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Mit Kunst hat Frau Helbing wenig am Hut. Trotzdem willigt die pensionierte Fleischereifachverkäuferin ein, ihre Freundin Heide auf eine Vernissage in die Hamburger Galerie Kleidermann zu begleiten. Denn der kürzlich verstorbene Marcel Poisson, dem sich die Ausstellung widmet, ist mit Frau Helbing zur Schule gegangen. Obwohl ihm der große Durchbruch als Künstler zu Lebzeiten verwehrt blieb, hat Poisson ein beträchtliches Vermögen hinterlassen: Er hat berühmte Gemälde kopiert und an Kunstliebhaber verkauft. Kurz nach der Vernissage wird in die Villa des Malers eingebrochen. Poissons Lebensgefährte Jacques bittet Frau Helbing, deren detektivische Fähigkeiten sich herumgesprochen haben, um Mithilfe. Doch als sie in der Villa eintrifft, ist Jacques tot – mit einem Schürhaken erschlagen. Um den Mörder zu überführen, muss sich Frau Helbing in eine ihr völlig fremde Welt begeben.
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Seitenzahl: 213
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Eberhard Michaely
Frau Helbing und das Vermächtnis des Malers
Roman
Oktopus
Frau Helbing fühlte sich unbehaglich. Ein bisschen verloren stand sie in der gut besuchten Galerie Kleidermann, hielt ein Glas Orangensaft in der Hand und fragte sich, wie lange die Veranstaltung wohl noch andauern würde. Heide hatte sie dazu überredet, diese Ausstellung zu besuchen. Eine »Hommage« sei das, hatte sie geschwärmt, die im Andenken an den kürzlich verstorbenen Maler Marcel Poisson stattfände. Frau Helbing hatte weder gewusst, was »Hommage« bedeuten sollte, noch, wer Herr Poisson war. Eigentlich hatte sie gar nicht mitkommen wollen, aber als Heide ihr erklärt hatte, dass es sich bei Marcel Poisson um einen Künstlernamen handelte, mit dem ihr gemeinsamer früherer Mitschüler Karl Schnelling auf dem internationalen Kunstmarkt Aufsehen zu erregen gehofft hatte, war ihr Interesse geweckt.
»Der Karl?«, hatte Frau Helbing ungläubig nachgefragt. »Der war Maler?«
Sie hatte in ihren Erinnerungen gekramt, aber wenig gefunden. Ein Einzelgänger war Karl gewesen. Einer, der nie dabei war, wenn die anderen Jungs Fußball gespielt hatten. Ein scheuer Typ, der Frau Helbing kaum im Gedächtnis geblieben war. Einmal hatte sie ihn gefragt, was er denn nach der Schule machen wollte, erinnerte sie sich. Aber anstatt einen konkreten Berufswunsch zu nennen, hatte er geantwortet, die Hauptstädte der Welt erobern zu wollen. Diese Aussage, wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte Frau Helbing frösteln lassen. Aber rückblickend wurde ihr klar, wie das wohl gemeint gewesen war. Offenbar hatte er damals schon eine klare Vorstellung davon gehabt, in welche Richtung sich sein Leben entwickeln sollte. Er wollte mit seinen Werken in den bedeutendsten Museen aller Kontinente vertreten sein, auf einer Stufe stehend mit den Größten seiner Zunft. Im Nachhinein fand Frau Helbing das sehr beeindruckend.
Nun hatte sie eine Auswahl seiner Bilder in Augenschein genommen und hätte ihn gerne gefragt, ob das mit der Eroberung der Hauptstädte auch zu seiner Zufriedenheit verlaufen war. Aber Karl lebte nicht mehr. Vor wenigen Wochen war er friedlich eingeschlafen, wie Heide in Erfahrung gebracht hatte. Diese Information hatte sie von Jacques, Karls Lebensgefährten. Seiner Muse, wie Heide es ausgedrückt hatte. Eine Muse diene einem Künstler als Inspirationsquelle, hatte Heide ihr erklärt. Frau Helbing war nicht verwundert gewesen, als Heide ganz beiläufig erwähnt hatte, dass Jacques ebenfalls ein Pseudonym sei und der Franzose in Wahrheit einen ganz anderen Namen trage, der ihr aber nicht mehr einfallen wollte. Er sei aber ein ausgezeichneter Friseur, und die Pöseldorfer Damenwelt schien sich um seine Aufmerksamkeit zu balgen. Wer einen Termin bei Jacques bekam, gehörte einfach zur Hautevolee, behauptete Heide, ohne dass Frau Helbing wusste, was das heißen sollte.
Die Bilder, die alle mit Marcel Poisson signiert waren, gefielen Frau Helbing ausnahmslos. Sie war bereits zweimal durch die Räume der Galerie gegangen und hatte erstaunt festgestellt, dass die Gemälde sehr unterschiedlich waren. Als hätte Karl versucht, so viele Maltechniken wie möglich auszuprobieren. Von zarten Bleistiftskizzen bis hin zu pastenartig aufgetragenen Ölfarben war die ganze Bandbreite der Möglichkeiten, die einem bildenden Künstler zur Verfügung stehen, angewendet worden.
Obwohl sich Frau Helbing in der Welt der Malerei nicht auskannte, hatte sie das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Die Bilder gehörten einfach nicht zusammen. Entwickelt ein Maler nicht mit der Zeit einen eigenen unverwechselbaren Stil?, fragte sie sich bei jedem Bild erneut. Heide hatte ihr mal einen Abreißkalender mit Werken von Friedensreich Hundertwasser geschenkt. Da gab es natürlich Unterschiede zwischen den einzelnen Bildern, aber man erkannte deutlich eine Richtung, eine klare Idee, die alle Gemälde einte und sie einem einzigen Künstler zuordnen ließ.
Frau Helbing hatte jetzt genug gesehen und überlegte gerade, nach Hause zu gehen, als Heide mit ausladenden Schritten auf sie zukam. Sie zog einen zierlichen Mann hinter sich her, der ganz in Schwarz gekleidet war.
»Das ist Jacques«, sagte Heide und schob den Friseur etwas näher an Frau Helbing.
»Madame ’elbing«, sagte Jacques lächelnd. »Wie schön. ’eide ’at mir schon viel von Ihnen erzählt.«
Einen solchen Akzent hatte Frau Helbing noch nie gehört. Von Heide war sie zwar vorgewarnt worden, dass die Franzosen den Buchstaben H nicht aussprechen könnten, aber sie hatte es nicht glauben wollen.
»Sie ’aben gekannt Karl?«, fragte Jacques.
»Gekannt kann man eigentlich nicht sagen«, antwortete Frau Helbing. »Wir waren auf derselben Schule. Heide, Karl und ich. Aber was er danach gemacht hat …« Sie zog die Schultern hoch.
»Er ’at gemalt ’errliche Bilder. N’est-ce pas?«, schwärmte Jacques und vollführte eine ausladende Armbewegung, die den Blick zu den Gemälden lenken sollte. »Karl konnte malen alle Stil.«
»Jaja«, sagte Frau Helbing. »Das ist mir auch schon aufgefallen. Aber was ist eigentlich typisch für Karl?«
»Oh, sein grand cœur. Wie sagt man auf Deutsch?«
»Sein großes Herz«, soufflierte Heide.
»’erz«, bestätigte Jacques mit einem Kopfnicken.
»Nein, ich meinte, was typisch für seine Bilder ist. Ich finde die Gemälde alle so …«, Frau Helbing kam kurz ins Stocken, »… unterschiedlich. Es steht zwar überall Marcel Poisson drauf, aber sie scheinen tatsächlich von verschiedenen Malern zu stammen.«
Frau Helbing hatte ganz offensichtlich einen wunden Punkt getroffen, denn Jacques wiegte unsicher mit dem Kopf hin und her und wusste nicht so recht, auf die Frage zu antworten.
»Das war, glaube ich, Karls Problem«, schaltete sich Heide ein. »Er hat sein Leben lang keinen eigenen Stil gefunden. Er war ein ewig Suchender.«
»So kann man das nicht sagen«, bemerkte ein Mann, der plötzlich neben Heide stand.
Frau Helbing erkannte Herrn Kleidermann, den Galeristen, der ganz am Anfang der Veranstaltung etwas über Karls Leben und Schaffen erzählt hatte.
»Marcel Poissons Einzigartigkeit bestand in der Perfektion«, fing er an zu dozieren. »Jedes seiner Gemälde ist vollkommen. Es gibt Künstler, die huschen und pfuschen am Hintergrund rum oder lassen hier und da einen Flüchtigkeitsfehler unkorrigiert. Bei Poisson finden Sie keinen Fehler. Niemals!«
»Er war also ein herausragender Meister seines Handwerks«, sagte Frau Helbing.
»So kann man das sagen. Mehr noch, er war brillant. Einfach brillant.«
Herr Kleidermann lächelte zufrieden.
»Dann hat er es also geschafft«, sagte Frau Helbing und fügte erklärend an: »Also in die Museen der ganzen Welt. Ich weiß zufällig, dass er als Schüler schon berühmt werden wollte.«
»Nun, sagen wir mal, er war bekannt«, sagte Herr Kleidermann. Um seine Aussage zu unterstreichen, fügte er an: »Sehr bekannt.«
Frau Helbing sah fragend zu Jacques.
»Er war so gut«, sagte Karls Muse und seufzte. »So gut. Aber ’at nicht geschafft ganz nach oben.«
»Aber erfolgreich war er trotzdem«, warf Herr Kleidermann ein bisschen pedantisch ein, der das so nicht stehen lassen wollte. »Als sein Galerist kann ich Ihnen das bestätigten.«
Dann nickte er energisch und entfernte sich, um sich anderen Gästen zu widmen. An seiner Stelle drängte sich ein bärtiger Mann neben Heide, der in beiden Händen je ein volles Sektglas hielt.
»Jacques!«, rief er mit einer rauchigen Stimme. »Schön, dich zu sehen.«
Frau Helbing erkannte an Jacques’ gequältem Lächeln, dass die Freude nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Bonjour«, sagte der Franzose knapp.
»Möchtest du mir nicht endlich den Vermeer verkaufen, den ich schon seit Wochen haben will, mein Freund?«, fragte der Mann gönnerhaft und leerte eines der Gläser in einem Zug.
Frau Helbing fragte sich, wie viel Sekt er heute bereits getrunken hatte. Seinem roten Kopf nach zu urteilen, war er nicht mehr nüchtern.
»Oskar, du weißt, dass Karl nicht wollte, dass ich verkaufe das Bild«, sagte Jacques resolut.
Er hatte ein leichtes Beben in der Stimme.
»Aber Karl ist tot«, entgegnete der Mann ungerührt. »Und ich zahle dir einen guten Preis.«
»Jamais!«, zischte Jacques. »Es ist ’eilig. Das Bild bleibt in mein’ Besitz.«
»Das Bild bleibt in mein’ Besitz«, äffte der bärtige Mann namens Oskar ihn nach. Dann kippte er sich auch das zweite Glas in den Rachen.
»Ich weiß doch, dass du Geld brauchst«, fügte er mit einem überheblichen Lächeln hinzu.
Er beugte sich vor, zwinkerte Jacques zu und flüsterte: »Ich zahle cash.«
Vergeblich wartete er auf eine Reaktion, drehte sich nach einer Weile gelangweilt um und ging zur Bar. Jacques warf ihm einen bösen Blick hinterher. Die Begegnung mit diesem Menschen hatte ihn offensichtlich sehr aufgewühlt.
»Pardon«, sagte er an Heide und Frau Helbing gewandt und verschwand in Richtung Ausgang.
»Kennst du den?«, fragte Frau Helbing und deutete mit einer Kopfbewegung zur Bar.
»Oskar Smolarz«, sagte Heide. »Er handelt mit Kunst.«
»Ein unangenehmer Mensch ist das«, stellte Frau Helbing fest. »Platzt hier in unsere Runde und bringt uns alle in eine unangenehme Situation.«
»Das passt zu ihm und seinem schlechten Ruf«, bestätigte Heide.
»Weißt du, worum es ging?«, fragte Frau Helbing.
Heide zuckte mit den Schultern.
»Vermutlich um ein Bild«, sagte sie.
»Um einen Vermeer«, präzisierte Frau Helbing. »Was immer das heißen soll.«
»Jan Vermeer war ein holländischer Maler«, erklärte Heide ihrer Freundin. »Einer der bekanntesten. Ich glaube nicht, dass im Wohnzimmer von Karl und Jacques eines seiner Gemälde hängt.«
»Und warum?«, fragte Frau Helbing.
»Schätzchen!« Heide lachte kurz auf. »Weißt du, was ein Vermeer wert ist?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte sie: »Millionen. Und selbst wenn du so viel Geld ausgeben willst, wirst du keinen kaufen können. Es gibt nicht mal vierzig Stück auf der Welt.«
»Oh«, sagte Frau Helbing. »Das sind nicht viele.«
Nach einer Weile fragte sie: »Glaubst du, dass Jacques Geldsorgen hat?«
Wieder zog Heide die Schultern hoch.
»So gut kenne ich ihn nicht«, sagte sie. »Ich lasse mir die Haare von ihm schneiden. Da redet man über dies und das, aber natürlich nicht über finanzielle Dinge. Das macht man einfach nicht.«
Heide hob plötzlich die Hand, um die Aufmerksamkeit einer Dame zu erlangen, die eben den Raum betreten hatte und sich suchend umsah.
»Guck mal, Traudel«, sagte sie.
Frau Helbing hatte diese Frau noch nie gesehen.
»Wer ist denn Traudel?«, fragte sie.
»Edeltraut Hammerschmidt-Bingen«, raunte Heide, »eine der gefragtesten Inneneinrichterinnen in ganz Hamburg. Sie hat sich aber zur Ruhe gesetzt und nimmt kaum noch Aufträge an.«
Als die Dame sich näherte, flüsterte Heide noch: »Zufällig ist sie Jacques’ Nachbarin.«
»Heide!«, rief Frau Hammerschmidt-Bingen aufgebracht, »hast du Jacques gesehen? Ich muss ihn unbedingt finden. Unbedingt!«
Während sie das sagte, täuschte sie einmal links und rechts ein Küsschen an, was Heide, einem Automatismus folgend, zeitgleich erwiderte. Da beide Frauen in einem Meter Entfernung standen, sah es für Frau Helbing aus, als nickten zwei Hühner bei der Futtersuche mit dem Kopf.
»Der ist eben rausgegangen«, antwortete Heide.
»Wir müssen ihn finden! Es ist schrecklich, sage ich dir, schrecklich.«
»Was ist denn passiert?«
Heide schien plötzlich genauso nervös wie Traudel zu sein.
»Du wirst es nicht glauben, aber bei Jacques ist eingebrochen worden. Die Polizei ist gerade eben eingetroffen.«
»Das ist ja schrecklich«, sagte Heide mit einem übertriebenen Entsetzen in der Stimme.
»Sag ich ja!«, rief Frau Hammerschmidt-Bingen nicht minder dramatisch.
Es dauerte nur wenige Minuten, um zu Fuß von der Galerie in die kleine Seitenstraße zu gelangen, in der Karl Schnelling vor vielen Jahren ein Haus erworben hatte. Einen Steinwurf von der Hamburger Musikhochschule entfernt standen hier teils großzügig bemessene Häuser und Villen, oft mit einem hübschen Garten oder von altem Baumbestand umgeben. Ein sehr teures Viertel war das, wusste Frau Helbing. Ein Getto der Wohlhabenden, direkt an der Außenalster gelegen, meinten so manche, die hinter vorgehaltener Hand statt Pöseldorf gerne Schnöseldorf sagten.
Jacques und Frau Hammerschmidt-Bingen eilten voran, Frau Helbing und Heide folgten ihnen auf den Fersen. Die Polizei war mit mehreren Streifenwagen vor Ort und hatte das Grundstück bereits abgesperrt, als sie am Tatort ankamen. Nachdem sich Jacques ausgewiesen hatte, durfte er zusammen mit einem Beamten das Haus betreten. Den Frauen wurde der Zutritt dagegen verweigert. Selbst nachdem Frau Hammerschmidt-Bingen den Polizisten erklärt hatte, mit dem Senator für Inneres eng befreundet zu sein, und sogar eine Beschwerde in Aussicht stellte, mussten sie auf der Straße warten.
»Kleinen Rum?«, fragte Frau Hammerschmidt-Bingen nach einer Weile und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, die Pforte zum Nachbargrundstück.
»Auf den Schreck …«, sagte Heide, ging ihr hinterher und zog Frau Helbing am Arm mit.
Frau Hammerschmidt-Bingen hatte einen messingfarbenen Tresen im Wohnzimmer stehen, hinter dem, in mehreren verspiegelten Regalen, eine schier unüberschaubare Anzahl an Spirituosen einsortiert waren. Frau Helbing war beeindruckt. Nicht nur von der Bar, auch von der Dimension dieses Raums. Hier kann man sich ja verlaufen, dachte sie. Es gab eine Sitzgruppe mit schweren Polstermöbeln, die alle in Pastell gehalten waren, und einen Esstisch für zwölf Personen, der penibel mit weißem Porzellan und poliertem Silberbesteck eingedeckt war. Statt einer zentral angebrachten Deckenlampe sorgten verschiedene Lichtquellen dafür, die ganze Wohnsituation angenehm und gemütlich wirken zu lassen. Einzelne Deko-Objekte wurden dezent angestrahlt, ohne den Betrachter zu blenden. Fasziniert bewunderte Frau Helbing einen weißen Konzertflügel, der mitten im Raum stand, bevor ihr Blick zu einem Aquarium mit schillernden Zierfischen und Seepferdchen wanderte. So ein Wohnzimmer hatte Frau Helbing noch nie gesehen.
»Botucal oder Zacapa?«, fragte Frau Hammerschmidt-Bingen und griff gezielt nach den Rumflaschen über dem Whiskysortiment.
Frau Helbing kannte weder die eine noch die andere Marke. Und dass es außer Piraten Menschen gab, die Rum tranken, war ihr auch neu.
»Ich nehme das Gleiche wie Heide«, sagte sie, bemüht, keinen Fehler zu machen.
»Was für eine Aufregung«, stöhnte Frau Hammerschmidt-Bingen. »Wo kann man sich denn heutzutage noch sicher fühlen? Eben guck ich über den Zaun und sehe im Haus gegenüber jemanden hinter der Fensterscheibe. Ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen.«
Großzügig schenkte sie drei Gläser ein und ließ sich mit einem Seufzer auf dem Sofa nieder.
»Natürlich habe ich sofort die 110 gewählt.«
»Du hast doch eine Alarmanlage, oder?«, fragte Heide beunruhigt.
»Natürlich«, antwortete Frau Hammerschmidt-Bingen und fing an, sich richtig aufzuregen. »Was denkst du denn? Auch einen Objektschutz. Aber Karl hatte nicht mal eine Kamera auf seinem Grundstück installiert, und über die alte Kellertür mit diesem primitiven Vorkriegsschloss wollen wir gar nicht reden. Er hätte auch ein Schild Bitte einbrechen an den Zaun hängen können.«
»Das Haus hat Karl gehört?«, fragte Frau Helbing.
»Natürlich. Jacques hat nichts«, sagte Frau Hammerschmidt-Bingen, nahm einen Schluck Rum und bemerkte dann abfällig: »Ein Friseur.«
»Und wer erbt von Karl?«, wollte Frau Helbing wissen.
»Ein Kretin«, sagte Frau Hammerschmidt-Bingen, bevor sie erneut das Glas an die Lippen hob.
Das brachte Frau Helbing auf die Idee, auch mal an ihrem Rum zu nippen.
Donnerwetter, dachte sie nach dem ersten Schlückchen. Das war nicht dieser scharfe Fusel, den sie ab und an beim Backen ihrer Schoko-Rum-Ecken verwendete. Dieses Getränk ließ Frau Helbing lange nachschmecken und Aromen entdecken, die in ihrer Kombination einmalig waren.
Sie war aber nicht hier, um neue Alkoholika zu entdecken, sondern, um aus erster Hand etwas über die Besitz- und Vermögensverhältnisse von Karl zu erfahren. Und wer dieses Erbe antreten würde, konnte sie jetzt auch herauskriegen. Vielleicht sogar etwas über diesen geheimnisvollen Vermeer, den Oskar Smolarz erwähnt hatte. Was ein Kretin war, könnte sie Heide auch später fragen.
»Es gibt also einen Erben«, kam Frau Helbing auf ihr Anliegen zurück. »Und würden Sie mir auch sagen, wer das ist?«
»Sein Sohn«, antwortete Frau Hammerschmidt-Bingen knapp.
»Sein Sohn?«, rief Heide.
Sie schien genauso verwundert zu sein wie Frau Helbing.
»Ich dachte, Karl war mit Jacques …«, sagte Frau Helbing und wusste nicht so recht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte.
»Ach, meine Liebe«, sagte Frau Hammerschmidt-Bingen ein bisschen von oben herab. »Jacques ist ein netter Junge, aber für Karl war er bloß ein Spielzeug.«
Dann stand sie auf, ging zu einem Weintemperierer neben der Bar und kam mit einer Flasche Champagner und drei Gläsern zurück.
»Ich wusste wirklich nicht, dass Karl einen Sohn hat«, sagte Heide.
Sie klang ein bisschen verstimmt, weil Traudel offensichtlich besser informiert war als sie selbst.
»Tja!«, sagte Frau Hammerschmidt-Bingen spitz und setzte dabei einen überheblichen Gesichtsausdruck auf. »Vor vielen Jahren hat er sich über einen längeren Zeitraum mit seiner Putzfrau amüsiert. Stell dir das mal vor: mit seiner Putzfrau!«
»Nein!«, rief Heide mit weit aufgerissenen Augen.
Frau Hammerschmidt-Bingen füllte die Champagnertulpen.
»Doch!«, rief sie amüsiert.
»Wie alt ist denn sein Sohn?«, fragte Frau Helbing, die mehr an Fakten interessiert war und nicht an Tratsch.
Frau Hammerschmidt-Bingen hielt kurz inne.
»Dreißig«, sagte sie, »oder einunddreißig. Ich müsste noch mal nachrechnen.«
»Wieso weiß ich davon nichts? Und wo ist der Junge überhaupt?«, ereiferte sich Heide.
Und wer hat dann eigentlich sauber gemacht?, fragte sich Frau Helbing.
»Prost!«, sagte Frau Hammerschmidt-Bingen.
Notgedrungen stieß Frau Helbing mit den Frauen an. Nach dem Rum noch mehr alkoholische Getränke zu sich zu nehmen war ihr nicht geheuer.
»Der Junge hat sich nicht blicken lassen«, sagte Frau Hammerschmidt-Bingen und ließ keinen Zweifel daran, wie sehr ihr dieses Verhalten missfiel. »Nicht mal zur Beerdigung ist er erschienen. Ich hätte mir ein bisschen mehr Anstand gewünscht. Aber was soll man von einem Bastard erwarten? Soviel ich weiß, hat er einen Anwalt damit beauftragt, alles abzuwickeln.«
»Abzuwickeln?«, fragte Frau Helbing. »Wie meinen Sie das?«
»Er wird alles zu Geld machen. Die Makler stehen schon Schlange, um das Haus zu verkaufen. Ich kann nur hoffen, dass nicht irgendein neureiches Pack neben mir einzieht.«
»Das wäre ja schrecklich«, sagte Heide besorgt. »Wie heißen noch mal die Emporkömmlinge hier gleich um die Ecke, die ihre Kinder in die bilinguale Krabbelgruppe eingeklagt haben?«
»Bilinguale Krabbelgruppe« konnte Heide nicht mehr ganz flüssig aussprechen. Trotzdem ließ sie sich das bereits geleerte Glas von ihrer Bekannten nachfüllen.
»Und Jacques?«, fragte Frau Helbing.
Sie war eher um Karls Lebensgefährten besorgt als um adäquate Nachbarschaft.
Frau Hammerschmidt-Bingen zog die Schultern hoch. Das Schicksal anderer schien für sie nicht von besonderem Interesse zu sein.
»Haha!«, rief Heide theatralisch. »Jetzt weiß ich aber mehr als du.« Sie war sichtlich erfreut, eine Information zu besitzen, die Traudel noch nicht in Erfahrung gebracht hatte.
»Von wem?«, fragte Frau Hammerschmidt-Bingen in scharfem Tonfall.
»Von Jacques selbst«, prahlte Heide. »Karl hat ihn nicht in seinem Testament berücksichtigt, aber …«, sie machte eine kleine Kunstpause, um die Spannung zu erhöhen, »… trotzdem erhält er ein Vermächtnis von unschätzbarem Wert.«
Frau Hammerschmidt-Bingens Interesse war geweckt.
»Erzähl!«, zischte sie. »Was für ein Vermächtnis?«
»Na ja. Worum genau es sich handelt, weiß ich auch nicht«, musste Heide kleinlaut zugeben.
Es war ihr anzusehen, dass sie sich ärgerte, nicht die ganze Geschichte zu kennen.
Jetzt kicherte Frau Hammerschmidt-Bingen.
»Du weißt es nicht«, sagte sie mit einem boshaften Unterton in der Stimme.
Sie hatte bereits die zweite Flasche geöffnet und kleckerte ein bisschen beim Einschenken.
Frau Helbing hielt die Hand über ihr Glas.
»Danke, für mich nicht mehr«, sagte sie.
Erschrocken hatte sie zur Kenntnis genommen, dass es bereits auf zehn Uhr zuging.
»Ich gehe mal nach Hause«, sagte sie und verabschiedete sich.
So spät hatte sie schon lange nicht mehr den Heimweg angetreten.
Jan Vermeer war ein holländischer Maler des Barock, las Frau Helbing. Dass er zu den sogenannten »Alten Meistern« gehörte, fand sie nur folgerichtig, schließlich war er bereits vor über dreihundert Jahren gestorben. Meist hatte er einfache Menschen in Alltagssituationen dargestellt. Keine reichen Leute, die posierten und sich selbst in Szene setzten. Die Bilder machten eher den Eindruck, als hätte Herr Vermeer die Menschen zu Hause oder bei der Arbeit überrascht und dann schnell gemalt. So, wie man heute ein Foto machte. Frau Helbing gefielen ausnahmslos alle seine Gemälde, aber besonders hatte es ihr Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge angetan. Es war fast unheimlich realistisch. Dieses Mädchen sah Frau Helbing aus dem Bild heraus direkt in die Augen. Wie kriegt man das wohl hin, mit einem Pinsel und ein bisschen Farbe?, fragte sie sich. Er war wahrlich ein Meister gewesen, dieser Vermeer.
Bereits am Vormittag war sie in ihre Hamburger Bücherhalle gegangen und hatte sich einen dicken Bildband über den Künstler ausgeliehen.
»Wie?«, hatte die Angestellte am Tresen überrascht gefragt. »Sie nehmen heute keinen Krimi?«
Frau Helbing kam seit Jahren hierher, und ihre Lesegewohnheiten waren dem Personal bekannt. Normalerweise ging sie auf direktem Weg zu den Regalen mit der Kriminalliteratur, aber heute war sie hinten links in der Ecke mit den Kunstbänden verschwunden, was bei den Mitarbeitern Erstaunen hervorgerufen hatte. Frau Helbing glaubte sogar Getuschel gehört zu haben.
»Heute widme ich mich der Kunst!«, hatte sie keck gerufen und damit begonnen, die entsprechenden Bücher in Augenschein zu nehmen.
Erstaunlich groß und schwer waren die Bände über Malerei. Wesentlich massiver als die handlichen Krimis. Kunstinteressierte sollten immer ihren Ziehwagen in die Leihbücherei mitnehmen, hatte Frau Helbing festgestellt, nachdem sie sich für einen kapitalen Wälzer entschieden hatte, der unmöglich in ihre Handtasche passte.
Zu Hause angekommen setzte sie sich umgehend an ihren Wohnzimmertisch und blätterte wissbegierig die Seiten durch. Nachdem sie so einiges über das Leben von Herrn Vermeer in Erfahrung gebracht hatte und Heides Aussage, dass es nur wenige Originale gäbe – und diese auch in festen Händen wären –, bestätigt sah, fragte sie sich, welches Bild Herr Smolarz wohl hatte erwerben wollen. Ein Gemälde dieses berühmten Künstlers konnte es kaum gewesen sein. Und doch hatte er am Vorabend zu Jacques gesagt: »Möchtest du mir nicht endlich den Vermeer verkaufen?« Frau Helbing hatte es genau gehört.
Das war aber nur eine der vielen Ungereimtheiten, die Frau Helbing seit dem Frühstück beschäftigten. Welches mysteriöse Vermächtnis hatte Karl für Jacques vorgesehen?, fragte sie sich. Wieso konnte sich Marcel Poisson ein Haus in einem so teuren Stadtteil leisten, obwohl er als Maler nicht berühmt geworden war? Und war gestern rein zufällig bei Jacques eingebrochen worden, oder hatten die Diebe ganz gezielt nach etwas gesucht, während die Veranstaltung in der Galerie in vollem Gange war? Außerdem war da noch dieser uneheliche Sohn, der vermutlich Alleinerbe war und sich bislang nicht hatte blicken lassen.
Frau Helbing wurde den Verdacht nicht los, dass hier etwas im Argen lag. Eine Ahnung, dass es keine einfachen Antworten auf alle ihre Fragen geben würde, drängte sich ihr auf, ohne dass sie diese Vermutung hätte begründen können. Sie hatte ein Gefühl für solche Dinge, einen inneren Seismographen. Und so, wie es Menschen gab, die einen bevorstehenden Wetterumschwung vorab im Knie spüren konnten, bemerkte Frau Helbing frühzeitig erste Anzeichen eines Kriminalfalls. In der Vergangenheit war es ihr dadurch sogar gelungen, mehrere Mordfälle in ihrer Nachbarschaft aufzuklären.
Früher hatte Frau Helbing zusammen mit ihrem Mann eine Schlachterei im Hamburger Grindelviertel geführt. Erst im Ruhestand hatte sie damit begonnen, Kriminalromane zu lesen und dabei ihre ausgeprägten detektivischen Fähigkeiten entdeckt.
Jetzt wollte Frau Helbing erst einmal ihr Mittagessen zubereiten. Nicht nur weil es bereits zwölf Uhr war, sondern auch, weil man mit einem knurrenden Magen nicht gut denken konnte. Heute stand Kartoffelsalat mit einem Wiener Würstchen auf ihrem Speiseplan. Natürlich bereitete Frau Helbing ihren Salat selbst zu und kaufte nicht diesen vorgefertigten Kram aus dem Kühlregal im Supermarkt. Erst einmal pellte sie Kartoffeln, die sie bereits am Vortag – und das war wichtig! – gekocht hatte. Schon die Auswahl der Sorte war entscheidend für den Geschmack und die Konsistenz dieses Gerichts. Frau Helbing bevorzugte Cilena, aber auch die rotschalige Laura eignete sich ihrer Meinung nach hervorragend. Nachdem sie dünne Scheiben geschnitten hatte, rührte sie aus Eigelb und Öl eine sämige Mayonnaise. So hatte es schon ihre Mutter gemacht. Gerade würfelte sie Gürkchen, als ihr Telefon klingelte.
»Frau ’elbing«, hörte sie und wusste sofort, um wen es sich handelte. »’aben Sie eine Minut’?«
»Selbstverständlich«, sagte sie, gespannt, was Jacques von ihr wollte.
»Vielleicht können Sie mir ’elfen. ’eide sagt, Sie sind enquêtrice?«
»Ich soll was sein?«, fragte Frau Helbing.
»Detektiv?«, versuchte es Jacques mit einer anderen Vokabel.
»Ah, Sie meinen, dass ich den Dingen gerne auf den Grund gehe«, sagte Frau Helbing und ahnte, dass Heide wieder einmal angegeben hatte, mit ihrer Freundin, die ganz nebenbei sogar Mordfälle löste.
»Exakt«, sagte Jacques erleichtert.
»Und worum geht es?«, fragte Frau Helbing.
»Ich muss finden etwas«, sagte Jacques. »Dringend.«
»Hat der Einbrecher gestern etwas gestohlen?«, fragte Frau Helbing.
»Non!«, widersprach Jacques. »Aber ich weiß, was er ’at gesucht.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Frau Helbing. »Wenn nichts gestohlen wurde, was müssen Sie denn dann finden?«
»Ich will nicht sagen an die Telefon«, flüsterte Jacques.
Er schien verunsichert und ängstlich zu sein.
»Un secret«, hauchte er ins Telefon.
»Ein was?«, fragte Frau Helbing.
Mit Sekrä konnte sie nichts anfangen.
»Ein Ge’eimnis«, erklärte Jacques.
»Ein Geheimnis umgibt einen Gegenstand, den jemand stehlen will«, konstatierte Frau Helbing.
»Oui!«, rief Jacques aufgeregt. »Oui!«
Er schien von Frau Helbings Kombinationsfähigkeiten restlos überzeugt zu sein.
»Klingt interessant«, sagte Frau Helbing.
»Können Sie kommen vorbei?«, fragte Jacques fast flehend.
»Natürlich«, sagte Frau Helbing. Es schien sich um eine sehr ernste Angelegenheit zu handeln. »Aber erst mache ich mir noch Kartoffelsalat«, stellte sie klar.
»Bien sûr«, sagte Jacques. »Erst Kartoffelsalat.«
Er war ein bisschen enttäuscht, hörte Frau Helbing aus seinem Tonfall, aber hungrig nach Pöseldorf zu gehen, um Jacques beim Suchen zu helfen, fand sie jetzt übertrieben. Das hatte auch noch eine Stunde Zeit.
»Ich komme um halb zwei«, sagte sie.
»Danke«, sagte Jacques. »Merci bien.«
Frau Helbing war nicht nur neugierig, was genau Jacques wohl suchte, sondern plötzlich ganz aufgeregt, als ihr klar wurde, dass es sich hier um einen Auftrag handelte. Natürlich hatte sie kein Büro mit einem Schild an der Tür auf dem Franziska Helbing, Ermittlungen aller Art stand. Sie war weit davon entfernt, professionelle Nachforschungen anzubieten, dennoch war Jacques sozusagen ihr erster Kunde. Auf Empfehlung von Heide nahm er ihre Dienste in Anspruch. Mit ihrem detektivischen Gespür sollte sie etwas für ihn suchen. So oder so ähnlich begannen unzählige Kriminalromane. Und es ging hier nicht um eine verloren gegangene Socke oder eine Fernbedienung, die unter das Sofa gerutscht war. Nein, hier ging es um etwas, das so wichtig oder wertvoll war, dass Diebe dafür sogar einen Einbruch riskierten. Obwohl Frau Helbing nun eine gewisse Nervosität verspürte, spülte sie nach dem Essen erst ihr Geschirr, bevor sie das Haus verließ. In solchen Dingen duldete sie keinen Schlendrian.