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Ein allergischer Schock durch drei Wespenstiche? Frau Helbing ist sich sicher, dass ihr freundlicher Nachbar, der namhafte Fagottist Henning von Pohl, einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Die pensionierte Fleischereifachverkäuferin mag zwar von klassischer Musik ebenso wenig verstehen wie von moderner Technik, aber mit Mordfällen kennt sie sich aus: Seit Hermanns Tod, mit dem sie vierzig Jahre lang eine eigene Metzgerei im Hamburger Grindelviertel geführt hat, liest sie in ihrer Freizeit am liebsten Kriminalromane. Leider hält nicht nur ihre exzentrische Freundin Heide ihren Verdacht für ein Hirngespinst, sondern auch die hochnäsige Kriminalkommissarin Schneider. Nur der Schneider Herr Aydin hat ein offenes Ohr für Frau Helbing und ermutigt sie, ihrem Instinkt zu folgen. Allerdings birgt so ein Kriminalfall im echten Leben auch einige Gefahren …
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Seitenzahl: 246
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Eberhard Michaely
Frau Helbing und der tote Fagottist
Der erste Fall
Kampa
Mit beiden Händen hielt Frau Helbing ihre Handtasche fest umklammert und presste die Kiefer aufeinander. Einer der Oboisten hatte gerade wieder die Melodie übernommen und blies kraftvoll durch das Doppelrohrblatt seines Instruments. Er tat das mit einer Inbrunst und Hingabe und vor allem mit einem Aufwand an Energie, als spielte er um olympisches Gold. Ganz dick traten die Adern aus seinem Hals, und sein Kopf färbte sich rot, um nach einer kurzen Zeit ins Violette zu changieren. Frau Helbing hatte den Eindruck, einer Strangulation beizuwohnen. Oder einem brutalen Würgemord, obwohl ihr natürlich klar war, dass hier nur ein Musiker aus freien Stücken eine Komposition von Mozart spielte.
»Atme!«, dachte sie. »Bitte, atme!«
Der Oboist aber führte die Melodie zu einem hohen, lang gezogenen Ton, wobei er mit dem Instrument kreisförmige Bewegungen zwischen seinen Beinen ausführte, als rührte er fünfzig Liter Erbsensuppe in einer Gulaschkanone, um sie vor dem Anbrennen zu bewahren.
Frau Helbing standen Schweißperlen auf der Stirn. Endlich setzte der Musiker kurz das Instrument ab, um knapp, aber tief nach Luft zu schnappen. Einen Atemzug nur! Frau Helbing atmete mit. Geräuschvoll saugte sie ihre Lungenflügel voll. So laut, dass Heide, die neben ihr saß, nicht nur den Kopf zur Seite drehte, sondern auch nach ihren Händen griff, um sie zu beruhigen.
In der ersten Reihe hatten sie Plätze, direkt an der Bühne des kleinen Saals der Hamburger Laeiszhalle. Umsitzende Konzertbesucher waren schon auf die aufgeregte ältere Dame aufmerksam geworden, die so offensichtlich mit den Musikern mitlitt.
Frau Helbing war keine passionierte Konzertbesucherin, wie man sie immer wieder in den Premieren und Gastspielen weltbekannter Künstler vorfand. Alleinstehende Frauen, meist von stämmiger Statur und verschwenderisch mit Geschmeide behängt, die Kulturverständnis aus allen Poren zu schwitzen schienen. Frauen, die umgeben waren von einer Aura aus Fachwissen, Weltgewandtheit und einem Hang zum Snobismus.
Nein, Frau Helbing war das Gegenteil dieser Gattung von Konzertgängerinnen. Eigentlich eine Auszubildende auf diesem Gebiet. Zusammen mit ihrer Freundin Heide saß sie hier auf Einladung ihres Nachbarn, Herrn von Pohl.
Herr von Pohl bediente in diesem kleinen Ensemble eines der Fagotte. Ein Instrument, das – ebenso wie die Oboe – ein im Größenverhältnis zum Korpus lächerlich kleines Mundstück aufwies und gleichfalls unter hoher Lungenbelastung mit Luft versorgt werden musste.
Der benötigte Luftdruck zur Tonerzeugung schien beim Fagott nicht ganz so hoch zu sein wie bei der Oboe. Herr von Pohl machte beim Musizieren keine Anstalten zu platzen, mahlte aber bei kurzen Noten mit dem Kiefer, als hätte er noch ein paar Nussreste zwischen den Zähnen gefunden. Er rührte auch nicht mit dem Instrument. Dafür war das Fagott zu unhandlich. So blieb ihm und dem zweiten Fagottisten nur, mit dem Oberkörper rhythmisch vor und zurück zu schaukeln.
Die Holzblasinstrumente waren alle doppelt besetzt. Zwei Oboen, zwei Fagotte, zwei Klarinetten und zwei Bassetthörner.
Frau Helbing hatte noch nie zuvor von Bassetthörnern gehört, geschweige denn welche gesehen. Sie hatte den Namen dieser Instrumente erstmals im Programmheft gelesen und fand sie neben den Fagotten enttäuschend unspektakulär. Um die Bassetthörner sehen zu können, musste Frau Helbing immer den Kopf zur Seite neigen, weil der dicke Dirigent ihr die Sicht versperrte.
Die Hornisten dagegen saßen präsent auf einem kleinen Podest. Vier Hörner waren besetzt. Diese Musiker kamen weitestgehend ohne Verrenkungen aus und verrichteten stoisch ihren Dienst.
Der Kontrabassist im Hintergrund war für Frau Helbing uninteressant. Er strich mit seinem Bogen eher gelangweilt hin und her, als wollte er bald nach Hause.
Frau Helbing starrte jetzt, leicht nach vorne gebeugt, auf die Klarinettistin. Herr Mozart schien ein Faible für Klarinette gehabt zu haben, denn diese Dame durfte immer wieder wichtige, herausragende Passagen zum Besten geben und schien die Aufmerksamkeit des Dirigenten genüsslich auszukosten. Sie rührte beim Spielen nicht zwischen den Beinen, was bei einer Frau auch ziemlich unschicklich ausgesehen hätte, schaukelte aber auch nicht, wie es die Fagottisten zelebrierten. Nein, sie hob und senkte ihr Instrument. Dabei spreizte sie die angewinkelten Arme ab, als wollte sie Flugübungen machen. Zusätzlich bewegte sie ihren Kopf in alle Richtungen. Und, als wäre das noch nicht genug, zog sie als Zeichen der vollendeten Hingabe die Augenbrauen so hoch, dass diese unter ihrem Pony verschwanden. Frau Helbings Augenbrauen machten diese Bewegung mit. Sie fand es so aufregend, hier zu sitzen. Fast war es ihr, als spielte sie selbst die Melodie. Dabei hatte sie keine Ahnung von Musik. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein klassisches Konzert besucht zu haben.
Frau Helbing kam aus einfachen Verhältnissen. 1942 war sie in Hamburg geboren. Ein Instrument anzuschaffen und den Kindern Musikunterricht zu ermöglichen, war damals ein unerschwinglicher Luxus gewesen.
Mit neunzehn heiratete sie Hermann, der gerade seine Meisterprüfung als Schlachter abgelegt hatte. Gemeinsam eröffneten sie eine Metzgerei im Hamburger Grindelviertel.
Vierzig Jahre lang stand Frau Helbing von morgens bis abends hinter der Wursttheke. Meist schon ab sechs Uhr. Auch samstags. Sie kannte es nicht anders. Nie war sie auf die Idee gekommen, ein Konzert zu besuchen oder mal in die Kunsthalle zu gehen. Auch weil sie sich zu ungebildet wähnte und Berührungsängste mit dem Kulturbetrieb sie davon abhielten.
Als Herr von Pohl sie eingeladen hatte, wollte sie erst ablehnen. Zwei Eintrittskarten hatte er ihr hingehalten und gesagt: »Machen Sie mir die Freude und kommen Sie mit einer Freundin am nächsten Sonntag zu unserer Matinee.«
Eine Matinee war ein Konzert am Vormittag, hatte ihr Heide später erklärt. Heide kannte auch das Stück, das gespielt werden sollte. Gran Partita, Serenade Nr. 10, in B-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart. Allein der Name des Werks klang für Frau Helbing abschreckend. Sie hörte gerne Musik, aber normalerweise in der Küche, wo sie ein kleines Radio stehen hatte. Sie mochte Lieder, bei denen sie mitsingen konnte. Am liebsten etwas Folkloristisches.
Herr von Pohl hatte aber hartnäckig darauf bestanden, sie und ihre Freundin einzuladen, und Frau Helbing wollte ihn nicht verletzen.
Mehrere Monate schon wohnte er eine Etage über ihr. Gleich am Tag des Einzugs hatte er sich vorgestellt und ihr einen Strauß Blumen überreicht. Frau Helbing war seiner charmanten Art sofort erlegen.
»Guten Tag. Henning von Pohl, Musiker«, sagte er und vollführte dabei eine leichte Verbeugung.
Die Blumen seien schon mal vorab eine Entschuldigung. Er müsse hin und wieder ein wenig üben, um in Form zu bleiben, und das ginge nicht ganz ohne Geräusch. Die tägliche Auseinandersetzung mit dem Instrument sei wichtig, um den Ansatz nicht zu verlieren.
Frau Helbing wusste nicht, was es heißen sollte, »den Ansatz nicht zu verlieren«. Das spielte aber keine Rolle. Sie lud ihn auf einen Kaffee ein und belegte schnell ein paar Schnittchen. Frau Helbing war ein bisschen aufgeregt. Es kam nicht oft vor, dass sie Besuch hatte.
Herr von Pohl ließ sich nicht zweimal bitten, setzte sich mit ihr an den Küchentisch und griff beherzt zu. Frau Helbing schätzte ihn auf sechzig Jahre. Seine silbergrauen Haare waren bis in den Nacken zurückgekämmt. Sie lagen aber nicht streng und glatt über dem Schädel, sondern fielen in sanften Wellen. Ohne Hilfsmittel wie Wachs oder Pomade – das erkannte Frau Helbing sofort – verliehen sie Herrn von Pohl die Aura eines Künstlers. Seine Haut war gebräunt, und in Kombination mit seiner perfekt sitzenden modischen Kleidung machte er einen äußerst gepflegten, gut situierten Eindruck. Er war ein Frauentyp, keine Frage. Als er bemerkte, er lebe allein, war Frau Helbings Interesse geweckt. Nicht in der Weise, dass sie die Hoffnung hegte, mit Herrn von Pohl einen potentiellen Lebenspartner im Haus zu haben. Frau Helbing fehlte kein Mann. Seit einigen Jahren war sie Witwe und hatte keinesfalls vor, in diesem Leben an ihrem Familienstand noch etwas zu ändern. Außerdem passte sie mit Sicherheit nicht in Herrn von Pohls Beuteschema. Nein, es keimte die Neugierde in ihr, welchen Typ von Frauen ihr neuer Nachbar in seinen Bau schleppen würde. Sie dachte bewusst an Frauen im Plural, denn Herr von Pohl war ein Jäger, da war sie sich sicher. Und aus den Kriminalromanen, die sie dauernd und überall las, wusste sie, dass solche Männer immer eine geheimnisvolle Seite hatten. Frau Helbing hatte sofort das Gefühl, etwas Rätselhaftes, Verborgenes umgab diesen Mann, und sie würde herausfinden, was es war.
Er habe eine Professur an der Musikhochschule und spiele in verschiedenen Ensembles, weswegen er auch manchmal mehrere Wochen im Ausland weile, erzählte er.
»Aha«, sagte Frau Helbing, »interessant.«
Professur, Ausland, Studentinnen. Sie hätte gerne noch mehr erfahren, aber als die Brote aufgegessen waren, entschuldigte sich Herr von Pohl, er müsse ja noch so viel auspacken und es ergäben sich bestimmt immer wieder Gelegenheiten zu einem Plausch. Schließlich sei man jetzt Nachbarn. Herr von Pohl stand schon vor der Wohnungstür, als Frau Helbing einfiel, dass er gar nicht erwähnt hatte, welches Instrument er denn spielte.
»Fagott«, rief er auf ihre Nachfrage. Da war er schon auf der Treppe.
»Heide, weißt du, was ein Fagott ist?«
Frau Helbing hatte umgehend zum Telefon gegriffen und ihre Freundin angerufen.
»Ein Blasinstrument«, sagte Heide, ohne zu überlegen.
»So was wie eine Trompete?«, fragte Frau Helbing.
»Nein. Es sieht eher aus wie …« Jetzt musste Heide doch nachdenken. »Wie ein Fallrohr. Weißt du, die Kupferdinger, die man am Haus hat, um das Regenwasser abzuleiten. Und da steckt noch an der Seite ein silberner Strohhalm drin.«
Frau Helbing blieb stumm. Sie versuchte, sich ein Bild von einem Fagott zu machen.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Heide in die Stille hinein.
»Über mir ist einer eingezogen, der so ein Fagott spielt. Ich wollte ja nur mal fragen. Ich kenne mich mit Instrumenten doch nicht aus. Jedenfalls glaube ich, der Mann hat was mit jungen Frauen. Sagt mir mein Gefühl.«
»Hast du gerade einen Krimi gelesen?«
Heide schien sich lustig zu machen. Das mochte Frau Helbing gar nicht. Nur, weil sie gerne Krimis las, hieß das noch lange nicht, dass sie Hirngespinste hatte.
»Ist so ein Fagott laut?«, fragte Frau Helbing. »Und wie klingt das überhaupt?«
»Schwer zu sagen. Kannst du dir das Geräusch einer großen leeren Blechdose vorstellen, die auf einer Waschmaschine steht, welche wiederum mit eintausend Umdrehungen schleudert?«
Frau Helbing versuchte, sich ein solches Geräusch vorzustellen und selbiges mit einem Fallrohr in Verbindung zu bringen. Es gelang ihr nicht.
»Nein«, stellte sie knapp fest.
»Na, du wirst es bestimmt bald zu hören bekommen«, bemerkte Heide, und sie sollte recht behalten.
Es klang natürlich viel besser als eine Blechdose im Schleudergang. Besonders, wenn man es so gut spielen konnte wie Herr von Pohl. Und er hatte nicht gelogen. Maximal eine Stunde am Tag übte er. Ein schnarrender Ton drang durch die Decke, wenn Herr von Pohl auf seinem Instrument spielte. Tief und hölzern klang das Fagott. Und auch ein wenig behäbig. Die schnelleren Passagen wirkten immer zäh, wie ein Motor, der mit altem Öl gefahren wird.
Aber hier und jetzt, in diesem Konzert, merkte man das gar nicht. Die Fagotte fügten sich harmonisch in den Bläsersatz ein, ohne aufzufallen oder mit ihrem nasalen Ton den Gesamtklang zu dominieren.
Das Kammerorchester peitschte gerade durch die letzten Takte des Finales. Das hatte Schmiss und Schwung. Am liebsten wäre Frau Helbing aufgestanden und hätte getanzt. Es klang nach Bauernhochzeit, nach Polka. Frau Helbing war begeistert. Herr von Pohl hatte etwas gut bei ihr. Vielleicht sollte sie mal Schmorgurke für ihn kochen.
Als der letzte Akkord verklungen war, brandete der Applaus auf. Frau Helbing spürte, dass ihre Bluse am Rücken nass geschwitzt war. Üblicherweise fröstelte sie eher und trug auch im Sommer gerne etwas aus Wolle, aber jetzt glühte sie förmlich. Dabei hatte sie gar keine Jacke an. Sie trug ihre gute weiße Bluse und den langen blauen Rock.
Die Auswahl in ihrem Kleiderschrank war sehr begrenzt, und für einen Konzertbesuch dieser Art hatte es keine Alternative gegeben.
Frau Helbing war praktisch veranlagt. Kleidung musste bei ihr bequem und alltagstauglich sein. Und von guter Qualität, um lange zu halten. Als sie noch jünger war, hatte sie ein paar Sonntagskleider, um am Wochenende tanzen zu gehen oder bei schönem Wetter an der Alster zu spazieren. Das kam aber nicht oft vor. Hermann, mit dem sie zweiundvierzig Jahre lang verheiratet war, saß lieber auf dem Sofa und sah Sportschau oder traf sich zum Skat mit seinen Freunden. Jetzt brauchte sie nichts Schickes mehr. Heide hatte sich natürlich in Schale geworfen. Sie trug eine Hose aus glänzendem Material, deren Oberfläche an die Haut einer Schlange erinnerte. Dazu hatte sie etwas kombiniert, das aussah wie der Poncho eines Schamanen. Ein bestickter Umhang mit weit ausgeschnittenen Ärmeln und Fransen unten dran. Frau Helbing fand das gar nicht schlecht. Sie selbst hätte so etwas nie angezogen, aber dem Anlass entsprechend war Heide wirklich top gekleidet. Und ihre mahagonifarbene Frisur saß auch perfekt. Frau Helbing trug ihre Haare so grau, wie sie von Natur aus geworden waren. Eitelkeit war ihr fremd. Natürlich war sie nicht ungepflegt, aber sie fand es keinesfalls beschämend, sich genau so zu zeigen, wie sie nun mal war.
Frau Helbing wäre nach dem Konzert gerne nach Hause gegangen. Heide dagegen richtete noch einmal ihre Frisur und zog ihre Freundin hinter sich her zum Champagnerempfang. Nur deshalb war Heide mitgekommen. Das Konzert war eine private Veranstaltung. Im Anschluss war ein kleines Buffet im Brahms-Foyer vorgesehen, zu dem auch die Künstler und deren Gäste geladen waren. Das traf Heides Geschmack. Frau Helbing dagegen war der Gedanke eher unbehaglich, um zwölf Uhr mittags inmitten Hamburger Pfeffersäcken und deren Gattinnen Schaumwein zu schlürfen. Heide duldete aber keine Widerrede und führte ihre Freundin in den prachtvollen neobarocken Raum, wo sie zwei Champagnertulpen von einem Tablett angelte, welches von einer gazellenartigen Kellnerin gehalten wurde. Eine ganze Armada von Servicekräften balancierte Gläser durch den Saal. Und Schnittchen, die hier aber Kanapees hießen und nicht einfach mit Wurst belegt waren. Hier konnte man zum Beispiel zwischen Thunfisch-Avocado-Tatar, Ziegenkäse mit Feige oder Räucherlachs und Walnüssen wählen. Frau Helbing fand die Geschmacksrichtungen sehr interessant.
Heide sagte, sie drehe mal eine Runde. Sie meinte damit, dass sie sich unter die Leute mischte, die Ohren nach interessanten Themen aufsperrte, um sich bei Gelegenheit in ein Gespräch einzuklinken. Das machte sie gerne. Frau Helbing würde sich nie einer Gruppe wildfremder Menschen aufdrängen. Sie aß noch ein Kanapee. Diesmal mit Entenbrust und Kräuterpesto.
Herr von Pohl stand plötzlich neben ihr, breitete die Arme aus und begrüßte sie überschwänglich. Im Schlepptau hatte er die Klarinettistin mit dem Pony. Die Musikerin hatte schöne volle Lippen, stellte Frau Helbing erstaunt fest. Das war während des Konzerts nicht erkennbar gewesen. Da hatte sie einen verkniffenen Gesichtsausdruck gehabt, und es hatte ausgesehen, als hätte sie einen gigantischen Überbiss. Klarinette spielen macht Frauen nicht attraktiv, dachte sie. Jetzt wirkte Herrn von Pohls Kollegin entspannt, stellte sich kurz mit »Melanie« vor und griff nach einem Champagnerglas.
»Franziska«, sagte Frau Helbing. Sie mochte Melanie sofort und fand es erfrischend unkonventionell, auf sperrige Vorstellungsrituale zu verzichten, wie sie es bei einigen der umstehenden Gäste beobachtet hatte.
»Du bist die Nachbarin von Henning?«, fragte Melanie direkt.
»Ja, Herr von Pohl wohnt über mir«, bestätigte Frau Helbing.
»Herr von Pohl«, sagte Melanie mit spöttischem Unterton. »Pflegt er bei dir noch sein aristokratisches Gehabe?«
Frau Helbing drehte den Kopf zur Seite, um zu sehen, wie Herr von Pohl auf Melanies spitze Bemerkung reagieren würde. Der stand aber gar nicht mehr neben ihr.
»Wo ist er denn?«, entfuhr es Frau Helbing.
Melanie schluckte den letzten Bissen des Kanapees hinunter, bevor sie antwortete.
»Such nach einer jungen, schlanken Frau, einssiebzig groß, brünett, Kurzhaarschnitt. Wenn es eine im Raum gibt, steht Henning daneben, garantiert.«
Dann nahm sie einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. Frau Helbing verstand sofort. Melanie klang nicht verbittert, aber in ihre Stimme mischte sich ein Hauch von gebrochenem Stolz. Reste verletzter Gefühle schwangen mit. Sie hatte mal eine Affäre mit Herrn von Pohl gehabt, da war Frau Helbing sicher. Bestimmt war es eine Weile her, denn Melanie war nicht mehr die Jüngste und früher bestimmt schlanker gewesen. Aber die anderen Attribute trafen noch immer auf sie zu.
»Ich habe mir schon gedacht, dass er so manches Herz gebrochen hat«, sagte Frau Helbing. »Aber immerhin redest du noch mit ihm.«
»Ach«, jetzt zog Melanie wieder die Augenbrauen hoch – wie eben, als sie die Melodie mit ihrem ganzen Körper unterstützt hatte, »eigentlich kann man ihm nicht böse sein. Er ist, wie er ist. Immer auf der Pirsch, auf der Suche nach der nächsten Trophäe für seine Sammlung.« Sie vollführte eine abwinkende Handbewegung, als wollte sie das Thema verscheuchen wie eine lästige Fliege. Frau Helbing wollte aber nichts verscheuchen. Hier und jetzt hatte sie die Chance, etwas über ihren Nachbarn herauszukriegen. Aus erster Hand sozusagen. Seit einigen Wochen schon registrierte sie in unregelmäßigen Abständen Damenbesuch bei Herrn von Pohl. Und zwar von zwei Frauen. Beide passten perfekt in das von Melanie umrissene Beuteschema. Die beiden Besucherinnen waren sich sogar so ähnlich, dass Frau Helbing anfangs dachte, es handele sich um ein und dieselbe Person. Nachdem sie ihren Irrtum erkannt hatte, nannte sie die Frauen Hanni und Nanni, um sie besser auseinanderhalten zu können.
Wenn sie Schritte im Treppenhaus hörte, positionierte sich Frau Helbing hinter dem Spion, der in ihrer Wohnungstür angebracht war, und beobachtete, wer im Haus ein und aus ging. Früher hatte sie das nie gemacht. Erst seit sie Kriminalromane las. Sie wollte ihre Beobachtungsgabe schärfen. Verdächtige Dinge registrieren, wie es die Ermittler in den Romanen machten. Das bereitete ihr Vergnügen.
»Hat Henning Familie?«, fragte Frau Helbing.
Sie nannte Herrn von Pohl bewusst Henning, um es Melanie leichter zu machen, vertrauliche Details preiszugeben. Um das Gespräch noch ein wenig intimer zu gestalten, beugte sich Frau Helbing vor, damit Melanie nicht so laut reden musste.
»Er hat einen Sohn aus einer früheren Beziehung«, antwortete sie. »Das war noch vor meiner Zeit.«
Melanie machte sich nicht die Mühe zu erklären, dass sie mal mit Henning zusammen war. Sie spürte, dass Franziska das schon verstanden hatte.
»Keine Geschwister?«, hakte Frau Helbing nach.
»Ich wüsste nicht.« Melanie überlegte kurz. »Nein, in seinem Leben gibt es nur Musik und Frauen. Und dann ist da noch sein Freund Georg.«
»Ach, der Herr mit dem schütteren Haar und dem breiten Schnurrbart?«
Frau Helbing hatte einen solchen Mann schon einige Male im Treppenhaus beobachtet.
Melanie nickte.
»Genau«, sagte sie. »Aber er ist nur eine Projektionsfläche. Er steht nicht auf einer Stufe mit Henning. Georg bewundert seinen Freund. Wahrscheinlich wäre er gerne genauso weltgewandt. Und Henning selbst braucht einen Vasall. Einen, der ihm hinterherläuft und neben dem er größer wirken kann.«
Melanie streckte ihren Arm aus und ergatterte das letzte Kanapee von einem Tablett, das von einem jungen Mann vorbeigetragen wurde.
»Georg hat erst kürzlich seine Frau verloren«, sagte sie und biss in das Brot. »Krebs«, fügte sie hinzu.
Es klang wie »Kreksch«, weil sie den Mund voll hatte. Frau Helbing fand das sympathisch. Die Klarinettistin gefiel ihr. Die war nicht so etepetete wie die eitlen Konzertgänger in diesem Raum.
»Georg war sein Leben lang verheiratet«, fuhr Melanie fort. »Ich glaube, er neidete Henning den lockeren Lebensstil.« Melanie seufzte, goss sich die Neige ihres Champagnerglases in den Rachen und sagte: »Es ist ein Elend mit den Männern.«
Nach kurzem Nachdenken musste Frau Helbing ihr zustimmen. Sie trank ebenfalls ihr Glas leer. Melanie hatte zwei weitere Champagnertulpen von einem der unzähligen Tabletts geklaubt und hielt Franziska eine davon hin. Normalerweise trank Frau Helbing keinen Alkohol am Vormittag. Auch nicht am Nachmittag. Eigentlich nur abends und dann auch höchstens ein Glas lieblichen Rotweins oder eine Flasche Alsterwasser. Jetzt aber griff sie zu und stieß mit Melanie an. Gerne hätte sie noch das ein oder andere über Herrn von Pohl erfahren, aber Heide kehrte von ihrer Runde zurück und vertrieb die Klarinettistin.
Heide hatte noch nie ein Gefühl dafür gehabt, wann sie fehl am Platze war. Zurückhaltung war in ihrer DNA nicht angelegt. Sie spürte nicht, dass Melanie keinesfalls über Mozart sprechen wollte.
Musiker unterhalten sich nämlich nicht den ganzen Tag über Musik. Im Gegensatz zu den Laien spielen sie ihr Instrument von Berufs wegen, und das bedeutet, dass es sich um Arbeit handelt. Und wer spricht schon gerne über seine Arbeit? Melanie wollte auch nicht hören, wie ergriffen Heide bei ihrem letzten Wien-Aufenthalt war, als sie die einstige Mietwohnung von Wolfgang Amadeus Mozart besichtigt und einen Walzerabend mit Werken von Johann Strauss besuchte hatte.
Aber das merkte Heide nicht. Als sie ihr Handy zückte, um Fotos von sich vor dem Stephansdom zu zeigen, ging Melanie einfach weg.
Frau Helbing war Heide nicht böse. Von Kindesbeinen an waren sie befreundet und hatten sich oft in schwierigen Situationen Halt gegeben. Nach so langer Zeit sieht man über kleine Macken und Fehler des anderen einfach hinweg. Es war wie mit einer quietschenden Wohnungstür, die man nicht mehr ölt, weil einem das eigentlich unangenehme Geräusch mittlerweile vertraut ist und sogar Geborgenheit suggeriert.
Frau Helbing spazierte nach Hause. Heide hatte angeboten, sie im Taxi mitzunehmen, aber bei dem schönen Wetter wollte sie lieber laufen. Es war noch mal richtig warm geworden für September. Trotzdem war der Herbst nicht mehr zu ignorieren. Abends wurde es schon früh dunkel.
Als Frau Helbing wieder in ihrer Wohnung war, wollte sie noch ein bisschen lesen. Das gelang ihr nicht so recht, denn der Champagner hatte sie müde und unkonzentriert gemacht. Den Nachmittag über döste sie ein wenig in ihrem bequemen Ohrensessel. Obwohl sie mehrfach Schritte im Treppenhaus vernahm, war sie zu bequem, um an die Wohnungstür zu gehen und durch den Spion zu spähen.
Gegen sechs Uhr bereitete sie sich eine Portion Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln zu. Dazu legte sie ein paar Gewürzgurken auf den Teller und schnitt eine Tomate auf. Beim Essen ließ sie den Tag noch einmal Revue passieren. Das Konzert hatte ihr sehr gefallen. Dass sie Melanie kennengelernt hatte, empfand sie ebenfalls als Bereicherung. Schade, dass sie mit der Klarinettistin keine Telefonnummern ausgetauscht hatte. Das kommt noch, dachte sie, denn mit der Erfahrung einer älteren Dame wusste sie, dass sich alles zum richtigen Zeitpunkt fügen würde. Sie goss noch die Pflanzen auf der Fensterbank im Wohnzimmer. Dann legte sich Frau Helbing auf das Sofa, wickelte sich in ihre flauschige Decke und schaltete den Fernseher ein. Heute war Sonntag. Den Tatort wollte sie auf keinen Fall verpassen.
Es war ein schöner Montagmorgen. Nicht bilderbuch schön oder mediterran schön, aber für Hamburger Verhältnisse weit mehr als zufriedenstellend. Frau Helbing sah aus ihrem Küchenfenster, wie sie es jeden Morgen zu tun pflegte, und nickte. Sie konnte das Wetter lesen. Ein Blick in den Himmel genügte ihr, um eine zutreffende Prognose für den weiteren Tagesverlauf abzugeben. Dazu brauchte sie keine Wetter-App. Nicht einmal die Nachrichten im Radio mit der anschließenden Vorhersage. Die Meteorologen lagen sowieso meistens daneben. Frau Helbing kannte die Wolken über der Hansestadt schon so lange. Auch die Kapriolen des Windes und die feinen Abstufungen des morgendlichen Lichts wusste sie zu deuten. Und sie irrte sich fast nie.
»Mein Wetterfrosch«, hatte Hermann sie manchmal genannt. Halb bewundernd, halb genervt, wenn er mal wieder gegen den Rat seiner Frau mit der falschen Kleidung aus dem Haus gegangen war.
Leicht bewölkt, aber kein Regen, ab mittags Sonne, an die zwanzig Grad bei schwachem Wind. So würde es heute werden, und das war für die Jahreszeit durchaus akzeptabel.
Frau Helbing liebte ihre Morgenrituale. Während sie ihren persönlichen »Wetterbericht« gelesen hatte, war bereits der Kaffee durch die Maschine gelaufen. Nun setzte sie sich an den Küchentisch, trank starken Kaffee mit einem Schuss Milch und aß Brot mit Quittengelee. Das war Frau Helbings Frühstück. Jeden Morgen. Im Hintergrund lief das Radio.
Natürlich nicht wegen des Wetters, sondern wegen der Musik. Wer allein lebt, braucht ein wenig Unterhaltung. Vor allem beim Frühstück. Stille verstärkt das Gefühl der Einsamkeit, und in der Frühe schon diese drückende Leere zu spüren, während man Quittengelee auf eine Scheibe Graubrot streicht, ist keine gute Voraussetzung für einen gelungenen Start in den Tag.
Nach dem Frühstück, das Frau Helbing stets pünktlich mit den Acht-Uhr-Nachrichten beendete, spülte sie das benutzte Geschirr. Ab diesem Zeitpunkt variierte ihr Tagesablauf. Heute stand Staubsaugen auf dem Programm. Frau Helbing saugte gerne und vor allem gründlich. Sie huschte nicht nur flüchtig zwischen den Möbeln umher, sondern räumte alles aus dem Weg, bevor sie den Boden nach einem ausgeklügelten System von Staub, Flusen und dem üblichen Dreck reinigte. Danach entfernte sie die Bürste vom Rohr des Staubsaugers und nahm sich die Spinnen vor, die sich – besonders zum Herbst hin – zwischen Wand und Zimmerdecke häuslich einzurichten gedachten. Richtig saugen will gelernt sein.
Gerade hatte sie ihr betagtes Haushaltsgerät ausgeschaltet, als sie Schritte im Treppenhaus hörte. Das war bestimmt Herr von Pohl. Frau Helbing strich ihre Schürze glatt, die sie gewöhnlich bei der Hausarbeit trug, und öffnete die Wohnungstür. Sie tat, als wollte sie nur ihre Fußmatte absaugen, aber in Wirklichkeit trachtete sie danach, einen Blick auf ihren Nachbarn zu werfen. Wahrscheinlich hatte er die Nacht bei einer seiner Gespielinnen verbracht und schlich jetzt müde und befriedigt zurück in seine Höhle.
Herr von Pohl sah ein bisschen zerfleddert aus. Sogar seine Haare waren in Unordnung. So hatte ihn Frau Helbing noch nie gesehen. In der Hand hielt er seinen Instrumentenkoffer.
Frau Helbing hatte ihn schon mehrfach mit diesem Kasten beobachtet, aber seit sie wusste, wie lang so ein Fagott war, fragte sie sich, ob Herr von Pohl auch zaubern konnte.
Am Stück passte das Instrument jedenfalls nicht in dieses Behältnis. Vielleicht konnte man es zusammenschieben, mutmaßte sie. Etwa wie eine Angel, die auch nicht in voller Länge transportiert wird.
»Guten Morgen!«, rief sie ihm entgegen, als er auf ihrer Etage angekommen war.
»Guten Morgen, Frau Helbing«, lächelte Herr von Pohl zurück.
Es war mehr als ein Lächeln. Er strahlte. Eine positive Energie umgab ihn, obwohl er so derangiert wirkte. Sein Hemd steckte nicht mal richtig in der Hose.
Gerne hätte Frau Helbing ihn gefragt, wo er gerade herkomme.
Stattdessen sagte sie: »Möchten Sie mir vielleicht beim Frühstück Gesellschaft leisten?«
Mit dem Blick einer erfahrenen Frau erkannte sie sofort, dass Herr von Pohl einen knurrenden Magen hatte. Seine Freundinnen mochten Vorzüge und Talente haben, aber in Sachen Vorratshaltung, Kaffee kochen oder gar Frühstück zubereiten waren sie mit Sicherheit nicht zu gebrauchen. Die Kühlschränke dieser Frauen waren sehr wahrscheinlich leer, bis auf ein paar Becher Diätjoghurt und vielleicht einer Packung Salamisticks zum Knabbern.
Natürlich war es Frau Helbing nicht entfallen, dass sie selbst bereits gefrühstückt hatte. Schließlich litt sie nicht an Altersdemenz. Clever wollte sie Herrn von Pohl in ihre Küche locken, um ihm Informationen aus der Nase zu ziehen. Und der Musiker ging ihr in die Falle.
»Gerne«, sagte er sofort und drehte direkt in Richtung ihrer Wohnungstür ab.
Frau Helbing brühte ein zweites Mal Kaffee auf, stellte neben Brot und Quittengelee noch ein bisschen Wurst auf den Tisch, für den Fall, dass es ihren Gast nach etwas Herzhaftem gelüstete, und setzte sich auf einen Küchenstuhl.
»Das ist aber nett von Ihnen«, sagte Herr von Pohl und griff sofort nach der groben Leberwurst.
»Ich wollte sowieso gerade etwas essen«, log Frau Helbing. Sie schenkte Kaffee ein und sagte beiläufig: »Sie sind ja heute schon früh auf den Beinen.«
Dabei beobachtete sie ihren Nachbarn genau. Aus der Körpersprache konnte man jede Menge Schlüsse ziehen. Das wusste sie aus den Kriminalromanen. Jeder gute Detektiv stellte so ganz nebenbei einige vermeintlich unwichtige Fragen und wertete die Reaktion seines Gegenübers aus.
Herr von Pohl kaute mechanisch auf seinem Brot weiter, schreckte dann hoch und fragte: »Wie bitte?«
Er war nicht bei der Sache gewesen. Es lag nicht daran, dass er gerade Brot aß oder müde war. Nein, er war tief in Gedanken versunken. Frau Helbing spürte, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. Herr von Pohl war unkonzentriert. Mehr noch, zerstreut und fahrig wirkte er.
»Das Konzert gestern hat mir sehr gut gefallen. Vielen Dank noch mal für die Karten«, versuchte Frau Helbing die Aufmerksamkeit Herrn von Pohls mit einem anderen Thema zu erlangen.
»Ja, schön«, sagte er knapp.
Frau Helbing sah ihm in die Augen, aber anstatt ihren Blick zu erwidern, hatte er die Pupillen aufgezogen wie eine achtlos offen gelassene Tür, durch die der Wind pfeift.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Frau Helbing besorgt.
Herr von Pohl lächelte.
»Ja, ja«, sagte er. »Es ging mir nie besser.«
Er beugte sich vor und flüsterte: »Manchmal bahnen sich Dinge nicht an, sondern brechen plötzlich über einen herein. Verrückt ist das.« Er schüttelte den Kopf. »Verrückt.«
Herr von Pohl trank seine Tasse aus und hielt sie Frau Helbing zum Nachschenken hin.
Frau Helbing war ratlos. Was um alles in der Welt hatte sich ereignet, dass ihr Nachbar sich in einem derart entrückten Zustand befand? Es musste von großer Tragweite sein.
Die Liebe!, schoss es ihr durch den Kopf. Wollte er Hanni heiraten? Oder Nanni? Hatte der alte Frauenheld entschieden, sich zur Ruhe zu setzen und in den Hafen der Ehe einzulaufen?
»Stopp!«, rief Herr von Pohl mit weit aufgerissenen Augen.
Frau Helbing schüttete den Kaffee direkt aus der Kanne an Herrn von Pohls Tasse vorbei. Jetzt war sie selbst in Gedanken gewesen. Eine große Pfütze war bereits auf den Tisch geschwappt, als sie ihr eigenes Ungeschick bemerkte.
»Sie sind aber auch nicht bei der Sache!«, rief Herr von Pohl belustigt.
Er stand auf und schnappte sich noch ein Brot vom Tisch.
»Ich muss jetzt los«, sagte er. »Ich habe eine wichtige Verabredung, und dann muss ich Vorbereitungen treffen.« Frau Helbing griff hastig nach einem Schwammtuch und beeilte sich, den verkleckerten Kaffee aufzuwischen.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
Herr von Pohl war schon im Flur.
»Vielen Dank!«, rief er über die Schulter.
Dann war er weg.