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Fiete, der alte Seebär! Als Frau Helbing ihre demenziell erkrankte Nachbarin Frau Paulsen im Pflegeheim besucht, begegnet sie dort zufällig einem alten Angelfreund ihres verstorbenen Mannes. Früher ist Fiete Jacobsen von Hamburg aus als Kapitän um die halbe Welt gefahren, jetzt hockt der Arme buchstäblich auf dem Trockenen. "Gift ja nix hier", beschwert er sich. Dem bringe ich mal eine Portion Labskaus vorbei, sagt sich die pensionierte Fleischereifachverkäuferin. Allerdings eröffnet ihr Fietes Betreuerin Frau Fischer unter geheimnisvollen Andeutungen, Herr Jacobsen werde bald umziehen. Und dann passiert es: Gerade als Frau Helbing das Heim verlässt, stürzt Frau Fischer aus dem Fenster im dritten Stock. Sterbend haucht sie noch ein letztes rätselhaftes Wort: "Morf." Die passionierte Krimileserin Frau Helbing weiß sofort: Hier liegt ein Verbrechen vor. Als dann auch noch Fiete spurlos verschwindet, steckt Frau Helbing, sehr zum Unmut der Hamburger Polizei, mitten in ihrer zweiten Mordermittlung.
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Seitenzahl: 231
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Eberhard Michaely
Frau Helbing und der verschollene Kapitän
Roman
Oktopus
Beherzt durchtrennte Frau Helbing die Bauchdecke und zog die Klinge ihres Schlachtmessers langsam bis zum Brustbein hinab. Dann schob sie vorsichtig Zeige- und Mittelfinger der linken Hand in den noch warmen Körper, spannte die Haut durch Druck von innen und vollendete den Schnitt in Gegenrichtung bis zu den Hinterläufen. Der Schwerkraft folgend quollen dabei Magen und Darm aus dem geöffneten Tier. Frau Helbing ignorierte den unangenehm jauchigen Geruch, der sich in ihrer Küche ausbreitete. Sie war ganz auf ihre Arbeit konzentriert. Geschickt zog sie die Innereien in einem Stück aus dem Kaninchen und warf sie in den Eimer, der zwischen ihren Füßen bereitstand.
In diesem Moment klingelte es an ihrer Wohnungstür.
Frau Helbing seufzte. Wahrscheinlich war es wieder Frau Paulsen aus dem dritten Stock. Schon immer hatte diese Frau eine schlechte Vorratshaltung gehabt, aber in letzter Zeit kam sie praktisch täglich und bat um Lebensmittel. Kaffee, Mehl, Eier, Brot – etwas schien ihr immer zu fehlen. Grundsätzlich hatte Frau Helbing kein Problem damit auszuhelfen. In den Nachkriegsjahren groß geworden, empfand sie Nachbarschaftshilfe als eine Selbstverständlichkeit. Aber Frau Paulsen versäumte es, sich zu revanchieren. In den letzten Wochen hatte sie nicht eine der geborgten Sachen ersetzt. Das konnte so nicht weitergehen. Frau Helbing bezog eine kleine Rente und musste jeden Cent zweimal umdrehen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihre Nachbarschaft durchzufüttern. Entschlossen, mit Frau Paulsen ein klares Wort zu sprechen, ging sie durch den Flur und öffnete die Tür.
Auf dem Treppenabsatz stand Herr Paulsen. Er hielt einen großen Karton in den Armen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Frau Helbing an.
»Grundgütiger!«, rief er entsetzt.
Frau Helbing fragte sich, was ihn so erschreckt haben könnte. Dann fiel ihr auf, dass sie noch immer die weiße Schlachtschürze anhatte. Beim Öffnen der Halsschlagader hatte sie ein paar Blutspritzer abbekommen. Außerdem hatte sie mehrfach ihre schmierigen Hände an dem kunststoffbeschichteten Leinen abwischen müssen, als sie das Fell abgezogen hatte. Das Messer hielt sie auch noch in den Fingern, und bis über die Handgelenke war ihre Haut mit einer übel riechenden Substanz überzogen. Für einen Außenstehenden konnte das durchaus ein verstörender Anblick sein, gestand sich Frau Helbing ein.
»Ich schlachte gerade«, versuchte sie Herrn Paulsen zu beruhigen.
»Sie machen was?«
Herrn Paulsens Augen wurden noch ein bisschen größer.
»Kommen Sie erst mal rein«, sagte Frau Helbing und hielt die Tür auf.
Zögernd betrat Herr Paulsen den Flur.
»Der Karton ist ganz schön schwer«, jammerte er.
»Stellen Sie ihn auf den Küchentisch«, sagte Frau Helbing und deutete mit dem Messer auf die offene Tür am Ende des Flurs.
Herr Paulsen gehorchte.
»Ist das ein Hase?«, fragte er ungläubig, nachdem er das Paket abgestellt hatte.
Mit zwei Schlachthaken hatte Frau Helbing das Karnickel kopfüber an die Küchentür gehängt.
»Nein«, sagte sie. »Ein Kaninchen.«
»Wo haben Sie den denn her? Also das«, stotterte Herr Paulsen.
»Das hat mir Bauer Jankel zu Weihnachten geschenkt.«
Herr Paulsen stand kopfschüttelnd vor dem ausgeweideten Kadaver.
»Kann ich mal das Fenster aufmachen?«, fragte er mit matter Stimme.
»Bitte«, sagte Frau Helbing.
»Beim alten Jankel haben wir früher viel Schlachtvieh gekauft«, fuhr sie fort. »Der hatte gute Tiere. Eine Fleischqualität, wie man sie heute im Supermarkt vergeblich sucht. Den Hof hat er inzwischen an seinen Sohn abgegeben, aber zu Weihnachten schenkt er mir aus alter Verbundenheit immer ein Kaninchen.«
»Bauer Jankel schenkt Ihnen ein Kaninchen, und Sie bringen es um?« Herr Paulsen setzte sich.
»Ich bringe es nicht um. Ich schlachte es.« Frau Helbing hob den Zeigefinger. »Das ist ein Unterschied.«
»Aber hält man ein Kaninchen nicht in einem Käfig und streichelt es ab und zu?«, fragte Herr Paulsen.
Frau Helbing nickte.
»Streicheln kann man ein Kaninchen.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Aber man kann es auch essen.«
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Aber kein diabolisches Grinsen, das auf eine perverse Veranlagung schließen ließ. Frau Helbing hatte keineswegs Gefallen daran, Tiere zu töten und mit ihren Händen in Eingeweiden rumzufummeln. Sie empfand lediglich eine Vorfreude auf ein deftiges Essen. Und warum auch nicht? Geschmortes Kaninchen mit Wurzelgemüse und Kartoffeln war ein wunderbares Wintergericht. Genau das Richtige für einen kalten Januarabend. Dass dafür ein Tier sterben musste, empfand Frau Helbing als eine simple Notwendigkeit.
Vierzig Jahre lang hatte sie zusammen mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann eine Schlachterei im Hamburger Grindelviertel betrieben. Frau Helbing hatte keine verklärten Vorstellungen, was die Herkunft von Wurst- und Fleischwaren anging. Wer ein Steak essen wollte, musste ihrer Meinung nach der Realität ins Auge sehen oder sollte sich lieber vegetarisch ernähren.
»Könnten Sie bitte diesen Eimer wegstellen?«, bat Herr Paulsen. Beim Anblick der Innereien war er bleich geworden.
Frau Helbing schob das Gekröse aus seinem Sichtfeld.
»Wenn Sie das Fell haben wollen …« Sie zeigte auf die Spüle.
Herr Paulsen verzog angewidert das Gesicht. Er schien ein bisschen zu würgen. Vielleicht sollte ich ihm einen Schnaps anbieten, überlegte Frau Helbing. Meistens half das bei Kreislauf. Möglicherweise trank Herr Paulsen aber keinen Alkohol. Frau Helbing hatte keine Ahnung. Sie wusste fast nichts über ihren Nachbarn, obwohl sie schon so lange im selben Haus wohnten. Hermann und sie hatten nicht viel Kontakt zu den Paulsens gehabt. Und wenn, dann eher zu Frau Paulsen, die auch als Kundin in der Helbing’schen Schlachterei ein und aus gegangen war. Mit ihr hatte Frau Helbing auch mal im Treppenhaus geklönt oder unterm Dach beim Wäscheaufhängen getratscht, bevor der Trockenboden zu einer Eigentumswohnung ausgebaut worden war. Das war aber auch schon viele Jahre her.
Herrn Paulsen dagegen hatte sie nur hin und wieder gegrüßt. Wenn sie ihn überhaupt bemerkt hatte. Er war ein unscheinbarer Typ, den man leicht übersah. Bis zu seiner Pensionierung hatte Herr Paulsen als Museumswärter gearbeitet. In der Kunsthalle oder im Völkerkundemuseum. Nicht einmal das konnte Frau Helbing mit Sicherheit sagen. Aber sie war davon überzeugt, dass er sich auf seiner Arbeitsstelle diese chamäleonartigen Eigenschaften angeeignet hatte. So ein Aufseher läuft schließlich den ganzen Tag zwischen den Exponaten rum und versucht nicht aufzufallen. Jedenfalls war das Frau Helbings Erklärung für dieses rätselhafte Phänomen seiner nahezu perfekten Tarnung.
»Was wollen Sie eigentlich hier?«
Frau Helbing fragte nicht unhöflich, aber bestimmt. Schließlich hatte sie zu tun. Das Kaninchen musste noch zerlegt und anschließend die Küche geputzt werden. Herr Paulsen sollte nicht auf die Idee kommen, er könne hier Wurzeln schlagen und sie von der Arbeit abhalten. Mit dem Küchenstuhl schien er bereits zu verwachsen. Überhaupt machte er den Eindruck, als hätte er in seinem Leben viel und lange gesessen.
»Ich bringe Ihre Sachen zurück«, sagte Herr Paulsen und zeigte auf die Pappkiste. »Die Pakete sind noch ungeöffnet. Lassen Sie mich bitte wissen, wenn etwas fehlt.«
»Ungeöffnet?«, murmelte Frau Helbing und warf einen Blick auf die Nahrungsmittel. »Ihre Frau hat sich Dinge geborgt, die sie nicht brauchte?«
»Ja«, stöhnte Herr Paulsen. »Und nicht nur geborgt, sie hat auch alles doppelt und dreifach gekauft. Mit den Nudeln, die wir in der Speisekammer haben, könnte ich ein italienisches Restaurant eröffnen.«
»Ach du meine Güte«, sagte Frau Helbing. »Warum macht sie das?«
Herr Paulsen zuckte ratlos mit den Schultern.
»Das funktioniert alles nicht mehr«, sagte er. »Hier.« Er machte mit dem Zeigefinger kreisförmige Bewegungen auf Höhe seiner Schläfe. »Sie weiß nicht, was sie macht, beziehungsweise vergisst sofort, was sie gemacht hat. Das wird auch nichts mehr, hat Doktor Franzen gesagt. Schlimm ist das. Schlimm.« Resigniert schüttelte er den Kopf. »Sie hat auch schon seit Monaten nicht mehr geputzt. Das sieht aus bei uns.«
Das hätte auch von Hermann kommen können, dachte Frau Helbing. Auf die Idee, mal selbst zu wischen, kamen die Männer in der Regel nicht.
»Das ist ja schrecklich«, sagte sie – und fügte schnell hinzu: »Also das mit Ihrer Frau.« Nicht, dass Herr Paulsen noch dachte, sie meine seine dreckige Wohnung.
»Und da kann man nichts machen? Ich meine, heute gibt es doch für alles ein Medikament.«
Herr Paulsen sah sie mit feuchten Augen an.
»Demenz«, sagte er mit zittriger Stimme.
Frau Helbing erstarrte.
»Demenz«, flüsterte sie.
Dieser Begriff jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
Es gab nur wenig, wovor Frau Helbing Angst hatte. Als Halbwaise geboren, dazu die jüngste von vier Schwestern, musste sie schon früh Verantwortung übernehmen. Ihre Kindheit war von Mangel und ihr weiteres Leben von harter Arbeit geprägt gewesen. Aber immer hatte sie einen klaren Verstand gehabt. Nie hatte sie sich ein X für ein U vormachen lassen. Und sie war zäh. Frau Helbing hätte ohne Probleme mit Nomaden in der Taiga oder bei Eskimos im ewigen Eis leben können, ohne an den Widrigkeiten eines entbehrungsreichen Lebens zugrunde zu gehen. Aber den Verlust des Denkvermögens und am Ende der Souveränität betrachtete sie als die grausamste Bürde überhaupt. Sie wusste von vielen Bekannten aus ihrem Viertel, denen es eines Tages nicht mehr möglich gewesen war, allein zu leben. Rüstige Menschen, die im hohen Alter auf die Hilfe anderer angewiesen waren. Schleichend waren diese Leute abgedriftet wie ein manövrierunfähiges Schiff auf hoher See.
Frau Helbing hatte sich oft gefragt, in welche Hände sie ihre Betreuung legen sollte, wenn sie selbst in diese Situation käme. Kinder hatte sie keine, und ihre einzige Freundin Heide war auch Jahrgang 1942. Wenn sie darüber nachdachte, wurde ihr angst und bange. Sie musste sich setzen.
»Soll ich mal nach ihr sehen?«, fragte sie. »Heute ist es schon spät, aber morgen Vormittag habe ich Zeit. Da könnte ich hochkommen und Ihrer Frau ein bisschen Gesellschaft leisten.«
Herr Paulsen setzte eine düstere Miene auf.
»Sie ist nicht mehr da«, sagte er knapp.
»Nicht mehr da?«
Frau Helbing schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
Sie musterte Herrn Paulsen. In seiner grün melierten Strickjacke und der braunen Cordhose sah er ganz normal aus. Harmlos wie immer. Aber meist waren es die Unscheinbaren, die sich völlig überraschend als Psychopathen entpuppten und aus dem Nichts eine diabolische Seite offenbarten. Frau Helbing wusste das. Also nicht, dass sie Erlebnisse dieser Art gehabt hätte, aber sie kannte solche Geschichten aus diversen Büchern.
Frau Helbing las leidenschaftlich gerne Krimis. Im Laufe der Jahre hatte sie zusammen mit den verschiedensten Ermittlern die kniffligsten Fälle gelöst. Sie liebte diese Gänsehautmomente, wenn Gefahr im Verzug war und alles Spitz auf Knopf stand. Aber jetzt mit Herrn Paulsen am Küchentisch zu sitzen gruselte sie mehr als gewünscht.
»Wie meinen Sie das? Nicht mehr da …«, fragte sie vorsichtig nach.
»Na, sie ist weg, heißt das. Ich habe sie heute in ein Pflegeheim gebracht.«
Pflegeheim. Das war noch so ein schreckliches Wort. Für Frau Helbing klang das wie Gnadenhof.
Auch wenn sich viele dieser Einrichtungen mit Bezeichnungen wie »Seniorenresidenz«, »Ruhesitz« oder »Stift« aufwerteten, nahm das Frau Helbing nichts von ihrer Angst, eines Tages in eben eines dieser Altersheime umziehen zu müssen. Endstationen des Lebens waren das für Frau Helbing. Sackbahnhöfe, in denen die Gleise unwiderruflich endeten. Und wie sie gehört hatte, war es gar nicht so einfach, dort einen Platz zu bekommen.
»Gibt es da nicht lange Wartelisten?«, fragte sie Herrn Paulsen.
»Im Haus Buchenhain ist spontan etwas frei geworden«, erklärte er mit ausdrucksloser Miene.
»Spontan etwas frei geworden«, wiederholte Frau Helbing fast tonlos und warf einen Blick auf das tote Kaninchen.
»Ich brauche jetzt einen Schnaps«, sagte sie, stand auf und nahm eine Flasche Himbeergeist aus dem Schrank. Pflegeheim in Kombination mit Demenz hatte sie in ihren Grundfesten erschüttert. Frau Helbing trank selten. Aber wenn ihr der Schreck tief in die Glieder gefahren war, nahm sie schon mal zur Beruhigung einen Kurzen zu sich.
»Möchten Sie auch?«, fragte sie Herrn Paulsen.
Der hob abwehrend die Hand.
»Ich trinke nicht.«
»Vernünftig«, sagte Frau Helbing und leerte ihr Glas in einem Zug.
Als sie sich umdrehte, kam es ihr vor, als hätte Herr Paulsen die Maserung des Küchenschranks angenommen, vor dem er saß. Es konnte natürlich auch am Schnaps liegen, aber Frau Helbing hatte den Verdacht, dieser Mann könnte sich uneingeschränkt seiner jeweiligen Umgebung anpassen, ganz gleich, in welcher Farbe oder Struktur der Hintergrund beschaffen war.
»Ich gehe dann mal«, sagte Herr Paulsen müde. »Ich muss mir noch Abendbrot machen.«
Bei ihm klang das nach einer größeren Herausforderung. Bestimmt hatte er nicht oft im Haushalt geholfen. Weder beim Putzen noch beim Waschen und schon gar nicht bei der Zubereitung von Mahlzeiten. Männer waren wie Kinder, fand Frau Helbing. Früher hatte sie Hermann morgens immer die Kleider rausgelegt, damit er nicht in den unmöglichsten Kombinationen herumlief. Herr Paulsen war bestimmt ähnlich unselbstständig.
»Es ist ja genug zum Essen da«, sagte Frau Helbing aufmunternd.
Herr Paulsen rang sich ein Lächeln ab. Dann stand er auf und verabschiedete sich. An der Wohnungstür drehte er sich noch einmal um.
»Es wäre wirklich nett, wenn Sie meine Frau besuchen würden«, sagte er.
»Mache ich«, antwortete Frau Helbing.
»Haus Buchenhain«, wiederholte er zur Sicherheit. »In der Hallerstraße.«
Frau Helbing nickte.
»Versprochen«, sagte sie.
»Danke schön«, murmelte Herr Paulsen im Gehen.
Dann schwebte er lautlos die Treppe hoch und verschwamm mit dem Geländer.
Frau Helbing atmete einmal tief durch. Sie war zutiefst beunruhigt. Wie lange würde sie selbst ihren Haushalt noch bewältigen können, fragte sie sich. Vielleicht wirkte sie auf andere bereits seltsam verschroben, ohne es zu merken. Wer sagte einem eigentlich, ab wann man auf Hilfe angewiesen war? Und zeigten sich bei ihr nicht auch schon erste Anzeichen von Vergesslichkeit?
Sie erinnerte sich, wie sie kurz vor Weihnachten auf dem Wochenmarkt gestanden hatte, den Finger eine Ewigkeit auf eine Gemüsesteige gerichtet. Ein Pfund davon, hatte sie schließlich gesagt. Das war ihr furchtbar peinlich gewesen. Das Wort Schwarzwurzeln war ihr partout nicht eingefallen. Obwohl im Nachhinein betrachtet Farbe und Form dieser Dinger eindeutig auf den Namen hingewiesen hätten.
Und an Silvester, als sie ihre älteste Schwester anrufen wollte, war sie mit den Zahlen durcheinandergekommen. Unerwartet hatte sie einen äußerst unfreundlichen Herrn am Apparat gehabt. Als sie dann über die richtige Nummer nachdenken wollte, war ihr ganz schwindlig geworden. Schließlich musste sie in ihrem alten Telefonregister nachschlagen. Frau Helbing besaß noch ein richtiges Adressbuch aus Papier.
»Speicher die Nummer doch ein«, hatte ihre Schwester gesagt. »Das macht doch heute jeder.«
Für Frau Helbing war das der völlig falsche Ansatz. Man musste seinen Kopf auch benutzen, fand sie. Die Menschen verließen sich immer mehr auf Computer, anstatt ihren Verstand zu gebrauchen. Und wenn das Gehirn erst brach lag, verkam es natürlich mit der Zeit. Genau wie ein Acker, der nicht bestellt wurde.
Während sie das Kaninchen in mehrere Stücke zerteilte, sagte Frau Helbing laut die Telefonnummern ihrer drei Schwestern auf. Nur so, als Training. Obwohl ihr die Zahlen fehlerfrei über die Lippen kamen, konnte sie nicht recht entspannen.
Gerne wäre sie jetzt ein bisschen spazieren gegangen. Bewegung half ihr immer, die Gedanken wieder in Ordnung zu bringen. Frau Helbing warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen war es bereits stockdunkel. Der Januar wirkte immer so trostlos.
Vielleicht hätte sie das Kaninchen doch lieber noch ein bisschen streicheln sollen, anstatt es zu zerlegen.
»Oh, das geht jetzt nicht«, sagte die Dame an der Rezeption. »Pfarrer Krüger ist gerade bei Frau Paulsen. Zum Begrüßungsgespräch.«
Die Frau sprach laut und überdeutlich. Auf dem großen Namensschild an ihrer Bluse stand in fetten Buchstaben BIRTE. Das konnte Frau Helbing sogar ohne Brille lesen. Auf Schwerhörigkeit und altersschwache Augen war man hier offensichtlich gut eingestellt.
»Ich kann warten«, sagte Frau Helbing.
Birte schüttelte mit einem Lächeln des Bedauerns auf den Lippen den Kopf.
»Danach ist Frau Paulsen zur Kreativwerkstatt eingetragen.«
»Aha«, sagte Frau Helbing überrascht.
Gestalterisches Interesse oder dekorative Inspiration hatte sie bei ihrer Nachbarin noch nie wahrgenommen. Auf Frau Paulsens Fensterbank im Wohnzimmer verstaubte seit dreißig Jahren ein bedauernswerter Strauß Trockenblumen. Das konnte man von der Straße aus beobachten.
»Basteln mit Ute findet immer von halb elf bis um zwölf Uhr statt«, erklärte Birte. »Wir haben richtige Künstler unter unseren Bewohnern.«
Mit einer ausladenden Handbewegung lenkte sie Frau Helbings Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Bildern. An den Wänden hingen Kartoffeldrucke in wilden Farbkombinationen und Collagen aus Herbstlaub. Die Werke waren erfrischend unvollkommen und bildeten einen starken Kontrast zu der steril anmutenden Vinyltapete in Mint.
Frau Helbing sah sich um. Das Haus war ein Zweckbau. Von außen wie innen versprühte es den Charme eines Einwohnermeldeamts, und der verzweifelte Versuch, mit naiven Unikaten der Heimbewohner und einem bunten Strauß Gerbera eine gemütliche Atmosphäre schaffen zu wollen, war nach Frau Helbings Meinung gescheitert. Sie wollte Birte gegenüber aber nicht unhöflich sein.
»Toll!«, sagte sie anerkennend.
Birte strahlte dankbar.
»Natürlich bieten wir unseren Bewohnern noch viele andere interessante Kurse an«, fuhr sie fort. »Backen, Singen, Brettspiele, Tanzen im Sitzen. Hier muss sich bestimmt niemand langweilen.«
Tanzen im Sitzen, was ist das denn?, fragte sich Frau Helbing. Im grellen Licht der Deckenbeleuchtung warf sie einen Blick auf die Uhr.
»Also bis zwölf ist Frau Paulsen beschäftigt«, versuchte sie auf ihr Anliegen zurückzukommen.
Birte nickte. Mit erhobenem Zeigefinger fügte sie schnell hinzu: »Dann ist auch schon Mittagessen.«
Frau Helbing war überrascht, wie schwierig es war, eine Heimbewohnerin ohne vorherige Terminabsprache zu besuchen.
»Ich komme wohl besser heute Nachmittag noch mal«, sagte sie. In ihrem dicken Wintermantel und dem Strickschal fing sie langsam an zu schwitzen.
»Gerne«, sagte Birte. »Aber von drei bis fünf ist Tanztee im Gemeindesaal nebenan.«
Frau Helbing zuckte zusammen. Über viel Freizeit schienen die Bewohner nicht zu verfügen.
Völlig naiv war sie nach dem Frühstück aufgebrochen, um nach Frau Paulsen zu sehen. Die Vorstellung, ihre Nachbarin sitze einsam in einer Ecke des Heims, eventuell mit Medikamenten ruhiggestellt, hatte sie nicht gut schlafen lassen. Nun war sie völlig umsonst durch den Hamburger Nieselregen, der im Januar immer besonders kalt war, hierhergelaufen.
»Vielleicht wollen Sie mit Frau Paulsen tanzen«, sagte Birte mit einem Strahlen im Gesicht. »Mittwochs haben wir für unsere älteren Junggebliebenen immer Livemusik mit Herrn Balthasar an der Orgel.«
Frau Helbing schüttelte den Kopf. Mit Frau Paulsen zu tanzen war nun wirklich nicht ihr Ansinnen.
»Ich weiß nicht«, sagte sie diplomatisch.
Das Telefon auf dem Tresen klingelte. Mit einem Schulterzucken nahm Birte das Gespräch an.
Frau Helbing hatte genug. Für den Moment kam sie hier nicht weiter.
Gerade wollte sie sich zum Gehen umdrehen, als ihr Blick durch eine Glastür fiel, hinter der ein Bewohner in einem Rollstuhl saß. Der Mann hatte seinen Blick ins Nichts gerichtet. Er machte einen verlorenen Eindruck. Als hätte ihn jemand hier an den Tisch geschoben und vergessen. Obwohl Frau Helbing aus der Entfernung nur das Profil als Schattenriss wahrnehmen konnte, hatte sie das Gefühl, diesen Menschen zu kennen. Neugierig ging sie ein bisschen näher an die Scheibe und kniff die Augen zusammen. Das war zweifellos Fiete, den sie hier vor sich hatte. Fiete Jacobsen, ein alter Angelfreund ihres Mannes, den sie völlig aus den Augen verloren hatte. Es musste eine halbe Ewigkeit her sein, dass Hermann zusammen mit Fiete und dem lustigen Pitt auf Hecht an der Elbe oder auf Zander am Alsterufer gegangen war. Sofort hatte Frau Helbing Bilder aus einer längst vergangenen Zeit im Kopf.
Fiete war ein Hamburger Jung. Ein waschechter Seebär. In den sechziger und siebziger Jahren war er auf Stückgutfrachtern und später mit Containerschiffen um die halbe Welt gefahren. Erst als Matrose und schließlich als Kapitän. Wenn er im Sommer die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt hatte, sah man einen Anker auf seinem braun gebrannten Unterarm. Eine Tätowierung war damals noch exotisch. Eigentlich den Seeleuten vorbehalten. Frau Helbing fand Körperverzierungen schon immer ein bisschen anrüchig. Aber Fiete war ein verwegener Typ, zu dem das gepasst hatte. Oft war er monatelang auf hoher See gewesen, aber immer, wenn er in Hamburg war, ging er mit Hermann und Pitt angeln. Das war Tradition. Stundenlang konnten die drei hinter ihren Ruten sitzen und stoisch auf das Wasser starren. Einmal hatte Frau Helbing gefragt, ob sie mal mitkommen dürfe.
»Mit deinem Gesabbel verscheuchst du die ganzen Fische«, hatte Hermann abgewiegelt. Angeln war ein Männerding, da wollten sie keine Frau dabeihaben.
Frau Helbing betrat den hell erleuchteten Gemeinschaftsraum. Hier war es noch wärmer als im Foyer. Obwohl sie es gerne mollig in ihrer Wohnung hatte, empfand sie das trockene Halbwüstenklima in diesem Heim als unangenehm. Schnell zog sie Mantel und Schal aus, bevor sie sich neben Käpten Jacobsen auf einen Stuhl setzte.
»Hallo, Fiete«, sagte sie.
Behutsam legte sie eine Hand auf seinen Unterarm. Langsam drehte Fiete seinen Kopf in ihre Richtung. Seine Augen blickten skeptisch.
»Ich bin’s, Franziska, die Frau von Hermann.«
Bei dem Wort Hermann glomm eine kleine Flamme in Fietes Pupillen auf, als hätte Frau Helbing in Glut gepustet. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Erinnerst du dich noch ans Angeln? Hermann, Pitt und du.«
Fiete nickte leicht mit dem Kopf.
»Angeln«, sagte er mit brüchiger Stimme.
Fietes ehemals blonder Vollbart war grau geworden. Er machte einen zerzausten, vernachlässigten Eindruck auf Frau Helbing. Nicht nur der Bart. Unter seinem dunkelblauen Trainingsanzug war nicht mehr viel von dem stattlichen Mann zu erkennen, der er einmal gewesen war.
Frau Helbing überlegte, wann sie Fiete das letzte Mal gesehen hatte. Wahrscheinlich auf Hermanns Beerdigung. Auch Pitt war sie seit dem Begräbnis nicht mehr über den Weg gelaufen.
»Na, Seemann? Wie geht es dir denn?«, fragte Frau Helbing mit einem Lächeln.
»Muss ja«, knurrte Fiete.
»Hast du ab und zu Besuch?«
Fiete schüttelte den Kopf.
»Was ist denn mit Pitt?«
Fiete zog die Schultern hoch.
Frau Helbing überlegte, ob Fiete noch andere Freunde in Hamburg haben könnte, aber es fiel ihr niemand ein. Und falls Fiete Kinder haben sollte, wusste er wahrscheinlich selbst nichts davon. In jedem Hafen hatte er angeblich eine Braut gehabt. Hermann war auf die Geschichten des Käptens immer ein bisschen neidisch gewesen. Die große weite Welt mit all ihren Verlockungen ließ das geregelte Leben ein wenig fade erscheinen. Und Fiete hatte immer eine Abenteuergeschichte auf Lager gehabt. Frau Helbing hatte das meiste für Seemannsgarn gehalten. Besonders wenn Fiete, Hermann und Pitt getrunken hatten.
Oft kamen die drei Petrijünger mit einem guten Fang nach Hause. Dann wurde stundenlang in der Küche filetiert und gebrutzelt. »Fisch satt« nannten sie das. Dazu tranken sie in rauen Mengen Bier und Schnaps. Später am Abend sangen sie meist Lieder mit schlüpfrigen Texten. Hinterher sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Sauber gemacht hatten die Männer natürlich nicht. Meist waren sie dazu auch nicht mehr in der Lage.
»Ich bin froh, dich hier gefunden zu haben«, sagte Frau Helbing. »Das ist wirklich Zufall. Bist du schon lange im Haus Buchenhain?«
Fiete wiegte den Kopf hin und her. Wahrscheinlich konnte er die Zeit nicht gut einschätzen und wusste selbst nicht genau, seit wann er in diesem Heim wohnte.
»Ist ja auch egal«, sagte Frau Helbing. »Ich komme bestimmt öfter her. Wenn du mal was brauchst, kann ich es dir mitbringen.«
»Korn«, sagte Fiete sofort.
Frau Helbing musste lachen. »Du meinst, was Hochprozentiges?«
»Gift ja nix hier«, sagte Fiete.
Das war ein ganzer Satz, dachte Frau Helbing. Wenn der wortkarge Fiete sich so umfänglich äußerte, schien er mit der Verpflegungssituation in diesem Heim nicht zufrieden zu sein.
»Schmeckt dir hier nicht, was?«, stellte Frau Helbing fest.
Fiete stieß ein verächtliches »Pfff« aus.
»Ich kann dir was kochen. Worauf hast du denn Lust?«
»Rollmops«, sagte Fiete sofort. »Korn und Rollmops.«
»Na, dann mach ich doch am besten mal einen schönen Labskaus«, sagte Frau Helbing amüsiert.
Tatsächlich freute sie sich. Frau Helbing kochte gerne, aber es machte erst so richtig Spaß, wenn man andere damit glücklich machen konnte. Die Zeiten, als Hermann noch für zwei gegessen hatte, waren lange vorbei. Und Labskaus hatte sie seit Jahren nicht mehr gekocht.
Fiete bekam ganz große Augen. Offensichtlich war er von der Idee begeistert.
»Jo«, sagte er. »Labskaus.«
Dann fügte er schnell hinzu: »Und Korn.«
Aufgeregt packte er Frau Helbings Hand. Er lachte sogar. Jetzt erkannte Frau Helbing wieder den alten Fiete. Den harten Hund, der unter seiner rauen Schale ein gütiges Herz sitzen hatte.
»Was ist denn hier los?«, sagte plötzlich eine Frau, die unbemerkt von Frau Helbing den Raum betreten hatte. »Das grenzt ja an ein Wunder.«
Staunend beobachtete die Dame, wie sich Fiete an Frau Helbing klammerte.
»Sie scheinen Herrn Jacobsen nahezustehen«, sagte sie an Frau Helbing gewandt. »Sonst kenne ich ihn eher – wie soll ich sagen – ein bisschen spröde.«
Frau Helbing war verunsichert. Hatte sie es hier mit einer Pflegekraft, einer Betreuungskraft oder mit einer Heimbewohnerin zu tun, die sich wichtigmachte? Diese Frau trug kein Namensschild wie Birte, machte aber einen kompetenten Eindruck.
»Fischer. Ich bin die Betreuerin dieses Herrn«, stellte sich die Frau vor.
»Helbing. Herr Jacobsen ist ein alter Freund meines verstorbenen Mannes.«
Frau Helbing hätte Frau Fischer gerne die Hand gegeben, aber Fiete hielt sich wie ein Ertrinkender an ihr fest.
»Nun, leider muss ich Ihren Bekannten entführen. Wir haben einen Termin.«
Frau Fischer machte sich daran, Fiete eine Jacke überzuziehen. Sie ging nicht grob zu Werke, aber ihre Handgriffe saßen.
»Das macht gar nichts«, sagte Frau Helbing. »Ich werde Herrn Jacobsen jetzt öfters besuchen.«
»Da muss ich Sie enttäuschen. Herr Jacobsen wird nämlich umziehen.«
»Wieso das denn?«, fragte Frau Helbing überrascht.
»Weil er etwas Besseres verdient hat.«
Mit einer resoluten Bewegung schloss Frau Fischer den Reißverschluss an Fietes Jacke.
»Meinen Sie damit, dass dieses Heim nicht gut ist?«
Frau Helbing war ernsthaft interessiert. Schließlich wohnte ihre Nachbarin jetzt auch hier, und falls es etwas an dieser Unterbringung auszusetzen gab, hätte sie gerne Herrn Paulsen davon in Kenntnis gesetzt.
»Der Fisch stinkt vom Kopf her«, sagte Frau Fischer etwas unkonkret und zog sich ihren Wintermantel über.
»Aber Sie verraten mir die neue Adresse. Jetzt, da ich Herrn Jacobsen gerade wiedergefunden habe …«
Frau Helbing blickte besorgt.
»Selbstverständlich. Im Gegensatz zu der vorherigen Betreuung bin ich daran interessiert, dass es Herrn Jacobsen gut geht. Besuchen Sie ihn, sooft sie können. Das würde mich aufrichtig freuen!«
Frau Fischer nickte ihr aufmunternd zu. Dann packte sie die Griffe des Rollstuhls und schob Fiete mit Schwung in Richtung Ausgang.
»Ich glaube, das Zimmer, das wir uns jetzt ansehen werden, ist ganz nach dem Geschmack eines Kapitäns. Hafennähe. Elbblick. Wahrscheinlich unterschreiben wir gleich den Mietvertrag«, sagte sie voller Optimismus.
»Klingt toll«, sagte Frau Helbing. Dann fügte sie ein wenig skeptisch hinzu: »Aber auch teuer, oder?«
»Das spielt keine Rolle. Herr Jacobsen kann sich das leisten.« Frau Fischer lächelte. »Jetzt, wo ich die Verantwortung übernommen habe, wird ihr Freund angemessen untergebracht. In zwei Stunden wissen wir mehr. Auf Wiedersehen.«
Fiete drehte seinen Kopf und winkte Frau Helbing zum Abschied. Bevor Frau Helbing noch etwas sagen konnte, waren die beiden verschwunden. Mit schnellen Schritten hatte Frau Fischer Fiete aus dem Raum bugsiert.
Frau Helbing blieb grübelnd auf ihrem Stuhl sitzen. Was hatte Fietes Betreuerin bloß am Haus Buchenhain auszusetzen? Die Frau hatte einen patenten Eindruck gemacht. Bestimmt war Frau Fischer keine hysterische Ziege, die sich wegen ein paar Kinkerlitzchen übertrieben aufregen würde und ihren Schützling aus dem Heim drängte, nur weil mal ein Handtuch nicht rechtzeitig gewaschen wurde oder der Bastelkurs ausgefallen war. Es musste sich um ein ernsthaftes Problem handeln. Um ein Ärgernis solcher Tragweite, dass es einen Umzug notwendig machte.
Frau Helbings Interesse war geweckt. Ungereimtheiten konnte sie nur schlecht ertragen. Als passionierte Krimiliebhaberin merkte sie das immer wieder. Wenn sie ein spannendes Buch in Händen hielt, in dem ein Mord stattgefunden hatte, sich eine Verschwörung anbahnte oder nur ein kleines Geheimnis im Raum stand, konnte sie nicht mehr aufhören zu lesen, bis das Rätsel gelöst war. Das hatte nichts mit trivialer Neugierde zu tun, sondern war eher ihrer Ordnungsliebe geschuldet. Unaufgeräumte Zustände waren ihr ein Gräuel. Im richtigen Leben wie in ihrem Kopf.
Plötzlich hatte Frau Helbing eine Idee. Der Fisch stinkt vom Kopf her, hatte Frau Fischer gesagt. Das deutete auf eine gewisse Problematik im Führungsbereich hin. Sofort hatte sie das Bedürfnis, diesem Mysterium auf den Grund zu gehen.
»Sagen Sie mal, Birte«, Frau Helbing war wieder zum Eingangsbereich gegangen, »ich interessiere mich für einen Platz in diesem Haus. Ob ich vielleicht mit der Heimleitung sprechen könnte?«