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Aline Thomas hat alles, wovon eine Frau träumt: einen erfolgreichen, gut aussehenden Mann, zwei intelligente Kinder, ein Traumhaus am Stadtrand. Eigentlich müsste alles so weitergehen. Doch das tut es nicht. Eines Tages bemerkt Aline, dass sich ihr Mann Eberhard in die junge Mildred verliebt hat. Diese ist verwöhnt, anspruchsvoll, so ganz anders als Aline. Für Aline bricht eine Welt zusammen. Sie ist unfähig, ihre Situation zu meistern, ganz zu schweigen, auf diese Herausforderung zu reagieren. Bis eines Tages der Verleger Bertram in ihr Leben tritt. Und nach und nach entsteht eine andere Aline, die ihr Leben nach ihren Sehnsüchten und Vorstellungen gestalten möchte.-
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Seitenzahl: 282
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Marie Louise Fischer
Saga
Frau am Scheideweg Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de) Originally published 1983 by Goldmann Verlag, Germany Copyright © 1983, 2019 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711718759
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmontwww.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Es war einer jener in unseren Breiten seltenen Sommerabende, an denen die wohlige Wärme der Sonne über den Häusern und Gärten anhielt, noch nachdem sie längst im Westen untergegangen war. Man hatte auf der Terrasse feiern können, und als Eberhard Thomas das Holz im offenen Kamin anzündete, tat er es nicht der hereinbrechenden Kühle wegen, denn jetzt, kurz nach neun Uhr, war sie noch gar nicht zu spüren, sondern um des Effektes willen. Tatsächlich trug das bald darauf prasselnde Feuer mit dazu bei, eine gewisse feierliche Gemütlichkeit zu schaffen und die Stimmung zu erhöhen. Alle hatten der vom Hausherrn selber komponierten Gurkenbowle reichlich zugesprochen. Obwohl auch aus den anliegenden Gärten der kleinen Villensiedlung in Hamburg-Bergedorf Stimmen, Musik, Lachen und Gläserklirren zu ihnen herwehte, fühlten sie sich ganz unter sich, wie es die Menschen in grauer Vorzeit, vereint um den Feuerherd, empfunden haben mochten.
Aline Thomas war glücklich. Nicht, weil sie an diesem Tag ihren 40. Geburtstag feierte - das war eher ein Schrecknis für sie -, sondern weil sie endlich einmal wieder ihre kleine Familie um sich versammelt hatte. Die Brillanten an dem schmalen Ring, den ihr ihr Mann heute unter die Serviette gelegt hatte, verloren im Schein des Feuers ihre bläuliche Kälte; sie funkelten und strahlten in geheimnisvollem Glanz. Aline lächelte schweigend und genoss das kleine Fest, das ihr zu Ehren gefeiert wurde, während die anderen laut und lebhaft durcheinander redeten. Sie hatte in den letzten Jahren gelernt, dass sie ohnehin keine Chance hatte, sich gegen ihre temperamentvolle Familie durchzusetzen. Es störte sie auch nicht, dass die Unterhaltung bald in eine jener Streitereien ausartete, die immer aufkamen, sobald Eberhard mit seinen erwachsenen Kindern zusammentraf. Sie waren sich alle drei so ähnlich, ohne sich im anderen zu erkennen, jeder so energisch, von sich selbst und seiner Bedeutung überzeugt, dass sie dazu neigten, den Wert und das Tun ihrer Mitmenschen grundsätzlich zu unterschätzen.
Thomas war stolz auf sein Feuer, als sei er der erste Mensch, der es vom Himmel geholt hätte. »Brennt es nicht prächtig?«, fragte er wohlgefällig. »Merkt euch für die Zukunft: nur kein Spiritus oder Petroleum oder gar Benzin hineinschütten! Trockene Holzwolle und zwei Hände voll Späne genügen, und es brennt wie die Hölle. Aber wer von euch jungen Leuten kann denn noch Späne schnitzen, ohne sich dabei in die Finger zu schneiden?«
Aline hätte ihn darauf aufmerksam machen können, dass nicht er, sondern sie selber es gewesen war, die die Späne vorbereitet und das Holz geschichtet hatte, aber sie verzichtete darauf.
Ihr Mann suchte ein besonders klobiges Scheit aus dem Korb und wollte es mit der schmiedeeisernen Zange auf das Feuer legen.
»Bloß nicht, Pa!«, schrie Felix sofort.
»Hast du etwa Angst, ich könnte mir die Finger verbrennen?«
»Natürlich nicht, aber wenn du jetzt noch zulegst, müssen wir bis Mitternacht aufbleiben!«
»Na und? So jung kommen wir bestimmt nicht wieder zusammen.«
»Ich muss morgen früh raus, Pa«, erinnerte Felix.
»Hätte ich mir ja denken können. In deine verdammte Kaserne.«
»Es handelt sich um keine Kaserne, Pa, sondern um die Marine-Ortungs-Schule, wie du wissen müsstest.«
»Das macht’s um nichts besser.«
»Also, ehrlich, Felix«, mischte sich Valerie ein, seine um ein Jahr ältere Schwester, »ich begreife immer noch nicht, dass ausgerechnet du dich zur Marine verpflichtet hast! Ausgerechnet heutzutage, wo jeder vernunftbegabte Junge seinen Wehrdienst so kurz und so schmerzlos wie möglich runterreißt, falls er sich nicht überhaupt drücken kann.«
»Ich gehöre nun mal nicht zu den vergammelten Typen, mit denen du dich rumtreibst.«
»Denkst du da an jemand Speziellen?«
»Überhaupt nicht! Die sind doch einer wie der andere. Schon hier in Hamburg hast du es doch mit den verweichlichten Schlappschwänzen gehabt ...«
»Hört, hört!«, rief Eberhard nicht ohne Schadenfreude dazwischen.
»Und seit du erst in München bist ...«
»Du hast ja keine blasse Ahnung von meinen Freunden!«
»Na, eines weiß ich mit Sicherheit: keiner von diesen Typen hätte auch nur die leiseste Chance, überhaupt bei der Marine angenommen zu werden! Darauf möchte ich meinen Kopf verwetten!«
»Sie haben eben andere Qualitäten, du Primitivling! Es besagt doch nichts, wenn jemand eine Brille tragen muss ...«
»Hat er denn schlechte Augen?«, warf der Vater ein.
»Wer denn?«, fragte Valerie konsterniert.
»Dein Momentaner natürlich!«, erklärte Felix feixend.
Die beiden Männer brachen in ein schallendes Gelächter aus, und Valerie warf mit einem beleidigten Ruck ihre aschblonde Mähne in den Nacken.
»Trotzdem«, sagte Eberhard, als er wieder ernst geworden war, »im Grunde muss ich Valerie recht geben, und ich habe es dir ja schon immer gesagt, Felix; du vergeudest bei der Marine nur deine Zeit!«
»Das stimmt einfach nicht! Ich lerne schließlich ’ne Menge: Navigation, Arithmetik, Seerecht ...«
»Lauter brotloser Kram!«, unterbrach der Vater ihn. »Du wirst dreiundzwanzig sein, bis du fertig bist ... und dann?«
»Das ist ja gerade das Positive, dass ich mich nicht jetzt schon endgültig entscheiden muss. Ich habe Zeit genug, mir das gründlich zu überlegen.«
»Du lieber Himmel«, sagte Valerie, »du glaubst doch nicht etwa, dass du in drei Jahren gescheiter bist als jetzt? Nachdem du dich mit nichts anderem als Stoffeln befasst hast?«
Aline wurde plötzlich von dem Wunsch überwältigt, ihrem Sohn zu Hilfe zu kommen. »Ein Junge muss in die Wildnis, um ein Mann zu werden«, sagte sie.
Die anderen starrten sie an, als wäre sie ein seltsamer Vogel, dem völlig unerwartet die menschliche Sprache zuteil wurde.
»Was heißt das denn nun schon wieder?«, fragte ihr Mann kopfschüttelnd, nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. Aline hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.
»Viele Primitive sind dieser Ansicht ...«
»Wie kommst du jetzt darauf?«
»Auch die Spartaner schickten ihre Söhne für ein Jahr aus dem elterlichen Haus und aus der Stadt, damit sie lernten, sich ganz auf sich selbst gestellt durchzuschlagen.«
»Aber das ist doch kein passender Vergleich!«
»Ich finde doch. Felix verbringt seine nächsten Jahre auf alle Fälle in einer reinen Männergesellschaft.«
»Du liest zu viel«, sagte Eberhard missbilligend.
»Ich verstehe ja, wie du es meinst, Ma«, behauptete Felix, »aber es ist trotzdem Quatsch. Die meisten von uns haben ein Mädchen ...«
»Ja, jetzt noch«, rief Valerie dazwischen. »Solange ihr an Land seid. Aber warte erst mal, bis ihr herumschippert ... über Wochen, vielleicht sogar Monate! Dann wird dir das Lachen noch vergehen.«
»Es sind deine besten Jahre, die du da leichtfertig wegwirfst«, sagte Eberhard, »was du jetzt versäumst, kannst du nie wieder aufholen!«
»Vielleicht gehe ich ja anschließend zur Handelmarine.«
»Was ist das schon?«, fragte Valerie geringschätzig.
»Ein Offizier bei der Handelsmarine ist jedenfalls mehr als eine Wald- und Wiesenjuristin!«
»Ha, ha!«, machte Eberhard.
»Lach du nur!«, gab sein Sohn zurück. »Ich weiß, dass du riesig stolz auf deine Tochter bist. Aber du solltest dir mal klarmachen, dass heutzutage jeder Abiturient, dem nicht Besseres einfällt, sich auf die Juristerei wirft. Junge Juristen gibt’s wie Sand am Meer, bloß, was sie später mit ihrem Studium anfangen wollen, das ist die große Frage.«
»Über meine Zukunft brauchst du dir wahrhaftig nicht den Kopf zu zerbrechen, Brüderlein!«
»Soll das heißen,, du heiratest doch?«, fragte der Vater. »Dann hätte ich mir die Ausgaben für dein Studium sparen können.«
»Ja, geh jetzt nur auf mich los!«, rief Valerie aufgebracht. »Das musste ja kommen!« Aline ließ den Wortwechsel an sich vorüberrauschen und hörte nicht einmal mehr hin. Sie kannte alle Argumente und Gegenargumente und wusste, es würde unweigerlich auch dahin kommen, dass die Kinder ihrem Vater vorwarfen, dass sein Beruf - er war Fotograf - überhaupt nichts wert sei und jeder ihn ergreifen und auch mit Erfolg ausüben könnte, wenn er nur die geeignete Kamera besäße. Daraufhin würde Eberhard, wie immer, zu bedenken geben, dass er es immerhin zu einer eigenen Firma, der namhaften und florierenden Werbeagentur ›Detlevson & Thomas‹ gebracht hatte und dass sie, seine Kinder, überhaupt erst mal mit beruflichen Erfolgen aufwarten sollten, bevor sie es sich erlauben könnten, das Maul aufzureißen und Kritik zu üben.
Es war Aline gleichgültig, was sie sich gegenseitig vorwarfen, denn sie wusste, dass sie sich dennoch liebten und einander zu Hilfe kämen, wenn es nötig werden sollte. Sie hätte sich die lauten Stimmen gerne ein wenig leiser gewünscht, hätte ihre Lieben in einer fröhlichen, harmonischen Gesprächsrunde erlebt. Aber sie wusste seit langem, dass das nicht möglich war. Valerie und Felix hatten schon als kleine Kinder ständig miteinander gezankt und sich gegenseitig zu übertreffen versucht, und Eberhard hatte immer mehr von ihnen verlangt, als sie erreichen konnten. Die jungen Leute bewunderten ihren Vater und hatten von jeher um seine Anerkennung gewetteifert. Aber da sie nicht länger zu ihm aufblicken mochten, versuchten sie ihn herabzuziehen, was ihnen jedoch nicht gelang, denn er gab sich vor ihnen keine Blöße.
Die Rolle, die Aline in dieser schwierigen Familie zugefallen war, hatte immer darin bestanden, jedem das notwendige Maß an Liebe zu geben, bei Kränkungen und Fehlschlägen da zu sein, zu trösten und Spannungen zu mildern. Es war ihr anfangs schwer gefallen, und sie hatte mühsam lernen müssen, sich nicht in ihre Auseinandersetzungen einzumischen, denn sie hatte die Erfahrung gemacht, dass alles nur noch schlimmer wurde, wenn sie Partei ergriff.
Aber sie liebte sie alle drei von Herzen und wusste, dass sie keinen Grund hatte, sich zu beklagen. Eberhard war tüchtig und verlässlich, ein liebevoller Familienvater; er trank nie über den Durst, beschimpfte sie nicht oder stellte sie bloß, wie sie es bei anderen Ehepaaren schon erlebt hatte. Ihr einziger Kummer war, dass er zu selten zu Hause und zu oft auf Reisen war. Aber das war nun einmal berufsbedingt, und sie musste sich damit abfinden. Die Kinder faulenzten nicht, trieben sich nicht herum, nahmen keine Drogen und hatten ihr überhaupt niemals - von einigen Erkrankungen abgesehen, an denen sie unschuldig waren - ernsthaft Sorgen gemacht. Sie hielt sich selber für eine beneidenswerte Mutter und wurde auch tatsächlich von anderen Frauen oft beneidet. Und wie gut sie aussahen, alle drei! Wie sie jetzt im Schein der Flammen miteinander gestikulierten, weidete Aline sich förmlich an ihrem Anblick. Sie waren auffallend groß, die Kinder beide über 1,80, der Vater wenige Zentimeter darunter, und sehr blond. Zwar hatte Eberhards Haar nicht mehr die Fülle der Jugend, und das Blau seiner Augen leuchtete nicht mehr so intensiv wie das seines Sohnes, aber die Ähnlichkeit zwischen ihnen war doch unübersehbar. Sie hatten beide die gleiche kräftige Nase, den volllippigen Mund und das Grübchen im Kinn, das einen Teil ihres Charmes ausmachte. Valerie glich ihnen auf eine weibliche, weichere Art. Das Blond ihres Haares war nicht ganz so leuchtend, und sie hatte die grünblauen Augen der Mutter geerbt. Ansonsten war auch sie - und das wurde Aline nicht zum ersten Mal an diesem Abend bewusst - ganz nach dem Vater geschlagen. Man sah ihnen an, dass sie zusammengehörten, während ein Fremder Aline sehr wohl für eine junge Stiefmutter hätte halten können.
Sie schrak zusammen, als die drei sich ihr gleichzeitig zuwandten und fast in einem Atemzug fragten: »Was sagst du dazu?«
Aline, die dem Gespräch nicht mehr gefolgt war, versuchte sich mit einem vagen »Ach, ihr habt sicher recht!« aus der Affäre zu ziehen.
Aber damit kam sie schlecht an.
»Du hast gar nicht zugehört!«, schrie Felix empört.
»Typisch Ma«, stellte Valerie fest.
Eberhard sagte: »Möchte bloß wissen, wo du wieder mal mit deinen Gedanken warst, alte Träumerin.«
Das Wörtchen ›alt‹ kränkte Aline, aber sie schalt sich überempfindlich und ließ es sich nicht anmerken. Dennoch erinnerte sie sich ätzend, dass er sie früher ›meine kleine Träumerin‹ genannt hatte, was sie stets gerührt und belustigt hatte, da sie einige Zentimeter größer war als er und ihn auf Absätzen gut einen halben Kopf überragte. Jetzt hatte sie sich also damit abzufinden, dass sie in seinen Augen nicht mehr klein, sondern alt war.
»Oh, ich weiß genau, wovon ihr gesprochen habt«, verteidigte sie sich, »aber ich finde, ihr müsst das selbst entscheiden.«
»Du wärst also damit einverstanden, dass ich Weihnachten nicht nach Hause komme?«, vergewisserte sich Valerie.
Es kostete Aline große Anstrengung, ihren Schrecken zu verbergen. »Ja, natürlich«, behauptete sie, »ich würde dich niemals zwingen wollen, wenn du keine Lust hast.«
»Aber darum geht es ja nicht! Natürlich habe ich Lust! Ich habe immer Lust, nach Hause zu kommen. Am liebsten würde ich mein ganzes Leben hier verbringen. Ich finde nur, es lohnt sich nicht für die paar Tage. Die lange Fahrt und die Unkosten.«
»Wir haben Weihnachten immer zusammen gefeiert«, protestierte Felix.
»Du weißt ja noch gar nicht, ob du überhaupt Urlaub kriegst«, konterte Valerie.
»Worauf du dich verlassen kannst! Denen würde ich was husten, wenn die mich ausgerechnet an den Feiertagen Wache schieben lassen wollten!«
»Das ist doch pures Geschwätz. In Wirklichkeit würdest du Ja und Amen sagen wie jeder andere brave kleine Zinnmatrose.«
»Lenk doch nicht ab! Um mich geht’s ja gar nicht. Wenn ich keinen Landgang kriege, ist das höhere Gewalt. Aber du könntest in jedem Fall kommen, wenn du nur wolltest. Und red dich nicht auf die Unkosten raus! Den Flug bezahlt Pa dir doch sowieso.«
»Aber ich brauche nur halb so viel Geld, wenn ich mit ein paar Freunden in die Berge führe.«
»Aha! Da haben wir’s. Da also liegt der Hase im Pfeffer begraben. Du möchtest lieber Skilaufen als nach Hause kommen!«
»Na und? Wieso auch nicht? Du tust gerade, als wäre das ein Verbrechen.«
»Es gehört sich einfach nicht! Nun sag du doch auch was, Ma!«
»Ich habe meine Meinung schon gesagt.«
»Aber das kann doch nicht dein Ernst sein! Pa will doch auch ...« Eberhard unterbrach ihn. »Valeries Vorhaben hat mich, ehrlich gestanden, zuerst einigermaßen überrascht. Aber wenn ich es mir recht überlege - ihr seid ja keine Kinder mehr -, vielleicht sollten wir Weihnachten mal ganz anders feiern.«
Alle blicken ihn überrascht an.
»Oder überhaupt nicht feiern«, fügte er entschlossen hinzu, »das Ganze ist ja schließlich nur eine Konvention, und ich fände es im Grunde gut, wenn wir uns davon freimachen würden.«
»Kein Weihnachten?«, fragte Felix, und er wirkte plötzlich nicht mehr wie der erwachsene junge Mann, der er war, sondern wie ein kleiner Junge.
»Das habe ich nicht gesagt. Weihnachten können wir ja nicht aus der Welt schaffen«, stellte Eberhard richtig, »aber jeder von uns sollte es doch so feiern, wie er selber will.«
»Ich will Weihnachten bei meiner Familie sein«, beharrte Felix.
»Ja, am Heiligen Abend!«, stichelte Valerie. »Geschenke kassieren, das ist klar. Aber schon am ersten Feiertag bist du dann wieder unterwegs. Meinst du, wir wüssten nicht alle, was dich nach Hamburg zieht? Deine Otti, und sonst gar nichts.«
»Das ist nicht wahr!«
Aline sah ihren Mann an. »Und was möchtest du Weihnachten machen?«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, darüber nachzudenken.«
»Wie wäre es mit einer Kreuzfahrt?«, schlug Valerie vor. »Vielleicht in die Karibik? Ich stelle mir das herrlich vor.«
»Ach, weißt du, ich war beruflich schon so oft dort ... aber vielleicht wäre das was für dich, Aline?«
»Allein?«
»Warum nicht? Schließlich sind wir keine siamesischen Zwillinge.«
»Aber ein Ehepaar.«
»Das ist in Pas Augen sicher auch nur eine Konvention!«, rief Felix dazwischen.
Eberhard blieb einen Augenblick stumm, hatte die Hände in den Hosentaschen und wippte auf den Fußballen, wie es seine Art war, wenn er über etwas nachdachte oder sich nicht sofort entscheiden konnte. Die anderen starrten ihn an, Valerie und Felix neugierig und belustigt, Aline mit einem Schwächegefühl, das sie nur aus ihren Albträumen kannte, wenn sie auf eine Stufe treten wollte, die plötzlich nicht vorhanden war, und sie in einen schwarzen Abgrund versank.
Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte kurz auf: »Das wäre doch etwas übertrieben.«
»Ich bin froh, dass du es so siehst«, sagte Aline und ärgerte sich, dass ihre Stimme zitterte.
Felix legte ihr den Arm um die Schultern. »Reg dich bloß nicht auf, Ma! Du solltest unsere öden Witzeleien doch allmählich kennen.«
»Es gibt Dinge, über die man sich nicht lustig machen sollte.«
»Wie zum Beispiel über den heiligen Stand der Ehe? Du hast ja recht, Ma, verzeih! Aber ich kann es einfach nicht lassen.«
»Und was wird nun mit Weihnachten?«, wollte Valerie wissen.
»Ach, bis dahin fließt noch viel Wasser die Elbe hinunter«, erwiderte Eberhard, »warum sollen wir uns schon jetzt, im August, den Kopf darüber zerbrechen, was Weihnachten sein wird?«
»Ich möcht’s aber wissen«, beharrte das Mädchen.
»Wenn du wirklich nicht kommen willst - und davon müssen wir ja wohl ausgehen -, werden wir anderen uns überlegen, wie wir das Fest ohne dich feiern.«
Valerie sprang auf, lief zu ihrem Vater hin und gab ihm einen lauten Kuss auf die Wange. »Danke, Pa!«
»Bilde dir bloß nicht ein, dass wir ohne dich aufgeschmissen sind«, sagte der Bruder.
»Weiß ich. Du könntest ja an meiner Stelle Otti mitbringen.«
»So verrückt werde ich sein!«
»Aber wieso eigentlich nicht?«, fragte Eberhard. »Otti ist doch ein nettes Mädchen. Sie ist deiner Mutter und mir jederzeit herzlich willkommen, nicht wahr, Aline?«
»Nee, lass man, das kommt nicht in Frage!«, antwortete Felix anstelle seiner Mutter. »Unter dem Weihnachtsbaum ... Nee. Das könnte zu sehr nach Verlobung aussehen.«
»Und ich dachte, du wärst ganz versessen auf sie!«, neckte ihn die Schwester.«
»So versessen nun auch wieder nicht. Ein Seemann braucht seine Freiheit.«
Alle lachten, und die Schatten schienen fürs Erste gebannt.
Am nächsten Morgen stand Aline auf, als Eberhard noch schlief. Felix war schon fort. Es hatte sie Überwindung gekostet, nicht den Wecker so zu stellen, dass sie ihm das Frühstück machen konnte. Aber er hatte sich dagegen verwahrt, und sie hatte ihm insgeheim Recht geben müssen; er war schließlich ein erwachsener junger Mann und brauchte nicht mehr bemuttert zu werden. Doch ein leiser Schmerz blieb.
Sie betrachtete sich im Spiegel über den Wascnbecken, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass sie das besser unterlassen sollte; ungewaschen, unfrisiert und leicht verquollen präsentierte sie sich nicht gerade von ihrer besten Seite. Ihre schönen blauen Augen mit den grünen Sprenkeln rund um die Pupille wirkten klein, der Mund war blass, die Lippen schienen schmaler geworden und das Gesicht voller; es war ihr, als hätte sie ein Doppelkinn bekommen, und sie betrachtete sich im Profil und strich sich über die Kehle. Das war sie nun, Aline Thomas, geborene Beckmann, 40 Jahre alt, und sie musste sich damit abfinden.
Aline wusste, dass sie in den Augen derenigen, die sie in ihrer Jugend nicht gekannt hatten, eine zumindest noch sehr attraktive Frau war. Aber sie selber sah sich anders. Sie verglich sich nicht mit anderen Frauen, sondern immer nur mit jener Aline, die sie vor zwanzig Jahren gewesen war, einer makellosen, strahlenden Schönheit. Verglichen mit diesem Bild, das sie immer noch in sich trug, war sie nur noch ein Abglanz, eine Karikatur dessen, was sie einmal gewesen war. Kein noch so raffiniertes Make-up konnte ihr je die Frische der Jugend zurückgeben, die sie für immer verloren hatte.
Mach dir nichts draus, hätte Eberhard gesagt, wenn sie ihm ihre Gedanken anvertraut hätte, wovor sie sich aber wohlweislich hütete, du musst ja nicht mehr von deiner Schönheit leben.
Das war zweifellos richtig, und sie wusste es auch selber, hatte es sich oft genug gesagt, aber es war kein Trost.
Als er sie kennen gelernt hatte, war sie Fotomodell gewesen und er ein junger unbekannter Fotograf. Sie hatte, obwohl fünf Jahre jünger als er, schon fast den Gipfel ihrer Karriere erreicht, während er noch auf der untersten Sprosse gestanden hatte. Schon als Kind war sie von ihrer ehrgeizigen und unerbittlichen Mutter - Valerie, nach der sie ihr erstes Kind genannt hatte - vermarktet worden, und dann, als sie sich zu einem langbeinigen, zauberhaften Teenager entwickelt hatte, immer steiler und steiler hinaufgetrieben worden. Es hatte Eberhard viel Überredung gekostet, sie überhaupt fotografieren zu dürfen, und noch mehr Überzeugungskraft, Valerie klarzumachen, dass niemand sie so herausbringen konnte wie er. Aber dann waren sie doch ein Gespann geworden, eine Troika, sie, Eberhard und unabwendlich ihre geschäftserfahrene Mutter. Der Erfolg hatte sie immer fester zusammengeschmiedet.
Bis dann das Unglück geschah. Auf der Fahrt zu einem Fototermin, schon verspätet, weil ein wichtiges Telefongespräch sie aufgehalten hatte, war das Auto auf der Bundesstraße ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt. Die Mutter, am Steuer, war sofort tot gewesen, während Aline schon vorher herausgeschleudert und mit einem komplizierten Knochenbruch im Kniegelenk davongekommen war. Noch heute schmerzte sie das linke Knie, wenn sie sich überanstrengte, und sie begann zu hinken, wenn sie müde wurde. Damals hatte sie geglaubt, dass ihre berufliche Laufbahn zu Ende sein würde, und sie war nicht einmal traurig darüber gewesen. Viel tiefer hatte sie der Tod der Mutter geschmerzt. Es war Eberhard gewesen, der sich unablässig um sie gekümmert, sie getröstet und aufgemuntert hatte.
Aline war schon vorher in ihn verliebt gewesen, hatte ihren Gefühlen aber nicht nachgegeben, da sie unter der ständigen Mahnung aufgewachsen war, sich nur ja nicht zu ›verzetteln‹. Sie übertrug, was sie für ihre Mutter empfunden hatte, auf Eberhard, der für sie zum einzigen Menschen wurde, der für sie zählte. Es war selbstverständlich für beide, dass sie, als sie aus der Klinik entlassen worden war, zu ihm zog, in seine Atelierwohnung in Barmbeck, die schon für zwei Menschen zu klein war, die aber geradezu beengend wurde, als Valerie auf die Welt kam. Und doch - wie glücklich waren sie in den ersten Jahren dort gewesen! Kurz vor Valeries Geburt hatten sie geheiratet. Es war für beide nicht mehr als eine Formalität gewesen, denn ihre innere Gewissheit, dass sie für immer zusammengehörten, war so stark, dass Siegel und Unterschrift ihnen nichts bedeuteten.
Noch in der Zeit ihrer Schwangerschaft hatte er sie immer wieder fotografiert, und ihre Bilder waren um die Welt gegangen, die Porträts einer modernen, unsentimentalen Frau, die dennoch die geheimnisvolle Erwartung der Mutterschaft ausstrahlte. Auch später noch hatte er sie mit Valerie und Felix zusammen fotografiert und die Fotos für die Werbung eines Kindernahrungsmittels gut verkaufen können. Dann aber hatte die Firma sie und die beiden Kleinen für Werbespots haben wollen, was überhaupt nicht auf ihrer Linie gelegen hatte. Dennoch hatte sie zugestimmt, auf Eberhards Drängen hin und des Geldes wegen, an Disziplin gewöhnt, hatte sie ihr Bestes gegeben. Felix, damals noch ein Baby, hatte es nichts ausgemacht, im Licht der Scheinwerfer und vor surrenden Kameras seinen Brei zu mampfen, aber Valerie hatte es nicht gut getan, so im Mittelpunkt zu stehen. Sie war nervös geworden, hatte bald ihre Natürlichkeit verloren, begann unter Appetitlosigkeit zu leiden und schreckte nachts aus bösen Träumen hoch. Die Sorge um die Tochter zeichnete bald Alines Gesicht. Sie hatte aufgeatmet, als der Vertrag auslief, den zu verlängern auch nicht mehr von Interesse war, da sie aufgehört hatten, der Prototyp einer glückstrahlenden kleinen Familie zu sein. Felix hätte zwar weiter in der Werbung arbeiten können, aber das wollte Aline nicht. Anders als die eigene Mutter war sie darauf bedacht, ihm seine Kindheit und seine Kindlichkeit zu bewahren. Darüber hatte es mit Eberhard nie eine Auseinandersetzung gegeben, denn er war ganz ihrer Meinung, und das um so mehr, da er inzwischen auch ohne Mitwirkung seiner Familie genügend Geld verdiente, um sie zu ernähren.
Endlich befreit von dem Druck, etwas darstellen zu müssen, was sie nicht empfand, hatte sie sich ganz dem häuslichen Leben gewidmet. Zwar waren immer noch Angebote gekommen, und sie hätte nicht ungern den einen oder anderen Termin wahrgenommen, aber sie hielt es für wichtiger, sich um Valerie zu kümmern, ihr Sicherheit und Geborgenheit zu geben und sie die Strapazen allzu früher Repräsentationspflichten vergessen zu lassen. Sie hatte diese Entscheidung nie bereut, und ihre Tochter hatte es ihr gedankt, indem sie sich zu einem gesunden, normalen Kind entwickelt hatte.
Doch wenn sie heute zurückdachte, dann war es ihr, als hätte sich die Beziehung zwischen Eberhard und ihr von da an allmählich verändert, erst fast unmerklich, dann immer deutlicher spürbar. Sie hatte aufgehört, für ihn der Kamerad zu sein, der all seine Schwierigkeiten verstand, seine Erfolge zu würdigen wusste und mit ihm durch dick und dünn ging. Sie war die Frau geworden, die für ihn sorgte und ihn verwöhnte, die Geliebte und die Mutter seiner Kinder. Das war immer noch genug gewesen, um glücklich zu sein, zumal da sie sich jetzt endlich das schaffen konnte, was sie in ihrer Jugend vermisst hatte: ein ruhiges, harmonisches, geordnetes häusliches Leben.
Längst wohnten sie nicht mehr in Barmbeck, sondern waren in die schöne geräumige Altbauwohnung seiner verwitweten Mutter in der Isestraße gezogen. Das Atelier allerdings hatte ihr Mann nicht aufgegeben, sondern beruflich weiter genutzt. Auch das war eine einschneidende Veränderung gewesen, durch die sie einen Anteil an seinem Leben verloren hatte. Immer mehr wurde seine Arbeit, durch die sie sich einst gefunden hatten, von ihr getrennt. Weder sie noch er hatten es jedoch damals so empfunden. Es war für beide eine große Erleichterung gewesen, nicht mehr in beengten Verhältnissen, praktisch in einem einzigen großen Zimmer neben dem Atelier schlafen, wohnen und essen zu müssen. Aline hatte sich auch nie darüber beklagt, dass er manchmal, wenn es abends spät geworden war oder er einen seiner frühen Fototermine hatte, dort übernachtete. Der Gedanke, dass sie Grund zur Eifersucht haben könnte, war ihr nie gekommen.
Das Zusammenleben mit der Schwiegermutter, Elisabeth Thomas, von allen, auch von den Enkelkindern, liebevoll ›Betsy‹ genannt, war anfangs nicht leicht gewesen. Betsy hatte alles im Haushalt so haben wollen, wie sie es sich selber wünschte und vorstellte, und hatte Aline wie ein unwissendes Schulmädchen behandelt. Aline, die so viele Jahre unter der Fuchtel einer selbstherrlichen und tyrannischen Mutter gelebt hatte, brachte die Kraft auf, es mit Geduld zu ertragen. Auch fehlte es ihr nicht an Einsicht, dass die Schwiegermutter mit häuslichen Problemen tatsächlich besser fertig wurde als sie selber. Betsys Schweinebraten war immer saftig und knusprig, ihr Weihnachtsstollen war berühmt, sie konnte köstliche Gelees und Marmeladen einkochen, und sie wusste stets mit unzweifelhafter Sicherheit, ob und wann bei einer Erkrankung der Kinder ein Arzt hinzuzuziehen war oder ob sie nur eine einfache Erkältung oder Magenverstimmung ausbrüteten.
Mehr noch als durch diese Fähigkeiten hatte sie Aline jedoch durch ihr intellektuelles Wissen imponiert. Betsy war eine sehr belesene alte Dame, hatte sich mit westlicher und fernöstlicher Philosophie befasst und war in der Weltliteratur bewandert. Als Aline Interesse zeigte, nicht nur von ihren Kenntnissen in Haushalt und Küche zu profitieren, sondern sich auch literarisch weiterzubilden - wobei von einer Erweiterung ihres Wissens gar nicht die Rede sein konnte, denn sie hatte in ihrem bisherigen Leben kaum je ein anspruchvolles Buch zur Hand genommen -, hatte die Schwiegermutter zunächst belustigt reagiert. Sie hatte Alines Bestreben nicht ernst genommen, sondern darin nur den immerhin rührenden Versuch gesehen, sich bei ihr einzuschmeicheln.
Aber Aline hungerte förmlich nach Bildung. Jetzt, da es vorbei war mit den großen Reisen und den Begegnungen mit vielen, obendrein interessanten Menschen, begann sie eine Leere zu empfinden, die mit Plaudereien, alltäglichen Gesprächen und mit Kinderspielen nicht auszufüllen war. Als Betsy ihr nicht helfen wollte, sondern sie nur darauf hinwies, dass ja Bücher genug vorhanden seien und sie nur zuzugreifen brauche, wenn sie wirklich wolle, begann Aline selbstständig in den Regalen zu stöbern, nahm dieses Buch, dann jenes heraus, blätterte darin, las ein paar Seiten und entschied sich endlich für Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. Zuerst musste sie sich an den gewählten Stil des Schriftstellers gewöhnen, seine sorgfältige und behutsame Erzählweise, die sie als langatmig empfand. Dann aber las sie mit wachsendem Interesse und Genuss.
Schwerer war es ihr dann gefallen, über das Werk zu sprechen und ihre Eindrücke wiederzugeben. Aber Betsy hatte ihr aufmerksam und mit wachsender Freude zugehört. Damals hatte sie immer noch nicht die Enttäuschung überwunden, dass ihre eigenen Kinder nie bereit gewesen waren, ihre geistigen Interessen zu teilen, sondern ausschließlich den praktischen Seiten des Lebens zugetan waren. Sie konnte es kaum glauben, dass sie jetzt in Aline eine Tochter gewonnen hatte, die bereit war, von ihr und mit ihr zu lernen. Das war der Anfang eines tiefen Verstehens zwischen den beiden so verschiedenartigen Frauen gewesen. Von da an hatte Aline jede freie Stunde in der Bibliothek der alten Dame verbracht, und die Reise durch die Welt der Literatur, die ihr grenzenlos schien, hatte ihr äußerlich ereignisloses Leben und ihren Horizont erweitert. Eberhard hatte für diese ›Sucht‹, wie er es nannte, kein Verständnis aufgebracht, wie schon bei seiner Mutter. Das machte Aline ein wenig traurig, denn gern hätte sie ihre Begeisterung mit ihm geteilt, mit ihm diskutiert, sein Urteil gehört, statt immer nur mit Betsy darüber reden zu können. Aber da es nicht sein konnte, fügte sie sich. War er zu Hause, wurde nicht gelesen und nicht über Literatur gesprochen. Dann stand nur er im Mittelpunkt ihres Interesses. Es blieben genügend Stunden, in denen sie sich mit Betsys Büchern über seine Abwesenheit hinwegtrösten musste.
Immerhin machte er ihr keine Vorwürfe darüber, dass sie wie seine Mutter monatlich eine kleine Summe für Neuerscheinungen ausgab, und sie war ihm dankbar dafür. Als er finanziell so weit war, dass er für seine Familie das eigene Haus in Bergedorf bauen konnte, war es für ihn ganz selbstverständlich gewesen, dass auch für die Bibliothek ein Raum geschaffen werden musste, so, wie es für Aline selbstverständlich war, dass die Schwiegermutter mitkam. Ein halbes Jahr war sie jetzt tot, und immer noch, wenn Aline an sie dachte, kamen ihr die Tränen. »Liebe Betsy«, sagte sie lautlos, »wie schade, dass du nicht mehr bei uns bist!«
Aber sie wusste, dass es nichts half zu klagen. Das war das Schicksal, das alle Menschen ertragen mussten. Man wurde alt, Falten erschienen, die Schönheit schwand dahin, die Vitalität, der Körper verlor seine Widerstandskraft, der Geist seine Flexibilität, die Gebrechen des Alters meldeten sich, und dann kam der Tod. Aline schauderte. Sie entdeckte zwei, drei weiße Fäden in ihrem braunen Haar und nahm die Pinzette, um sie auszuzupfen. Noch half diese Methode, aber nicht mehr lange, dann würde sie sich das Haar färben lassen müssen. Dabei war es in ihren Augen das einzig Schöne, was ihr noch geblieben war. Es hatte, besonders wenn es frisch gewaschen war, einen warmen Mahagonischimmer, wie ihn kein künstliches Mittel der Welt zu erzeugen vermochte.
Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer ließ sie zusammenfahren. Anscheinend war Eberhard schon wach geworden. Jetzt musste sie sich beeilen. In all den Jahren ihrer Ehe hatte sie sich ihrem Mann zwar manchmal ungeschminkt, aber niemals ungepflegt gezeigt. Im gleichen Maße, wie ihre jugendliche Schönheit schwand, verstärkte sie ihre Anstrengungen, dennoch attraktiv zu bleiben.
Eine knappe Stunde später saß das Ehepaar beim Frühstück auf der Terrasse. Valerie war noch nicht aufgestanden. Aline hatte den Kamin zwar schon ausgeräumt, aber immer noch roch es schwach nach verbranntem Holz. Es war sehr still. Die anderen Männer waren schon zur Arbeit gefahren, die größeren Kinder in der Schule und die kleineren mit ihren Müttern beim Einkaufen. Der Himmel war klar wie am Tag zuvor, die Sonne schien warm, aber es war noch nicht heiß geworden.
Aline hatte den Rasensprenger angestellt, denn sie liebte es, wenn die Sonnenstrahlen sich in den Kaskaden winziger Wassertröpfchen brachen. Auch jetzt war sie in dieses Schauspiel versunken, während sie an einem Glas mit frisch ausgepresstem Orangensaft nippte. Sie trug ein bodenlanges, großblumig gemustertes Gartenkleid, das ihre gebräunten glatten Schultern freigab. Das Haar hatte sie aus der Stirn zurückgebunden.
Eberhard saß hinter seiner Zeitung versteckt, und sie hätte nichts von ihm sehen können als hin und wieder eine Hand, eine kräftige, leicht behaarte Hand, die nach der Kaffeetasse griff. Sie wusste, dass er ein verschossenes kurzärmliges blaues Hemd trug, eine alte verbeulte Hose von undefinierbarer Farbe und Sandalen an den bloßen Füßen; er liebte es, sich zu Hause gehen zu lassen und es sich bequem zu machen.
Als er die Zeitung raschelnd zusammenlegte, wandte sie sich ihm sofort zu.
»Was ist los?«, fragte er irritiert, »Warum siehst du mich so an?«
»Ich freue mich, dich zu sehen!«, erwiderte sie lächelnd.
Er fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. »Stört es dich, dass ich noch nicht rasiert bin?«
»Wie sollte es?«
»Was für eine Frage!«
»Ich bin doch daran gewöhnt.«
»Du hast mal wieder eine Laune!«
Sie verzichtete darauf, sich zu verteidigen oder die Dinge richtig zu stellen.
Es war seine Art, die eigene Stimmung und oft sogar die Probleme auf den Partner zu projizieren. Sie schwieg einfach und wandte den Blick wieder dem Regenbogenspiel der Wassertropfen zu.
»Der Rasen müsste mal wieder gemäht werden«, stellte er fest.
»Möchtest du das tun?« hätte sie ihn beinahe gefragt, aber sie verbiss es sich und erklärte statt dessen:
»Bei dieser Hitze lasse ich ihn gerne etwas länger. Dann verbrennt er nicht so leicht.«
»Schön hast du es hier! Weißt du eigentlich, dass du zu beneiden bist?« Er zündete sich eine Zigarette an.
Sie stand auf. »Wohin willst du?«, fragte er sofort.
»Die Butter ins Haus bringen. Ich nehme doch an, dass du mit dem Frühstück fertig bist. Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?«
»Ja, schenk mir noch einmal ein! Und bleib hier! Pfeif auf die Butter. Ich hasse es, wenn du solche Unruhe verbreitest. Kannst du diesen schönen Morgen nicht einfach mal mit mir genießen?«
»Das fällt mir leichter, wenn ich nicht zusehen muss, wie die Butter dahinschmilzt.« Sie nahm den Buttertopf und den Teller mit dem Aufschnitt und brachte beides, nicht, wie sie vorgehabt hatte, in die Küche, sondern nur in das Wohnzimmer, und war sofort wieder zurück auf der Terrasse, um ihrem Mann den Rest des Kaffees einzugießen. »Danke!«, sagte er. »Ist jetzt deine Hausfrauenseele zufrieden?«
Sie nahm wieder auf dem weißen Gartensessel Platz. »Es ist mir ganz neu, dass ich eine Hausfrauenseele habe.«
»Natürlich hast du. Wie kämst du sonst dazu, dich an einem so herrlichen Morgen ausgerechnet um die Butter zu sorgen?«