © 2019 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Layout: Olaf Tischer

Covermotive: © fotolia, milosluz

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

Für Mia, meine Große. Weil Sie ein tolles Mädchen ist.

Inhalt

1. Gedankenkarussell

2. Die Wächterin

3. Vertraute Fremde

4. Die Nachricht

5. Die Scheune

6. Gottesfurcht

7. Marienborn

8. Ertappt

9. Henkersmagd

10. Backtag

11. Das Geständnis

12. Geschröpft

13. Die Geschichte des Heilers

14. Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen

15. Das letzte Geständnis

16. Rätsel

Dichtung und Wahrheit – und Dankeschön

1. Gedankenkarussell

Mit einem Ruck fuhr Keyra aus dem Schlaf hoch. Kalter Schweiß bedeckte ihren Körper und ihr Herz raste. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie geträumt hatte – nur, dass sie schreckliche Angst gehabt hatte. Sie fuhr sich mit der zitternden Hand über die Stirn. Irgendetwas mit einer Frau, die furchtbar geschrien hatte, und einem schwarz gekleideten Mann … Nein, sie konnte sich nicht erinnern – und eigentlich wollte sie es auch nicht.

Keyra war kalt, und ihr Mund war so trocken wie Löschpapier. Sie stand auf und tappte in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Draußen dämmerte es bereits.

Da kann ich einmal ausschlafen, weil Feiertag ist, und dann weckt mich so ein blöder Albtraum, dachte Keyra missmutig. Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass sie Albträume hatte – nicht nach den Ereignissen der vergangenen Tage. Wenn sie daran dachte, dass sie vor zwei Tagen auf dem Wilhelmsbader Fest im Jahr 1832 herum gestolpert war und eine seltsame Diebin gejagt hatte, fragte sie sich, ob sie auf dem besten Weg ins Irrenhaus war.

Natürlich hatte sie niemandem davon erzählt. Wem hätte sie auch etwas sagen sollen? Lou vielleicht? Ihre beste Freundin hätte sie umgehend zu ihrer Mutter in die Praxis geschleift und da auf die Couch gesetzt.

Und ihr Vater? Der hätte sie zuerst merkwürdig angesehen und dann das Problem totgeschwiegen. Das war seine Art, mit Problemen umzugehen: Aussitzen und Outsourcing. Jemand anderer würde sich darum kümmern, jemand, der kompetenter war als er.

Normalerweise gab Keyra ihrem Vater in dieser Hinsicht recht: Probleme sollte man den Profis überlassen, die sich damit auskannten. Doch in diesem Fall würde die Problemlösung in der Diagnose ‚Nervenzusammenbruch‘ bestehen, da war sie irgendwie ziemlich sicher. Ihre Bio-Lehrerin, Frau Müller-Wackernagel, hatte vor zwei Jahren plötzlich im Unterricht angefangen zu weinen, weil sie glaubte, ihre tote Oma im Klassenraum zu sehen. Damals war sie für mehrere Wochen mit eben jener Diagnose beurlaubt gewesen. Keyra fragte sich, ob Frau Müller-Wackernagel vielleicht wirklich etwas gesehen hatte – denn wenn Zeitreisen möglich waren, warum sollte es dann keine Geister geben?

Nachdenklich trat Keyra ans Fenster und spielte mit dem kleinen Kristallschlüssel, der an einer Silberkette um ihren Hals hing. Sie war sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie nicht verrückt war. Sie war wirklich in die Vergangenheit gereist, und irgendwie hing das mit diesem Schlüssel zusammen, der ihr den Weg dorthin und auch wieder zurück geöffnet hatte. Deswegen war der einzige Mensch, mit dem sie über das Geschehene sprechen konnte, diejenige, von der sie den Schlüssel bekommen hatte: Clara Schlosser, ihre Großmutter.

Am liebsten wäre sie vorgestern, nachdem sie wieder heil in Wilhelmsbad angekommen war, direkt zu ihr gefahren. Sie brauchte Antworten. Doch das war nicht möglich gewesen: Zuerst hatte sie zurück in die Schule gemusst. Und als der Unterricht beendet war, wartete ihr Vater Rory vor der Otto-Hahn-Schule auf sie. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihres Streits und weil er ihren Geburtstag nicht mit ihr gefeiert hatte. Deswegen schob er ihre Vespa kurzerhand auf die Ladefläche seines Jeeps und führte sie aus: nach Frankfurt zum Sushi-Essen. Keyra liebte Sushi. Doch an diesem Abend hätte sie lieber Ravioli aus der Dose gegessen, um noch Zeit für einen Besuch bei ihrer Großmutter zu haben. Aber das konnte sie Rory ja schlecht sagen.

Keyra seufzte und ging zurück in ihr Zimmer. Im Vorbeilaufen strich sie mit der Hand über das kleine Holzkästchen mit den Rosenverzierungen, das sie auf ihren Schreibtisch gestellt hatte. Dann kuschelte sie sich wieder in ihr noch warmes Bett. Doch der Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Ihre Gedanken fuhren Karussell.

Auch gestern hatte sie es nicht geschafft, nach Langen-Bergheim zu Clara zu fahren. Sie hatte einen langen Schultag: zehn Stunden, die letzten beiden davon Orientierungslauf, bei denen sie und ihre Partnerin sich hoffnungslos im Waldgebiet bei den Steinheimer Steinbrüchen verlaufen hatten und erst weit nach der vorgesehenen Zeit zurück auf den Parkplatz kamen. Ihr Lehrer war bereits ziemlich in Sorge gewesen. Die Note für diesen Tag würde jedenfalls nicht sehr gut ausfallen.

Abends wollte Keyra dann zu Clara fahren, doch sie hatte den Geistesblitz, vorher anzurufen. Clara war nicht da, nur die Mailbox meldete sich. Da fiel Keyra ein, dass ihre Großmutter sich regelmäßig am letzten Mittwoch des Monats mit ihren Freundinnen zum Essen traf. Den Besuch musste sie also nochmal verschieben.

Stattdessen skypte sie mit Lou.

„Du siehst irgendwie durch den Wind aus, Süße!“, bemerkte Lou kritisch. „Du warst auch heute in der Schule schon so daneben. Ist was passiert?“

Keyra schüttelte abwehrend den Kopf. „Nee, alles in Ordnung. Mein Vater hat mir etwas Stress wegen der schlechten Chemienote gemacht, das ist alles.“

Lou rollte mit den Augen. „Eltern! Echt, das ganze Jahr interessieren sie sich nicht für dich, aber wehe, du kommst mit schlechten Noten an – dann ist plötzlich alles sooooo dramatisch. Als hätten die nie nen schlechten Tag.“

„Mein Vater hat wirklich nie einen schlechten Tag. Der ist Perfektionist, was seine Arbeit angeht“, sagte Keyra und stöhnte.

„Aber auch nur, was seine Arbeit angeht“, meinte Lou schnippisch. „Als Vater könnte er sich ein bisschen mehr anstrengen.“

„Ach, so schlimm ist er nicht“, sagte Keyra. Sie hatte das Gefühl, ihren Vater verteidigen zu müssen, obwohl sie sich selbst oft genug über ihn ärgerte. „Er hat eben viel zu tun. Und wegen der schlechten Note kriegt er sich schon wieder ein. Er hat mich schließlich gestern Abend auch zum Essen eingeladen.“

„Und wo ist er heute Abend?“, fragte Lou bedeutsam.

Keyra schwieg. Rory war noch immer am Arbeiten.

Lou seufzte. „Magst du zu mir kommen? Wir können einen Film streamen.“

„Lass mal, Lou, mir geht‘s gut“, sagte Keyra, die lieber auf dem Sofa liegenbleiben wollte. „Ich mach mir jetzt noch ein paar Nachos und schau mir die dritte Staffel von Game of Thrones an.“

„Dass du das immer noch nicht gesehen hast“, spottete Lou. „Also dann viel Spaß mit den Drachen und Jon Schnee. Genieß ihn, solange du kannst!“

„Du sollst nicht spoilern!“, schimpfte Keyra. „Außerdem weiß ich doch, dass er wiederkommt.“

„Aber wer weiß, wie lange…“, sagte Lou geheimnisvoll, lachte und schaltete den Videochat aus.

Irgendwie schaffte Keyra es an diesem Abend aber nicht, sich auf die Fantasyserie zu konzentrieren. Deswegen hatte sie ihr Tablet recht bald ausgeschaltet und war ins Bett gegangen. Zwar war sie schnell eingeschlafen – doch es war ein unruhiger Schlaf gewesen, der schließlich mit dem Albtraum sein jähes Ende gefunden hatte.

Und auch jetzt fand sie nicht in den Schlaf zurück. Sie war noch immer unsicher wegen des Anrufes bei ihrer Großmutter und dem, was sie ihr am nächsten Tag sagen sollte. Vielleicht hatte sie sich die ganze Geschichte ja doch nur eingebildet. Verrückte glaubten doch auch ganz fest daran, dass ihre Einbildungen Realität waren. Woher sollte sie wissen, dass es ihr nicht ebenso ging? Wenn sie Clara von dem rufenden Schloss, dem vibrierenden Schlüssel und der leuchtenden Tür erzählte, würde Clara sie vielleicht für durchgeknallt halten. Oder auslachen, was noch schlimmer wäre.

Keyra presste das Gesicht in ihr Kissen und knurrte.

Nein, Oma würde mich niemals auslachen, sagte sie sich. Egal, was für verrückte Geschichten ich ihr erzähle. Aber vielleicht kann sie mir ja auch ganz einfach nicht helfen. Sie biss in den Stoff des Kissens, um einen frustrierten Aufschrei zu unterdrücken. Aber das finde ich nur heraus, wenn ich sie darauf anspreche.

Heute würde sie definitiv nach Langen-Bergheim fahren, schwor sich Keyra und warf sich wütend auf die andere Seite. Sie hatte ohnehin vorgehabt, Clara am 1. Mai zu besuchen – das machte sie jedes Jahr. Dann pflegten sie zusammen spazieren zu gehen und auf einem der Grillfeste etwas zu essen. Bei dem Gedanken an eine knusprige Bratwurst lief Keyra das Wasser im Mund zusammen. Schläfrig überlegte sie, ob sie aufstehen und sich etwas zu essen holen sollte. Doch im nächsten Moment war sie doch noch einmal eingeschlafen.

„Du bist ja hier“, wunderte sich Keyra, als sie einige Stunden später ins Wohnzimmer kam. Ihr Vater saß am Computer, einen Stapel Papiere neben sich, und tippte mit verkniffenem Gesicht auf der Tastatur herum.

„Bürokram“, murmelte er. „Kann heute nicht im Park arbeiten, die haben da irgendeine Veranstaltung.“

„Es ist ja auch Feiertag, Papa“, sagte Keyra betont und biss in einen Apfel, den sie sich aus der Küche geholt hatte. Sie wollte ihren knurrenden Magen beruhigen, aber nicht zu viel essen; schließlich wollte sie gleich los und mit ihrer Großmutter zum Grillfest. „Normale Menschen arbeiten an einem Feiertag nicht, sondern genießen ihre Freizeit“, setzte sie hinzu.

„Was?“, fragte Rory Kelly zerstreut und blätterte in seinen Notizen.

„Ganz genau!“, sagte Keyra und seufzte. Ihr Vater wusste gar nicht, was Freizeit war. Er vergrub sich immer in seine Arbeit.

Das war nicht immer so gewesen. Keyra erinnerte sich, dass er früher, als sie klein war, viel mit ihr gespielt hatte und im Garten des Marköbler Häuschens mit ihr Laubhütten gebaut und Pfeil und Bogen gebastelt hatte. Das war jedoch vor dem Tag gewesen, an dem ihre Mutter verschwunden war.

„Wie auch immer: Ich mache mich jetzt auf den Weg zu Oma. Du willst nicht mitkommen?“, fragte Keyra ohne große Hoffnung.

Rory schüttelte wie erwartet den Kopf.

„Nein, ich muss hier weitermachen. Viel Spaß, Darling!“

Keyra zuckte mit den Schultern, schnappte sich Jacke, Helm und Vespaschlüssel und ging. Nicht nur, dass Rory sich von seiner Arbeit nicht lösen konnte – er vermied zudem jede mögliche Begegnung mit Clara. Er hatte nicht gerade ein schlechtes Verhältnis zu seiner Schwiegermutter. Die beiden mochten sich, und Rory betonte immer wieder, wie dankbar er Clara dafür war, dass sie Keyra quasi großgezogen hatte. Doch jede Begegnung schien sowohl Clara als auch Rory zu schmerzen – als sähen sie im jeweils anderen die Verkörperung der verschwundenen Paula Kelly. Deswegen gingen sie sich so gut es ging aus dem Weg.

Es war wieder ein sonniger und warmer Frühlingstag. Doch Keyra war froh über ihre Jacke, denn der Fahrtwind pfiff ihr kühl um die Nase, als sie nach Hammersbach brauste. Sie sah zahlreiche Maiwanderer, die mit Bollerwagen und Rucksäcken unterwegs waren. In Rüdigheim liefen die Leute Richtung Steinbruch, in Marköbel „zu den Hühnern“. Jeder Ort hatte sein eigenes, traditionelles Maifest. In Langen-Bergheim würden Clara und Keyra die Grillfeier der Feuerwehr besuchen, und Keyra freute sich bereits darauf. Als sie den alten Ortskern, das „Kreuz“, erreichte, bremste sie ab. Hier musste sie abbiegen, wenn sie zum Haus der Großmutter wollte. Doch sie wurde aus einem anderen Grund langsamer und hielt schließlich an. Sie fühlte sich, als hätte jemand einen Eiskübel über ihrem Kopf ausgeleert: Ihr Schlüssel pulsierte wieder.

„Oh nein …“, murmelte sie. Sie setzte den Helm ab und sah sich um. Prompt drang das bereits vertraute Geräusch an ihr Ohr: ein leises Singen, das langsam anschwoll und aus dem sich ihr Name bildete: „Keeeeeyyyyyyraaaaa!“

Die kleinen Härchen in Keyras Nacken stellten sich auf. „Nicht schon wieder“, flüsterte sie und leckte sich die trockenen Lippen. Den Ursprung des Rufes hatte sie schnell lokalisiert: Er kam von der Tür eines alten Backsteinhauses zu ihrer Rechten. Und schon sah sie ein zaghaftes Glimmen im Schloss der Tür. Sie wusste mit Sicherheit: Wenn sie näher heranging, würde das Glimmen zu einem Leuchten werden.

„Nein!“, sagte Keyra energisch. Sie setzte den Helm wieder auf und das Rufen wurde etwas leiser. Ihr Schlüssel vibrierte dafür umso nachdrücklicher.

„Nein – dieses Mal nicht!“, wiederholte Keyra. „Mir reicht‘s. Ruf doch, so laut du willst. Ich fahre zu meiner Oma, wie geplant.“ Sie gab Gas und fuhr die Straße hinauf. Das Rufen verstummte, und schließlich ebbte auch die Vibration des Schlüssels ab. Als Keyra das Haus ihrer Großmutter erreichte, herrschte wieder Ruhe. „Na also“, sagte sie zufrieden. „Geht doch!“

2. Die Wächterin

„Hol schon einmal die Teetassen aus dem Schrank!“, rief Clara Schlosser ihrer Enkelin zu und schloss die Haustür hinter sich.

Keyra nickte und ging in die Küche. Sie hatte beschlossen, „das Gespräch“ auf einen Zeitpunkt nach der Bratwurst zu verschieben. Sie wollte zunächst ihre Gedanken sammeln – und außerdem hatte sie wirklich Hunger. Deswegen waren Clara und Keyra gemütlich zum Grillfest in den Wald gelaufen und hatten über Unverfängliches geplaudert, so schwer es Keyra auch gefallen war.

Jetzt aber – wo sie wieder zurück in Claras Haus waren und sich mit einer Tasse Tee in den Garten setzen wollten – gab es keine Ausreden mehr.

Keyra griff nach zwei zierlichen Porzellantässchen, der Zuckerdose und dem Milchkännchen und stellte alles auf ein Tablett. Sie trug es in den kleinen Garten hinter dem Haus, wo auf einer kaum badetuchgroßen Terrasse ein Tisch und zwei Stühle standen. Keyra setzte sich und überlegte, wie sie am besten beginnen sollte. Viel Zeit blieb ihr nicht, denn Clara kam schon eine Minute später mit einer bauchigen Teekanne heraus und schenkte würzig duftenden Roibuschtee ein.

„Oma, ich muss mit dir reden“, begann Keyra unsicher.

„Was gibt es denn Schatz?“, fragte Clara und schaufelte sich Zucker in ihre Tasse. Clara hatte die Angewohnheit, auch den besten Tee mit Unmengen von Zucker in einen klebrigen Sirup zu verwandeln – ein Tick, über den sich Rory regelmäßig lustig machte. Er war zwar kein Engländer, aber auch als Ire pflegte er definitiv eine andere Teekultur.

„Es ist etwas passiert.“ Keyra holte tief Luft. Wie erzählt man am unverfänglichsten, dass man entweder verrückt oder eine Zeitreisende ist?

„Gibt es Probleme in der Schule? Mach dir keine Gedanken über schlechte Noten, das kommt vor“, sagte Clara und rührte in ihrem Tee.

„Nein, Oma, es ist etwas anderes. Es … es hat etwas mit dem Schlüssel zu tun, den du mir geschenkt hast. Vorgestern hat er plötzlich zu pulsieren begonnen …“

KLIRR!

Die Teetasse, die Clara gerade zum Mund hatte führen wollen, war ihren Fingern entglitten und auf dem Pflaster der Terrasse zerschellt.

„Oma!“, rief Keyra erschrocken und sprang auf.

Clara war weiß wie eine Wand und starrte sie aus riesigen, eulenartigen Augen an.

„Warte, ich sammle die Scherben auf“, sagte Keyra und hockte sich vor ihre Großmutter.

Doch Clara fasste sie an den Schultern, sodass Keyra aufsah. Der Gesichtsausdruck ihrer Großmutter beunruhigte sie.

„Der Schlüssel hat pulsiert? Jetzt schon?“, fragte Clara heiser.

„Was meinst du mit ‚Jetzt schon‘?“, fragte Keyra alarmiert. Sie fühlte den Impuls, aufzuspringen, doch Clara hielt sie fest. „Du weißt Bescheid, oder? Du weißt, was mit ihm los ist!“, beharrte Keyra.

Clara reagierte nicht auf Keyras Worte. „Das geht zu schnell“, murmelte sie. „Es dauert normalerweise länger, bis sich der Schlüssel auf die Trägerin eingestellt hat …“

„Oma!“, rief Keyra und packte nun ihrerseits Clara an den Armen, sodass es aussah, als vollführten sie beide einen seltsamen Tanz: Clara im Sitzen und Keyra in der Hocke vor ihr. „Sag mir, was los ist! Wusstest du, dass der Schlüssel so etwas machen würde? Warum hast du mich nicht gewarnt? Und was soll das überhaupt?“

Clara atmete tief durch und schloss die Augen. „Ich habe es nicht gewusst, aber ich habe es gehofft“, sagte sie und hob die Lider. In ihrem Blick lag eine unbestimmte Erwartung, die Keyra noch mehr verunsicherte. „Normalerweise geht es nicht so schnell, dass die Trägerin die Impulse des Schlüssels wahrnimmt, noch dazu ohne Übung und Einweisung. Aber ich war mir nicht sicher, ob überhaupt etwas geschehen würde, schließlich hast du das Blut nur von einer Seite. Und ich dachte, wenn du die ersten Impulse spürst, wirst du mich schon darauf ansprechen, und das hast du ja auch getan.“ Clara strahlte jetzt. „Kind, das ist großartig!“

Keyra klappte der Mund auf. „Großartig? Geht’s noch? Seit zwei Tagen denke ich, ich bin verrückt!“ Sie machte sich aus dem Griff der Großmutter los und stand auf. „Der Schlüssel beginnt zu pulsieren, das Schloss fängt an zu singen, und dann wächst der Schlüssel plötzlich und verändert seine Form …“

„Moment mal – was?“, rief Clara erschrocken.

Doch Keyra geriet gerade in Fahrt. „Dann werde ich durch ein leuchtendes Portal gesogen und stehe plötzlich in der Vergangenheit, habe keine Ahnung, wie ich dorthin gekommen bin und ob ich je wieder zurückkomme – und du findest das großartig?“ Wütend starrte sie Clara an und verschränkte die Arme vor der Brust.

Clara wurde noch bleicher. Ihre Hand fuhr zu ihrem Mund, dessen Lippen zitterten. „Du … du bist bereits gereist? Aber das ist nicht möglich“, sagte sie.

„Oh doch, glaub mir, und wie ich gereist bin“, sagte Keyra trotzig. „Und ich will jetzt verdammt noch mal wissen, warum!“

Clara fuhr sich fahrig mit der Hand über die Stirn und ließ sich gegen die Lehne des Stuhls sinken. „Das ist … Keyra, wenn ich gewusst hätte … Aber das hat es glaube ich noch nie gegeben …“

Jetzt bekam Keyra trotz ihrer Wut doch Angst. Ihre Großmutter war immer eine kontrollierte und vernünftige Frau. Sie so durcheinander zu sehen, war besorgniserregend. Sie ging wieder zu Clara und nahm ihre Hände.

„Oma bitte – ich will verstehen, was los ist. Rede mit mir!“

Clara gab sich einen sichtbaren Ruck. „Du hast recht. Wir müssen jetzt Ruhe bewahren. Und du musst so schnell wie möglich unterrichtet werden.“ Sie seufzte und drückte Keyras Hände. „Glaub mir, mein Mädchen, ich hätte dir den Schlüssel nicht einfach so gegeben, wenn ich geahnt hätte, dass das passieren würde. Aber eine Wächterin braucht normalerweise Monate, um den ersten Ruf zu hören.“

„Eine … was?“, fragte Keyra ungläubig.

„Ja, du bist eine Wächterin, so wie ich eine bin … oder eher war“, sagte Clara mit einem melancholischen Lächeln. „Aber lass mich von vorne beginnen. Setz dich wieder und trink deinen Tee.“

Automatisch gehorchte Keyra, so wie sie immer auf ihre Großmutter gehört hatte. Und während sie die warme Flüssigkeit in Mund und Kehle spürte, erzählte Clara.

„Ich war etwa in deinem Alter, als mich der Ruf ereilte. Allerdings war ich besser darauf vorbereitet als du: Sowohl mein Vater als auch meine Mutter hatten das Blut. Es war also absehbar, dass auch ich würde reisen können“, begann Clara. „Es war schnell klar, dass ich zu einer Zeitwächterin bestimmt war, und ich begann meine Ausbildung. Zeitwächter haben die Aufgabe, Dinge in der Vergangenheit zu … wie sage ich es … zu reparieren.“

„Du meinst, etwas, das schiefgelaufen ist, zu korrigieren?“, fragte Keyra fasziniert.

„So in der Art. Gewisse Dinge sind vorbestimmt und müssen sich so ereignen, wie sie es tun. Kommt etwas dazwischen, müssen die Zeitwächter eingreifen.“

„Wie kann denn etwas dazwischenkommen?“

„Das ist nicht so einfach zu erklären“, sagte Clara ausweichend. „Da gibt es viele Möglichkeiten. Du lernst das in deiner Ausbildung.“

„Es gibt eine Ausbildung? Muss ich die Schule wechseln?“

„Da hast du eine falsche Vorstellung, mein Schatz.“ Clara lachte. „Du wirst nicht nach Hogwarts geschickt, wenn du das denkst.“

„Ich denke gar nichts“, sagte Keyra sauer. „Ich will von dir wissen, was ich denken soll, aber du machst nur so komische Andeutungen.“

Clara rieb sich erneut die Stirn. „Ich weiß, aber ich habe auch nicht damit gerechnet, heute mit dir hier im Garten zu sitzen und diese Unterhaltung zu führen, weißt du?“

„Du hast recht“, sagte Keyra. „Aber es gibt so vieles, das ich nicht verstehe. Woher weiß denn ein Wächter, was er in der Vergangenheit tun muss?“

Clara seufzte. „Das ist kompliziert. Es ist zu einem großen Teil Instinkt, und auch Vorbereitung, und manchmal hast du Hilfe … Ach, es ist eigentlich nicht meine Aufgabe, dir solche Dinge zu erklären.“

„Wessen Aufgabe ist es dann?“

„Das wirst du noch erfahren.“

„Oma, du machst es schon wieder!“

„Aber ich weiß einfach nicht, wie viel ich dir sagen soll oder darf“, sagte Clara mit einer Spur von Verzweiflung. „Ich hätte mir vielleicht früher Unterstützung holen sollen. Aber ich war mir nicht sicher, ob du ebenfalls die Veranlagung hast, eine Wächterin zu werden. Dein Vater ist keiner von uns …“

„Aber Mutter war eine Wächterin?“, fragte Keyra aufgeregt. „Papa hat gesagt, sie hatte ebenfalls so einen Schlüssel, nur aus einem anderen Material.“

„Ja, auch sie hatte diese Gabe“, sagte Clara, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht. „Ihr Vater, also dein Großvater, hatte sie ebenfalls.“ Keyra hielt den Atem an. Weder ihre Großmutter noch ihre Mutter hatten je über ihren Großvater gesprochen. Auch jetzt wechselte Clara rasch das Thema.