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So aufregend war Frau Helbings Weihnachten noch nie. Ihr in den USA lebender Schwager Walter hat überraschend für Heiligabend seinen Besuch angekündigt, um in »good old Germany« ein Fest wie in Kindertagen zu verleben. Und am 25. Dezember wird Frau Helbing dann vor einem erlesenen Hamburger Publikum auf der Bühne stehen! Heide hat sie überredet, eine Rolle in dem Schwank Tratsch im Treppenhaus zu übernehmen, der zu Ehren ihres alten Freundes Dr. Rheder an seinem Geburtstag im St. Pauli Theater aufgeführt werden soll. Als der Jubilar, der selbstredend die Hauptrolle spielen will, zum ersten Mal an den Proben teilnimmt, ist für den ambitionierten Regisseur Alexander Krey der Schock groß: Nach einem Schlaganfall hat der vermeintliche Bühnenstar Mühe zu sprechen. Kurz darauf wird Krey tot in seiner Garderobe gefunden – er hat ein mit Zyankali vergiftetes Weihnachtsplätzchen gegessen. Da auch Frau Helbing Kekse gebacken hat, zählt sie zum Kreis der Verdächtigen. Ein Grund mehr für die Hobbydetektivin, den wahren Mörder zu finden …
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Seitenzahl: 204
Eberhard Michaely
Roman
Oktopus
»Bethmännchen!«, rief Frau Helbing, so laut, dassChagall, der auf ihrem Schoß lag, kurz aufschreckte.
Mit einem zufriedenen Grinsen schrieb sie die fehlenden Buchstaben in die Kästchen eines Gitterrätsels und beruhigte anschließend den Kater, indem sie ihn am Rücken kraulte. Jetzt fehlte ihr noch ein letzter Begriff. Genau genommen ging es um den Namen eines Plätzchens. Bei den hier gesuchten Wörtern handelte es sich nämlich ausschließlich um Weihnachtsgebäck. Lebkuchen, Zimtsterne, Pfeffernüsse und Spitzbuben zu finden war Frau Helbing leichtgefallen, aber Magenbrot, Stollenkonfekt und Spekulatius einzufügen, hatte dann doch etwas länger gedauert. Das machte aber überhaupt nichts. Frau Helbing hatte Zeit. Viel Zeit. Draußen war es dunkel und ungemütlich kalt. Ein übler Sturm trieb sein Unwesen in der Hansestadt, und der Gedanke, an diesem Nachmittag spazieren zu gehen, ließ sie frösteln. Es war ein Adventssonntag der unangenehmen Sorte. Zumindest, was das Wetter anging. Schon morgens hatte Frau Helbing die Thermostate an den Heizkörpern etwas höher gedreht und beschlossen, die Wohnung nicht zu verlassen. Am Nachmittag war ihr dann die Idee gekommen, einen Stollen zu backen. Als sie schließlich in der Küchenschublade nach der Zutatenliste für den sagenumwobenen Weihnachtsklöben ihrer Großmutter gesucht hatte, war ihr zufällig eine alte Zeitschrift in die Hände gefallen. Ein Heft von 1968 mit dem Titel: Besinnlich Backen zur Weihnachtszeit, das sie damals wegen verschiedener Rezepte aufbewahrt und schließlich vergessen hatte. Passend zum Thema war auf der Rückseite ein Rätsel abgedruckt, für dessen Lösung die Namen einer Vielzahl von Plätzchen gefunden werden mussten. Es handelte sich um ein Preisausschreiben. Der Hauptgewinn war ein elektrisches Handrührgerät der Firma Vorwerk aus Wuppertal gewesen. Frau Helbing musste an ihren Vorwerk Kobold denken. Der Kobold war einer der ersten Staubsauger gewesen, die in Deutschland gebaut und verkauft worden waren, erinnerte sie sich. Eine ganz hervorragende Qualität hatten diese Produkte gehabt. Wahrscheinlich würde sie das Gerät noch heute benutzen, wenn Hermann nicht mal versucht hätte, den Kombi damit aufzubocken, weil er den Wagenheber nicht hatte finden können.
Mit Sicherheit war diese als Preis ausgeschriebene Küchenmaschine schon lange verlost, aber dadurch war das Rätsel keinesfalls unbrauchbar geworden. Voller Vorfreude hatte sich Frau Helbing in ihren bequemen Ohrensessel gesetzt und knobelte jetzt an dem gesuchten Lösungswort.
Der zweite Preis war eine Sammeltasse mit Weihnachtsmotiv von Villeroy und Boch, und für den Drittplatzierten gab es zehn D-Mark. Das war damals eine Menge Geld gewesen.
Nun wurde es richtig knifflig. Das letzte Wort war lang, und nur wenige seiner Buchstaben waren Frau Helbing bekannt.
Insgesamt gab es elf Kästchen, die gefüllt werden mussten. An dritter Stelle stand ein G, an sechster ein S. Position acht war mit einem U belegt, und dann stand am Ende noch ein N. GSUN, las Frau Helbing und begann sofort zu überlegen, welche Weihnachtsplätzchen noch fehlen könnten.
Aachener Printen, Heidesand und Anisplätzchen fielen ihr ein. Auch Spritzgebäck und Zimtwaffeln. Das war aber schon aufgeschrieben. Es musste sich um einen anderen Begriff handeln, den sie noch nicht zu Papier gebracht hatte. Dominosteine und Ausgestochenes, Feenküsse, Florentiner, sogar Vanillekipferl – alles war bereits erwähnt worden. Das war eine echte Herausforderung. Frau Helbing zermarterte sich das Hirn. Pfefferkuchen kamen ihr in den Sinn, aber die waren oben links schon senkrecht eingetragen, und Orangenplätzchen hatten nicht zwingend etwas mit Weihnachten zu tun. Außerdem kamen in dem Wort Orangenplätzchen weder ein S noch ein U vor.
»Ganz schön vigeliensch!«, sagte sie zu ihrem Kater, der sich allerdings nicht weiter an der Lösung des Rätsels beteiligen wollte. Er drehte sich nur von einer auf die andere Seite, ohne die Augen zu öffnen.
Frau Helbings Telefon klingelte.
Nanu, dachte sie und warf einen Blick auf die Uhr. Sonntagnachmittag zur Kaffeezeit. Wer ruft denn da an?
Vorsichtig hob sie Chagall von ihrem Schoß und ging in den Flur, wo die Basisstation des Festnetzanschlusses ihren Platz hatte, seit das Wählscheibentelefon in Farngrün entfernt worden war, obwohl es, wie Frau Helbing dem Monteur damals mitgeteilt hatte, noch einwandfrei funktionierte.
»Haben Sie einen Fernseher, oder gucken Sie noch Daumenkino?«, hatte der Mann damals belustigt gesagt und den Apparat einfach mitgenommen.
Daran musste Frau Helbing denken, als sie die Verbindungstaste drückte. Sofort schreckte sie auf.
»Hallo, Franziska! Walt hier!«, hörte sie eine donnernde Baritonstimme. »How are you?«
»Walter!«, rief Frau Helbing nicht weniger laut in den Hörer.
»Yes!«, quittierte der Anrufer lachend seinen Namen.
Walter Helbing hatte fast die gleiche Stimme wie sein Bruder. Frau Helbing kam es für einen Moment so vor, als riefe Hermann sie aus dem Jenseits an.
»Was …, was …«, stammelte sie aufgeregt.
Sie hatte Walter seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen. Und natürlich auch nicht gehört. Eigentlich hatte sie gar nicht mehr an ihn gedacht. Zehn Jahre jünger als Hermann, war er 1970 in die USA gegangen. Seiner damaligen Liebe hinterhergeflogen, die sich ein Jahr lang als Au-pair-Mädchen bei einer Hamburger Reederfamilie um den Nachwuchs gekümmert hatte. Hermann hatte immer abgewunken, wenn jemand auf Walter zu sprechen gekommen war. Anders als sein älterer Bruder hatte Walter studieren dürfen. Auch weil der Krieg schon länger zurückgelegen hatte und es finanziell möglich gewesen war. In den Wirtschaftswunderjahren hatten sich viele Leute etwas leisten können, was vorher undenkbar gewesen war. Zum Beispiel Bildung für ihre Kinder. Musikunterricht. Sprachreisen. Nicht vergleichbar mit dem, was man heute unter einem gehobenen Lebensstandard verstand, aber man wähnte sich gut betucht, wenn die Tochter Geigenunterricht nehmen konnte oder der Urlaub statt in St. Peter Ording südlich der Alpen verbracht wurde. Und plötzlich hatte den jungen Leuten die ganze Welt offengestanden. Die Beatles kamen nach Hamburg, und Walter ging nach Chicago. Die Liebe hielt nicht lange, aber er kam nicht mehr zurück. Er war begeistert von dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit seinem ›vom Tellerwäscher zum Millionär‹-Versprechen.
»Abgehauen ist er, nicht ausgewandert«, hatte Hermann oft abschätzig gesagt. Aber in Wirklichkeit war er nur neidisch auf seinen Bruder gewesen, der einfach gemacht hatte, was er wollte. Der in die Fremde gegangen war und das Abenteuer gesucht hatte.
»Franziska!«, riss Walter Frau Helbing aus ihren Gedanken. »Ich komme an Weihnachten nach Hamburg!«
Er sagte Hämbörg. Überhaupt sprach er, als hätte er mehrere Kaugummis zwischen den Zähnen kleben.
»Mit Penny und Peaches.«
»Mit wem?«, entfuhr es Frau Helbing verblüfft.
»Penny und Peaches!«, rief Walter in den Hörer, als müsste er gegen den Wind über dem Atlantik anschreien.
»Penny ist meine dritte Frau und Peaches meine daughter.«
»Aha«, sagte Frau Helbing, die des Englischen nicht mächtig war, aber vermutete, dass es sich um Mutter und Tochter handelte.
»Ich habe einfach probiert die Telefonnummer von 1965«, sagte Walter, »und du gehst ran. That’s good old Germany.« Dann lachte er, als hätte er den Resonanzkörper einer Pauke.
Ob er schon immer so laut war?, überlegte Frau Helbing. Oder ist das seinem Umfeld geschuldet?
In Amerika war immer alles größer, schneller und protziger. »Big!« war ein Wort, das Walter oft benutzt hatte, wenn er in den siebziger Jahren die Familie in Hamburg besucht hatte. Mit seiner ersten Frau Susan. Die war nett gewesen. Jedenfalls hatte Frau Helbing das vermutet. Sie hatte sich nicht mit ihr unterhalten können. Eigentlich keiner aus der Familie. Wer hatte denn damals Englisch in der Schule gehabt? Heute sprachen die Kleinen das schon im Kindergarten, aber früher war das einer recht kleinen Gruppe von Menschen vorbehalten gewesen. So wie heute vielleicht Chinesisch.
»Schön«, sagte Frau Helbing.
Sie fragte sich langsam, was das alles mit ihr zu tun hatte.
»Wollt ihr vielleicht vorbeikommen?«, fragte sie.
Auch wenn sie nie einen engen Kontakt zu ihrem Schwager gehabt hatte, sollte sie ihn doch zu einer Tasse Kaffee einladen, fand Frau Helbing. Schließlich wohnte er nicht um die Ecke, und wer wusste schon, ob sich in diesem Leben noch eine weitere Möglichkeit ergeben würde, sich zu sehen.
»Oh, yes, deshalb rufe ich an«, sagte Walter.
»Das lässt sich bestimmt einrichten«, sagte Frau Helbing.
»Wir kommen an Heiligabend!«, rief Walter erfreut.
»Was?«, sagte Frau Helbing erschrocken.
Nicht dass der Heiligabend bei Frau Helbing mit Terminen überladen wäre. Sie war mit niemandem verabredet. Auch hatte sie nicht vor, einen Gottesdienst zu besuchen oder sich in der Kirchengemeinde zu engagieren. Genau genommen war sie nie gläubig gewesen. Das Weihnachtsfest hatte eigentlich keinen besonderen Stellenwert bei ihr. Getauft war sie natürlich. Und konfirmiert. Aber das hatten früher alle über sich ergehen lassen. Wer wurde als Säugling schon gefragt? Und auch als Teenager hatte man nicht wirklich eine Wahl gehabt.
Es sprach also nichts gegen den vierundzwanzigsten Dezember, und trotzdem …
»Du meinst den Heiligabend?«, fragte sie noch mal nach, als wäre die Auswahl an Heiligabenden riesig.
»Yes! Und du machst doch eine Weihnachtsgans? So wie Mutti früher!«
Mutti!, dachte Frau Helbing. Das hatte sie lange nicht mehr gehört. Hermann hatte seine Mutter auch immer Mutti genannt. Mit einem gewissen Respekt in der Stimme. Frau Helbing hatte Renate zu ihr gesagt. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter gehabt. Renate Helbing war nicht besonders gesprächig gewesen, hatte das Herz aber am richtigen Fleck gehabt. Sie hatte sich durchsetzen können und war kräftig genug gewesen, ihren Jungs den Hosenboden stramm zu ziehen, wenn die Erziehung aus dem Ruder zu laufen drohte. Und sie konnte kochen! Frau Helbing hatte einiges von ihr gelernt. Das Rezept für Königsberger Klopse mit Kapernsoße hatte sie sogar in ihrem Kochbuch notiert. Früher hatte man so etwas nicht gekauft, sondern selbst geschrieben.
»Mit Orangensoße!«, rief Walter ungeduldig, weil Frau Helbing verstummt war. »Und Klößen! Und Rotkohl!«
»Natürlich«, sagte Frau Helbing in Gedanken.
Da musste sie mal ihren Schlachter nach einer schönen Mastgans fragen. So kurz vor Weihnachten waren die meist schon vergeben. Und ein in Rekordzeit großgezogenes Vieh aus dubioser Aufzucht kam ihr nicht ins Haus. Als ehemalige Fleischereifachverkäuferin sah sie einem Tier an, ob es in Ruhe Fleisch hatte ansetzen dürfen oder in riesigen Stallanlagen für den Massenmarkt gezüchtet worden war.
»Ich besorge einen Baum«, redete Walter weiter. »Wir hören German Weihnachtslieder. Weißt du, ich will es noch mal wie, als ich Kind war. Bestimmt schneit es!«
Du meine Güte!, dachte Frau Helbing. Wann hat es denn zum letzten Mal an Weihnachten in Hamburg geschneit? Es wird doch immer wärmer.
»I’m dreaming of a white christmas«, sang Walter rührselig vor sich hin.
»Äh, Walter«, sagte Frau Helbing, drang aber nicht zu ihm durch.
Erwartungen werden selten erfüllt, wusste Frau Helbing, und sie wollte ihren Schwager vor einer Enttäuschung bewahren, aber er war schon weiter im Text.
»Where the treetops glisten and children listen, to hear sleigh bells in the snow«, schmetterte er in den Hörer.
Frau Helbing verstand die Zeilen nicht, aber er schien sich festgelegt zu haben. Ein Weihnachtsfest, wie er es von früher in Erinnerung hatte, wollte er erleben. Frau Helbing konnte es ihm nicht verübeln. Im Alter verklärte man vieles, und rückblickend war immer alles schöner und harmonischer und überhaupt besser gewesen. Das hatte sie auch schon oft gedacht. Bestimmt lag es auch daran, dass der Mensch immer nur die glücklichen Momente abspeicherte. Im Gehirn wie auf Zelluloid. Keiner sagte: »Schatz, ich mache mal ein Foto, du weinst gerade so bitterlich.« Nein, Menschen neigten dazu, auf Bildern ausschließlich zu strahlen und die heile Welt zu dokumentieren. Das machte sich rückwirkend bemerkbar!
»Du kriegst auch … damn … Wie heißt es auf Deutsch? Gift!«, rief Walter plötzlich.
Frau Helbing erschrak. Dass er sie um die Ecke bringen wollte, fand sie schockierend. Erst als er »Geschenk!«, rief, beruhigte sie sich wieder.
»Du bist ein Schatz!«, rief er zufrieden. »Also, good old German Christmas! Ich freu mir!«
Frau Helbing stöhnte, bevor sie »Ja, gerne« sagte. »Ich koche. Für vier. Heiligabend.«
»Great!«
Walter schien sich wirklich zu freuen.
»Gib mir noch deine mail address«, sagte er plötzlich.
»Meine was?«
Frau Helbing zuckte zusammen.
»Deine mail address. Ich schicke dir ein paar Fotos von uns.«
»So etwas habe ich nicht«, sagte Frau Helbing wahrheitsgemäß.
Walter hatte es kurz die Sprache verschlagen.
»No matter!«, rief er schließlich belustigt. »Good old Germany! Wir sehen uns! Bye-bye!«
Dann legte er auf.
»Walter?«, rief Frau Helbing in ihr Mobilteil. »Hallo!«
Sie hätte gerne noch etwas über die näheren Umstände seines Besuchs erfahren. Wann genau er ankommen würde, in welchem Hotel er abzusteigen gedachte, wie alt seine Tochter war. Wie hieß die noch gleich? Pietsches?
»Haaaaallooooo!«, rief sie noch mal in den Hörer.
Es war vergebens. Frau Helbing atmete einmal tief durch.
»Chagall!«, rief sie aufgeregt und ging zurück ins Wohnzimmer.
»Wir kriegen Besuch!«, flüsterte sie dem Kater ins Ohr. »An Heiligabend.«
Chagall ließ sich hochheben, und nachdem Frau Helbing auf der angewärmten Sitzfläche Platz genommen hatte, legte sie ihn auf ihrem Schoß ab.
»Hermanns Bruder kommt. Mit seiner Familie. Seit er in den USA lebt, nennt er sich Wolt. Obwohl er Walter heißt und nicht Wolter. Die reden sowieso komisch, weißt du?« Frau Helbing streichelte Chagall, während sie weiterredete. »Der Walter hat zum dritten Mal geheiratet. Zum dritten Mal! Ich weiß nicht, wie ich das finden soll. Und jetzt will er ein Weihnachtsfest so wie früher. Eigentlich geht das gar nicht. Also man kann die Zeit nicht zurückdrehen und so tun, als wäre es früher. Alleine schon, wenn ich an die Geschenke denke! Ich habe mal ein Paar gefütterte Winterhandschuhe zu Weihnachten bekommen. Leg heute mal einem Mädchen so was unter den Baum. Ha! Die bekommen ja jetzt Schminksets, Fingernägel oder Handys. Wenn das überhaupt reicht. Heide hat ihrer Großnichte letztes Jahr eine Reise nach Südafrika geschenkt.« Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Eine Reise nach Südafrika. Demnächst fliegen die noch zum Mond!«
Frau Helbing merkte, wie sie sich aufregte.
»Überhaupt war Weihnachten früher auch nicht immer toll. Alles so steif. Und diese langweiligen Gottesdienste. Silvester hatten wir mehr Spaß. Und geschneit hat es auch selten.«
Sie nahm wieder ihr Rätsel zur Hand.
GSUN, las sie erneut. Ein Weihnachtsplätzchen mit diesen Buchstaben war gesucht.
Gans zu Weihnachten fiel ihr ein. Sonst nichts. Es würde ihr heute nicht mehr möglich sein, sich auf dieses Rätsel zu konzentrieren. Sie konnte auch nicht mehr ruhig auf dem Sessel sitzen.
Ich wollte ja noch einen Klöben backen, erinnerte sie sich. Auf der Suche nach dem Rezept hatte sie überhaupt erst das Rätsel entdeckt. Mal sehen, überlegte sie. Orangeat und Zitronat hatte sie im Haus. Auch gemahlene Mandeln.
»Haben wir noch Sultaninen?«, fragte sie Chagall.
Es war eine rhetorische Frage. Frau Helbing kannte ihre Speisekammer wie ihre Westentasche. Sie ging in die Küche und zog sich eine Schürze an. Beim Backen konnte sie wunderbar entspannen.
»Können Sie schweigen, Frau Boldt?«, sagte FrauHelbing und beugte verschwörerisch den Kopf vor.
»Frau Knoop, ich bin doch keine Tratschliese«, erwiderte Heide sofort.
»Dann schweigen Sie mal«, sagte Frau Helbing trocken und drehte sich um.
»Großartig, Frau Helbing! Großartig! Wenn Sie noch etwas schneller abgehen, ist es perfekt!«
Oberstudienrat a.D. Alexander Krey lächelte Frau Helbing über den Rand seiner goldenen Lesebrille an, bevor er sich an Heide wandte.
»Und Sie müssen sich hier unbedingt zurücknehmen«, tadelte er sie. »Machen Sie Frau Helbing die Pointe nicht kaputt! Sie haben genügend andere Szenen, in denen Sie glänzen können.«
Heide spitzte die Lippen, sagte aber nichts. Es fiel ihr schwer, sich zurückzunehmen. Frau Helbing wusste das schon lange. Sie kannte ihre Freundin von Kindesbeinen an, und Heide hatte immer das Bedürfnis gehabt, die erste Geige zu spielen. Auch jetzt in diesem Theaterstück natürlich. Ganz selbstverständlich hatte sie die weibliche Hauptrolle für sich beansprucht. Eine Paraderolle von Heidi Kabel, wie sie im Vorfeld immer wieder hatte betonen müssen.
»Danke«, sagte Frau Helbing verlegen in Richtung des Regisseurs und strich ihre Schürze glatt. »Vielen Dank.«
Sie trug einen gestreiften Kittel über einem schlichten Kleid und sah eigentlich aus wie immer, wenn sie ihre Hausarbeit erledigte. Aber hier handelte es sich nicht um Alltagskleidung, sondern um ein echtes Kostüm, das eigens für sie angefertigt worden war. Diese Garderobe war etwas ganz Besonderes, fand sie und fuhr immer wieder andächtig über den Stoff. Die Schürze sollte unbedingt glatt bleiben. Wahrscheinlich würde sie die Kleidung vor dem großen Auftritt noch einmal aufbügeln.
Es war ihr ein bisschen peinlich, ständig gelobt zu werden, aber ihr Talent, auf der großen Bühne zu stehen und in einer Rolle aufzugehen, war unübersehbar.
»Ein Leben lang haben Sie Ihre Begabung brachliegen lassen, Frau Helbing«, hatte Herr Krey nach der dritten Probe gesagt und dabei den Kopf geschüttelt. »Es ist unverzeihlich!«
Auch Frau Helbing war von sich selbst überrascht. Von ihrem schauspielerischen Talent hatte sie bislang nichts geahnt. Mit großer Begeisterung – und vor allem überzeugend – spielte sie Hanne Knoop in dem Schwank Tratsch im Treppenhaus. Im Nachhinein konnte sie kaum glauben, dass Heide sie dazu hatte überreden müssen.
»Franzi«, hatte Heide immer wieder gesagt. »Tu mir den Gefallen. Die Rolle ist wie für dich gemacht. Weißt du noch, wie wir in der Grundschule zum Sommerfest als Dick und Doof aufgetreten sind? Wir beide auf den Brettern des St. Pauli Theaters – das wird ein Spaß!«
»Du meine Güte«, hatte Frau Helbing abgewiegelt. »Ich auf einer richtigen Bühne?«
Als Schauspielerin zu agieren hatte sie sich überhaupt nicht zugetraut, aber schließlich doch eingewilligt, und darüber war sie mittlerweile sehr froh.
Dass die Proben mehr Zeit in Anspruch nahmen, als sie erwartet hatte, störte Frau Helbing nicht. Die grauen Dezembertage erschienen ihr dadurch kurzweiliger, und außerdem ging es hier auch um einen guten Zweck.
Heide hatte einen wahnsinnigen Aufwand betrieben, um einem alten Freund einen Herzenswunsch zum Geburtstag zu erfüllen. Dr. Rheder, oder Manfred, wie Heide ihn nannte, würde am ersten Weihnachtstag achtzig Jahre alt werden.
Seit vielen Jahren hatte Dr. Rheder bei den verschiedensten Gelegenheiten immer wieder durchblicken lassen, dass es ein lange gehegter Traum von ihm sei, einmal im Leben als Ewald Brummer auf der Bühne zu stehen. Deshalb hatte Heide bereits vor gut einem Jahr das St. Pauli Theater an der Reeperbahn gebucht. Exklusiv für den 25. Dezember.
»Ein ganzes Theater?«, hatte Frau Helbing fassungslos nachgefragt, aber Heide hatte lässig abgewunken.
Geld spielte bei ihr nur eine untergeordnete Rolle.
Zusammen mit Dr. Rheders Frau hatte sie auch gleich fünfhundert Einladungen verschickt, eine Premierenfeier-Geburtstagsparty organisiert und ein Ensemble aus Laiendarstellern zusammengestellt. »Der Cast« nannte sie die Truppe großspurig, wenn sie von den Schauspielern sprach.
Dr. Rheder als Ewald Brummer war natürlich gesetzt. Heide selbst spielte Meta Boldt, und für die Rolle der Hanne Knoop hatte sie Frau Helbing auserkoren. Karl-Heinz, Dr. Rheders Sohn, verkörperte Bernhard Tramsen, Schlachtermeister und Eigentümer des Hauses, in dem das Stück spielte. Er hatte kein herausragendes Talent, aber Frau Helbing rechnete es ihm hoch an, dass er seinem Vater einen Gefallen tun wollte. Obwohl er als Chef einer Immobilien Holding einen vollen Terminkalender hatte, war er bislang bei jeder Probe präsent gewesen. Die übrigen drei Rollen hatten Darsteller der Laienspielgruppe »Open Spöölkoppel« aus Barmbek gegen ein angemessenes Salär übernommen. Mathilda Frings glänzte als Heike Seefeldt, David Hans spielte Dieter Brummer, den Neffen von Ewald Brummer, und die eher kleine Nebenrolle des Herrn Seefeldt wurde von Thomas Meier gegeben.
Dann war da noch Paul Kramer, ein Student der Theaterwissenschaften, der während der bisherigen Probenzeit den Part des Ewald Brummer gespielt hatte. Er war quasi ein Double für den Hauptdarsteller, würde aber von nun an entbehrlich sein, denn heute sollte Dr. Rheder endlich zum Ensemble stoßen und seine Paraderolle übernehmen.
Herr Krey war schon merklich aufgeregt und griff nervös in den Teller mit Plätzchen, der auf seinem Regietisch stand. Jetzt, kurz vor Heiligabend stand überall Weihnachtsgebäck herum. In der Garderobe, bei den Technikern, hinter der Bühne. Jeder brachte etwas mit. Auch Frau Helbing hatte heute Selbstgebackenes beigesteuert. Sie benutzte noch die alten Ausstechförmchen von ihrer Mutter. Alle Klassiker waren dabei: ein Stern, eine Glocke, ein Tannenbaum … Was man halt so mit diesem Fest in Verbindung brachte.
Eigentlich hatte sie die letzten Jahre selten in der Adventszeit gebacken, aber dieser Tage hatte sie mehrfach einen Teig geknetet und den Backofen angestellt. Es war fast zwanghaft und musste mit dem Rätsel zusammenhängen. Noch immer hatte sie es nicht gelöst. Das letzte Wort fehlte ihr noch. GSUN, spukte ihr im Kopf herum.
»Er müsste gleich kommen.« Herr Krey warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir begrüßen ihn auf der Bühne. Kramer, Sie bleiben noch. Vielleicht brauchen wir Sie als Souffleur.«
Frau Helbing konnte es kaum erwarten, Dr. Rheder kennenzulernen. Endlich würde die Besetzung komplett sein, und die Inszenierung befand sich auf der Zielgeraden. In den vergangenen Wochen hatten die Proben in einem ehemaligen Teppichlager in der Speicherstadt stattgefunden, das Heide eigens dafür angemietet hatte. Aber jetzt, kurz vor der Aufführung, spielte sich alles auf der Bühne des St. Pauli Theaters ab. In einer extra angefertigten Kulisse. Frau Helbing liebte dieses Haus mit seiner märchenhaften Atmosphäre. Es gab zwei Ränge, deren Brüstungen mit Ornamenten auf goldgelbem Grund bemalt waren. Die Sitze waren mit rotem Plüsch bezogen, und die zweiarmigen Lampen im Zuschauerraum spendeten gerade so viel Licht, dass alles in einem sanften Glanz erstrahlte, ohne aufdringlich hell zu sein. Es war ein wunderbarer Ort für eine weihnachtliche Aufführung.
»Achtung!«, rief Heide plötzlich aufgeregt. »Er kommt!«
Eilig versammelten sich alle Anwesenden auf der Bühne, und als Dr. Rheder in Begleitung seiner Frau die Bretter betrat, die die Welt bedeuten, klatschten sie laut und anhaltend.
»Hade!«, rief Dr. Rheder, als er gebückt auf Heide zuging. »Do bist ein Satz!«
Frau Helbing konnte ihn nur schlecht verstehen. Seine Artikulation ließ zu wünschen übrig, und Dr. Rheders linke Gesichtshälfte war beim Sprechen nicht involviert. Auch sein linker Arm hing an seiner Schulter, als hätte er keine Kontrolle über diesen Teil seines Körpers. Er hinkte, und jeder Schritt schien eine Herausforderung für ihn zu sein.
»Ein Wo… Wo… Wonsch geht in Efüllung.«
Einen Moment lang war es sehr still, und Herr Krey, der eigentlich ein paar Worte hatte sagen wollen, starrte mit offenem Mund vor sich hin.
Dr. Rheder begrüßte die Mitwirkenden nacheinander mit einem Händedruck, was so langsam und ungelenk vonstattenging, dass allen klar werden musste, dass es sich hier um einen Schlaganfallpatienten handelte.
Du meine Güte, dachte Frau Helbing. Das hatte Heide nie erwähnt.
Eine gewisse Beklemmung machte sich breit. Außer Heide und Karl-Heinz schienen alle überrascht zu sein und wussten nicht recht, wie sie reagieren sollten. Frau Rheder drängte sich plötzlich nach vorne und hielt eine kurze Ansprache.
»Ich danke Ihnen vielmals«, begann sie. »Seit ich meinen Mann kenne, hegt er den Wunsch, einmal in der Rolle des Ewald Brummer aufzutreten. Tratsch im Treppenhaus hatte er sich schon als Video gekauft, als die ersten VHS-Kassetten in den achtziger Jahren herauskamen. Und dass wir nun mit deiner Hilfe, liebe Heide«, hier sah sie Heide mit einem Lächeln an, »vor einer sagenhaften Premiere mit vielen Freunden stehen, erfüllt Manfred mit einer Freude, die ich in dieser Intensität noch nie an ihm wahrgenommen habe. Nicht mal, als er über Nacht zwei Millionen mit SolarWorld am Neuen Markt gemacht hat.«
Über Nacht zwei Millionen?, dachte Frau Helbing. Hatte sie gerade zwei Millionen gesagt? In schlechten Zeiten hatten Hermann und sie in der Schlachterei Tageseinnahmen in dreistelligem Bereich gehabt. Zwei Millionen! Und früher hatte man immer gesagt: »Handwerk hat goldenen Boden!«
»Ich bin mir sicher, es wird eine wunderbare Aufführung«, fuhr Frau Rheder fort. »Ein Geburtstag, der allen Gästen in Erinnerung bleiben wird.«
Dr. Rheder versuchte umständlich Schal und Wintermantel auszuziehen und ließ sich schließlich von seiner Frau helfen.
»Ich ben breit!«, rief er mit glänzenden Augen. »Fangn wir ahn.«
Frau Helbing spürte, dass es wirklich ein Herzenswunsch Dr. Rheders war, Tratsch im Treppenhaus zu spielen. Er schien es nicht abwarten zu können, endlich mit der Probe zu beginnen.
»Moment noch«, sagte Herr Krey, hörbar um Fassung ringend. »Ich brauche eine kurze Pause.«
Er sah auf seine Armbanduhr.
»Um halb geht’s weiter«, sagte er und entfernte sich mit großen Schritten.
»Herr Krey?« Frau Helbing klopfte vorsichtig an die Tür der Garderobe. »Herr Krey, darf ich reinkommen?«
Frau Helbing wusste, dass Herr Krey in diesem Raum war. Sie hatte ihn beobachtet. Dass sein wichtigster Darsteller Mühe hatte zu sprechen und sich nur eingeschränkt bewegen konnte, hatte ihm einen Schock versetzt. Das war deutlich zu sehen gewesen. Fluchtartig hatte er die Bühne verlassen und war in der nächstliegenden Garderobe verschwunden.
»Kommen Sie rein«, hörte Frau Helbing und öffnete die Tür.
Herr Krey saß auf einem Stuhl, den Blick ins Nichts gerichtet.
»Die Pause ist vorbei«, sagte Frau Helbing leise. »Wir warten auf Sie.«
»Das hätte Heide mir sagen müssen.« Herr Krey schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben.«
»Ich wusste es auch nicht«, sagte Frau Helbing und zog die Schultern hoch.