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Ein seltsames Wispern … es lockt zum Teufelsloch! Im Steinau des 18. Jahrhunderts trifft Lisa auf Eifersucht, Spessarträuber und die Familie der Brüder Grimm. Doch ihre Abenteuer sind alles andere als märchenhaft, denn schon bald kommt wieder der Tod ins Spiel: Eine mysteriöse Mordserie an jungen Mädchen, die in der Nähe des Teufelslochs gefunden werden, erschüttert den Ort. Amtmann Grimm und seine Mannen jagen den Mörder, doch er scheint wie vom Erdboden verschluckt. Bei alledem muss Lisa sich entscheiden, ob sie bereit ist, ihre große Liebe Jonas Faust aufzugeben. Im zweiten Teil der historischen Kinzigtal-Trilogie entführt Tanja Bruske die Leser in die Welt der Barbarossastadt Gelnhausen, in den räuberischen Huttengrund und auf die Steinauer Via Regia und erzählt von Treidelbooten, Räubernestern, Schafshusten und schwarzer Brüh'.
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Seitenzahl: 454
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Das Buch:
15 Jahre sind vergangen, seit Lisa von dem mysteriösen Geisterwesen Leuchte in die Vergangenheit entführt wurde, um nur wenig später in ihre Zeit zurückgeschickt und von ihrer großen Liebe Jonas Faust getrennt zu werden. Nun ist sie erneut in der Zeit gestrandet – aber bei weitem nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat.
Im Steinau des 18. Jahrhunderts hilft ihr ausgerechnet Jonas Fausts erste Liebe Ruth, eine Anstellung zu finden. Lisa kommt im Amtshaus unter – als Kindermagd der Brüder Grimm. Doch ihre Abenteuer sind alles andere als märchenhaft, vor allem, weil bald schon wieder der Tod ins Spiel kommt. Am Teufelsloch, einem unheimlichen Platz im Wald, werden Mädchenleichen entdeckt. Und dieser Platz übt auf Lisa eine unheimliche Anziehungskraft aus. Tragen die berüchtigten Spessarträuber Schuld an den Mädchenmorden? Bei alledem muss Lisa sich entscheiden, ob sie bereit ist, ihre große Liebe Jonas Faust aufzugeben.
Die Autorin:
Tanja Bruske wuchs in Marköbel (Hessen) auf, verfasste im Grundschulalter erste Geschichten und wollte das Schreiben schon früh zum Beruf machen. Nach dem Abitur studierte sie Germanistik und Theater-, Film und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt. Während des Studiums arbeitete sie für Lokalzeitungen, absolvierte Praktika bei Funk und Fernsehen und volontierte schließlich bei der Gelnhäuser Neuen Zeitung, wo sie heute als Redakteurin arbeitet. 2007 erschien ihr erster Roman „Das ewige Lied“ und gewann beim Wettbewerb „Hessens verheißungs-vollstes Manuskript“ des Radiosenders FFH. In den Folgejahren veröffentlichte die Autorin einige Theaterstücke. Weitere Ver-öffentlichungen bei mainbook: „Leuchte“ (Kinzigtal-Trilogie – Band 1, ISBN 9783944124032)
Tod am Teufelsloch
von Tanja Bruske
Kinzigtal-Trilogie – Band 2:
Ein historischer Mystery-Roman
mainebook Verlag Frankfurt
ISBN 978-3-944124-94-0
Copyright © 2015 mainbook VerlagAlle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd FischerLayout: Olaf TischerCovermotiv: Die Teufelshöhle © Reiner Erdt (www.erdtling.de) - eineTropfsteinhöhle ca. 3 Km nördlich von Steinau
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Vorwort
Eigentlich war „Leuchte” ein abgeschlossener Roman.
Er erzählt die Geschichte von Lisa, die durch eine mysteriöse Lichterscheinung – in Marköbel und Umgebung als “Leuchte” bekannt – in die Vergangenheit befördert, dort in einen Mordfall verwickelt wird und in Jonas Faust ihre große Liebe findet.
Der Roman erzählt, wie Lisa im Jahre 1792 dem Schultheißen von Marköbel hilft, eine wichtige Entscheidung zu treffen und von der „Leuchte” wieder zurück in ihre Zeit gebracht wird.
Eigentlich war die Geschichte damit beendet.
Eigentlich ...
Mit einem dumpfen Knall schlug der Kofferraumdeckel zu. Schwer atmend stützte sich Lisa auf der Heckscheibe ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein großer Reise-Rucksack war alles, was sie mitnehmen würde. Doch in ihrem Auto stapelten sich noch zahlreiche Kisten und Pappkartons, die sie im Haus ihrer Freundin Kristina abstellen wollte.
Langsam wurde es ruhig in Rüdigheim. Es war ein warmer Frühlingstag gewesen, der sich jetzt dem Ende entgegen neigte. Lisa konnte den nahenden Sommer riechen, ein Versprechen von Sonne und Erdbeeren. Doch wenn die roten Gartenfrüchte zum Pflücken bereit wären, würde sie schon nicht mehr hier sein.
Noch einmal stieg Lisa die wenigen Stufen hinauf und ging in die leer geräumte Wohnung. Wehmütig sah sie sich um. Sie hatte die vergangenen zehn Jahre in diesen Räumen gelebt, geliebt und gestritten. Vor allem gestritten, wenn sie es genau bedachte. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Es war vorbei. Patrick war schon lange weg.
Die Zimmer waren kahl und kalt. Ihre Wohnzimmermöbel hatte sie bei ihren Eltern in Marköbel abgestellt. Die Schlafzimmereinrichtung hatte Patrick mitgenommen. Am dritten Zimmer ging sie vorbei. Es war immer nur ein Abstellraum gewesen. Sie hatten es nie eingerichtet. Und nie gebraucht.
Die Einbauküche würde ihr Nachmieter übernehmen. Sie hätte sie behalten können, doch was sollte sie während des kommenden Jahres damit anfangen? Es war schwierig genug, ihre anderen Habseligkeiten während ihres Sabbatjahres irgendwo unterzubringen.
Ein letztes Mal strich Lisa mit der Handfläche über die Arbeitsplatte in der Küche – „Rosenholz“ hieß die Farbe. Patrick hatte sie ausgesucht. Dann drehte sie sich entschlossen um und verließ das Haus, in dem sie nun nichts mehr zu suchen hatte.
Schwungvoll setzte sich Lisa auf den Fahrersitz ihres Fiat 500 und atmete tief ein. Es konnte losgehen. „Bist du bereit, Elvis?“, fragte sie in bemüht munterem Ton. Im Hamsterkäfig auf dem Beifahrersitz raschelte es leise. Der kleine Nager wurde zu dieser Stunde gerade erst munter. „Du brauchst keine Angst vor Kristina zu haben, sie wird gut für dich sorgen“, plauderte Lisa, während sie den Motor anließ und einen Blick über die Schulter warf. Es waren verhältnismäßig viele Menschen auf der Gelnhäuser Straße unterwegs – im Bürgerhaus war am Abend „Tanz in den Mai“, und die Besucher machten sich auf den Weg dorthin.
Elvis steckte seine Schnurrhaare aus seinem Häuschen und schnüffelte abschätzig. „Vor Kristinas Jungs solltest du dich allerdings in Acht nehmen“, murmelte Lisa und ließ das Auto anrollen. Sie mochte die Zwillinge, doch die Sechsjährigen würden mit ihrer Wildheit selbst Mary Poppins zur Weißglut bringen. Lisa war sich aber sicher, dass ihre Freundin ihren Hamster vor Unheil in Form von ferngesteuerten Autos und klebrigen Lutschern bewahren würde.
Eine halbe Stunde später parkte sie vor dem kleinen Haus im Hanauer Stadtteil Kesselstadt. Mit Hilfe von Kristinas Mann Ulf hievte sie ihre Kisten in den Keller, während Kristina unter dem Gejohle der Zwillinge einen sicheren Platz für den Hamsterkäfig suchte.
„Vielleicht ziehe ich noch einen Stacheldrahtzaun drum herum“, meinte Kristina, als sie wenig später mit Lisa auf den Treppenstufen vor ihrem Haus saß und den Wolken zusah, die über dem Main ein Aquarellmuster vor dem lila und rosa verfärbten Himmel malten. „Willst du wirklich keins?“, fragte Kristina und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche.
Lisa schüttelte den Kopf und hob die Flasche Cola: „Ich bleibe brav – ich habe noch ein gutes Stück zu fahren heute Abend.“
„Hm-hm“, brummte Kristina unverbindlich und klickte mit ihren künstlichen Fingernägeln gegen die Bierflasche. „Du willst wirklich heute Abend noch aufbrechen? Nicht noch eine Nacht bei deinen Eltern schlafen?“
„Um Gottes willen, nein“, wehrte Lisa ab. „Ich habe mich gestern schon von den beiden verabschiedet. Meine Mutter war in Tränen aufgelöst. Wenn ich noch einmal nach Marköbel fahre, bleibe ich für immer dort.“
„Das wäre vielleicht das Beste“, murmelte Kristina.
Lisa seufzte. Weder ihre Familie, noch ihre Freunde waren begeistert gewesen, als sie ihnen von ihrem Entschluss berichtet hatte.
„Weltreise? Und wovon willst du leben?“, hatte ihr Vater fassungslos nachgefragt. Das Konzept eines Sabbatjahres war seiner Generation natürlich fremd. Lisa hatte ihm erklärt, dass sie im vergangenen Jahr an der Universität Überstunden angehäuft hatte und auch nach der Auszeit mehr arbeiten wollte, dafür in diesem Jahr ein bescheidenes Gehalt bekommen würde. Sie hatte ihm nicht erzählt, dass sie das Sabbatjahr eigentlich schon seit Jahren wegen ihrer Familienplanung vorbereitet hatte. Und dass sie nie dazu gekommen war, es zu nehmen.
„Ist es wegen der Trennung von Patrick?“, hatte ihre Mutter gefragt. „Ja“, hatte Lisa geantwortet. Ihre Mutter verstand das. Lisa hatte jedoch gelogen. Es war nicht wegen Patrick. Es war wegen allem. Und vor allem wegen Jonas.
Versonnen ließ Lisa die Hand in ihre Handtasche gleiten und fühlte den kalten, glatten Stein, spürte mit den Fingern die Herzform nach. Jeden Morgen steckte sie den Stein in ihre Hosentasche oder, falls sie wie heute ein Kleid trug, in die Handtasche. Jeden Abend legte sie ihn unter ihr Kopfkissen. Patrick hatte das nie bemerkt. Zumindest hatte sie das gedacht. Bis er ihr während einer der unschönen Szenen, die zuletzt immer häufiger vorkamen, vorwarf, dass sie an einem Hirngespinst hing.
War Jonas ein Hirngespinst? Das fragte sich Lisa seit 15 Jahren. Mittlerweile glaubte sie fast selbst daran, dass sie sich ihre Erlebnisse im Jahr 1792 nur eingebildet hatte, dass sie nach ihrem Autounfall unter Schock durch den Wald geirrt war und ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt hatte. Dass es Jonas nie gegeben hatte.
Fast. Doch da war der herzförmige Stein mit den verwitterten Linien. Außer ihr würde wohl niemand dort ein K, ein L und ein J erkennen. Doch Lisa wusste, dass jemand diese Buchstaben dort eingeritzt hatte.
„Wohin fährst du zuerst?“, riss Kristina sie aus ihren Gedanken. Lisa blinzelte verwirrt, ehe ihre Gedanken in die Gegenwart zurückkehrten.
„Als erstes will ich nach Irland“, sagte sie. Die grüne Insel hatte sie schon immer bereisen wollen. „Ich schau mal, ob ich es heute Abend noch bis Köln schaffe.“
Kristina verzog das Gesicht: „Linksverkehr!“
Lisa lachte. „Das schaffe ich schon.“
„Das glaub ich dir aufs Wort. Du bist ein Dickkopf.“
„Ja, das habe ich schon öfter gehört.“
Die beiden schwiegen eine Weile und tranken ihre Flaschen leer. Dann stieß Kristina einen tiefen Seufzer aus: „Ich könnte Patrick erwürgen.“
„Lass es, Kristina.“
„Nein, ich lasse es nicht. Er ist schuld, dass meine beste Freundin abhaut.“
Lisa setzte ein Lächeln auf „Da liegst du falsch. Wir haben uns in beiderseitigem Einvernehmen getrennt, wie es so schön heißt.“
Kristina starrte auf ihre Schuhspitzen. „Meinst du, es wäre anders gekommen, wenn ihr Kinder gehabt hättet?“
Lisas Lächeln verblasste. „Vielleicht.“
„Mami! Gutenachtkuss!“, brüllten die Zwillinge im Obergeschoss im Duett.
„Mami unterhält sich gerade“, brüllte Kristina zurück.
Lisa grinste und erhob sich. „Geh ruhig. Ich will ohnehin los.“
Ihre Freundin stand ebenfalls auf und nahm Lisa fest in die Arme. „Mach‘s gut, Süße. Und meld dich mal!“
Lisa spürte durch den dünnen Stoff ihres hellen Musselinkleides den beruhigend kräftigen Herzschlag ihrer Freundin. Sie erwiderte die Umarmung wortlos, drehte sich um und ging zu ihrem Wagen.
„Ich werde auf deine kleine Ratte gut aufpassen!“, rief ihr Kristina hinterher.
„Hamster“, antwortete Lisa und winkte aus dem Fenster. Goldhamster hatten eine Lebenserwartung von zwei bis drei Jahren. Elvis war zwei. Lisa glaubte nicht, dass sie das Fellknäuel noch einmal sehen würde. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie mit dem Wagen auf die von Lampen erhellte Philippsruher Allee fuhr und in den Verkehr einfädelte.
„Deiner Beziehung weinst du keine Träne nach, aber wegen dem blöden Hamster heulst du rum“, schniefte sie, wütend auf sich selbst. Die Wahrheit über ihr Beziehungsende kannten nur sie und Patrick. Die meisten glaubten, sie hätten sich getrennt, weil Lisa keine Kinder bekommen konnte. In Wirklichkeit hatte sie sich von Patrick getrennt, weil er es weiter versuchen wollte – aber sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Patrick wollte unbedingt ein Kind. Wahrscheinlich dachte er, wie Kristina, dass das ihre Beziehung kitten würde. Doch Lisa hatte es satt. Das Hoffen, das Bangen, die Hormone, die Untersuchungen. Der Neid, wenn eine ihrer Freundinnen schwanger wurde. Schon wieder.
Und so hatte sie sich kurz entschlossen von ihrem Frauenarzt die Drei-Monats-Spritze geben lassen, um wieder zu verhüten. Es sah zwar nicht so aus, als ob in ihrem Fall überhaupt irgend eine Art von Verhütung notwendig wäre, aber Lisa wollte einfach dieses Gefühl der Unsicherheit loswerden. Sie wollte wissen, woran sie war.
Patrick war vollkommen ausgeflippt, als sie ihm ihren Entschluss mitgeteilt hatte. Natürlich konnte sie ihn verstehen. Aber sie konnte auch nicht immer so weitermachen. Das Ironische war: Nachdem sie sich getrennt hatten, brauchte Lisa die Spritzen, wegen denen es Ärger gegeben hatte, nicht mehr.
Lisa wischte sich die Tränen ab und lenkte das Auto auf die Nussallee und ihre Gedanken in eine andere Richtung. Ein Jahr Auszeit würde ihr gut tun. Dabei liebte sie ihren Job als Dozentin an der Uni. Er ließ ihr Freiraum für Forschungen. Sie galt mittlerweile als kleine Kapazität für Geschichte und Literatur der Romantik. Ihr Wissen hatte sie sich hart erarbeitet, während sie still und heimlich in den Archiven nach Beweisen für die Existenz eines gewissen Dr. Jonas Faust suchte. Bislang erfolglos. Sie musste sich eingestehen, dass sie dringend Abstand von ihrer Recherche brauchte, die fast zur Gralssuche geworden war.
Der Fiat bog in die Kleine Hainstraße ab. In der Hanauer Vorstadt war um diese Uhrzeit kein Betrieb mehr auf den Straßen. Es war düster und dunstig, sodass sich die Haut unangenehm und klebrig anfühlte. Während Lisa den Wagen auf die bis auf eine Passantin leere Kinzigbrücke hinauffuhr, drückte sie einen Schalter in der Mittelkonsole, um die Scheibe hinuntergleiten zu lassen. Kühler Nachtwind strich ihr über die Wangen.
Plötzlich trat die Frau auf der Brücke vom Gehsteig auf die Straße – nur wenige Meter vor dem Fiat –, wandte den Kopf und starrte Lisa entgegen. Sie trug ein weites, weißes Kleid. Ihre dunklen Augen stachen übergroß aus dem leichenblassen, alterslosen Gesicht hervor. Weiße Haare hingen ihr wirr über die Schultern. Ein dünnes rotes Band umschloss eng ihren Hals.
Das alles registrierte Lisa innerhalb einer Sekunde, bevor sie schrie, wie wild auf die Bremse trat und das Lenkrad verriss. Sie reagierte genau so, wie man nicht reagieren sollte, wenn man mit einem plötzlichen Hindernis auf der Straße konfrontiert wird. Ihr Fiat hingegen machte genau das, was Autos in so einem Fall zu tun pflegen: Er geriet ins Schleudern, brach nach rechts aus und prallte gegen die Brüstung der Brücke. Es war seltsam: Der Wagen durchbrach die Begrenzung, als wäre sie aus Pappe. Lisa stürzte mit ihrem Auto mehrere Meter hinab in die Kinzig. Fassungslos darüber, dass die stabile Brückenkonstruktion so einfach nachgegeben hatte, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: „Nicht schon wieder!“
Als das Auto auf der Wasseroberfläche aufschlug, lösten sich die Airbags. Das Luftkissen donnerte Lisa ins Gesicht. Kurz war sie benommen, dann kämpfte sie gegen den Kunststoffsack an, der ihre Sicht und ihre Bewegungsfreiheit einschränkte. Sie registrierte, dass sie zusammen mit dem Auto bereits im Fluss versank und das Wasser zum geöffneten Fenster und durch die Lüftungsschlitze hereinströmte. Panik stieg in ihr auf. Hastig löste sie den Gurtverschluss. Sie erinnerte sich vage, gehört zu haben, dass man die Türen eines Autos wegen des Wasserdrucks nicht aufbekomme, wenn es noch mit Luft gefüllt sei. Natürlich probierte sie es trotzdem. Erfolglos. Also zwang sie sich, zu warten, während das Auto tiefer ins Wasser sank.
Als es dabei leicht zur Seite kippte, erhaschte Lisa einen Blick auf die Kinzigbrücke. Oben, an der Stelle, durch die das Auto gebrochen war, standen die geborstenen Stahlstreben wie die Reißzähne einer futuristischen Bestie in alle Richtungen.
„Wie zur Hölle konnte mein Auto da durchbrechen?“, dachte Lisa.
In der gewaltsam gerissenen Lücke stand die Frau im weißen Kleid und starrte herunter. Ihre dunklen Augen brannten sich in Lisas Blick, ehe der Fiat mit einem dumpfen Glucksen versank.
Lisa gelang es gerade noch, Luft zu holen, dann schlug das Wasser über ihr zusammen. Dunkelheit umschloss sie, als sie nach dem Türgriff tastete und daran rüttelte. Doch entweder hatten die Physiker, die ihr vom Phänomen des Unter-Wasser-Tür-Öffnens berichtet hatten, keine Ahnung gehabt oder die Tür hatte sich bei dem Sturz schlicht und einfach verklemmt – jedenfalls ging sie nicht auf. Angst stieg in Lisa auf, ebenso eiskalt wie das Wasser der Kinzig.
Kurzentschlossen drängte sie sich durch das offene Fenster, steckte zuerst Kopf und Schultern nach draußen, stützte sich dann mit den Händen am Chassisrahmen ab und zog sich hinaus. Sie wünschte, sie hätte sich in den vergangenen Monaten etwas mit dem Konsum ihrer Lieblingseiscreme zurückgehalten, denn es wurde ganz schön eng. Doch mit etwas Ruckeln schaffte sie es.
Kaum war sie draußen, fiel ihr die Handtasche auf dem Beifahrersitz ein. Sie drehte sich um. Hielt sich mit einer Hand am Fenster fest, griff mit der anderen ins Innere nach der kleinen schwarzen Tasche und zog. Doch die Tasche hing fest, hatte sich mit dem Träger an der Handbremse verheddert.
Lisa versuchte, sie an sich zu reißen, doch ihre Luft wurde knapp. Sie griff ins Innere der Tasche, umschloss den herzförmigen Stein mit den Fingern und ließ das Auto los.
Sie spürte den Drang, ihre Lungen mit Luft zu füllen und versuchte, sich zu orientieren. Die Erfahrung von 35 Tauchgängen half ihr dabei, oben und unten zu unterscheiden. Die Wasseroberfläche war viel weiter entfernt, als Lisa vermutet hätte. Sie strebte mit kräftigen Schwimmstößen nach oben. An der Oberfläche flackerte ein Licht. Vielleicht hatte die Frau im weißen Kleid ein Auto angehalten und jemand leuchtete mit einer Taschenlampe ins Wasser.
Lisa klammerte sich an den Lichtschein und strebte darauf zu, die linke Hand immer noch fest um ihren Stein geklammert. Sie spürte, wie ihre Kräfte erlahmten, ihre Schwimmbewegungen kraftloser wurden. Ein Tonnengewicht schien ihren Brustkorb zusammen zu pressen. Vor ihren Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen, die das Licht über ihr verdunkelten. In wenigen Sekunden würde sie dem Drang nachgeben und das Wasser einatmen.
Ihre Sinne schwanden in dem Moment, als Lisa mit dem nach oben ausgestreckten Arm die Wasseroberfläche durchbrach. Ihr wurde schwarz vor Augen, es rauschte in ihren Ohren. Sie öffnete den Mund und dachte: „Das war es also ...“
Stimmen wurde laut, die Lisa nicht verstehen konnte. Jemand packte ihren Arm und riss sie nach oben. Nur halb bei Bewusstsein spuckte sie das Wasser aus und schnappte nach der köstlichen, frischen Nachtluft.
„Sie lebt“, rief ein Mann, und Lisa spürte, dass sie in die Höhe gehoben und auf harten Holzplanken abgelegt wurde. Noch immer sah sie nur schwarze Schemen und kämpfte um jeden einzelnen Atemzug.
„Holt Decken, sie ist kalt wie Eis!“, hörte Lisa eine Frauenstimme, ganz nah. Ihr Kopf wurde weich gebettet, und zarte Hände strichen ihr die nassen Haare aus dem Gesicht, murmelten Worte, die Lisa nicht verstand, die aber beruhigend klangen. Ob das die Frau im weißen Kleid war, der sie ausgewichen war? Mühsam öffnete Lisa die Augen – und schnappte noch einmal nach Luft.
Über sich sah sie das Gesicht einer jungen, hübschen Frau. Es war nicht die Unbekannte von der Brücke. Aber auch sie hatte große, dunkle Augen. Rotbraune Haare flossen in Wellen unter ihrem leuchtend roten Cape hervor. Lisa kannte dieses Gesicht. Es hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Es gehörte Ruth – einer Frau, die seit über 200 Jahren tot war.
Lisas Herz schien stillzustehen. Kälte umfing sie, dann verließen sie die Sinne.
Schwärze, nichts als Schwärze. Lisa kämpfte sich durch die Dunkelheit wie durch zähen Brei. Sie konnte kaum atmen. Panik überkam sie. Sie musste nach oben, doch sie konnte ihre Arme und Beine kaum bewegen. Mühsam strampelte sie sich aufwärts, bis sie gegen die Dunkelheit stieß. Sie spannte sich wie ein dichtes schwarzes Leinentuch über ihr. Es gab kein Durchkommen. Energisch packte Lisa mit beiden Händen zu, zerriss das Tuch. Gleißendes Licht blendete sie.
Lisa schlug die Augen auf – und lag wieder im Dunkeln. Es war rabenschwarze Nacht. Der Traum hatte sie tief verstört. Die Unfallfahrt, der Kampf gegen die Dunkelheit – und Ruth ...
Lisa keuchte schwer. Der Unfall war kein Traum gewesen. Das wurde ihr schlagartig bewusst. Und auch ihr Entkommen aus dem untergegangenen Auto war Realität. Ruckartig setzte sie sich auf – und stieß sich heftig den Kopf. Ein Schmerzenslaut entfuhr ihr. Wo zum Teufel war sie?
Lisa zwang sich, ruhig zu atmen und hielt sich den pochenden Schädel. Um herauszufinden, was hier los war, musste sie ihre Lage besser erfassen. Also: Sie befand sich – offensichtlich – in einem niedrigen Raum in völliger Dunkelheit. Langsam tastete sie ihre Umgebung ab. Wände, Decke und Boden bestanden aus Holz. Sie hatte auf einer flachen Pritsche gelegen, auf der es keine Matratze, sondern lediglich ein paar grobe Leinendecken gab. Lisa stand gebückt und lauschte. Sie hörte ein Pferd wiehern und ein leises Rauschen. Und da sie sich nun nicht mehr rührte, bemerkte sie, dass der Boden unter ihren Füßen leicht schwankte. „Ich bin auf einem Boot“, flüsterte sie.
Direkt über ihr öffnete sich eine Luke. Gedämpftes Licht fiel in die flache Koje. Lisa blinzelte. Das wettergegerbte Gesicht eines älteren Mannes erschien in der Öffnung. Mit wachen, blauen Augen spähte er herunter. Als er Lisa sah, grinste er breit. „Ruth, dein Fischlein hat seinen Schlaf beendet“, rief er über die Schulter.
Ruth. Der Name traf Lisa ins Mark. Also war auch das kein Traum gewesen. Sie hörte Rascheln und Schritte an Deck, doch ehe sie sich nähern konnten, war Lisa schon zur Luke gesprungen und zog sich an Deck. Der alte Mann prallte erschrocken zurück – mit Lisas Reaktion hatte er nicht gerechnet. Hastig wich er weiter zurück, sodass Lisa vollends ins Freie klettern konnte.
Mit raschem Blick erfasste sie ihre Umgebung. Sie befand sich auf einem kleinen, einmastigen Boot. Sie fuhren über ein nächtliches Gewässer, anscheinend ein Fluss, über dessen Oberfläche leichter Dunst trieb. Die kleine Kammer, in der sie geruht hatte, befand sich im flachen Bug des Rumpfes. Ein schmaler Aufbau erhob sich in der Mitte des Bootes. Aus ihm trat eine junge Frau heraus. Es war Ruth.
Lisa verschlug es den Atem. Es war 15 Jahre her, dass sie Ruths Portrait in einem kleinen Medaillon gesehen hatte. Und doch wusste sie mit Sicherheit, wen sie vor sich hatte: Jonas Fausts große Liebe. Die ausdrucksstarken dunklen Augen waren unverwechselbar. Das konnte nur eins bedeuten: Lisa war zurück. Zurück in der Vergangenheit.
Gleichzeitig traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag: Ruth lebte. Sie war genauso jung und schön wie damals. Nur sie selbst, Lisa, war um 15 Jahre gealtert.
Plötzlich gaben ihre Knie nach. Sie hatte so lange nach einem Weg zurück gesucht. Oder zumindest nach einer Erklärung. Und nun war sie hier. Und doch war alles umsonst. Denn wenn Jonas erfahren würde, dass Ruth nicht tot war, würde er Lisa – dessen war sie sich sicher – nicht mehr wollen.
Lisa taumelte, und der Mann hielt sie am Arm fest, damit sie nicht stürzte. Mit einem besorgten Ausruf eilte Ruth zu ihr: „Seid vorsichtig! Ihr seid bestimmt noch schwach.“ Sie griff unter Lisas anderen Arm und führte sie behutsam in den Bootsaufbau. Dort befanden sich eine schmale Koje und ein wackeliger Holztisch. Lisa ließ sich auf die Pritsche sinken. Ruth goss etwas Würzwein aus einem irdenen Krug in einen Becher und reichte ihn ihr.
Während Lisa einen Schluck nahm und darauf wartete, dass sich ihr Herzschlag beruhigte, schossen ihr Tausende Fragen durch den Kopf. Einerseits war sie tief enttäuscht. Andererseits unendlich neugierig. Was hatte das zu bedeuten? Warum lebte Ruth noch? Wie viel Zeit war hier vergangen?
Lisa musterte Ruth. Die junge Frau trug nach wie vor das rote Cape über einem hellen Chemisenkleid aus Musselin. Ihre rotbraunen Locken lagen offen auf ihren Schultern, sie trug weder Hut noch Häubchen, wie Lisa etwas indigniert feststellte. Das konnte natürlich auch an der späten Stunde liegen, aber es gab einer jungen Frau dieser Zeit etwas Trotziges, fast Verruchtes.
Lisa bemerkte, dass sie ihrerseits von Ruth beobachtet wurde. Plötzlich sah sie sich mit ihren Augen: die dunklen Haare ebenfalls offen und lose und wahrscheinlich ziemlich zerzaust, das Kleid immer noch etwas feucht am Körper klebend ...
Erschrocken blickte Lisa an sich hinab. Ihr weißes Sommerkleid war durchaus modisch – im 18. Jahrhundert ginge es allerdings höchstens als Unterwäsche durch. „Himmel!“, entfuhr es ihr. Hektisch stellte sie den Becher auf dem Tisch ab und raffte die Decke, die auf der Pritsche lag, um sich.
„Beruhigt Euch, es ist alles gut“, sagte Ruth beschwichtigend, aber in verständnisvollem Ton.
„Aber ... ich ... mein Kleid ...“, stammelte Lisa beschämt und verwirrt. In den Augen dieser Menschen war sie praktisch nackt.
„Ganz ruhig“, sagte Ruth und lächelte aufmunternd. „Niemand hat Euch berührt, nur ich und mein Onkel Ezra. Wir haben Euch aus dem Wasser gefischt, und als Ihr bewusstlos wurdet, in meine Kabine gelegt. Der Halfterer hat Euch nicht gesehen. Und Onkel Ezra ist ... alt.“
Lisa hatte keine Ahnung, was ein Halfterer war – sie hatte das Wort zwar schon einmal gehört, kam aber nicht auf seine Bedeutung. Doch scheinbar sollte sie froh darüber sein, dass er ihre Blöße nicht gesehen hatte, also lächelte sie zaghaft.
Ruth lächelte zurück. „Mein Name ist Ruth Löb.“
Ich weiß, dachte Lisa, verstand aber die unausgesprochene Frage. „Ich bin Elisabeth Schmidt.“
Ruth lächelte erneut, wurde dann jedoch ernst: „Was ist Euch zugestoßen?“
Das wüsste ich auch gerne, dachte Lisa. Sie griff wieder nach dem Becher und nahm einen Schluck Wasser, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Dann antwortete sie ehrlich: „Ich weiß es nicht. Wo habt Ihr mich gefunden?“
„Wir haben Euch in Hanau aus der Kinzig gezogen. Ihr hattet Glück, dass Onkel Ezra Euch in der Dunkelheit überhaupt entdeckt hat.“
Es war immer noch Nacht. Lisa konnte also nicht lange ohne Bewusstsein gewesen sein.
„Das hier hattet Ihr in der Hand.” Ruth reichte ihr den herzförmigen Stein. Lisa griff ihn so hastig, dass er ihr beinahe entglitten wäre, und barg ihn schützend an ihrer Brust. Er schien in ihrer Hand zu pulsieren.
Ruths dunkle Augen hafteten neugierig an ihrem Gesicht. Lisa konnte nicht anders, als zurück zu starren. Wie kam es, dass sie so jung war?
„Warum seid Ihr so spät auf dem Fluss unterwegs?“ fragte Lisa, die beschloss, in die Gegenoffensive zu gehen.
Ruth zögerte unmerklich. „Wir ... Onkel Ezra hat es eilig. Wir haben den Schabbat in Hanau bei Verwandten verbracht und sind gleich nach Sonnenuntergang aufgebrochen.“
Wie hätte Lisa vergessen können, dass Ruth Jüdin war. Gerade darin lag ja der Grund, warum sie und Jonas nicht zusammen bleiben durften. Lisa klammerte sich an den von Ruth gelieferten Informationsfetzen.
„Wir haben also Sonntag? Ihr müsst verzeihen, ich habe wohl einen Schlag auf den Kopf bekommen.“ Lisa fasste sich demonstrativ an den Hinterkopf. Sie sollte sich jetzt schnell eine Geschichte einfallen lassen, die ihre Situation erklärte. Sie griff instinktiv auf eine Lügengeschichte zurück, die schon einmal funktioniert hatte. „Ich habe meine Stellung verloren, weil meine Dienstherren fortgezogen sind. Deswegen war ich auf dem Weg nach Frankfurt, um mir eine neue Stelle zu suchen. Ich kam sehr spät in Hanau an. Als ich die Kinzigbrücke überquerte, wurde ich plötzlich angegriffen.“
Ruth betrachtete sie mitfühlend: „Habt Ihr die Angreifer gesehen?“
Lisa gab sich hilflos, und dafür musste sie nicht einmal großartig schauspielern. „Ich erinnere mich nicht. Aber ich befürchte, ich wurde ausgeraubt.“ Sie blickte an sich herab und tat entrüstet: „Ganz sicher war ich nicht im Unterkleid unterwegs.“
„Selbst die Kleider haben Euch die Halunken genommen?“, rief Ruth empört.
Fast hätte Lisa laut aufgelacht. Ruth hatte ihre Geschichte geschluckt. Als die junge Frau in einer Reisetruhe zu wühlen begann, die hinter ihr in der Kabine stand, bekam Lisa ein schlechtes Gewissen.
Ruth hielt ihr ein einfach geschnittenes, scharlachrotes Kleid entgegen. Lisa nahm es dankbar und begann, sich zu entkleiden.
„Leider habe ich kein weiteres Mieder für Euch”, sagte Ruth entschuldigend und schloss zuvorkommend die Tür, sodass der Bootsführer sie nicht sehen konnte.
„Dann muss es ohne gehen”, sagte Lisa, die eigentlich ganz dankbar dafür war. Das Kleid ähnelte dem, das Ruth trug, nur, dass Ruths Kleid weiß war. Es war bodenlang, hatte aber keine Schleppe. Unterhalb des Brustkorbes war es abgenäht, die Ärmel waren halblang. Lisa versuchte, daran die modische Epoche abzuschätzen: War das bereits der mit den französischen Besatzern aufkommende Empire-Stil? Oder noch der Vorläufer aus der Zeit des Directoire? Eigentlich war es dafür, bis auf die Farbe, zu brav und sah noch sehr nach Revolutionsmode aus.
Während Lisa hineinschlüpfte, fragte sie: „Entschuldigt meine Unkenntnis – der Schlag auf meinen Kopf muss doch recht heftig gewesen sein – aber welches Datum schreiben wir?“
Ruth begutachtete sie kritisch. „Den 1. Mai. Ihr habt nur eine Stunde geruht. In wenigen Stunden erreichen wir Gelnhausen.“
Lisa stutzte. „Was wollt Ihr in Gelnhausen?“
Ruth lächelte, doch es war kein fröhliches Lächeln. „Onkel Ezra will seine Waren verkaufen und mich in eine Kutsche Richtung Schlüchtern setzen. Dort lebt meine Familie.“
Das war Lisa neu. Aus Jonas’ Erzählungen hatte sie geschlossen, dass Ruths Familie aus dem Raum Heidelberg kam, wo er sie kennengelernt hatte.
Ruth seufzte. „Ich war lange Zeit fort, ich habe drei Jahre bei meiner Tante in Heidelberg gelebt.“
Lisa stockte der Atem. „Ihr seid jetzt auf dem Weg zu Eurer Familie? Habt Ihr zuvor schon einmal bei Eurer Tante gelebt?“
Ruth sah erstaunt aus. „Nein, ich bin zu ihr gekommen, als ich 15 Jahre alt war.“
Patrick hatte sich immer über Lisas mangelhafte Mathematikbegabung lustig gemacht, aber so weit konnte selbst sie rechnen. „Das heißt, ihr seid 18 Jahre alt?“ Lisas Stimme zitterte.
Ruth nickte. Sie wirkte etwas irritiert. „Ja, ich bin am 23. Februar 1773 geboren. Wie alt seid Ihr?“
Lisas Antwort kam automatisch. „35 Jahre.“ Sie bereute sie sofort. Ruths Blick wurde ungläubig, und sie runzelte die Stirn. Verflixt. Lisa hatte nicht aufgepasst. Eine 35-Jährige dieser Zeit würde deutlich älter aussehen als Lisa, die in den Genuss von moderner Zahnmedizin und Gesichtspflegeprodukten von Proctor und Gamble gekommen war. „Ähm, ich meine 25 – ich bin irgendwie sehr verwirrt“, verbesserte sie sich rasch.
Ruths Stirn glättete sich, doch sie war noch immer erstaunt. „Ihr seht noch so jung aus“, sagte sie zögernd.
Lisa lächelte bemüht. „Das höre ich oft.“ Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie nachrechnete. Sie war im Jahr 1791. Also ein Jahr weiter zurückgereist, als beim letzten Mal.
„Und jetzt fahrt Ihr zu Eurer Familie?“, fragte Lisa mit schwacher Stimme.
Ruth nickte, doch ihre Miene wurde verschlossen. „Ja, ich muss zu meinem Vater. Ich konnte nicht länger in Heidelberg bleiben.“
Sie schwieg, doch Lisa wusste, was geschehen war. Ruth und Jonas hatten sich verliebt, aber er hatte sie verlassen, weil er sich nicht im Stande sah, ein jüdisches Mädchen zu heiraten. Ob er es bereits bereute? Denn dass es so kommen würde, wusste Lisa ganz genau. Und sie erinnerte sich auch nur zu gut daran, dass Jonas zu spät kommen würde. Er würde in Heidelberg vom Tod seiner Geliebten erfahren.
Langsam ließ sich Lisa auf die hölzerne Bank sinken. Sie war vollkommen ratlos. Jahrelang hatte sie einen Weg zurück gesucht, und jetzt, wo sie irgendwie einen Übergang gefunden hatte – wenn auch unbeabsichtigt – war alles umsonst. Sie war in der Zeit zu weit zurück gereist. Jonas und sie waren sich noch nicht einmal begegnet. Sie war etliche Jahre älter als er und damit für ihn eine alte Frau. Und selbst wenn sie ihn finden würde – er liebte Ruth. Die lebendige Ruth, die vor ihr saß und sie aus ihren großen Augen anschaute. Der Stein war plötzlich eiskalt in ihrer Hand.
„Geht es Euch nicht gut?“, fragte Ruth besorgt und trat an ihre Seite.
Lisa holte tief Luft, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen. „Doch ... nein, es ist nur ... Ich musste gerade an jemanden denken, den ich verloren habe.“
Ruth legte mitfühlend eine Hand auf ihre Schulter: „Oh, das tut mir leid. Eure Familie?“
Lisa schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen weg, die aber weiter ihre Wangen hinab liefen. „Nein ... es war jemand, den ich sehr geliebt habe.“
Ruths Blick wurde weich. „Ich kann Euch so gut verstehen. Ich habe auch gerade eine schwere Enttäuschung erlebt.“ Die Stimme der jungen Jüdin zitterte, und plötzlich fand sich Lisa in einer Umarmung wieder: Ruth schluchzte gemeinsam mit ihr.
Verrückt, dachte Lisa. Wir weinen um denselben Mann. Nur, dass Ruth eigentlich keinen Grund dazu hatte. Denn Jonas würde zu ihr zurückkehren. Und wenn Ruth nicht in die Kutsche nach Stuttgart steigen würde, in die ihr Vater sie in Kürze setzen wollte, würde sie vielleicht mit Jonas glücklich werden. Lisas Mund wurde trocken. Sollte sie dafür sorgen, dass Ruth jene Kutsche nicht bestieg?
Nach einigen Minuten des gemeinsamen Schluchzens richtete sich Ruth auf. „Wollt Ihr mir von Eurem Verlust erzählen?“, fragte sie leise.
Lisa wischte sich die Tränen ab. „Viel gibt es nicht zu erzählen. Ich habe ihn geliebt. Aber ich habe vor Kurzem erfahren, dass es keine Zukunft für uns gibt.“ Sie sah Ruth an und war sich der absurden Situation bewusst. „Er liebt eine andere“, sagte sie leise.
Ruth ergriff ihre Hände. „Oh meine Liebe“, rief sie. „Wir sind Leidensgenossinnen. Wollen wir Freundinnen sein?“ Lisa hatte Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. Ruth war so ganz ein Kind ihrer Zeit, zwischen Sturm und Drang und Romantik. Wahrscheinlich hatte sie den Werther hundert Mal gelesen. Dennoch erwiderte sie den Händedruck und sagte: „Ich würde mich freuen, Euch eine Freundin nennen zu dürfen. Nennt mich Lisa.“
„Dann müssen wir auch du sagen“, meinte Ruth und strahlte. Lisa betrachtete sie. Sie konnte verstehen, warum sich Jonas in das blühende Mädchen verliebt hatte.
„Jetzt lass uns überlegen, was wir mit dir anfangen“, sagte Ruth resolut.
Lisa war verwirrt. „Ähm, wieso anfangen?“
„Nun ja, was hast du jetzt vor? Du besitzt nichts mehr auf der Welt – hast du Familie, an die du dich wenden könntest?“
„Nein, keine Seele.“
„Und deine alte Herrschaft?“
„Nach Hamburg verzogen. Ich habe mich mit der Herrin ohnehin nie verstanden, ich könnte sie nie um Hilfe bitten.“ Man gewöhnt sich so schnell ans Lügen, dachte Lisa.
Ruth legte die Stirn in Falten. Dann leuchteten ihre Augen auf. „Jetzt weiß ich. Du kommst erst mal mit nach Schlüchtern. Mein Onkel kennt jeden, von Fulda bis Friedberg und Frankfurt. Er ist Schadchen, weiß du“, sagte sie, als würde das alles erklären. Lisa blinzelte jedoch nur verständnislos.
„Das heißt, er vermittelt Ehen. Aber er kennt auch christliche Beamte und Kaufleute, und er weiß sicher jemanden, der deine Dienste gebrauchen kann.“
Lisa wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Einerseits wäre sie am liebsten zurückgekehrt. Was sollte sie hier, wo Jonas sie nicht einmal kannte? Andererseits wusste sie nicht, wie sie einen Rückweg in ihre Zeit finden sollte. Das letzte Mal war sie zurückgekehrt – zurückgeschickt worden? –, nachdem sie eine Aufgabe erledigt hatte, die mit dem Schultheißen von Marköbel und dem Sturm der französischen Soldaten auf das Dorf zu tun hatte. Von hier aus gesehen lag das allerdings noch in der Zukunft. Vielleicht eröffnete sich ihr auch erst ein Weg, wenn sie eine Aufgabe erledigt hatte. Und wenn diese Aufgabe darin bestand, Ruths Tod zu verhindern, dann blieb sie am besten in ihrer Nähe.
Lisa schluckte. „Wenn du mir helfen würdest, wäre ich sehr dankbar.“
Ruths Lächeln blitzte wieder auf. „Wir sind doch jetzt Freundinnen.“
Ja, dachte Lisa. Super.
Das Boot, auf dem sie sich befanden, war ein Treidelboot. Am Vorschiff befand sich ein Mast, von dem aus sich ein Seil zum Ufer hin spannte. Zwei Pferde zogen das Boot, auf einem davon saß ein grobschlächtiger älterer Mann – der Halfterer, von dem Ruth gesprochen hatte. Er achtete darauf, dass die Pferde auf dem schmalen Treidelweg blieben, der am Ufer der Kinzig entlang führte.
Es gab kaum Städte oder Siedlungen entlang des Flusses. Die Kinzig trat manchmal über die Ufer, deswegen wäre eine Besiedlung nahe am Wasser unsinnig gewesen.
Mehrere Male kamen ihnen, nachdem es heller geworden war, andere Boote entgegen. Flussabwärts war die Kinzig ein beliebter Transportweg, während nur wenige das mühsame Treideln flussaufwärts auf sich nahmen. Meist wurden die Boote ohne Fracht und Passagiere, immer mehrere leere Kähne zusammengebunden, vom Halfterer flussaufwärts gezogen. „Onkel Ezra belädt sein Boot nur, weil er zu geizig ist, um ein gutes Geschäft auszulassen”, wisperte Ruth, warf dem alten Mann am Heck jedoch einen Blick voller Zuneigung zu. Ihr Onkel handelte sowohl mit dem, was er nach Gelnhausen brachte – meist Luxusgüter und Goldarbeiten aus Hanau und Frankfurt – als auch mit Waren, die er in Gelnhausen aufnahm, darunter Töpferwaren aus dem Bergwinkel und Salz aus Orb, erklärte Lisas neue Freundin.
Während sie auf dem Fluss dahin schwankten, unterhielten sich die beiden Frauen. Eigentlich war es vornehmlich Ruth, die redete, obwohl sie Lisa mehrere Male bat, ihr mehr über ihren Liebeskummer zu berichten. Lisa gab ausweichende Antworten. Sie hatte keine Lust, sich etwas auszudenken und konnte Ruth wohl schlecht die Wahrheit erzählen.
Dafür erfuhr sie um so ausführlicher von Ruths Kummer und dem Bruch mit Jonas. Im Wesentlichen unterschied sich deren Version nicht sonderlich von dem, was Jonas Lisa erzählt hatte. Er hatte schließlich genau gewusst, dass er im Unrecht gewesen war und hatte Lisa gegenüber nichts beschönigt. Ruths Version war jedoch weitaus emotionaler. Die junge Frau war tief verletzt und in ihrem Glauben an die große Liebe erschüttert. Trotzdem – und das spürte Lisa bei jedem Wort – liebte sie Jonas nach wie vor.
Noch einmal so jung sein, dachte Lisa resigniert, während Ruth neben ihr plapperte. Gleichzeitig war sie froh, diese Phase der Naivität hinter sich gelassen zu haben.
Am Vormittag kam Gelnhausen in Sicht. Es war fast beunruhigend, wie wenig sich die Stadtansicht im Laufe der Jahre geändert hatte. Es war fast so, als würde sie nicht auf einem Boot, sondern auf der A66 die Stadt ansteuern. Nun ja, die Stadt war nicht ganz so groß, wie es Lisa gewohnt war, aber die Reichsstadt war trotzdem überwältigend: Giebel an Giebel schmiegte sich an den Hang; der etwas schief stehende Turm der Marienkirche ragte hoch auf, und deutlich sah Lisa den roten Sandstein der ehemaligen Kaiserpfalz, die schon jetzt nur noch eine Ruine darstellte – ihre Steine waren bereits im 15. Jahrhundert und mehr noch nach dem 30-jährigen Krieg abgetragen worden, um die zerstörte Stadt wieder aufzubauen.
Sie erreichten die Anlegestelle im Stadtteil Burg, wo reges Treiben herrschte: Schiffer manövrierten ihre Boote an die Stege oder davon weg, Waren wurden entladen, andere an Bord geschafft. Das Rufen der Schiffer, der Händler und der Handlanger erfüllte wie das Summen eines Bienenschwarmes die Luft. Wagen, von Pferden oder Ochsen gezogen, standen bereit, um das Mitgebrachte auf einen der beiden Märkte zu bringen, die sich im Stadtkern befanden. Wahrscheinlich war das meiste für den Untermarkt bestimmt, wo die Gelnhäuser selbst Handel trieben. Einiges würde jedoch auch auf dem Obermarkt in Karren oder auf Pferde verladen, um den Weg auf der großen Reichsstraße nach Frankfurt oder Leipzig fortzusetzen.
Der Halfterer band die Pferde an und half dann Ezra Löb dabei, das Boot an den dicken Tauen ans Ufer zu ziehen. Ezras kräftige Arme vertauten das Boot. Schon während er dies tat, suchten seine Augen den Pier ab. Ein zerlumpt aussehender Halbwüchsiger kam näher und grinste schief. Am Zügel führte er ein klappriges Maultier. „Da bist du ja, Junge“, polterte Ezra. „Ich hoffe, du hast mehr dabei, als das alte Maultier.“
„Mit dem Wagen war heute kein Durchkommen“, sagte der Mann und deutete hinter sich. Am Schifftor war die Straße zum Hafen von Wagen verstopft. „Ich hab die alte Elsa mitgebracht, damit wir den Kram zum Wagen bekommen.“
„Und der Wagen für Ruth, wo ist der?“
Der Junge wies erneut zurück: „Ich habe ihr einen Platz in der Kutsche bestellt. Die fährt zur zehnten Stunde am Morgen vom oberen Holztor ab.“
„Am oberen Holztor?”, fragte Ezra. „Hast du nicht in der Thurn und Taxschen Posthalterei gefragt?”
„Doch”, erwiderte der Junge geduldig. „Aber die Kutsche fährt heute trotzdem nicht von der Röther Gasse aus, sondern vom oberen Holztor.”
„Warum?”
„Weiß nicht.”
Ruth hatte sich ihr Cape übergeworfen und fuhr nun schnippisch dazwischen: „Wo die Kutsche abfährt, ist mir einerlei. Hoffentlich ist ein weiterer Platz frei, sonst bleibe ich mit Lisa noch hier.“
Ezra fuhr herum. Abwechselnd betrachtete er Lisa und Ruth. „Was soll das heißen? Nimmst du dein Fischlein etwa mit?“
Ruth nickte und wies den Jungen an, ihre Reisetruhe auf das Maultier zu laden. „Ich habe ihr versprochen, dass sich Onkel Mordechai nach einer Stellung für sie umsieht.“
Ezra musterte Lisa. „So, das hast du getan? Wenn du ihr mal nicht zu viel versprochen hast. Wenn sie natürlich einen anständigen Jungen aus dem Volke Israels zum Heiraten suchen wollte, dann wäre sie bei Mordechai richtig.“
Er brüllte vor Lachen und schien sich über seinen eigenen Witz prächtig zu amüsieren. Weder Ruth noch Lisa lachten mit. Als Ezra das bemerkte, verstummte er. „Dein Vater wird nicht begeistert sein, gar nicht begeistert“, brummte er.
„Das lass mal meine Sorge sein, lieber Onkel.“ Ruth stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Nase. „Danke für die Fahrt, wir müssen jetzt los.“ Sie griff nach den Zügeln des Maultieres, das derweil mit ihrem Reisekoffer beladen worden war.
„Was soll das heißen? Ich brauche das Maultier zum Entladen!“
„Aber Onkel, wenn wir die Kutsche noch erreichen wollen, müssen wir uns sputen. Und wenn wir den Reisekoffer selbst tragen müssen, kommen wir nicht rechtzeitig an.“
Ezra seufzte – das universelle Geräusch eines Mannes, der sich einem Frauenzimmer geschlagen gibt. „Aber Joel soll sofort zurückkommen, hörst du? Ich will am Mittag auf dem Markt sein.“
Statt einer Antwort winkte Ruth fröhlich. „Komm, Lisa!“ Sie zog an den Zügeln des Maultieres. Lisa murmelte Ezra Löb hastige Dankesworte zu und folgte Ruth ebenso gehorsam wie das Maultier und Joel.
Wie oft hatte Lisa während ihrer Tätigkeit als Stadtführerin das Kopfsteinpflaster Gelnhausens verflucht. Jetzt wünschte sie es sich sehnlichst herbei. Denn über diese Straßen – oder eher, die nicht vorhandenen Straßen – den steilen Hügel der Barbarossastadt hinaufzuklettern, war eine Tortur. Noch dazu legte Ruth ein gehöriges Tempo vor, aus Angst, die Kutsche zu verpassen oder keine zwei Plätze mehr zu ergattern.
Die junge Jüdin gab Lisa zu denken. Sie benahm sich nicht so, wie man es von einer Frau des 18. Jahrhunderts erwartet hätte. Sie gab sich, zumindest ihrem Onkel und dem jungen Joel gegenüber, sehr selbstbewusst, fast schon frech. Einer verheirateten Frau, die einem Haushalt vorstand, wäre das zugekommen, aber einem 18-jährigen Ding wie ihr? Sehr merkwürdig. Ezra zumindest hatte sich nicht daran gestoßen, sondern Ruth geduldig und liebevoll behandelt. Vielleicht kannte er ihren Kummer und war deswegen nachsichtig.
Sie hetzten derartig durch die Gelnhäuser Gassen, dass Lisa sich kaum umsehen konnte. Dabei war dies doch „ihre“ Stadt, in der sie jahrelang Touristen herumgeführt hatte und von der sie jeden Winkel kannte. Ihre Stadtführungen aufzugeben, um ins Sabbatjahr zu gehen, war ihr am schwersten gefallen.
So sah sie nur flüchtig das bunte Treiben auf dem Untermarkt, roch nur undeutlich die exotischen Düfte vor dem Rathaus (das Angenehmste, was sie in der Stadt zu riechen bekam), ehe sie das obere Holztor erreicht hatten. Dort stand, wie versprochen, die Kutsche.
Es war eine Postkutsche der kaiserlichen Reichspost, die von dem Adelshaus Thurn und Taxis betrieben wurde. Der Kutscher auf dem Bock machte einen ungeduldigen Eindruck, denn die Glocken der Marienkirche schlugen gerade die zehnte Stunde. Doch als er sah, dass Ruth einen weiteren zahlenden Gast dabei hatte, besserte sich seine Laune. Er hob den Reisekoffer aufs Dach und kassierte von Ruth einen Gulden für die Beförderung.
Die beiden Frauen kletterten in die Kutsche, wo nur eine Frau in den mittleren Jahren als weiterer Fahrgast saß. Sie grüßten höflich, doch die Dame blickte nur kurz aus ihrem Buch auf und wandte sich dann wieder der Lektüre zu. Klopstock, sah Lisa. Die Frau war einfach, aber ordentlich gekleidet und trug ein hochgeschlossenes schwarzes Gewand und eine kleine schwarze Haube. Ihre Haare waren ergraut und streng nach hinten aus dem Gesicht gekämmt, am Hinterkopf zu Lockenreihen zusammengefasst – etwas altmodisch in Rokoko-Manier trug sie auch einen flachen Strohhut. Ihre Miene war ernst. Ihre Nase erstaunlich lang, ihr Kinn energisch.
Kaum hatten Ruth und Lisa Platz genommen, ruckte die Kutsche an und sie fuhren los. Schon bald hatten sie die Mauern Gelnhausens hinter sich gelassen und fuhren auf der Via Regia, „des Reiches Straße“, die nach Lisas Wissensstand von Frankfurt bis nach Leipzig reichte.
Eine Kutschfahrt galt zu dieser Zeit als großer Luxus, doch Lisa sehnte sich bald nach der guten Federung ihres Fiats. Das Straßenpflaster bestand aus Basalt und Wackersteinen und war alles andere als eben. An manchen Stellen wurden die Insassen der Kutsche durcheinander geschüttelt wie ein Sack Kartoffeln.
Lisa war todmüde, sodass sie sicher trotz der unbequemen Fahrt eingeschlafen wäre. Was sie daran hinderte, war Ruths Mundwerk. Denn ihre Reisegefährtin redete ohne Unterlass, wenn auch in gedämpftem Tonfall, um die Dame nicht in ihrer Lektüre zu stören. Ruth machte sie auf Besonderheiten entlang der Straße aufmerksam, kommentierte die Städte und Dörfer, die sie durchquerten, und schaffte es doch, immer und immer wieder auf Jonas zu sprechen zu kommen.
„Wie lange werden wir bis Schlüchtern brauchen?“, fragte Lisa schließlich, als Ruth endlich einmal Luft holte.
„Wir werden es in ein paar Stunden, kurz nach Anbruch der Dunkelheit erreichen“, sagte die Jüdin.
Über die A66 dauert es gerade mal 20 Minuten, wenn man nicht in einen Stau gerät, dachte Lisa. Sie hatte jedoch vor, noch etwas anderem auf den Grund zu gehen. „Ruth, du warst deinem Onkel gegenüber ziemlich ... mutig. Um nicht zu sagen, dreist“, sagte Lisa. „Das wundert mich.“
Ruth warf ihre langen Locken zurück und sagte, mit einem Blick auf die Mitreisende: „Ich benehme mich nur so, wie es einer Frau zusteht.”
Lisa war erstaunt, gab sich aber schockiert. „Aber das ist ungehörig!“
Ruth lachte verschmitzt: „Ich weiß, dass du einige Jahre älter bist als ich. Du bist noch anders erzogen worden. Mein Vater hat mich viel lesen lassen. Nicht nur empfindsame Lektüre.“ Sie warf dem Klopstock in der Hand der Dame einen herablassenden Blick zu. „Obwohl es auch ganz interessant sein kann. Nein, ich habe andere gelesen, zum Beispiel Kant und Lessing, und die Studenten in Heidelberg haben mir die Memoiren der Madame Valmont über die Undankbarkeit und die Grausamkeiten der Familie Flaucourt gegenüber der Ihrigen und noch andere interessante Schriften gegeben.“ Sie beuge sich dichter zu Lisa und flüsterte aufgeregt: „Weißt du, was derzeit in Frankreich geschieht?“
Natürlich wusste Lisa Bescheid, sehr genau sogar, doch das konnte sie nicht zugeben. Also schüttelte sie stumm den Kopf.
„Dort hat die Revolution begonnen. Eine Frau hat dort eine Rede gehalten über die Ungerechtigkeit der Gesetze, die die Männer zum Nachteil der Frauen bevorzugen. Und erst im vergangenen Sommer hat Antoine de Condorcet ein Essay veröffentlicht, in dem er sich für die Einführung des Frauenwahlrechts ausgesprochen hat.“
Lisa war sprachlos. Jonas‘ brave Ruth war eine kleine Frauenrechtlerin. Ob er das geahnt hatte? Ruth beantwortete die Frage selbst. „Ein paar Freunde von mir, die in Heidelberg studieren, haben mir diese Artikel besorgt, kurz nachdem Jonas mit mir gebrochen hat.“ Sie seufzte traurig. „Er wäre sicher begeistert davon.“
Da war sich Lisa nicht so sicher. Aber wenn Ruth dieses Auftreten hatte und ihr Vater zumindest ein Anhänger der Aufklärung war, warum sollte sie sich dann von ihm einfach wegschicken lassen, als er von ihrer Beziehung zu Jonas erfuhr? Gut, da gab es die religiöse Komponente, doch Ruth schien nicht der Typ, der sich von so etwas aufhalten ließ.
Ruth schwieg jetzt, und Lisa sah aus dem Fenster. Die Landschaft glitt holpernd vorüber, zuerst der Vogelsberg mit seinen Buchenbeständen, die nahe der Straße jedoch ziemlich ausgedünnt waren, dann der Spessart mit seinen dunklen Wäldern. Als die Kutsche durch das Dorf Ahl gerollt war, befuhr sie eine Allee, die von blühenden Kirschbäumen gesäumt wurde. Als ob wir unter rosa Wolken hindurch fahren, dachte Lisa, und schlief ein.
Jemand rüttelte Lisa an der Schulter. Sie blinzelte in das Licht einer Laterne, die ein Diener vor dem Wagen hochhielt. „Wir sind da, du musst aussteigen“, hörte sie Ruths Stimme. Der Platz ihr gegenüber war leer. Ihre Mitreisende hatte die Kutsche bereits verlassen. Schlaftrunken kletterte Lisa ebenfalls hinaus und ergriff Ruths Arm. Sie standen auf einem kleinen Markplatz, an einer Kutschstation. Der Kutscher war damit beschäftigt, die Pferde abzuschirren.
„Wir sind in Schlüchtern“, sagte Ruth mit einem Hauch Stolz in der Stimme. Von Lisa aus hätten sie auch in Bielefeld sein können – alles war für sie fremd, es war dunkel und einzig der Schein einer Öllampe erhellte einen kleinen Lichtkreis jenseits der Kutschstation. Die Lampe hielt ein junger Mann, der sie mit unverhohlener Verwunderung anstarrte.
„Isaac, starr nicht so!“, tadelte Ruth. „Gib mir lieber die Lampe und hol meinen Koffer vom Dach der Kutsche!“ Der Mann gehorchte und kletterte auf den Kutschbock.
„Das ist ein Knecht meines Vaters“, raunte Ruth Lisa zu. „Ich kenne ihn schon, seit er ein kleiner Junge war, seine Mutter ist unsere Köchin.“
Isaac führte sie dann durch die dunklen Schlüchterner Straßen, von denen Lisa nur wahrnahm, dass sie in keinem besseren Zustand als die Gelnhäuser Gassen waren. Todmüde starrte sie vor sich auf den Boden und hoffte, nicht der Länge nach hinzuschlagen.
Zumindest mussten sie nicht weit laufen. Schon nach wenigen Minuten hatten sie ein Haus erreicht, dessen Tür sich öffnete. Heraus trat ein älterer Mann, der Ruths dunkle Augen hatte.
„Mein liebes Kind“, rief er und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu gelaufen. Ruth fiel im schluchzend um den Hals: „Vater!“
Lisa stand betreten daneben und wusste nicht recht, wohin mit sich. Sie war zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen. In ihren Ohren rauschte es, und sie glaubte, dass sie einfach im Stehen einschlafen würde, wenn sie noch lange dort stehen musste.
Da ließ Ruth ihren Vater los und fasste ihn bei der Hand, sie trat zu Lisa und sagte: „Vater, ich habe einen Gast mitgebracht, den ich in meinem Brief nicht angekündigt habe. Das ist meine liebe Freundin Elisabeth Schmidt.“
Ruths Vater machte kurz einen überraschten Eindruck, dann hatte er sich im Griff. „Seid willkommen in meinem Haus“, sagte er mit einer leichten Neigung des Kopfes. Lisa erwiderte die Begrüßung, indem sie einen halbwegs passablen Knicks fabrizierte. „Aber das arme Kind schläft ja schon fast“, hörte sie seine Stimme wie aus weiter Ferne. Er meint mit Kind jetzt nicht mich, oder?
Sie spürte, dass kräftige Arme sie unterfassten und ins Haus bugsierten. Wie durch einen Schleier bemerkte sie einen kleinen hölzernen Kasten am rechten Türpfosten und sah, dass Ruth ihn beim Eintreten ehrfürchtig mit den Fingerspitzen berührte. Der Rest verschwamm in verwaschenen Eindrücken.
Wenig später sank sie in weiche Daunen ein. Wie sie dorthin gekommen war, konnte sie nicht sagen. Und auch sonst sagte sie nichts mehr, sondern schlief umgehend ein.
Züchtig die Hände in den Schoss gelegt, saß Lisa im Salon der Familie Löb und ließ sich bewundern. Ruths gesamte Verwandtschaft war gekommen, um den Gast zu begutachten. Nur einer fehlte: der berühmte Onkel Mordechai.
Ruth hatte Lisa am späten Vormittag geweckt und ihr mitgeteilt, dass ihre Familie sie kennenlernen wolle. Lisa hatte sich nichts dabei gedacht. Schließlich konnte sie verstehen, dass Ruths Vater wissen wollte, wen er da unter seinem Dach beherbergte.
Zumal es ein ziemlich beachtliches Haus war, keinesfalls zu vergleichen mit den bescheidenen Häuschen im Marköbler Judeneck. Diesem Haus sah man an, dass Ruths Vater Saul ein gut situierter Kaufmann war. Sie waren die wohlhabendste der 13 jüdischen Familien in Schlüchtern, hatte Ruth Lisa schon während der Kutschfahrt erklärt. Das steinerne Haus hatte zwei Stockwerke und den Luxus von fünf Zimmern: ein Schlafzimmer und ein Kontor für den Vater, ein Salon, ein Schlafzimmer für Ruths Schwester Esther und eines für Ruth, in dem Lisa geschlafen hatte.
Außerdem hatte das Haus eine große Küche, in der eine Köchin werkelte. Sie und ihr Sohn, der Dienstbote Isaak, den Lisa am Vorabend kennengelernt hatte, gehörten ebenfalls der jüdischen Gemeinde Schlüchterns an und bewohnten ein kleineres Häuschen in der Nähe. Auch die Lage des Hauses zeugte von der Stellung, stand es doch in direkter Nachbarschaft zur Synagoge, unweit des Obertores. Das hatte Lisa jedoch nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern ebenfalls von Ruth erfahren.
„Was ist das für ein Holzkasten an eurem Türpfosten?”, fragte Lisa nach dem einzigen Detail des Vorabends, an das sie sich erinnern konnte, während Esther, die aussah wie eine etwa fünf Jahre jüngere Ausgabe ihrer Schwester, und Ruth wie zwei aufgeregte Gänschen um sie herum flatterten und sie ankleideten – dieses Mal in ein sandfarbenes Kleid und mit einem ordentlichen Mieder.
Ruth war kurz verwirrt, dann verstand sie. „Das ist die Mesusa. Sie hängt in allen jüdischen Häusern am Türpfosten.”
„Und was ist das?”
„Ach, eine Mesusa enthält einen Spruch aus der Tora”, sagte Esther und rezitierte: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft ...”
„Sehr brav, Esther”, stichelte Ruth und schnürte das Mieder.
„Und wozu ist das gut?”, fragte Lisa, die sich wie ein Rollbraten vorkam. Sie nahm sich vor, die Schnürung später etwas zu lockern.
Ruth zuckte mit den Schultern. „Das macht man eben so in einem jüdischen Haus.”
„Es soll daran erinnern, dass das Haus heilig ist”, sagte Esther.
„Fleißiges Mädchen”, spottete Ruth. „Erlaubt der Rabbi, dass du den Talmud studierst?”
Esther verstummte errötend. Sie himmelte ihre Schwester offensichtlich an.
Anschließend hatten Ruth und Esther Lisa gekämmt, frisiert und ziemlich herausgeputzt. Mittlerweile wusste Lisa auch, warum.
Seit einer Stunde saß sie im nobel eingerichteten Salon, während sich Ruths Familienmitglieder, die offensichtlich die restliche Gemeinde Schlüchterns stellten, sich die Klinke in die Hand gaben. Zuerst waren es zwei Schwestern von Ruths verstorbener Mutter gewesen, die sie unter die Lupe nahmen, dann die Base ihres Vaters, dann Ruths Vetter, der unverheiratet und auf Brautschau war, jedoch schnell das Interesse an Lisa verlor, als er erfuhr, dass sie keine Jüdin war.
Lisa bemerkte, dass Ruths Gesicht bei dieser Erkenntnis rot anlief, doch sie sagte nichts. Ob sie ihrem Vater noch nichts von Jonas erzählt hatte? Lisa konnte sich das nicht vorstellen; wie Ruth sagte, hatte sie ihre Heimkehr doch in einem Brief angekündigt. Saul Löb hatte sie doch sicher nach dem Grund gefragt.
Doch vorerst stellte Lisas Anwesenheit offensichtlich eine willkommene Abwechslung dar, um nicht über dieses Thema reden zu müssen. Saul Löb saß während der fortwährenden Aufwartungen in einem breiten Sessel gegenüber von Lisa, die sich auf einer beigefarbenen Chaiselongue niedergelassen hatte. Er rauchte eine langstielige Tonpfeife und hatte die Moderation übernommen. Während Schwestern, Cousinen und Neffen kamen und gingen, stellte er Lisa Fragen nach ihrem Leben und ihrer Familie. Lisa hatte einmal gehört, Lügen wäre am einfachsten, wenn man dicht bei der Wahrheit bleibt. Dieser Weisheit versuchte sie zu folgen. Einfach war das nicht.
„Eure Familie ist also tot, sagt Ihr?“ Saul Löb betrachtete sie mitleidig.
„Meine Eltern sind erst seit Kurzem nicht mehr am Leben“, bestätigte Lisa und dachte sich, dass dies sogar der Wahrheit entsprach – derzeit lebten ihre Eltern nicht, und aus ihrer Perspektive war es noch nicht lange her.
„Ihr kommt aus Hanau?“
„Nein, aus dem Hanauischen. Ein Flecken namens Marköbel.“ Das war definitiv die Wahrheit.
„Und Ihr habt Eure Stellung verloren?“ Rauchschwaden schwebten durch die Luft.
Lisa nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Kaffeetasse, die ihr die Köchin hingestellt hatte. Das schwarze Gebräu schmeckte scheußlich – als sei es durch einen alten Socken gefiltert worden. „Nein, ich habe meine Stellung aufgegeben, weil meine Herrschaft verzogen ist.“
„Und was habt Ihr gearbeitet?“
Das war schon kniffliger. Lisa musste etwas sagen, das ihren Fähigkeiten entsprach. Bei Jonas Faust hatte sie ihm bei seiner ärztlichen Tätigkeit assistiert. Aber war das etwas, das sie wieder tun konnte und wollte? Sicher nicht.
„Ich habe unterrichtet“, sagte sie schließlich. Als sie Löbs fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, beeilte sie sich, zu ergänzen: „Ich war Kindermagd und habe mit den Kindern der Herrschaften gespielt und buchstabiert, vorgelesen und gesungen.“
„Das trifft sich ja hervorragend“, erklang eine Stimme von der Tür her. Lisa hatte nicht bemerkt, dass nach dem überstürzten Aufbruch von Ruths Vetter wieder jemand hereingekommen war. Saul offenbar auch nicht, denn sein Kopf ruckte ebenso schnell herum wie der von Lisa.